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Inhalt

Für Else

Nach langem gemeinsamem Bemühen

um die Sache selbst

und aus dem Zusammenleben heraus

entsteht es plötzlich –

wie ein durch einen Feuerfunken

entzündetes Licht –

in der Seele

und nährt nunmehr

sich selbst.

Platon im ›Siebenten Brief‹

Theologen und andere Kleriker,

Ihr werdet es nicht verstehen,

Möget Ihr auch klare Gedanken haben,

Wenn Ihr nicht bescheiden vorgeht.

Minne und Glaube gemeinsam

Werden Euch helfen,

über die Vernunft hinauszukommen,

Minne und Glaube,

die Herren hier im Hause sind.

Margarete Porete in ›Spiegel der einfachen Seelen‹

Vorwort:
Gnosis, Gral und
Rosenkreuz

Gral und Rosenkreuz verkörpern zentrale Symbole des esoterischen Christentums. Darunter ist eine Spiritualität zu verstehen, deren Trägerinnen und Träger ihre Aufmerksamkeit nach innen lenken. Äußere Formen der Frömmigkeit wie die der Gotteshingabe werden jeweils nach dem befragt, was als spiritueller Gehalt uns »unbedingt angeht«. Wohl bedarf es äußerer Formen und Darstellungsweisen religiöser Übung. Übergroß ist die Fülle der Riten sowie der Ausgestaltungen ihrer, durch die sich das Wesen einer Religion zu erkennen gibt. Doch dabei handelt es sich – bildhaft gesprochen – um »irdene Gefäße«, die einen letztlich nicht darstellbaren Inhalt bergen (Paulus II. Kor. 4, 7 nach Luther). Es bedarf solcher Gefäße wie der damit zusammenhängenden Aktivitäten. Aber sie verhalten sich wie die variable Außenseite zu dem zugrundeliegenden Inneren, eben zu dem Esoterischen.

Die Gralsschale oder der Kelch, der nach neutestamentlicher Überlieferung und dem aus ihr erwachsenen Mythos das Blut des Erlösers enthält, deutet darauf hin. Andererseits rühren Kreuz und Rose an dasselbe Mysterium, wobei das Kreuz für das Sterben, den mystischen Tod steht, die Rose jedoch das aus diesem Tod auferstandene neue Leben bedeutet. Es darf nicht mit einer physischen Reanimation verwechselt werden. Es meint vielmehr eine neue, durch einen Wandlungsprozeß hindurchgegangene Qualität, ein Leben höherer Ordnung, ohne das der Tod mit dem Opfer des sterblichen Lebens keinen Sinn hätte.

Damit ist auf die Notwendigkeit einer Wandlung hingewiesen, die den Weg- und Prozeßcharakter des Christseins in seinem esoterischen Aspekt ausmacht: Christsein als ein Weg; Christsein als ein Werden. Die hierfür erforderliche spirituelle Erkenntnis wird Gnosis genannt. Damit sind die drei Elemente christlicher Esoterik aufgerufen: »Gnosis, Gral und Rosenkreuz«.

Auch dieses Buch, das ursprünglich den Titel »Esoterisches Christentum« trug, hat 1995, das heißt nach seiner ersten Fassung aus dem Jahre 1975, eine Wandlung und Erweiterung erfahren, jedoch ohne daß die »Sache«, um die es damals wie heute geht, verändert worden wäre. Die abschließende Autorennotiz verweist auf einige inzwischen erschienene, das Thema ergänzende Veröffentlichungen des Verfassers.

Schwarzenbruck bei Nürnberg,
Ostern 2007
Gerhard Wehr

Zur Einführung:
Esoterik in der
Antike

Esoterik ist in den letzten Jahren ins Gerede gekommen. Dabei entsteht nicht selten der Eindruck, als handle es sich um ein fragwürdiges Sammelsurium kurios geheimnisvoller Theorien und Praktiken. Wenige, die das Modewort im Munde führen, machen sich klar, aus welchen geistesgeschichtlichen Wurzeln Esoterik eigentlich hervorgewachsen ist. Wenige wissen, inwiefern das Esoterische seit je auch in der Tradition des westlichen Christentums beheimatet ist. Eine ertragreiche Spurensuche steht dem Interessierten bevor.

Bereits in der antiken Philosophie hatte die Esoterik ihren festen Platz. Das heißt, man unterschied deutlich zwischen dem, was in der Philosophenschule den in der Erkenntnis Fortgeschrittenen mitgeteilt werden konnte, und der öffentlich vorgetragenen Lehre. Noch in der heutigen Philosophie spricht man von einer »Esoterik-Exoterik-Spannung«, um das Gegenüber von interner, eben esoterischer Denkbemühung, und exoterischer, also nach außen gerichteter Lehrmitteilung zu unterscheiden. Erinnert sei an Kant, der einerseits von Philosophie nach ihrem »Schulbegriff« sprach und der andererseits davon eine Philosophie nach ihrem »Weltbegriff« abhob. Der Sache nach ist einmal der mehr esoterische, das andere Mal der exoterische Aspekt zur Geltung gebracht.

Sehen wir uns nach einem Beispiel aus der vorsokratischen Philosophie um, so kann auf Pythagoras und auf seine Philosophenschule im süditalienischen Kroton verwiesen werden. Als Esoteriker lassen sich die Jünger des Pythagoras insofern ansprechen, als sie einen inneren Kreis bildeten, eine Mysteriengemeinschaft mit straffer Disziplin, spirituell und ethisch ausgerichtet. Dadurch hoben sich die Pythagoräer von ihrer Umgebung ab. Platon, der in mehrfacher Hinsicht durch den Weisen von Kroton gelernt hat, setzte dem Philosophen des 6. vorchristlichen Jahrhunderts in seinem Staat ein Denkmal, indem er schrieb: »Pythagoras selbst genoß auf Grund seiner Lebensführung die größte Verehrung, und auch seine Nachfahren, die noch jetzt von Pythagoreischer Lebensordnung sprechen, erscheinen irgendwie als etwas Besonderes unter den übrigen Menschen.«1

Pythagoras. Steinfigur. Porte Royale der Kathedrale von Chartres.
Etwa 1135

Dieses Besondere besteht aber offensichtlich nicht allein in der strengen Lebensführung oder in einer exklusiven Gemeinschaftsbildung. Dies könnte gegebenenfalls auch von anderen nachgeahmt werden, die keine spirituellen Zielsetzungen verfolgen. Es muß aber noch ein Spezifikum geben, das gerade nicht eines äußeren Nachweises bedarf, eine Besonderheit, die sich auf die innere Dimension in Mensch und Welt bezieht.

