WESTSAHARA
Die vergessene Mission
Erlebnisbericht eines deutschen UN-Polizisten
mit einem Vorwort von
Jürgen Reimann, Präsident im BGS a. D.
Books on Demand
Das Buch
Roland Grupe erzählt – mal humorvoll, mal nachdenklich – von seinen Erlebnissen während einer Friedensmission der Vereinten Nationen in der Westsahara. Dabei berichtete er aus erster Hand von den Folgen eines bisher kaum bekannten Krieges. Weniger die große Weltpolitik wird von ihm analysiert, als vielmehr ein Einblick gegeben in den bewegenden und manchmal nicht ganz ungefährlichen Alltag einer Friedensmission. Er beschreibt eindrucksvoll die Auswirkungen der Friedenspolitik für die betroffenen Menschen in einem bis heute nicht gelösten Konflikt.
Zum Autor
Roland Grupe wurde 1964 in der niedersächsischen Kleinstadt Stadtoldendorf geboren und ging nach dem Schulabschluss zum Bundesgrenzschutz. Einsätze bei Demonstrationen, Staatsbesuchen sowie der Streifendienst an der innerdeutschen Grenze prägten in den ersten Jahren das Berufsleben, bevor er an verschiedenen Auslandseinsätzen auf dem Balkan und in Afrika teilnahm. Roland Grupe lebt mit seiner Familie in Düsseldorf.
INHALT
Bemerkungen:
Bei den arabischen Ortsnamen verwendete ich die phonetisch einfachen Schreibweisen.
Sofern sie es nicht wünschten oder nicht zur Zeitgeschichte gehören, bekamen Personen geänderte Namen.
Die Geschehnisse schrieb ich Jahre später aus dem Gedächtnis auf. Sollte ich mich also mal bei Zeiten oder Orten vertan haben oder verwechselte ich gar Personen, bitte ich um Nachsicht.
Ich will mich treiben lassen
In Welten, die nur ein Fremder sieht.
Ich möchte erkämpfen, erfassen,
Erleben, was anders geschieht.
(aus: Joachim Ringelnatz, „Der Abenteurer“)
Vorwort
Was macht der BGS bzw. die heutige Bundespolizei eigentlich in der Westsahara, im Libanon, im Sudan, in Afghanistan und, und, und? Über welche Qualifikation verfügen die Beamten, die dort einen Auftrag zu erfüllen haben, sei es für Europa oder die Vereinten Nationen? Was reitet diese Beamten zu glauben, sie könnten dort wirklich etwas bewirken? Hybris, Geldnot, Geldgier, Abenteuerlust, endlich mal raus aus dem täglichen Allerlei? Oder regt sich da tatsächlich Sendungsbewusstsein, durchsetzt von humanitären Strähnchen?
Will jemand die Antwort auf solche Fragen wirklich wissen? Ist es das Thema wert und die Zeit gewinnbringend investiert nachzulesen, was einer schreibt, der das Erlebte aus einem nur persönlichen Blickwinkel bewertet und der, rein hierarchisch betrachtet, weit unterhalb der Planungsebene des Grünen Tisches die für Beamte der Bundespolizei vorgesehenen Missionen hinterfragt? Darf der das? Er darf, und er hat dies nachvollziehbar und fair getan.
Auf jeden Fall sieht der Leser seine Erwartung erfüllt, eine eher ungewöhnliche Auseinandersetzung mit einer UNMission vorzufinden, an der der Autor in gleich mehreren Funktionen beteiligt war. Überdies werden Informationen geliefert, die, ohne Insider zu sein, Dritten so nicht verfügbar wären.
Roland Grupe lässt Revue passieren, was er in dieser Mission erlebt hat, indem er versucht, in der Reflexion des Erlebten einen Blick hinter den Vorhang zu werfen. Mit eigenen Erklärungsansätzen, die notwendigerweise nicht immer die Gesamtheit der überwiegend politischen Umstände einer UN-Mission erfassen können, aber sehr wohl den menschlichen Gemischtwarenladen der Vereinten Nationen beleuchten, der doch so unendlich viel Einfluss auf den Erfolg auch seines Handelns ausübt. Die durch Erzählungen, Anekdoten und Tatsachenbeschreibungen angereicherte Betrachtung seiner eigenen Rolle in einem internationalen Kontingent von Kollegen aus 6 Kontinenten spiegelt deutlich seine persönliche Ohnmacht wider, bei diesem regionalen Konflikt polizeilich etwas zu bewirken. Dennoch begreift er anerkennend, dass Polizei mit einem hohen Ausbildungsstandard dem Militär in UN-Missionen an Handlungsoptionen überlegen sein kann.
Roland Grupe erfährt und beschreibt, dass nichts ohne viel Zeit geht, seine Existenz vor Ort nicht zur Kenntnis genommen wird, wenn er nicht deutlich machen kann, dass er die Hintergründe seiner Mission verstanden hat und Respekt vor den Angehörigen der Konfliktparteien hat, ohne damit seinen wichtigsten Schutzfaktor Neutralität in allem Lassen und Unterlassen aufzugeben. Der zwischenmenschliche Ansatz seiner Überlegungen wird deutlich. Er begreift und warnt, dass solche persönlichen Unzulänglichkeiten mit Grund dafür sein können, dass auch polizeiliches, auf friedliche Beseitigung von Störungen gerichtetes Handeln Friedensmissionen von einem Tag zum andern scheitern lassen kann.
Der Autor weiß und akzeptiert, dass er selbst durch Handlungs- oder Verhaltensfehler im Konfliktgebiet zu Hause Regierungen in Schwierigkeiten bringen kann. Er kommt zu dem einzig richtigen Schluss, dass die Motive des Einzelnen für solche Einsätze durch umfängliche Information im zeitlichen Vorfeld überprüft und die Faktoren Einsatzort und Lebensumstände, Geschichte, Religion und Kultur des Einsatzgebietes gegebenenfalls justiert werden müssen, von einer sorgfältigen und umfassenden Vorbereitung bei den Dienststellen selbst ganz abgesehen.
