ZEN-Geist
Durchbruch zur Klarheit
Meister Dōgens Kapitel aus dem Shōbōgenzō:
Hotsu bodaishin, Soko shin ze butsu
Kōmyō, Ikka no myōju, Senjō
Shin fukatoku, Shinjin gakudō
Sangai yuishin, Kobusshin
Sesshin sesshō, Tashintsū
Inmo, Kokyō
DONA-Verlag Berlin
Inhalt
Meister Daikan Enō sagte zum Mönch Hotatsu:
»Wenn der Geist in Täuschung ist, dreht sich die Blume des Dharma.
Wenn der Geist in der Verwirklichung ist, drehst du die Blume des Dharma.
Wenn wir nicht Klarheit von uns selbst haben, wird (das Lotos-Sūtra) wegen seiner (tiefgründigen) Bedeutungen ein Feind werden, ganz gleich, wie häufig wir es rezitieren. Ohne (selbstsüchtige) Absicht ist der Geist richtig.
Mit (selbstsüchtiger) Absicht wird der Geist falsch.
Wenn wir ›mit und ohne‹ (Absicht) beides überschreiten, fahren wir ewig in dem weißen Ochsengespann (der Buddha-Weisheit).«1
Zum Thema Zen-Buddhismus sind in den letzten Jahren sehr viele Publikationen erschienen, und die Flut von Veröffentlichungen über Geist, Erwachen und Erleuchtung ist noch wesentlich umfangreicher. Aber es gibt bislang nur ganz wenige Arbeiten mit dem Ziel, die zentralen Texte des authentischen Zen-Buddhismus nicht nur zusammenzustellen, sondern sie zudem so verständlich wie möglich zu kommentieren, ohne sie zu verwässern oder subjektiv zu verzerren.
Das Thema Geist ist seit Platon bei uns im Westen immer wieder von führenden Philosophen bearbeitet worden – manchmal habe ich den Eindruck, als ob jeder bedeutende Philosoph den Ehrgeiz hatte, eine eigene Definition des Geistes zu erdenken und zu verfassen. Diese Entwicklung war auch mit den hoch spekulativen philosophischen Denkkonstrukten Hegels im deutschen Idealismus nicht abgeschlossen. Während in der griechischen Philosophie noch Geist und Psyche als Einheit verstanden wurden, beschränkte sich der Geist des christlichen Abendlandes fast ausschließlich auf das »reine Denken«, selbst die Psyche wurde also ausgeklammert. Es verwundert daher nicht, dass die Semantik des Geistes immer idealistischer, unrealer und auch blutleerer wurde. Für mich als Zen-Buddhist stellt sich dabei allerdings die einfache Frage, wo die Grenze zwischen Ideen und Vorstellungen der denkenden Philosophen-Gehirne einerseits und der Wirklichkeit des Hier und Jetzt in unserem Leben und unserer Welt andererseits zu ziehen ist. Denn eine solche klare Unterscheidung ist gerade das zentrale Anliegen Dōgens in seinem fulminanten Werk Shōbōgenzō – Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges. Mir ist es daher ein großes Anliegen herauszuarbeiten, was im Zen unter Geist verstanden und erfahren wird.
Wie geht man am besten vor, und welche Grundlagen des frühen Buddhismus und des Zen müssen herangezogen und aufgearbeitet werden? Die Antwort lautet: Wir müssen auf die authentisch überlieferten und zuverlässig übersetzten Texte von Gautama Buddha und den großen Zen-Meistern zurückgreifen und die Kommunikation mit wahren lebenden Meistern suchen! Und – ganz wichtig – wir müssen auch selbst praktizieren. Als Autoren sollten wir zudem beim Thema Geist davon Abstand nehmen, mit schönen Worten Illusionen zu erzeugen, die dem wirklichen Leben im Alltag nicht standhalten und nur der flüchtigen Erbauung dienen. Solche Illusionen verwandeln sich nur zu schnell in Täuschungen und Ideologien und landen meist irgendwann in persönlichen und gesellschaftlichen Katastrophen. Unsere Arbeiten zum Geist dürfen daher nicht von der Wirklichkeit wegführen, sondern müssen im Gegenteil zur Wirklichkeit der Welt und des großen offenen Selbst hinführen.2 Nur daraus können Heilung und Selbstheilung hervorgehen.