In seinem berühmten 7. Brief, aber auch an anderen Stellen seines Werks hat Platon darauf hingewiesen. Seinen Hinweis verband er mit der Feststellung, daß das Eigentliche seiner Philosophie gar nicht mitteilbar sei. Vielmehr müsse sich der Liebhaber der Weisheit aus eigenem Antrieb heraus darum bemühen. Mehr als ein Wink könne nicht gegeben werden. Auch er, Platon, habe in seinen Lehrunterweisungen und Dialogen, die an die Öffentlichkeit kamen, nie mehr gegeben. Das Eigentliche blieb entweder ungesagt, oder es wurde nicht über die Schwelle der Philosophenschule hinausgetragen.

Der große Schüler des Sokrates spielt damit auf die Entschlossenheit an, die erforderlich ist, um auf dem inneren Weg voranzukommen. Es ist ein Weg, der klare Nüchternheit des Herzens und ungeteilte, feurige Hingabekraft verlangt. Einen bequemen Weg (»Königsweg«) zum Geist gibt es nicht. Für ihre legitimen Schüler kennt die Weisheit keine Schonung. Platon schreibt: »Diejenigen dagegen, welche im Grunde keine wahren Jünger der Weisheit sind, sondern welche nur so einen oberflächlichen Anflug von Scheinwissen haben …, die bekommen angesichts der Vorstellung, welchen Umfang das Gebiet der Weisheit habe und wie groß die Anstrengung sei … endlich die Überzeugung, daß dasselbe für sie schwer und unmöglich ist … Einige von diesen Scheinwissern machen sich weis, sie hätten das ganze Gebiet des Wissens schon inne und gar keine weiteren Studien mehr nötig.«2

Demnach geht es Platon offensichtlich darum, die – wie er sich ausdrückt – wahrhaft »Gottbegeisterten der Weisheit« von jenen zu unterscheiden, die sich mit einem bequem zu erlangenden oberflächlichen Scheinwissen begnügen, dieses Scheinwissen aber bereits als echte Weisheit ausgeben. Eine derartige Unterscheidung der Geister hat es immer gegeben.

In dem erwähnten 7. Brief Platons findet man noch eine Reihe von Angaben, die alles ernste geistige Streben näher charakterisieren. Die Forderungen, die sich daraus ergeben, lassen sich wie folgt zusammenfassen: Ein wahrer Freund der echten Weisheit muß ihr innerlich verwandt sein. Er muß bereit sein, einen anstrengenden Höhenweg zu gehen. Hat er den betreten, setzt er alle Kräfte ein, um dem Wegführer, der das Ziel kennt, ohne Zögern zu folgen. Vor jenem höchsten Ziel, wie immer man es definieren mag, macht er nicht halt. Mehr noch:Der wahre Geistessucher achtet auf den Augenblick, in dem er in der Erkenntnis reif geworden ist und selbst die nötige Führungskraft erlangt hat, um ohne äußeren Wegweiser die notwendigen Schritte zu tun. Der äußere Wegführer ist für den Anfang wohl nötig; das gilt für viele Felder menschlicher Bildung. In dem Moment aber, in dem eine gewisse Selbständigkeit und Reife erlangt ist, bedarf es keiner Gängelung mehr. Ja, hier würde sie gefährlich, für den Führer wie für den Geführten, weil nur zu schnell Abhängigkeiten entstehen. Übertragungsvorgänge laufen ab. Illusionen keimen unversehens auf. Es kommt daher entscheidend darauf an, daß sich der äußere Meister Schritt für Schritt zurücknimmt, damit der »innere Meister« des bisher Geführten in die ihm gemäße Initiative hineinwachsen kann. Im übrigen vergilt man seinem Lehrer schlecht, wenn man immer nur »Schüler« bleibt (Nietzsche) und wenn man nicht endlich Verantwortung für das eigene Geschick zu übernehmen bereit ist.

Der Prozeß der Erziehung muß in den der Selbsterziehung übergehen. Die Initiative der Menschenführung, der Bildungsarbeit und der Persönlichkeitsprägung erfolgt nicht länger von außen her, sei es durch einen Erzieher (Paidagogós), einen Philosophen, einen Meister oder Guru. (Entsprechendes gilt selbstverständlich für die gereifte, die wissende, zu ihrem Selbst erwachte Frau, die analogerweise solche Führungsaufgaben übernimmt.)

Die Lenkung und Unterweisung wird also von außen nach innen verlagert. Die Führung und Geleit gebende Instanz liegt im Menschen selbst. Ihr kann er vertrauen. Von dieser im strengen Wortsinne »esoterischen« Instanz wußten und wissen die Mystiker, wenn sie wie Meister Eckhart von dem Gottesfunken im Seelengrund sprechen. Mystik als Inbegriff geschehender Gotteserfahrung ereignet sich im Innenraum der menschlichen Seele;insofern ist sie »esoterisch«. Auch die moderne Tiefenpsychologie, beispielsweise die archetypische Psychologie eines C. G. Jung, rechnet mit jener inneren Führungsinstanz, dem »Selbst«, die mit dem manifesten Ich unserer menschlichen Erscheinung nicht verwechselt werden darf. Sie ist überpersönlicher Natur, eine Instanz eigener Prägung.

Selbst-Verwirklichung kann daher nicht als eine nach außen gerichtete Ertüchtigung des Ego mißdeutet werden, dessen Bestreben es ist, sich im allgemeinen Konkurrenzkampf um jeden Preis durchzusetzen. Die Verwirklichung des Selbst entspricht vielmehr einem Reifungsvorgang, der den Menschen von innen her verändert. Naturgemäß wandeln sich auch die Ziele dieser Veränderung im Laufe der Kulturepochen;sie unterscheiden sich in den verschiedenen Kulturräumen und weltanschaulichen Zusammenhängen. In der westlichen Welt sind aber seit der Antike Wege bekannt, die nach innen führen, seien es die mit dem Schleier der Arkandisziplin überdeckten Initiationen der Mysterien oder die immerhin noch mysteriennahen Unterweisungen, die durch die platonischen Dialoge (z. B. im Gorgias, Phaidros oder Symposion) vermittelt werden. Sie wenden sich im Grunde an Menschen, die auf ein inneres Ziel (Telos) zuzugehen bereit sind.

Jene Mysterien, die das größte Geheimnis vermittelten und bei denen die Hierophanten den Einzuweihenden durch die Zelebration (teleté) mit Geheimriten vertraut machten, waren die Mysterien von Eleusis bei Athen. Dort hieß der betreffende Raum Telesterion, Inbegriff und Stätte des esoterischen Vollzugs, der keinen »da draußen« etwas angeht, denn »der Menge gefällt, was auf den Marktplatz taugt« (Hölderlin). Der Profane darf die Schwelle zum Fanum, dem Ort der heiligen Handlung, nicht übertreten. Und selbst wenn er Worte, Gesten, Symbole einer solchen Handlung »kennenlernte«, wäre er nicht in der Lage, einen sinnvollen Gebrauch davon zu machen. Das Mysterium schützt sich selbst, insofern nur derjenige an ihm teilhaben kann, der den für den inneren Zugang erforderlichen inneren Weg der Reinigung, der Erleuchtung und der Verwandlung zu betreten gewillt und in der Lage ist.