Roland Grupe schließt folgerichtig daraus, dass die Anwendung des Freund-und-Helfer-Grundsatzes der deutschen Polizei bei den Konfliktparteien und seine Verbreitung in der internationalen Kollegenschar wichtiger sein könnten als das Wissen, wie eine polizeiliche Absperrung funktioniert oder eine UN-Verfügung mit Gewalt durchzusetzen ist.
Der Autor greift um der Anschaulichkeit willen zum Mittel der Erzählung, zum Teil in Anekdotenform, und zu Bildern. Das erhöht die Authentizität und liefert zugleich für sich selbst Aufschlüsse über sein Verhalten und Auftreten in der „mission“. Anerkennung und Kritik, Frustration und Freude reflektiert er gleichsam in Selbstgesprächen und häufig auch in Fragen, von denen der Leser den Eindruck erhält, dass die ihn Entsendenden diese sich zuvor besser selbst gestellt hätten. Solche rhetorischen Fragen greifen weder an noch provozieren sie. Aber sie können unter die Haut gehen; zumindest machen sie nachdenklich und führen zu möglichen Antworten oder Lösungen. Und damit ist der Autor aktuell in einer Zeit, in der sich für seine Kollegen der Bundespolizei Auslandseinsätze unterschiedlichsten Zuschnitts häufen. Seine „message“ ist, dass allein der Mensch in seiner Uniform nichts bewirkt, wenn er nicht für sich Konflikt, Auftrag und Lösung unter einen Hut zu bringen vermag. Nicht unbedingt ein moralischer Hut, aber ein Ansatz für „social engineering“ nimmt so Gestalt an. Eine Verhaltens- und Verfahrensstrategie, für die in Deutschland viele Institutionen Zuständigkeit reklamieren – außer die Polizei. Aber eben nicht in Konfliktregionen, in denen er mit Kollegen unterschiedlichster polizeilicher Ausbildungshintergründe den gewünschten Erfolg herbeiführen soll. Das könnte doch der Schritt in die richtige Richtung sein, meint er, das merkt er und lässt es durchblicken.
Eine weitere unterschwellige „message“ wird deutlich: Wer etwa nur um des scheinbar attraktiven pekuniären Vorteils willen eine Verwendung im Ausland anstrebt, wird persönlich scheitern. Und Roland Grupe stellt einmal mehr „durch die Blume“ fest, dass der Dienstherr dies berücksichtigen müsste, wenn er nicht von vornherein am Faktor Mensch scheitern will. Denn, so seine Erfahrung, eine solchermaßen enge Motivation hilft niemandem wirklich weiter, und sie wird von den Adressaten seiner „Hilfe“ schnell entlarvt.
Die Gedanken des Autors sind aktuell und bleiben es wohl noch lange. Wie bereits dargetan, „boomen“ Konfliktgebiete weltweit und die Absicht, hier durch den Einsatz von UNPOL (UN-Polizei) entgegenzuwirken, wird politisch immer attraktiver. Mit Recht, sagt auch der Autor auf seine Weise. Leider bleibt die Frage, ob dies die Polizei eines von den Vereinten Nationen bevorzugten Landes auch tatsächlich zu leisten vermag, unbeantwortet. Daneben steht nahezu gleichwertig und ebenso zunehmend bilaterale Ausbildungshilfe aus rein nationalem Interesse – aus welchen Gründen auch immer. Seine Erfahrungen will der Autor bewahrt und weitergegeben wissen. Das ist verständlich und aller Ehren wert. Dem geneigten Leser sei nachdenkliche Aufmerksamkeit empfohlen. Und dann mag er ganz nebenbei ins Grübeln kommen, ob Roland Grupe nur „seine“ Mission beschrieben hat oder ob er etwa alle anderen auch gemeint haben könnte. Da könnte er recht haben, der Leser, sei er nun Polizeibeamter oder politisch interessierter Neutraler. Ob er Einfluss nehmen kann oder möchte, lassen wir besser dahingestellt.
Jürgen Reimann, Präsident im BGS a. D.
Ehemaliger UN-Police Commissioner
für die UN-Mission MINURSO in der Westsahara
Prolog:
Im Frühjahr 1994
„Grundgütiger im Himmel, was ist das heiß hier!“, entfuhr es mir. Temperaturen von vierzig Grad und ein heißer Wind empfingen mich bei der mittäglichen Ankunft in der Wüstenstadt El-Aaiún, am westlichen Rande der Sahara. Bereits gestern flogen wir, mein Mitstreiter Hilmar und ich, vom Flughafen in Frankfurt/Main aus mit der Royal Air Maroc nach Casablanca in Marokko. Von dort aus ging es weiter nach El-Aaiún, in die Hauptstadt der Westsahara. Was verschlug nun zwei Bundesgrenzschutzbeamte auf einen vergessenen Provinzflughafen in die größte afrikanische Wüste und was hatten sie dort überhaupt verloren?
Unsere Reise diente natürlich keinerlei touristischen Zwecken, soviel sei schon einmal vorab verraten, sondern war rein dienstlich. Wir hatten uns freiwillig für die Friedensmission „MINURSO1“ der Vereinten Nationen in der Westsahara gemeldet, einer ehemaligen spanischen Kolonie, die durch Krieg und Vertreibung buchstäblich in zwei Hälften zerrissen wurde.
Bereits seit 1989 beteiligt sich der deutsche Bundesgrenzschutz2 – mittlerweile umbenannt in „Bundespolizei“ – auf den verschiedensten Kontinenten durch die Bereitstellung von Polizei-Kontingenten an diversen internationalen Friedenseinsätzen der Vereinten Nationen, der OSZE3, der WEU4 und der EU5.
Ich wurde erst vor einigen Tagen und völlig unerwartet über den bevorstehenden Auslandseinsatz informiert. Ich hatte meine Freiwilligenmeldung vom letzten Jahr nach all der Warterei eigentlich schon als erfolg- und fruchtlos abgeschrieben und längst nicht mehr daran gedacht. Später würde ich noch lernen, dass man in diesem Geschäft mit wirklich allem zu rechnen hat und dass man überaus flexibel sein muss; mal beginnen Auslandseinsätze aus heiterem Himmel und innerhalb kürzester Zeit, mal verzögern sie sich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.