Heute sind wir tatsächlich in der glücklichen Lage, Zugang zu verlässlichen Texten der Sūtras von Gautama Buddha und zu authentischen Zen-Dokumenten zu haben: Eine umfassende, tiefgründige und absolut zuverlässige Beschreibung des chinesischen und japanischen Zen-Buddhismus bieten dabei die Werke von Meister Dōgen. Diese Einschätzung ist in der Fachwelt völlig unbestritten. Seine Texte sind auch nicht von Schülern geschrieben, die gerade in Ostasien nicht selten zu übermäßiger Loyalität und idealisierender Verklärung ihrer Meister neigen, sondern von Dōgen selbst, diese Texte sind valide.
Für den Zen-Buddhismus möchte ich vor allem Dōgens Hauptwerk Shōbōgenzō hervorheben. Es ist das kaum zu überschätzende Verdienst meines Lehrers, des lebenden großen Zen-Meisters Nishijima Roshi, dass er die in Altjapanisch verfassten Schriften Dōgens zunächst in das moderne Japanisch und dann zusammen mit westlichen Schülern in die Sprachen Englisch, Deutsch, Spanisch und Französisch übertragen hat. In Deutschland hat Ritsunen G. Linnebach diese Aufgabe mit großer Sachkenntnis und bewundernswerter Energie geleistet; ich kenne ihre Leistung gut, denn ich habe selbst viele Jahre zusammen mit ihr an der deutschen Übersetzung des Shōbōgenzō gearbeitet und für drei Bände die jeweiligen Kurzfassungen der Kapitel geschrieben.
Über 50 Jahre lang hat Nishijima Roshi intensiv diese oft schwierig zu verstehenden Schriften Meister Dōgens studiert. Er erzählte mir einmal in einem persönlichen Gespräch, dass er »viele Meter von Kommentaren« beiseitegelegt habe, um durch das gründliche eigene Studium die wertvollen Texte von Dōgens Lehre zu entschlüsseln. Das ist ihm wirklich gelungen. Dadurch stehen uns jetzt die originalen Schriften verlässlich übersetzt zur Verfügung – ein Schatz von größtem Wert für den Buddhismus und die westliche Welt.
Nishijima Roshi hat außerdem in zwei Büchern seine umfassenden Kenntnisse und tiefen Erfahrungen des Zen-Buddhismus veröffentlicht: Begegnung mit dem wahren Drachen und Aus meinem Leben, Wirklichkeit und Buddhismus. Sie sind in den Jahren 2008 und 2010 erschienen. Es war mir eine Freude, diese Bände ins Deutsche zu übertragen. Schließlich möchte ich anmerken, dass er erstaunlich gute Kenntnisse der westlichen Philosophie hat, sodass seine Interpretationen den westlichen Kontext berücksichtigen.3 Dabei lehnt er keinesfalls westliches philosophisches Denken einfach ab, wie es manchmal bei Buddhisten zu beobachten ist.
Das große Werk Shōbōgenzō besteht aus 95 Kapiteln, die authentisch erhalten sind und von Dōgen auch als Dharma-Reden vor Mönchen und Laien gehalten wurden.4 Sie beschreiben neben der Schrift Fukan zazengi umfassend den Zen-Buddhismus, den Dōgen selbst nach seiner Ausbildung in Japan auf seiner Chinareise am Anfang des 13. Jahrhunderts, also am Ende des goldenen Zeitalters des Zen, praktisch und theoretisch erfahren hatte.