Echte Esoterik als Inbegriff einer inneren Erfahrung, der Erkenntnis und der zur Reife hinführenden Verwandlung ist von jeder vordergründigen Pseudo-Esoterik abgrundtief geschieden, auch wenn sich deren Animateure geheimnistuerisch gebärden, indem sie angeblich »erstmals« den Schleier des Geheimnisses lüften und streng gehütetes Okkultwissen geschäftstüchtig verhökern. Platon wußte von dieser Unterscheidung und vollzog sie konsequent: »Denn in bestimmten sprachlichen Schulausdrücken darf man sich darüber [eben über dieses Eigentliche esoterischer Erfahrung] gar nicht aussprechen, sondern aus häufiger familiärer Unterredung gerade über diesen Gegenstand sowie aus innigem Zusammenleben entspringt plötzlich jene Idee in der Seele wie aus einem Feuerfunken das angezündete Licht und bricht sich dann selbst weiter seine Bahn.«

Zweifellos ein treffender Vergleich, dieses plötzliche Aufleuchten und Einleuchten, von dem all jene aus einem unauslöschlichen Erleben wissen, die einst und heute das Gemeinte an sich, in sich erfahren haben: keine so oder so geartete Vision oder Audition (innere Gehörwahrnehmung), wohl aber eine große Klarheit, eine große Gewißheit, die plötzlich da ist … Und weil dieses im strengen Sinn des Wortes intime, in der Tiefe des menschlichen Seelengrundes sich spontan ereignende Geschehen sich weder bereden noch wie ein Objekt der äußeren Gegenstandswelt beschreiben läßt, deshalb habe er, Platon, gar nicht den Versuch unternommen, dieses Esoterische etwa in einer Schrift zum Gegenstand der Erörterung zu machen. Mithin gebe es auch keine solche literarische Behandlung aus seiner Feder. Es sei, was ihn betrifft, vielmehr so: »Wenn es mir vernünftig geschienen hätte, daß jene Gedanken durch Schrift oder durch Wort unverschleiert unter dem Volke verbreitet werden dürften: was für eine schönere Lebensaufgabe würde ich da gehabt haben, als der Menschheit der Verkünder eines großen Heils zu werden und dabei das Wesenhafteste des Universums aller Welt ans Tageslicht zu bringen! Aber weder die Veröffentlichung jener Geheimnisse noch die sogenannte populäre Behandlung jener Materien halte ich für Menschen als ein Glück, mit Ausnahme von wenigen Auserwählten, von all jenen nämlich, welche imstande sind, auf einen ganz kleinen Wink hin selbst zu finden. Von dem übrigen Publikum muß sie natürlich einigen auf unverantwortliche Weise eine ganz dumme Verachtung für die Philosophie einflößen, andern dagegen eine Überspanntheit und Aufgeblasenheit infolge des Wahnes, sie hätten jetzt alle Weisheit mit Löffeln genossen.«3

Platon

Nun ist hier nicht der Ort, Platons ungeschriebene Lehre weiter zu betrachten. Was die wenigen Gedanken aus jenem 7. Brief des athenischen Philosophen anbelangt, so dürfte daraus indes deutlich werden, daß in der Frühzeit des abendländischen Denkens recht klare Vorstellungen vom Wesen eines esoterischen Strebens gebildet worden sind und daß es bereits Jahrhunderte vor der Zeitrechnung, als die Mysterienstätten Altgriechenlands4 noch existierten, durchaus nötig war, das Esoterische eines inneren Erleuchtetwerdens von der marktschreierisch angepriesenen Pseudo-Esoterik in unmißverständlicher Weise abzugrenzen. Daran hat sich in der christlichen Ära grundsätzlich nichts geändert.

Dabei stehen die richtungweisenden Philosophen wie Platon, auch Pythagoras und andere, bereits in einer großen Mysterientradition, sei es die Tempelkultur des alten Ägypten, von der durch Ausgrabungen bestenfalls die Außenseite des Phänomens zugänglich geworden ist, ganz zu schweigen von der touristischen »Erschließung« der antiken Reiseziele. Seien es andererseits die Mysterienstätten der alten Welt, namentlich die Griechenlands (Eleusis, Samothrake, die des Dionysos oder der Orphiker), seien es vorderasiatische Mysterienzentren, deren Ausstrahlung das römische Weltreich erfüllt hat5, – immer ging es darum, den Menschen am Weiheort für eine bestimmte Zeit aus dem Alltagsgetriebe herauszuheben und gleichzeitig hineinzunehmen, nach innen (griech.: eso, im Gegensatz zu exo, außen) zu führen, damit er als ein »Zweimal Geborener« mitten in der Zeit Unsterblichkeit erlange, um im mystischen Tod den zweiten oder ewigen Tod zu überwinden.

Die Formen und Darstellungsweisen konnten variieren. Das zeigt die Mysterienüberlieferung, auch wenn aufgrund der Arkandisziplin nur relativ wenig von den internen Vorgängen nach außen gedrungen ist und somit zweifelsfrei dokumentiert wurde. Symbolische Verrichtungen (Taufen, Waschungen, Opferungen) sowie kultische Handlungen (Prozessionen, Mahlfeiern, sakrale Hochzeiten) standen neben philosophischen Symposien, die den Weisheitsliebhaber (griech. philósophos) auf einem mehrstufigen Höhenweg emporführen sollten: vom Anblicken des sinnlich Schönen zur übersinnlichen Schau der überirdischen Ideen des Wahren, Schönen und Guten.