Vor zwei Wochen dann, beim Bolzen in der Sporthalle meiner damaligen Dienststelle, der Braunschweiger BGSAbteilung am Bienroder Weg, klingelte das Telefon. Üblicherweise verhieß das nichts Gutes, denn so begannen für gewöhnlich unsere Ad-hoc-Einsätze. Dann hieß es: sofort den Sport abbrechen, Sachen packen und dann ab in den Einsatz, an irgendeinen Ort in der Bundesrepublik.
Diesmal hatte der Anruf aber einen anderen Grund. Mein Typ wurde verlangt, und zwar sofort! Die Stimme des Personalsachbearbeiters im Abteilungsstab sagte mir in befehlsgewohntem Ton, ein Fernschreiben sei soeben bei ihm auf dem Schreibtisch gelandet. Nun habe er mich zu fragen, ob ich denn noch für die Mission in der Westsahara zur Verfügung stünde. Jawoll, sagte ich sofort, ohne langes Federlesens, ich stand!
*
Nach der darauf folgenden gründlichen ärztlichen Untersuchung und den ebenso unvermeidlichen wie unzähligen Impfungen beim Abteilungsarzt informierte mich das Bundesinnenministerium – damals noch in Bonn – über die genauen Flugdaten und -modalitäten der geplanten Ausreise und man beorderte mich zu einen Briefing nach Bonn. Dort wurde ich von einem mittlerweile aus der Mission nach Deutschland zurückgekehrten BGS-Beamten auf den neusten Stand der Lage in der Friedensmission gebracht. Außerdem empfing ich dort gleich allerlei nützliche Ausrüstungsgegenstände wie zum Beispiel Tropenstiefel und ein medizinisches Notfallset nebst chirurgischem Besteck. Auch eine khakifarbene Tropenuniform aus Bundeswehrbeständen gehörte zur Ausrüstung. Natürlich musste der Empfang der Ausrüstung in der Bekleidungskammer x-fach quittiert werden. Irgendwie schienen die Kleiderbullen mir klarmachen zu wollen, dass ohne sie überhaupt nichts läuft, und schon gar keine Auslandsmission.
Nach dem kurzen, aber informativen Briefing in Bonn fuhr ich wieder zurück nach Braunschweig, wo ich auf das letzte und wichtigste Fernschreiben wartete: Die Abordnungsverfügung samt Marschbefehl zum Flughafen nach Frankfurt, mit Weiterreise in das Missionsgebiet.
Ich hatte mich schon seit meiner Einstellung in den damaligen Bundesgrenzschutz für die Möglichkeiten der verschiedensten Verwendungen bei anderen Behörden und Dienststellen interessiert. Der BGS bot einem schon zu jener Zeit viele Möglichkeiten, über den Tellerrand zu schnuppern, sofern man flexibel und mobil war und einem die persönliche Karriere nicht über alles ging. Tägliches Einerlei war mir schon immer ein Graus. Der schnöde Streifendienst an der damaligen innerdeutschen Grenze, die endlosen Unterkunftswachen oder dieselben Übungen zum hundertsten Mal abhalten, das war mir auf Dauer viel zu langweilig. Die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf, die Hafenstraße in Hamburg und auch das Zwischenlager in Gorleben kannte ich inzwischen ebenso zu Genüge.
Die Räuber-und-Gendarmen-Spiele mit erlebnisorientierten Halbstarken, die in ihrem heiligem Eifer gar nicht merkten, dass ihr höchst heroischer Kampf gegen das „Schweinesystem und den imperialistischen Faschismus“ ein halbes Jahrhundert zu spät kam, ödeten mich langsam, aber sicher mächtig an. Mit den 1990er-Jahren kamen dann Einsätze bei Nazikundgebungen und bei brutalen Angriffen von tumben Rechtsradikalen auf Ausländerwohnheime hinzu. Während die geistig zu kurz gekommenen Glatzköpfe dabei blökten, wie stolz sie doch waren, Deutsche zu sein, konnte man selbst dabei nur blanke Scham verspüren.
Die Einsätze mit der vor wenigen Jahren neu aufgestellten Braunschweiger Zugriffseinheit, bei denen wir Schleuser- und Schmugglerbanden hochnahmen und bisweilen auch andere Sicherheitsbehörden bei verschiedenen Einsätzen unterstützten, waren da schon weitaus prickelnder. Manchmal kamen wir für Wochen aus den Stiefeln nicht raus und hasteten von einem Einsatz in den nächsten.
Erstmalig ließ ich mich 1985 zu einer anderen Behörde vorübergehend abordnen. Damals bewarb ich mich für den Sicherheitsdienst an den deutschen Auslandsvertretungen und hatte das unverschämte Glück, nach Washington D. C. an die Botschaft abkommandiert zu werden. Fast ein ganzes Jahr war ich dort im Dienst in der Vertretung an der Reservoir Road in Georgetown. Nebenbei war das natürlich eine prächtige Gelegenheit, mein Schulenglisch zu vervollkommnen. Ein Umstand, der mir später noch sehr nutzen sollte, denn ohne Fremdsprachenkenntnisse geht im internationalen Geschäft gar nichts.
Fünf Jahre später ging ich dann als Personenschützer zum Bundeskriminalamt nach Meckenheim bei Bonn. Dort erwarteten mich lange Dienstzeiten, ständige erhöhte Aufmerksamkeit und zahllose kurze Nächte in unpersönlichen Hotelzimmern mit schmal bestückten Minibars. Die Attentate auf die Politiker Lafontaine und Schäuble fielen in diesen Zeitraum und hielten die Sicherungsgruppe des BKA mit ihren Personenschutzkommandos auf Trab. Trotz dieser Anschläge in unruhigen Zeiten bleibt mir die Verwendung als ungeheuer interessant in Erinnerung. Nur die private Freizeit kam dabei ziemlich kurz.
Das sollte sich aber auch nach meiner Rückkehr zu meiner Einheit nicht ändern. Für das Vereinsleben war längst kein Platz mehr und auch die Pflege von Freundschaften gestaltete sich zunehmend schwieriger, was aber nicht weiter verwundern konnte, wenn man das Erscheinen zu seiner eigenen Geburtstagsfeier kurzfristig absagen muss, weil ein plötzlicher Einsatz bevorstand.
*
Die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten beim BGS spielten schon bei meiner Berufswahl eine wesentliche Rolle. Die Bewachung der Botschaften fürs Auswärtige Amt, der Dienst an den Auslandsstationen der Deutschen Lufthansa und auch der Personenschutz beim Bundeskriminalamt in Meckenheim hörten sich für einen Jungen vom Lande recht interessant an. Besser jedenfalls als die Aussicht, auf dem Dorf zu versauern. Und mittlerweile kam noch die Beteiligung des BGS an internationalen Friedenseinsätzen hinzu. Für einen aufgeschlossenen jungen Menschen gab es also ein großes Betätigungsfeld.
Zuvor hieß es aber noch Abschied nehmen von den Lieben daheim. Mein Entschluss stand unverrückbar fest und erntete, wie nicht anders zu erwarten, einiges an Kopfschütteln im Kreise der Familie. Als Flüchtlingskind und Vertriebene aus Ostpreußen, deren männlicher Teil der Familie fast komplett im Krieg blieb, hatte meine alte Dame mit Krieg und Leid ihre eigenen, schlimmen Erfahrungen gemacht und war mit knapper Not auf einem Schiff über die Ostsee entkommen, dass glücklicherweise nicht torpediert wurde. Sie war natürlich alles andere als begeistert, als ich ihr erzählte, für die Vereinten Nationen in Afrika arbeiten zu wollen.
Was trieb überhaupt ein Landei wie mich, aufgewachsen in Stadtoldendorf, einer ländlichen Kleinstadt im südlichen Niedersachsen, wo sich Fuchs und Hase „Gute Nacht!“ sagen, in die Welt hinaus? Sicher hatten die vielen Reiseberichte, die von mir als Knirps in unserer kleinen städtischen Bücherei am Kirchplatz ausgeliehen und sofort verschlungen wurden, schon sehr früh meine Neugier und ein unbändiges Fernweh geweckt. Schon auf dem Nachhauseweg konnte ich es nicht abwarten und setzte mich an die alte Stadtmauer im Schatten des altehrwürdigen Försterbergturms – des Wahrzeichens meiner verträumten Heimatstadt – und schmökerte in den Büchern.
Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen als Dreikäsehoch war es auch, im abgewetzten Diercke-Weltatlas meiner älteren Geschwister ferne Länder und Inseln mit dem Zeigefinger zu erkunden und mir deren Menschen und Gebräuche vorzustellen. Wann immer im vorsintflutlichen Schwarz-Weiß-Fernseher eine Dokumentation oder Reportage über die letzten noch verbliebenen weißen Flecken auf unserem Planeten flimmerte, ließ ich die Hausaufgaben achtlos liegen und stahl mich heimlich in die Stube.
Als Teenager verschlang ich dann Melville und Stevenson und etwas später Hemingway und Conrad. Trotz meines – für ein Landei und angesichts meines Alters – merkwürdigen Steckenpferds streifte ich natürlich auch mit den Kumpanen durch die Wälder des heimatlichen Weserberglandes und kickte Fußball auf den Straßen, wie jeder andere stinknormale Junge meines Alters auf dem Lande auch. Das Interesse an Literatur, Zeitgeschehen und an der Geschichte ferner Kontinente habe ich aber auch später nie verloren.
Seit meiner Verwendung an der deutschen Botschaft in Washington ließ mich ein besonders hartnäckiger „Virus“ nicht mehr los, bis zum heutigen Tag, da ich diese Zeilen tippe. Ich glaube, wer einmal im Ausland seine Brötchen verdient hat, den wird es entweder immer wieder jucken oder er hat ein für alle Mal die Schnauze voll.
Bei allem Wissensdurst und Fernweh durfte ich nun aber tunlichst nicht außer Acht lassen, dass eine Friedensmission der Vereinten Nationen in einem Krisengebiet nicht unbedingt mit einem wohlorganisierten Abenteuerurlaub gleichzusetzen ist. Als Angehöriger der Vereinten Nationen in einem UN6-Polizeikontingent befindet man sich nicht auf einer Sightseeing-Tour, sondern hat ein Mandat zu erfüllen, und zwar an sieben Tagen in der Woche.
Die Aussicht, an einer Auslandsmission teilzunehmen, gab mir aber auch ein gutes Gefühl und motivierte mich zusätzlich, meine Unterschrift mit gutem Gewissen unter die Freiwilligenmeldung zu setzten (wenn mein alter Spieß in der Hundertschaft dabei auch missbilligend den Kopf schüttelte). Auch wenn uns die Organisation der Vereinten Nationen manchmal hoffnungslos zerstritten und furchtbar hilflos erscheinen mag, so ist sie doch die einzige internationale Instanz in der weiten politischen Welt, deren guten Willen und positiven Grundgedanken man eigentlich nicht in Abrede stellen kann. Dass sie bei Konflikten oft zu spät kommt oder nur tatenlos zuschauen kann, liegt weniger an ihren mangelhaften Fähigkeiten als vielmehr an der Tatsache, dass es die ihr angehörenden Mitgliedsstaaten (zumal die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates mit ihrem Veto-Recht) einfach nicht anders wollen. Und zwar aus eigenem politischen Kalkül. Letztendlich sind die Vereinten Nationen genau das, was die in ihr vereinten Nationen aus ihr machen. Gäbe es die UN nicht, so müsste sie schleunigst erfunden werden. Auch wenn man ihr vorwirft, nur ein Debattierclub zu sein und sie meilenweit davon entfernt ist, sich Welt-Parlament nennen zu dürfen; mit dem jämmerlich gescheiterten Völkerbund der 1920er-Jahre ist sie jedenfalls kaum zu vergleichen. Wenn man ihr aber vorhält, Kriege in der Vergangenheit nicht wirksam verhindert zu haben, dann muss man auch so ehrlich sein und ihr die nötige Macht, Kompetenzen und die personellen und materiellen Mittel dazu verleihen. Trotz all ihrer Unzulänglichkeiten gab es mir daher doch eine große Befriedigung, der UN für eine Weile zu dienen.