Wen wundert es, daß eine strenge, wie wir gesehen haben, noch von Platon praktizierte Arkandisziplin das Bereden der Mysterienhandlungen bis hin zur Todesstrafe verbot? Der im ausgehenden Mittelalter wirkende Cusanus (Nikolaus von Kues), der wie alle seines Geistes um diese Zusammenhänge gewußt hat, notierte einmal: »Der Grund aber, aus dem sowohl Platon in seinen Briefen, als auch der große Areopagite Dionysios es verboten, solche Geheimnisse denen, welchen Erhebungen des Geistes unbekannt sind, mitzuteilen, ist der, daß diese nichts lächerlicher finden als solche erhabenen Dinge.«6

Zum Wesen echter Esoterik gehört aber nicht allein das Hüten des Geheimnisses und das Verschweigen der Arcana, d. h. des zu Schützenden, sondern auch – scheinbar paradoxerweise – deren Weitervermittlung. Es geht um eine Mystagogie, also um eine methodische Einführung (Initiation) in die Mysterien und um eine entsprechende Belehrung. Auch hierfür hat die Antike Zeichen gesetzt. Sie tat es, indem sie den Genius der (geheimen) Weisheit in der mythischen Gestalt des »dreimalgroßen Hermes«, Hermes Trismegistos, verehrte und in seinem Namen »hermetische Schriften« verfassen ließ. Zwar sind die im Corpus Hermeticum niedergelegten Bücher7 erst in nachchristlicher Zeit abgefaßt und somit durch hellenistische Geistesart geprägt, doch erhebt ihr Wort Anspruch, zumindest Nachhall des einst ergangenen Urwortes (Logos) zu sein. Auch Hermes Trismegistos als Gründervater der nach ihm benannten Hermetik soll auf die ägyptische Mysterienkultur verweisen. Daher wird er mit dem ägyptischen Weisheitsgott Thot (Tat) gleichgesetzt, um auf diese Weise an die ununterbrochene Traditionskette zu erinnern, die Morgenland und Abendland, das Christentum und die vorchristliche Spiritualität miteinander verbindet. Das ausgehende Mittelalter und die »Hermetiker« der Renaissance haben sich in ihrem Denken und Tun auf den dreimalgroßen Hermes berufen.

Abgesehen von der kirchlichen Ausprägung des Christentums hat es jedenfalls von Anfang an eine eigenständige Esoterik gegeben. Es soll jedoch nicht der Eindruck erweckt werden, daß die hier zu besprechende Esoterik des Christentums nur außerhalb der kirchlichen Zusammenhänge oder im Widerspruch zu ihren wesentlichen Inhalten existiere oder existiert habe. Dergleichen liegt freilich insofern nahe, als kirchliche Amtsträger, die kirchliche Hierarchie als solche, oft genug die Empfänger von inneren Erfahrungen, selbst ihre großen Mystikerinnen und Mystiker – die Gnostiker ohnehin – als gefährliche Ketzer verfolgt und gegebenenfalls vernichtet haben. Doch dadurch wird nicht die Tatsache aufgehoben, daß etwa das sakramentale Leben, die reiche Symbolik und deren meditative Vergegenwärtigung, die vita meditativa in den Ordensgemeinschaften und dergleichen im Esoterischen wurzelt oder zu esoterischem Streben aufruft.

Auf diese Weise hat die Christenheit ihren Gang durch die abendländische Geistesgeschichte angetreten, und zwar lange bevor die Akademie von Athen, in der einst Platon gelehrt hatte, auf Geheiß des Kaisers Justinian im Jahre 529 geschlossen werden mußte.

Was rechtfertigt nun, von christlicher Esoterik zu sprechen? Etwa das Motiv, einer Modeerscheinung zu genügen oder einem gängigen Trend zu folgen? Davon kann nicht die Rede sein. Aufgrund oberflächlicher Betrachtung ist freilich die irrige Meinung entstanden, Esoterik sei mit der christlichen Botschaft in ihrem Kern unvereinbar, insofern sie sich nicht etwa an einen kleinen Kreis von Eingeweihten oder Wissenden wende, sondern als Heilsbotschaft »in alle Welt« (Mt 28, 19) hinauszutragen sei. Wer wollte aber verkennen, daß betende, meditierende, das Sakrament vergegenwärtigende Menschen einen solchen »kleinen Kreis« darstellen, der keine passiven Zuschauer duldet? Mit anderen Worten:Wer nicht auf eine solche (esoterische) Weise kommuniziert, der »exkommuniziert« sich selbst, und zwar ohne durch ein kirchliches Leitungsamt dazu verurteilt zu sein.

So sei vorweg eines festgehalten: Heute ist es nicht weniger schwierig als zu Zeiten der antiken Philosophen, auf die esoterische Dimension der Wirklichkeit hinzuweisen. Seit Ende der siebziger Jahre hat sich eine Welle der Pseudo-Esoterik ausgebreitet. Es wurde zum Beispiel der irritierende Eindruck erweckt, »Esoterik« sei schlechthin all das, was in den okkulten Formenkreis hineingehört, selbst mit Einschluß parapsychischer Erscheinungen und allerlei nicht selten fragwürdiger Praktiken bis hin zu den Abartigkeiten des Satanismus. Dem ist durch den Aufweis der Fakten zu widersprechen.

Ehe wir uns nun einzelnen Epochen christlicher Esoterik zuwenden, ist ergänzend auf den Anteil der jüdischen Überlieferung hinzuweisen. So bedeutsam der griechische Beitrag für die Bildung des abendländischen Geistes ist, ohne den Einfluß altisraelischer und jüdischer Spiritualität können die beiden nachchristlichen Jahrtausende in der westlichen Welt nicht gedacht werden. Ein reicher Symbolbestand, der dem christlichen Mystiker (im weitesten Sinn des Wortes verstanden) geläufig ist, gründet letztlich im Alten Testament. Man denke nur an den »Baum des Lebens«, an die Geheimnisse des »Thronwagens« beim Propheten Hesekiel (Ezechiel), an Priestertum und Tempeldienst. Und nachdem ein großer Bereich des Esoterischen dem großen Thema »Geist und Buchstabe« gewidmet ist, der Hermeneutik (wieder taucht »Hermes« auf), gilt es, den tieferen Schriftsinn zu entbinden, der sich im Wort und Gleichnisbild der »Schrift« eingetragen hat. Nicht die auf den Buchstaben schwörende Schriftgelehrsamkeit mit ihren historisch-kritischen Methoden ist gemeint, vielmehr geht es um das Ergriffenwerden von der spirituellen Dýnamis, eine Unterscheidung, die bereits in den Evangelien beim Gegenüber von Jesus und den »Schriftgelehrten« getroffen wird (z. B. Mt 7, 29). Nicht zuletzt von einer spirituell fundierten tiefenpsychologischen Schriftauslegung sind wesentliche, in unserem Sinne weiterführende Beiträge zu erwarten.8

Was nun die esoterische Tradition im Judentum (Kabbala) anlangt, so ist das kabbalistische Hauptwerk, der Sefer ha-Sohar (Buch des Glanzes), in erster Linie eine mystische Auslegung der Tora (Fünf Bücher Mosis) mit den Geheimnissen der Schöpfungsgeschichte. Ältere Texte beschäftigen sich mit der Merkaba- (Thronwagen-)Mystik. Noch Jakob Böhme (zu Beginn des 17. Jahrhunderts) steht diese Imagination der nach allen Seiten sich bewegenden »Räder« lebendig vor dem inneren Auge. Dieser vorläufige Hinweis auf die jüdische Spiritualität ist deshalb angebracht, weil – insbesondere seit der Renaissance – eine »christliche Kabbala« als eine spezielle Ausformung christlicher Esoterik in Erscheinung tritt. So sind es hauptsächlich zwei Geistesströmungen, die, sich wechselseitig vermischend, die abendländische Kultur durchziehen und reich befruchtet haben: die griechisch-hellenistische und die hebräisch-jüdische Spiritualität. Von hier aus kann die Annäherung an die spezifisch christliche Esoterik versucht werden. Eine grundlegende Einsicht sei mit Leopold Ziegler ausgesprochen, der sich auf Kierkegaard beruft: »Der Hauptsache nach kommt es bei der jüdischen wie bei jeder anderen Esoterik auf einen Tatbestand an, den kaum jemand schärfer herausgestellt haben dürfte als der Theologe des absoluten Paradoxes, Sören Kierkegaard … Wir meinen den wirklich ›lapidaren‹ Sachverhalt, daß die religiöse Wahrheit Gottes sei und darum unter keinen Umständen bloß wißbare, bloß lehrbar-lernbare Wahrheit, die um des schieren Wissens willen gewußt und vom (unheiligen) Geist wie von einem registrierenden Beamten als Eingang gebucht und zu den Akten gegeben, zu den Akten gelegt wird … Im ausgemachten Gegensatz dazu hat es die religiöse Wahrheit niemals auf einen menschenähnlichen Registrierapparat abgesehen, wie er sich in der heutigen Gesellschaft vielfach als Fachgelehrter betätigt, sondern auf den konkret existierenden Menschen, den sie in seinem Zentrum treffen und ›hinüberformen‹, nämlich zu sich selbst hinüberformen will.«9

Um diese Transformation geht es in der Tat. Deshalb ist der Paidagogós, der Mystagogós gefragt.10 Mit der Initiierung einer spirituellen Erfahrung allein ist es nicht getan: »… Du mußt dein Leben ändern« (Rilke).

I.
Aus der Frühzeit des
Christentums

Innere Horizonte

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich: Geistig-religiöse Bewegungen haben nicht nur eine allen wahrnehmbare Außenseite. Sie sind mehr als das, was von ihnen sichtbar in Erscheinung tritt und bis ins kulturell-gesellschaftliche Leben hinein seine Prägekraft erweist. In den Sichtbereich des allgemeinen Bewußtseins tritt meist nur ein Teil der jeweils zugrundeliegenden Wirklichkeit. Organisation, Ritus, Lehre und was immer der »Mission« und der Botschaft an die Welt dient, verhält sich zu diesem Innen wie verschiedenartige Gefäße zu einem unerschöpflichen, daß heißt letztlich durch kein Gefäß auszuschöpfenden Inhalt.

Eben dieses Vergleichs bedient sich der Apostel Paulus, wenn er im II. Korintherbrief (Kap. 4,6 f.) schreibt: »Wir haben aber solchen Schatz in irdenen Gefäßen, auf daß die überschwengliche Kraft sei Gottes und nicht von uns …« Und unmittelbar voraus geht die Begründung: »Denn Gott, der da hieß das Licht aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, daß durch uns entstünde die Erleuchtung von der Erkenntnis der Klarheit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi.«1

Nun hat die christliche Botschaft in einem einzigartigen Siegeszug Weltgeschichte gemacht. Die Ausbreitungsgeschichte des Evangeliums und die von Fragwürdigkeiten keinesfalls freien Annalen der kirchlichen Mission bezeugen die Kulturen und Erdteile bezwingende Kraft eines beinahe beispiellosen Expansionswillens. Was ursprünglich ein (irregulärer) jüdischer Rabbi, ein religiöser Außenseiter, sodann eine Handvoll galiläischer Fischer in einer entlegenen, politisch und kulturell unbedeutenden Provinz des römischen Imperiums gepredigt haben, eroberte die ganze Erde, die Oikouméne, die ganze bewohnte Welt.

Dieser Zug in die Weite war von Anfang an vorgezeichnet. Das geht bereits aus den Evangelien hervor: »Gehet hin in alle Welt, zu allen Völkern!«Von der Provinz in die jüdische Tempelstadt;von Jerusalem in die Metropolen des römischen Weltreichs; von Asien nach Europa;aus dem bergenden Schoß des östlichen, von mythischen Bildgehalten durchsetzten Bewußtseins auf den athenischen Areopag, in die Synagogen der weltzugewandten jüdisch-hellenistischen Diaspora und in die alexandrinischen Lehrhäuser. Und was der Mund der Bevollmächtigten des Christus als Kerygma, als die Botschaft eines Herolds ausrief, das vermochte keine Christenverfolgung dem Ohr und dem Gedächtnis der Hörer zu entreißen. Der Galiläer, der Zimmermannssohn aus Nazareth, hat sie alle besiegt. Sein Evangelist, der ökumenisch konzipierende Lukas, hält (Apg 1,8) den Aktionsplan der Apostel, der ebenfalls von Anfang an bestand, für die Nachwelt fest: »Ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem, in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde.«

Diesem Zug in die geographische Weite entspricht die theologische Zielsetzung, das Verborgene »von den Dächern« zu predigen und das Geheimnis vom herannahenden Reich des Menschensohns an die Öffentlichkeit zu tragen. Die dringliche Einladung zum großen Mahl des zukünftigen Königs ergeht an alle. Etwaige Vorrechte oder Beschränkungen auf Geschlecht, Nation, Rasse oder die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht sind aufgehoben oder doch deutlich relativiert. Da werden die Unterschiede von Juden und Griechen, von Mann und Frau, von Sklaven und Freien unerheblich. Dieser Äon mit seinen alten Gesetzmäßigkeiten und Lebensbedingungen ist ohnehin schon abgelaufen (1. Kor 7,31); ein neues Zeitalter, nämlich das des Menschensohns, und das Reich der Himmel ist nahe herbeigekommen. »Dein Reich komme!«, betet die frühe Christenheit mit beispielloser Inbrunst. Das tröstende und zugleich majestätische »Kommt her zu mir alle!« dringt auch und gerade an das Ohr der Deklassierten, der Diffamierten und der Entrechteten aller Zeiten. Ein Ansehen der Person vor dem Gott der Christen gibt es ohnehin nicht – so der Völkerapostel Paulus, der wie kein zweiter der expansiven Tendenz der Christusbotschaft in Wort und Schrift Ausdruck verliehen hat. Ein Großteil der Ur-Kunde der ersten Christenheit, das Neue Testament, geht auf ihn zurück. Der Drang nach außen und in die Weite, diese betonte Extraversion könnte nicht imposanter sein.