Auf die Straße rennen und „Ho Chi Minh“ brüllen, um auf die Missstände dieser Welt aufmerksam zu machen, kann schließlich jeder. Dabei verborgen aus dem Hinterhalt und sehr pazifistisch Steine und Stahlkugeln auf Polizisten abschießen sowie Brandsätze werfen – für den Frieden in der Welt, selbstverständlich – ist an sich ja auch keine große Kunst. Vorzugsweise von denjenigen, die während der sowjetischen Besatzung Afghanistans oder der militärischen Vereinnahmung Tibets durch die Volksrepublik China zu Hause faul hinterm warmen Ofen hocken blieben. Und freilich auch von jenen, welche die wenig bis gar nicht bekannten Kriege in Afrika einen schlichten Dreck interessierten. Woran liegt es nur, dass bei einigen Konflikten in dieser Welt sofort energischer Protest auf den Straßen entsteht und bei den anderen noch nicht einmal ein Dreizeiler in den Zeitungen zu lesen ist?
Ich bin keineswegs ein unverbesserlicher Weltverbesserer oder moralisierender „Gutmensch“. Aber ich konnte tatsächlich für den Erhalt des Friedens auf einem der vergessenen Hinterhöfe unseres Planeten etwas tun, und sei es noch so bescheiden. Zumindest bildete ich es mir damals tatsächlich so ein. Ein wenig Idealismus gehörte also auch schon dazu. Inzwischen – und nach weiteren höchst aufschlussreichen und ernüchternden Missionen auf dem Balkan und in Afrika – kann ich über meine damalige Naivität und die blauäugige Überschätzung der Vereinten Nationen und ihrer Möglichkeiten nur ungläubig den Kopf schütteln. Aber damals dachte ich tatsächlich so.
*
Im Jahr 1989 reiste erstmals ein fünfzig Mann starkes Kontingent von Bundesgrenzschutzbeamten mit den blauen Baretten der Vereinten Nationen in eine Friedensmission. Sie hatten den Auftrag, die Wahlen in dem vom menschenverachtenden Apartheidstaat Südafrika unabhängig gewordenen Namibia zu überwachen und dabei die UNTAG-Mission7 zu unterstützen.
Das Medieninteresse war damals natürlich besonders groß. Zum ersten Mal nach Kriegsende und nach dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1973 zu den Vereinten Nationen wurden deutsche Uniformträger ins Ausland geschickt, noch vor der Bundeswehr. Politisch war das damals gar nicht so einfach durchzusetzen, weder im Bundestag noch in der Öffentlichkeit und schon gar nicht bei den vielleicht zu Recht kritischen Medien. Bisher hatte man es – unter Verweis auf die deutsche Geschichte und das großzügige Zücken des Scheckbuchs – verstanden, sich aus derlei Einsätzen personell herauszuhalten.
Aber noch etwas machte diesen ersten Einsatz höchst pikant: Auch die damals in den letzten Zügen liegende DDR schickte erstmalig ein Kontingent von Offizieren der Nationalen Volkspolizei zu den Vereinten Nationen nach Namibia. Diese waren nicht nur handverlesen und ausgesprochen linientreu, sondern auch noch besonders politisch geschult worden, um die ebenso unerwünschte wie unvermeidliche Konfrontation mit den BGS-Beamten jenseits des „antifaschistischen Schutzwalls“ zu bestehen. Trafen sie doch beim Dienst im Okavango-Delta nicht nur auf gefährliche Flusspferde und gefräßige Krokodile, sondern auch auf den garstigen „Klassenfeind“ aus Westdeutschland, der es allerdings recht unaufgeregt zur Kenntnis nahm.
Ein paar Jahre später – 1992 – sollte sich Deutschland an einem weiteren Friedenseinsatz der Vereinten Nationen beteiligen. Nach Jahren des brutalen Bürgerkrieges waren die Roten Khmer in Kambodscha am Ende ihres Steinzeitkommunismus angelangt. Ein beträchtlicher Prozentsatz der eigenen Bevölkerung kam dabei ums Leben. Menschen wurden in mörderische Umerziehungslager gesteckt, die viele nicht überlebten. Unzählige ermordete Zivilisten blieben während der Gewaltherrschaft des Despoten Pol Pot8 auf den berüchtigten „Killing Fields“ auf der Strecke.
In den „Pariser Friedensverträgen“ entstand ein parteienübergreifender Plan, der den Vereinten Nationen eine wesentliche Rolle zukommen ließ. Nun sollten freie Wahlen abgehalten werden und die UN startete ihre UNTAC-Mission9, an deren Ende ein dauerhafter Frieden in der so sehr gebeutelten Region stehen sollte. Auch die Bundeswehr beteiligte sich erstmals mit einem Feldkrankenhaus in der Hauptstadt Phnom Penh und dazugehörigen Sanitätsund Wachsoldaten am Einsatz.
Ich meldete mich damals für diese Mission und bereitete mich darauf vor, im Sommer des darauf folgenden Jahres planmäßig beim bevorstehenden Kontingentswechsel auszureisen. Dieser Wechsel wurde jedoch kurzfristig abgesagt. Die Wahlen in Kambodscha verliefen verhältnismäßig ruhig und die UNO war bereits dabei, ihre Polizei- und Militärkontingente zu reduzieren bzw. nicht mehr zu ersetzen. Ich hatte bereits die übliche Impfprozedur, bestehend aus einem guten Dutzend verschiedenster Impfungen – Tollwut, Typhus, Cholera, Tetanus, Hepatitis, Meningitis, Enzephalitis und viele andere „-itis“ mehr –, über mich ergehen lassen und zählte schon die Tage. Als dann aber ein Jahr später im Kabinett der Bundesregierung eine Beteiligung Deutschlands an der Friedensmission in der Westsahara beschlossen wurde, hatte mein Warten ein Ende.
Anders als bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr, für die der „Parlamentsvorbehalt“ gilt, die also im deutschen Bundestag mit einfacher Mehrheit abgesegnet werden müssen, reicht bei derartigen Auslandseinsätzen des BGS ein entsprechender Beschluss des Bundeskabinetts aus. Der Bundestag muss lediglich informiert werden. Außerdem kann er die Beendigung einer Mission verlangen, mehr sieht das Grundgesetz nicht vor.
Was immer auch die damalige Bundesregierung dazu bewogen haben mochte, sich ausgerechnet am Einsatz in der unwirtlichen Westsahara zu engagieren, mir war es gleich. Von mir aus konnte es losgehen.