Bedenkt man all das und läßt man die Fülle der Zeugnisse von der ältesten Tradition bis in die kirchlichen Verlautbarungen und Willenserklärungen der Gegenwart auf sich wirken, dann fällt es freilich nicht leicht, angesichts dieser geradezu totalen Extraversion von christlicher Esoterik zu sprechen. Hinzu kommt der abwertende Unterton, der sich an die Vokabel »esoterisch« geheftet hat. Das geschieht beispielsweise überall dort, wo man eine geradezu verdächtig elitäre Exklusivität und Geheimnistuerei als »esoterisches Gehabe« anprangern will. Dabei besagt das Wort, wie wir gesehen haben, gemäß seiner Bedeutung (griech. eso, eiso für »hinein, drinnen«, im Gegensatz zu exo für »außen, außerhalb, nach draußen«), daß eine Erscheinung oder ein Ereignis nicht nur eine im Vordergründigen liegende Außenseite habe, sondern auch ein Innen, einen Wesenskern, eine Sinnmitte. Insofern deutet das Esoterische auf die verborgene, dem äußeren Auge gemeinhin entzogene Dimension der einen Wirklichkeit hin, die sich eben nicht bereits in dem erschöpft, was von vornherein offen zutageliegt und sich nicht ohne weiteres »aus«-drücken läßt. (Von der Bedeutung des Esoterischen im philosophischen Zusammenhang war bereits die Rede.) Demnach umschließt das Esoterische ein Geheimnis. Wer zu ihm dringen will, muß einen Weg beschreiten, der von »außen« nach »innen« führt. Diese – Paul Tillich nennt sie »mystische« – Esoterik »wurzelt in der Tatsache, daß gewisse religiöse und psychologische Erfahrungen nicht ohne strenge Vorbereitung erreichbar sind«.2 Dennoch ist Esoterik nicht allein auf bloße »Innerlichkeit« zu reduzieren. Es gibt kosmische Geheimnisse, Geheimnisse der materiellen Welt, und deshalb wird beispielsweise der Bereich der Alchymie einzubeziehen sein. Auch hier, im Bereich des Lebendigen, des Elementaren wie des Astralen, walten »Götter«.

Fragen wir uns nun, wo diese Esoterik im Christentum ihren Platz hat, das ein irdisch-kosmisches Mysterium umschließt, dann kann die Antwort lauten: Sie hat ihren Platz dort, wo der Christ an der Gottesweisheit (gnosis theoú) teilhat, wo sich dem Mystiker auf dem Pfad einer konsequenten Nachfolge (imitatio Christi) ein Zugang zur Vereinigung mit Christus erschließt, die nicht ohne weiteres mit einem äußeren kultischen Akt gleichgesetzt werden kann. Dennoch sind Mystik und Esoterik, wie noch zu sehen sein wird, nicht einfach identisch. Von einem esoterischen Ereignis ist im Christentum schließlich dort zu sprechen, wo der Glaube »sehender Glaube« wird, indem er eine Erkenntnisfunktion erfüllt, die höher und tiefer ist als die rationale Vernunft (Phil 4,7). Gnosis (erleuchtende, befreiende Erkenntnis) und Pistis (Glaube im Sinn des Neuen Testaments) sollen hier nicht gegeneinander ausgespielt werden:Sie sind aufeinander bezogen. Auf der anderen Seite ist es nicht zu leugnen, daß es verschiedene Weisen spiritueller Erfahrung, sodann Stufen der Erkenntnis und der individuellen Reifung gibt. Man kann dem Mysterium des Glaubens näher oder ferner stehen. Man kann auf dem Wege der Christus-Nachfolge Fortschritte machen oder angesichts der auftretenden Hindernisse straucheln.

Somit verweist das hier gemeinte Esoterische auf eine das Bewußtsein erweiternde, die Erkenntnis vertiefende, das Leben verwandelnde Kraft. Sie verweist auf die Dýnamis des pneumatischen Christus, auf den im Geiste (pneuma) gegenwärtigen Christus.

Wer sich von da aus über esoterische Aspekte des Christentums Klarheit verschaffen will, der kann sich zunächst einmal vor Augen führen, daß Esoterik sich in der allgemeinen Religionsgeschichte auf einer viel breiteren Basis darstellt, als dies für das Christentum zutrifft oder doch zuzutreffen scheint. Der frühere Marburger Kirchen- und Religionsgeschichtler Ernst Benz hat einmal darauf aufmerksam gemacht, daß beim Vergleich des Christentums und des Buddhismus hinsichtlich der institutionellen Struktur des Buddhismus gravierende Unterschiede zum westlichen Christentum auffallen. Benz meint die Tatsache, »daß es einer esoterischen Schule des Buddhismus, die sich auf eine bestimmte geheime Lehrüberlieferung wie auch auf bestimmte esoterische Riten und Praktiken gründet und die über eine esoterische Symbol– und Zeichensprache verfügt, gelungen ist, den Charakter einer Millionen umfassenden Gemeinschaft anzunehmen, die fast volkskirchliche Züge aufweist, die über eigene Universitäten und Lehranstalten verfügt, die einen Festkalender mit öffentlichen Festen aufweist, die durchaus den Charakter von Volksfesten annehmen – die Shingon-Schule«.3

Eine gewisse Parallele dürfte im schiitischen Islam bestehen, der über eine reich ausgebildete Esoterik verfügt, ohne daß diese in der öffentlichen Diskussion ins allgemeine Bewußtsein tritt.4 Der Unterschied zum kirchlichen Christentum besteht demnach darin, daß es auch in ihm zwar von Anfang an typisch esoterische Ausgestaltungen gibt, deren Bedeutung gar nicht zu unterschätzen ist, daß diese Ausgestaltungen jedoch kaum jene allgemeine Wertschätzung und Würdigung erfahren haben, wie dies am erwähnten buddhistischen Beispiel abzulesen ist. Mehr als äußere Verfolgungen hat innerkirchliche Verketzerung den Verdrängungsprozeß dem Esoterischen gegenüber in Gang gebracht. Ernst Benz fügt noch hinzu: »Aus diesem Grund wird auch die Existenz des esoterischen Christentums von der allgemeinen Kirchengeschichtsschreibung, die sich im wesentlichen auf die Darstellung der Geschichte des institutionellen Kirchentums beschränkt, kaum oder nur in Ausnahmefällen zur Kenntnis genommen. Eine zusammenhängende Darstellung der Geschichte des esoterischen Christentums gibt es überhaupt nicht …«

Diese Beobachtung ändert aber nichts an dem Tatbestand, daß sich durch die zweitausendjährige Kirchengeschichte ein verborgenes Christentum wie ein untergründiger Strom hindurchzieht, der hie und da hervortritt, sich dann in eine Vielzahl von spirituellen Rinnsalen auffächert und gegebenenfalls wieder zu versickern scheint. Man wird an das Wort C. G. Jungs erinnert: Das »Christentum ist eingeschlafen und hat es versäumt, im Lauf der Jahrhunderte seinen Mythus weiterzubauen. Es hat jenen, die den dunklen Wachstumsregungen der mythischen Vorstellungen Ausdruck gaben, das Gehör versagt.«5 Zur Verständigung wäre nur hinzuzufügen, daß Jung das landläufige kirchliche Christentum meint, das den geistigen Trägern, die aus diesem esoterischen Strom geschöpft haben, nicht die Beachtung schenkt, die ihnen – um der Sache des fortschreitenden Christentums willen – tatsächlich zukommt. Dabei schätzte Jung wie kaum ein anderer die christliche Esoterik (Gnosis, Mystik, Alchymie und deren jeweilige Repräsentanten wie Eckhart, Joachim von Fiore, Jakob Böhme) hoch ein.

Wo sind die Gründe für diese Entwicklung zu suchen? – Darauf sind je nach Herkommen und Standort verschieden akzentuierte Antworten möglich, und erst eine Zusammenschau der verschiedenen Faktoren trägt dazu bei, die Phänomene zu erklären. Ohne den Ergebnissen dieser Darstellung vorzugreifen, läßt sich sagen: Die Skepsis dem Esoterischen gegenüber entspricht einem geistesgeschichtlichen Prozeß und bestimmten Entfaltungsvorgängen des menschlichen Bewußtseins. Dabei spielen zwei menschliche Grundhaltungen eine Rolle, die das Evangelium seinen Betrachtern vor Augen führt. Jeder aufmerksame Bibelleser lernt sie kennen: Da ist einmal die Grundhaltung der Aktivität (vita activa), die sich in Geschäftigkeit und Wagemut, aber auch in Unruhe und Rastlosigkeit ausdrückt; alle Kräfte werden in den Dienst des Auftrags (Mission, Diakonie oder Caritas) gestellt. Die äußerste Möglichkeit eines rückhaltlosen Einsatzes für andere liegt darin, daß der Mensch sich darüber selbst vergißt. Indem er sich aufmacht, die Welt (im weitesten Sinn des Wortes) zu erobern, nimmt er Schaden an seiner Seele. Die diagnostisch-therapeutische Seite dieses Seelenverlustes6 ist heute von höchster Aktualität. Auch von daher ist nach dem Wesen und der Gegenwartsbedeutung legitimer Esoterik zu fragen.

Und da ist andererseits, gleichsam als Korrektiv und notwendiger Ausgleich, die Einstellung der Selbstbestimmung und der Kontemplation (vita meditativa), die Bereitschaft aufzunehmen, die geistliche Sammlung auf das »Eine, das not tut«. In der Evangelienperikope von der meditativen Maria und der rastlos tätigen Martha sind beide Seelenmöglichkeiten veranschaulicht (Lk 10,38–42). Bezeichnenderweise zieht Jesus diese Wendung nach innen der Hinwendung zu den Forderungen des Tages vor. Diese Priorität der Konzentration und der Meditation vor der Aktion soll nun sicher nicht als Alternative verstanden werden. Sie besagt aber, daß nur der zentrierte, auf die eigene Wesensmitte ausgerichtete Mensch zu der von ihm erwarteten Sendung fähig ist. Nur so ist er seiner Aufgabe, anderen zu dienen, gewachsen.7 Die Sammlung rangiert vor der Sendung, die Meditation vor der Aktion. Eine Umkehrung – etwa der benediktinischen Regel: Ora et labora, bete und arbeite! – ist undenkbar. Bis in die esoterisch alchymistische Praxis hinein gilt dieser Grundsatz, denn Oratorium und Laboratorium sind die beiden in dieser Reihenfolge aufeinander bezogenen Teile des zu vollziehenden Werks (opus alchymicum). Sie dulden keine Trennung. Daß Mystiker vom Range eines Meister Eckhart gegebenenfalls den Dienst Marthas höher einschätzen als die Sammlung Marias, ergibt sich aus der konkreten Situation und aus der Ergänzungsbedürftigkeit der beiden Weisen christlichen Existierens.8

Aber gerade dieses Gleichgewicht ist der neueren Menschheit verloren gegangen. Zweifellos hat sich die westliche, durch das Christentum geprägte Menschheit die extravertierte Grundhaltung in hohem Maße zu eigen gemacht. Am deutlichsten läßt sich dies seit der Renaissance beobachten, als der Mensch begann, sich selbst als geschichtliches und autonomes, von fremden Autoritäten unabhängiges Wesen zu begreifen. Dieser autonome Mensch hat die Weltlichkeit der Welt für sich entdeckt. Er wurde seiner Berufung inne, die Welt – nun eben die quantitativ wägbare, meßbare, zahlbare und manipulierbare Außenwelt – zu erobern, durch eine bis dahin nicht gekannte naturwissenschaftliche Sichtweise sowie durch eine entsprechende technische Bewältigung der Natur.

Es war Rudolf Steiner, der als einer der ersten darauf hingewiesen hat, daß diesen Entwicklungen eine bestimmte Entfaltungstendenz des menschlichen Bewußtseins zugrundeliegt. Demnach war dieser bewußtseinsgeschichtliche Wandel nötig. Die alte, auf geistiger Schau basierende, vorrationale Introversion der Menschheit mußte Schritt für Schritt preisgegeben werden, um der Ich-Werdung und um der Herausbildung des vollen Tagesbewußtseins willen. Ohne diese weltweite, alle Gebiete einbeziehende Extraversion wäre die Menschheit nicht zu sich selbst gekommen – eine Position, die heute als ein Durchgangsstadium zu begreifen ist.9

Der Gang des Evangeliums und die Ausbreitung des Christentums, die kennzeichnenderweise von Ost nach West verlief, bestätigt diese Grundtendenz. Alte Erlebnismöglichkeiten der Seele mußten preisgegeben werden. Die dadurch bedingte geistige Verarmung war in Kauf zu nehmen. Dazu gehören die materialistisch-nihilistischen Weltanschauungen und schließlich auch das Eingeständnis religiöser Leere, für das die vieldiskutierte Chiffre der Dichter (Jean Paul in: Rede des toten Christus …) und Denker (Hegel, Nietzsche, Sartre) sowie der Theologen der sechziger Jahre steht: »Gott ist tot …«