1 MINURSO – die Mission des Nations Unies pour l’Organisation d’un Référendum au Sahara Occidental – Mission der Vereinten Nationen zur Durchführung eines Referendums in der Westsahara.
2 Bundesgrenzschutz (BGS), 1951 gegründete Sonderpolizei des Bundes. 2005 umbenannt in Bundespolizei.
3 OSZE (engl. OSCE) – Organization for Security and Co-operation in Europe – Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
4 WEU – Western European Union – Westeuropäische Union.
5 EU – European Union – Europäische Union.
6 UN – United Nations – Vereinte Nationen (VN).
7 UNTAG – United Nations Transition Assistance Group – Unterstützungseinheit der Vereinten Nationen für die Übergangszeit.
8 Pol Pot – * vermutlich 1928 bis † 1998, Diktator Kambodschas.
9 UNTAC – United Nations Transitional Authority in Cambodia – Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen in Kambodscha.
Abreise ins Ungewisse
Der Tag der Abreise in die Westsahara rückte näher und ich packte meine Siebensachen. Zwei Kameraden aus meiner alten Zugriffseinheit holten mich morgens an meiner Braunschweiger Wohnung ab und fuhren mich im Dienstwagen zum Frankfurter Flughafen, wo ich auch Hilmar wiedertraf, einen süddeutschen BGS-Beamten. Wir hatten uns bei der Einweisung in Bonn kennengelernt und sollten zusammen in die Mission fliegen. Unsere Tickets waren zuvor bei den Vereinten Nationen in New York gebucht worden und lagen am Royal-Air-Maroc-Schalter bereit. Das reichliche Übergepäck wurde beim Check-in anstandslos akzeptiert, dann gingen wir zeitig zum Boarding.
Das war unsere ganze Ausreiseprozedur. Kein schmissiges Musikkorps, keine schwungvollen Reden von Politikern mit ihren geladenen Gästen, kein Presserummel mit Fotografen und Interviews und auch keine mit Bussen herangeschafften Familienangehörigen mit Tränen in den Augen und kleinen plärrenden Kindern auf den Armen. Wir zwei einsame Gestalten waren eben nicht so fotogen wie ein komplettes Kontingent in schmucker Uniform. Das Interesse der Medien an Auslandseinsätzen hatte aber auch merklich nachgelassen. Vielleicht ein Zeichen dafür, dass inzwischen so etwas wie Normalität in das neue internationale Engagement Deutschlands eingekehrt war.
Vielleicht lag es aber auch ganz einfach daran, dass die deutsche Beteiligung an einem weitgehend unbekannten Friedenseinsatz mit insgesamt fünf Beamten so winzig war, dass es die Presse einfach nicht interessierte. Und Hilmar und mir war’s nur recht, dass es ruhig zuging und wir wie normale Menschen in Zivil ausreisen konnten.
An Bord blieb ich erst einmal stumm auf meinem kleinen Sitz in der Bretterklasse hocken. Auch die Vereinten Nationen hatten kein Geld zu verschenken und sparten offensichtlich an den Reisekosten. Ich war tief in meinen Gedanken versunken, während die Turbinen der Boeing brummten und die Maschine langsam auf die zugewiesene Startposition rollte. Was würde mich wohl erwarten? Welche Aufgaben würde man mir auftragen? Würden meine Sprachkenntnisse ausreichen? Es wurde in der Westsahara nicht nur – zusätzlich zu den stets geforderten tadellosen dienstlichen Leistungen und dem gründlichen Gesundheitscheck – ein gutes Englisch in Wort und Schrift verlangt, sondern darüber hinaus auch befriedigende Kenntnisse entweder in Arabisch, Französisch oder Spanisch. Das Englische machte mir keine Schwierigkeiten. Ich hatte in Washington genug Zeit und Gelegenheit gehabt, dass es mir recht flott von den Lippen kam. Vom Arabischen hatte ich keinen blassen Schimmer und die paar Jahre Französisch an der Schule waren bedauerlicherweise ebenso vergebens (zugegebenermaßen aus purer Faulheit, es war ja schließlich nur Wahlfach!) wie vergessen, trotz aller Bemühungen meiner verzweifelnden Lehrerin.
Ich war aber gottlob nicht völlig untalentiert, was das Spanische betraf. Mehrwöchige Reisen nach Honduras, Kuba und Belize sowie ein noch längerer Aufenthalt in Peru, bei dem ich meine spätere Frau kennenlernen sollte, ließen mich aus dem Stadium des Anfängers herauswachsen. Darüber machte ich mir also keine großen Sorgen. Was mich umtrieb, war eher die Sorge darüber, was mich in der Mission erwartete und wie ich eingesetzt werden würde.
Ich hing also meinen Gedanken nach und war irgendwie schon in der Mission, aber auch noch etwas zu Hause, bei der Familie, den Angehörigen, den Kameraden und Freunden, die ich jetzt für viele Monate nicht mehr sehen würde. Die Vereinten Nationen erwünschten sich von den entsendenden Ländern Polizeibeamte, die für ein Jahr zur Verfügung standen. Das Bundesinnenministerium wiederum verlangte damals von den Beamten in der Westsahara einen Einsatz von einem halben Jahr, der aber – sollte man es wünschen und sich bewähren – verlängert werden konnte. Über eine Verlängerung wollte ich mir aber erst später Gedanken machen. Jetzt wollte ich nur erst einmal in der Westsahara heil ankommen.
Nach etwa vier Stunden Flug landeten wir am internationalen Flughafen Mohammed V. von Casablanca, südlich der größten Stadt Marokkos gelegen. Unser Weiterflug war erst für den morgigen Vormittag geplant, dann sollte es auf die letzte Etappe in Richtung Westsahara gehen. Ein marokkanischer Verbindungsoffizier mittleren Alters und in ziviler Kleidung war offensichtlich bereits von unserer Ankunft informiert worden. Er erwartete uns lässig lächelnd vor der Passkontrolle.
Der Mann nahm unsere vom Auswärtigen Amt ausgestellten Dienstpässe entgegen und führte uns rasch an den Kontrollboxen und am Zoll vorbei. Er wirkte in seinem dunklen Anzug und der coolen Spiegelglas-Pilotensonnenbrille sehr „westlich“ und mondän. Trotz seines kurzen schwarzen Haares und seines charmanten Lächelns ließen mich seine übertriebene Höflichkeit sowie die zur Schau gestellte aufdringliche und fast schon untertänig anmutende Hilfsbereitschaft vorsichtig werden. Außerdem fragte er zu viel. Man musste keine James-Bond-Romane gelesen haben, um zu erkennen, auf wessen Gehaltsliste er stand. Die marokkanischen Dienste hatten augenscheinlich ein sehr großes Interesse daran, genau zu erfahren, wer da in die von ihnen besetzte Westsahara reisen wollte.
Wir durchquerten rasch den geschäftigen Ankunftsbereich und traten hinaus in die Hitze und in das nach Meer riechende Abendlicht. Ein dicker einheimischer Fahrer gesellte sich vorm Flughafeneingang hinzu, packte mit an und schleppte schwitzend unser schweres Gepäck in einen großen schwarzen amerikanischen Van mit abgedunkelten Fenstern und Regierungskennzeichen.
Es war bereits Abend geworden und die Temperaturen in Casablanca betrugen sicherlich noch immer über dreißig Grad. Ein paar Minuten später waren wir auf dem Weg ins Hotel Holiday Inn, im Zentrum Casablancas. Dort waren unsere Zimmer reserviert. Die Nacht brach erstaunlich schnell herein. Ich blickte aus den getönten Scheiben des Wagens und beobachtete das Treiben in der Millionenstadt. Alles machte auf mich einen fast schon europäischen Eindruck. Moderne Hochhäuser, Apartmentblocks, Parkanlagen und Geschäfte wie in Europas Innenstädten. Einige dieser Wohnviertel erinnerten mich an Stadtteile von Paris oder Brüssel. Lediglich die tropische Vegetation der Grünanlagen sowie der vorwiegend weiße Anstrich der Gebäude gaben Casablancas „downtown“ am Atlantik einen afrikanischen Touch. An den ausufernden Slums der Stadt führte unser Weg nicht vorbei.
Über gut ausgebaute und beleuchtete Straßen erreichten wir schließlich das moderne Hotel und checkten rasch ein. Wenig später trafen Hilmar und ich uns zu einem kleinen Imbiss an der Hotelbar und besiegelten unsere neu gewonnene Freundschaft. Mein fränkischer Kamerad war ein weit gereister Mann, sowohl dienstlich als auch privat, und so hatten wir einiges zu erzählen. Hilmar war zuvor als Sicherheitsbeamter zur Lufthansa abgeordnet und an diversen Auslandsstationen in Südamerika eingesetzt gewesen. Er erwies sich als genauso guter Erzähler wie Zuhörer, und das ist bekanntlich sehr selten. Er lachte gerne und oft und war für jeden Spaß zu haben – solange man sich nicht über seine fränkische Herkunft lustig machte. Es war uns klar, dass die Umstände und Bedingungen, unter denen wir den Dienst für die Vereinten Nationen leisten sollten, anstrengend und unter Umständen auch nicht ungefährlich werden könnten. Da konnte ein wenig Humor nicht schaden.
In dem gemütlichen Hotelrestaurant ließen wir uns von der nordafrikanischen Atmosphäre anstecken und bekamen nun erstmals das Gefühl, Deutschland und Europa hinter uns gelassen zu haben. Orientalische Teppiche, mit Leder überzogene Kamelhocker und eine geschmackvolle Innenarchitektur im maurischen Stil – ohne dass die Dekoration allzu kitschig wirkte – verschönerten den Abend.
Nach einer kurzen Nacht ging es am frühen Morgen weiter. Der dicke Fahrer holte uns wieder ab und fuhr uns zum Flughafen. Schade eigentlich, ich wäre gern noch den Tag über hiergeblieben, um etwas mehr von der quirligen Stadt zu sehen. Aber ich hatte ja nicht bei Neckermann gebucht.
Ankunft in der Westsahara
Vom Fenster des betagten und klapprigen Flugzeugs aus sah ich, wie die Landschaft unter mir immer mehr an Grün verlor und zusehends eintöniger wurde. Irgendwann kamen die ersten Sanddünen in Sicht und dann eine unendlich weite, trostlose, gelbbraune Gerölllandschaft, nur ab und zu von dunklen Hügeln oder weiß schimmernden Salzseen unterbrochen. Pflanzen sah ich jetzt nicht mehr, von ein paar braun-grünen Tupfern abgesehen, die wohl von krüppeligen, morschen Gewächsen herrührten. Man konnte förmlich die flirrende Hitze und Einsamkeit spüren und ich war einerseits froh, dass die Aircondition an Bord funktionierte, andererseits aber auch darauf gespannt, selbst diese stillen Weiten zu erforschen. Für den Rest des Fluges schwieg ich und starrte fasziniert aus dem Fenster.
Gegen 15.00 Uhr trafen wir mit ächzendem Fahrwerk und rumpelnden Reifen in El-Aaiún ein. Schon beim Anflug auf den kleinen Flughafen sah ich mehrere weiß gestrichene Maschinen mit dem UN-Logo am Rollfeld stehen. Die Boeing rollte hüpfend und schlingernd aus und wir stiegen die Gangway hinab. Die Einreiseprozedur war schnell hinter uns gebracht. Auch hier in El-Aaiún gab es eine Unzahl von Regierungsbeamten, die geschäftig herumliefen und genauestens die Ankunft und Personalien der Besucher registrierten, obwohl es sich – nach Ansicht Marokkos – ja um einen Inlandsflug handelte.
Im schwül heißen Flughafengebäude erwarteten uns bereits Matthias, ein Hamburger BGS-Kollege und ein österreichischer Polizist. Nach der Begrüßung schafften wir das Gepäck in zwei weiße Nissan Patrol, an deren Türen das UN-Kürzel aufgeklebt war. Unsere neuen Kameraden ließen uns auf der Fahrt in die Stadt rücksichtsvoll mit unseren ersten Eindrücken in Ruhe und erklärten uns nur hin und wieder die wichtigsten Örtlichkeiten.