So ergab es sich, daß wertvolles esoterisches Geistesgut in Mißkredit und in Vergessenheit geriet. Die Zahl derer, die noch einen gleichsam naturhaften Zugang zu den Quellen unmittelbarer religiöser Erfahrung hatten, nahm stetig ab. Und die Wenigen, Seltenen, die noch an den alten Seelenmöglichkeiten und außersinnlichen Wahrnehmungsformen teilhatten, meint man heute vielfach allein mit psychiatrisch-psychopathologischen Kategorien erfassen zu können. (Außer Betracht bleibt für den Moment die inzwischen weit verbreitete Sehnsucht nach einer prälogischen Mentalität in Schamanismus, Matriarchat, Hexentum und dergleichen.) Den hier gemeinten Tatbestand hat Ernst Benz am Anfang seines umfangreichen Werks über die Erfahrungsformen der Vision wie folgt charakterisiert:»Keine Rolle fällt der Wissenschaft leichter als die des Famulus Wagner, der ›als trockener Schleicher die Fülle der Gesichte stört‹. Visionäre verführen den wissenschaftlichen Betrachter von heute zumeist zu einer rein psychopathologischen Deutung und – wenn möglich – Behandlung. Unsere heutige Zeit schützt sich so ängstlich gegen alle Erschütterungen vom Transzendenten her, daß sie die zeitgenössischen Träger einer visionären Begabung zunächst einmal in die Nervenklinik einliefert, mit dem redlichen Ziel, sie dort von ihren visionären ›Störungen‹ zu befreien, und auch die früheren Träger derartiger ›anormaler‹ seelischer Fähigkeiten zu Psychopathen erklärt und sie so wenigstens noch nachträglich und in effigie (bildlich gesprochen) in die Nervenklinik einliefert.«10

Ganz abgesehen davon scheint man vergessen zu haben, daß es so etwas wie eine spontan auftretende »göttliche Krankheit« gibt, die eine erweckende Funktion zu erfüllen vermag. Tatsächlich treten übersinnliche Wahrnehmungen (Visionen, Auditionen und dergleichen) häufiger auf als gemeinhin angenommen. Entsprechend groß ist die Ratlosigkeit derer, die – etwa als »Seelsorger« – mit solchen Phänomenen konfrontiert werden. Kompetenz in spiritualibis ist eher die sehr seltene Ausnahme.

Zu einer Bestandsaufnahme gehört noch eine andere Beobachtung, die sich auf das »geistliche Amt« der christlichen Gemeinde und die durch besondere spirituelle Begabungen ausgewiesenen Charismatiker bezieht. Auch wenn man davon ausgeht, daß alle Dienste und Funktionen seit der Urchristenheit als »geistgewirkt« verstanden werden und grundsätzlich eine alternativ verstandene Differenzierung – hier Amtsträger, dort Charismatiker – ausgeschlossen sein sollte, so ist jedoch sehr bald eine Entwicklung eingetreten, die zur Ausgestaltung des späteren hierarchisch und monarchisch geprägten Leitungsamtes (epískopos, Bischof) der Kirche geführt hat. An die Stelle des urchristlichen Charismatikers, der sich durch die besondere Gabe (chárisma) des Wortes, der Lehre, der Heilwirkung vor anderen Gemeindegliedern, jedoch in deren Dienst auszeichnete, trat mehr und mehr der Amtsträger. Als monarchischer Bischof, gar als oberster Bischof (pontifex maximus, Papst) konnte und kann er durch keinen gemeindlichen Mehrheitswillen in die Schranken gerufen werden.

Für den Charismatiker oder die Charismatikerin bedeutete dies: Die frei waltenden Geistesgaben wurden durch die auf priesterliche Sukzession (Amtsnachfolge) sich berufende Amtsvollmacht ersetzt. Spätestens seit der Mitte des 2. Jahrhunderts beginnt dieser Vorgang sich mit deutlichen Konturen innerhalb der Christengemeinden abzuzeichnen:Was einst aus ursprünglichem Geist-Erleben geschöpft war, wurde nun durch feste Bekenntnisformeln verdrängt. Aus einem ähnlichen Grund begann im 2. Jahrhundert die Kanonisierung der neutestamentlichen Schriften, und der monarchische Bischof stellte fortan den Garanten für die angestrebte Rechtgläubigkeit der Kirche dar. Rechtgläubig (orthodox) kann demzufolge nur sein, wer mit der Kirche – das ist: mit dem Bischof – übereinstimmt. Lange Zeit waren die Grenzen zwischen Orthodoxie und Häresie fließend.11

Alle diejenigen, die noch an einer gewissen Geist-Unmittelbarkeit teilhatten, etwa als urchristliche Propheten, Lehrer und Ausleger der Schrift, das heißt die CharismatikerInnen im weitesten Sinn des Wortes, Menschen, die nicht kraft einer kirchlichen Ordination oder Weihe tätig waren, fanden nur dann die Duldung der Kirche, wenn ihr Denken und Lehren, ihr Glauben und ihr Schauen den Lehr- und Bekenntnisnormen der sich konstellierenden Kirche entsprach. Schon geringe Abweichungen genügten, um das Anáthema (Verfluchung) über christliche Schwestern und Brüder zu verhängen. Die Betroffenen wurden seit dem »Sieg« Konstantins (im 4. Jahrhundert) dem »weltlichen Arm« zur Verurteilung durch Feuer oder Schwert übergeben.

Wer war also der eigentliche Sieger? Gesiegt hatte nicht das Christentum. Gesiegt hatte eine bestimmte Gestalt des Christentums. Gesiegt hatte jene Kirche, die mit der staatlichen Anerkennung politisch-wirtschaftliche Privilegien beanspruchte und in ihrer Hinwendung zur Welt die Schranken zwischen dem »Reich Gottes« und dem »Reich der Welt« mißachtete. Esoterische Unter- und Seitenströmungen der Christenheit, Einzelpersönlichkeiten und Gemeinschaften hatten (und haben) nicht selten unter dem Machtprinzip dieser »Siegreichen« zu leiden.

Über weite Strecken ist die Kirchengeschichte Ketzergeschichte, und heißt: Große Teile der Geschichte der Christenheit – diesem »Mischmasch aus Irrtum und Gewalt«, wie Goethe urteilt – beschäftigen sich mit der Ketzerbekämpfung12, mit der dogmatischen Abgrenzung gegenüber anderen »Konfessionen« und mit der Unterdrückung oder Ausschaltung Andersdenkender, Andersglaubender innerhalb der eigenen Reihen. Nicht selten gilt der Kampf denen, die sich um eine evangeliumsgemäße Glaubens- und Lebensform bemühten, als Entartungserscheinungen und innerer Zerfall in der Kirche bedrohliche Ausmaße angenommen hatten. Nicht selten sind von den Verfolgungen solche Christen – durch ihre eigenen Glaubensgenossen – betroffen, die als Vertreter eines esoterischen Christentums bezeichnet werden können, sofern man ihr Tun und Lassen nicht im vornhinein durch konsequentes Totschweigen diskreditiert hat.

Im übrigen ist bekannt, daß die Geschichtsschreibung von den jeweiligen Siegern mit der ihnen angemessen erscheinenden »Gründlichkeit« besorgt zu werden pflegt. In der Kirchenund Ketzergeschichte ist das kaum anders. Und diejenigen, die sich gemäß dem immer noch beachtenswerten Beispiel eines Gottfried Arnold zu einer »Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie« (1699) aufraffen oder die wie Walter Nigg »Ketzerisches über Ketzer«13