El-Aaiún (arabisch: die Quellen), auch Laayoune oder Al-Ayoun genannt – je nach der Sprache, der man sich bediente (Spanisch, Französisch oder Arabisch) –, war in jenen Tagen ein typisch nordwestafrikanisches Städtchen. Fahrzeugmodelle aus Frankreich, zum größten Teil älteren Baujahrs, beherrschten das Straßenbild, aber auch Eselskarren mit allen möglichen Lasten und von Hand gezogene oder geschobene Karren sah man recht häufig.
Was an diesem idyllischen Bild auf den zweiten Blick nicht stimmte, war die große Anzahl an patrouillierenden Militärfahrzeugen der marokkanischen Armee und die Vielzahl von Soldaten, die allerorten gingen oder einfach nur herumstanden, das Gewehr lässig um die Schulter geschwungen, und müßig schwatzten. Einen übermäßig disziplinierten Eindruck machten sie mir dabei nicht unbedingt. El-Aaiún war damals eine Garnisonsstadt von vielleicht hunderttausend Einwohnern. Die Anzahl des marokkanischen Militärs in der Westsahara war beträchtlich, wurde aber nirgendwo von offizieller Seite aus angegeben. Aufs Land verteilt, schätzte man deren Stärke auf gut 150.000 Mann.
Überall sah ich Händler, die am Straßenrand an ihren klapprigen Holzständen lehnten und wild gestikulierend und lauthals schreiend ihre Waren feilboten. Hauptsächlich befanden sich Gemüse und Obst, typisch arabische Früchte wie Datteln und Feigen, grellfarbende Gewürze, Haushaltsramsch und allerlei Krämerladen-Krimskrams in den Auslagen. Erwachsene Männer gingen diskutierend und dabei Händchen haltend über die Straße, hier ein durchaus normales Bild, an das ich mich aber wohl erst noch gewöhnen musste. Ihre Frauen folgten stets in einigem Abstand. Später erfuhr ich, was eigentlich bei diesem für mich merkwürdigen Anblick dahinterstecken sollte: In den alten Zeiten verteidigten sich die Männer in der arabischen Welt vorzugsweise mit dem Säbel, ihrer traditionellen Waffe. Sollte also ein Wandersmann, welcher mit seiner Frau und Familie nichts ahnend des Wegs ging, in einen Hinterhalt geraten, so zog er geschwind seinen Säbel aus dem Gürtel. Er war dabei natürlich darauf bedacht, die verbrecherischen Meuchler zu metzeln und nicht – aus Versehen – seine eigene Familie zu fällen, die seinem Krummsäbel dummerweise im Wege stand. So gesehen machte diese Erklärung Sinn. Zumindest erzählte mir ein Araber diese Geschichte derart und sie erschien mir durchaus plausibel, wenn ich mich auch wunderte, warum dieser Brauch im heutigen Zeitalter immer noch befolgt wird.
Die Männer trugen Dschellabas, die typischen langen Gewänder, die in diesem Teil Afrikas so angenehm zu tragen waren. Auch einige wenige Jugendliche in Jeans konnte ich ausmachen, aber die waren eher die krasse Ausnahme. Frauen waren auf den Straßen deutlich in der Minderheit.
Ich ließ die neuen Eindrücke auf mich einwirken und genoss das Bild des bunten Treibens auf den Straßen, das eigentlich nur vom fortwährenden Gehupe der Autos und Taxis gestört wurde. Mir fielen ein paar alte Gebäude mit runden weißen Kuppeldächern auf. Diese Dächer sind in diesen Breitengraden sehr beliebt, da durch diese Bauweise die Luft im Raum besser zirkulieren kann und so die Hitze leichter zu ertragen ist. Im alten Teil der Stadt, vor allem in der Gegend um den spanischen Zoukh und der alten Garnison, gab es viele dieser Häuser.
Wir fragten unseren Kollegen Löcher in die Bäuche, während die Aircondition des Nissans auf Hochtouren lief und weißer Kondensdampf aus den Lüftungsschlitzen strömte. Jeder hatte tausend Fragen und jede einzelne war natürlich wichtig. Geduldig wurden sie beantwortet und wir fühlten uns von den Kameraden gut aufgenommen.
Schließlich war unser Ziel erreicht. Das Hotel war am nordöstlichen Stadtrand gelegen und bestand aus fünf Stockwerken. Der Putz an den Wänden bröckelte bereits vom bloßen Zusehen herab und auf mich machte es daher eher den Eindruck einer ziemlich heruntergekommenen Absteige. Es war, gelinde gesagt, nicht gerade luxuriös oder elegant und würde daheim mit Mühe einen halben Stern bekommen, sofern es die Gesundheits- oder Bauämter nicht gleich wieder schließen würden. Bezeichnenderweise war der Name des Hotel bereits von den einfallsreichen Kollegen kurzum in „La Wanza“ oder einfach nur „Zur Schabe“ umbenannt worden. Nichtsdestoweniger sollte es für die nächste Zeit mein Zuhause sein.
Beim Eintreten sah ich im Eingangsbereich mehrere zwielichtige und schlecht rasierte Gestalten herumlungern, vor denen man uns schon auf der Fahrt ins Hotel gewarnt hatte. Sie trugen schäbige, abgewetzte Anzüge und versuchten, hinter ihren albern und billig aussehenden Sonnenbrillen gefährlich dreinzuschauen. Es waren dies Gehaltsempfänger der marokkanischen Regierung. Die finsteren Geheimdienstmänner des marokkanischen DST10, im Volksmund Muhabarat genannt, verfolgten jede Bewegung von UN-Mitarbeitern sehr genau und wollten natürlich wissen, wer da neu in ihren Dunstkreis einzog. Ich erfuhr später, dass diese Herren sich nicht nur damit begnügten, sich auf den zerschlissenen Sesseln in der schäbigen Eingangslobby dieses traurigen Abbilds eines Hotels herumzufläzen und die Namen von Neuankömmlingen aufzuschreiben. War die Luft rein, schnüffelten sie auch in den Zimmern der UN-Angehörigen herum. In diesem Etablissement hatte man womöglich gleich mit mehreren Arten von Wanzen zu rechnen: Die eine kam aus dem Tierreich, die andere aus der Elektromikrotechnik.