Dōgens Hauptwerk Shōbōgenzō ist keine zusammenhängende Monographie, sondern besteht aus einzelnen schriftlichen Aufzeichnungen zu bestimmten Themen, über die er meist zusammen mit seinen Dharma-Vorträgen im 13. Jahrhundert nach seiner Rückkehr aus China in verschiedenen Klöstern und zu verschiedenen Anlässen referierte. Sie waren über 400 Jahre verschollen gewesen und in Vergessenheit geraten.5 Erst im 17. Jahrhundert wurden sie wiederentdeckt, gesammelt und im Jahre 1816 in der Gesamtheit von 95 Kapiteln zusammengefasst, gedruckt und veröffentlicht. Diese Ausgabe ist auch die Grundlage von Nishijima Roshis und meiner Arbeit. Aber erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts hat im Westen eine intensive Bearbeitung dieses umfassenden Werkes eingesetzt, das nicht zuletzt im Westen immer mehr an Bedeutung gewinnt.
Der Stellenwert Dōgens für den ostasiatischen Buddhismus und für die gesamte Weltkultur der Gegenwart kann kaum überschätzt werden. Aber es ist nicht einfach, die schwierigen und miteinander vielfach vernetzten Kapitel und Themen des Shōbōgenzō für sich selbst zu erarbeiten und zu »verstehen«.
Ich hatte das große Glück, Nishijima Roshi persönlich kennenzulernen, wurde sein Schüler und konnte mich bei der Bearbeitung der deutschen Fassung Schritt für Schritt in dieses monumentale und umfassende buddhistische Werk einarbeiten, das oft ein ganz neues Denken und Erfahren erfordert. Der gesamte Prozess der Einarbeitung dauerte etwa 15 Jahre, nachdem ich bereits mehrere Jahrzehnte den Buddhismus praktisch und theoretisch studiert hatte. Kürzlich sind die von mir verfassten drei Bände mit dem Titel ZEN Schatzkammer, Einführung in Dogens Shobogenzo erschienen – die einzige Einführung in alle 95 Kapitel in einer westlichen Sprache. Damit wollen Nishijima Roshi und ich das Shōbōgenzō für einen größeren Kreis von Interessierten in einer gut verständlichen Sprache zugänglich machen.
Zudem habe ich weitere vertiefende Bände zu den zentralen Aussagen des Shōbōgenzō veröffentlicht.
Nishijima Roshi hat in seinem Internet-Blog in den Jahren 2007 und 2008 mehrere Basis-Kapitel des Shōbōgenzō und eigene grundlegende Texte in Englisch und Deutsch zitiert und kommentiert. Diese Texte sind in das vorliegende Buch eingeflossen.
Die hier abgedruckten Zitate aus dem Shōbōgenzō sind teilweise der deutschen Fassung entnommen und teilweise eigene Übersetzungen aus der englischen Fassung von Nishijima und Cross. Darüber hinaus habe ich die neue englische Fassung des Shōbōgenzō von Kazuaki Tanahashi als Quelle herangezogen und mit den deutschen Zitaten abgeglichen. Inhaltlich weisen alle drei Fassungen eine hohe Übereinstimmung auf, sodass wir sie als wirklich verlässlich einstufen können. Soweit keine speziellen Angaben zu den Zitaten gemacht werden, handelt es sich immer um den übersetzten Originaltext von Meister Dōgen.
Bei den Zitaten habe ich mich hinsichtlich der Schreibweise spezieller Begriffe an der englischen Fassung des Shōbōgenzō von Nishijima und Cross orientiert und zwischen die Wörter dann Bindestriche gesetzt, wenn die untrennbare Einheit der Bedeutung zweier Begriffe mit der Wirklichkeit zum Ausdruck kommen soll, zum Beispiel: »Körper-und-Geist« für die Einheit von Körper und Geist. Damit soll ein mögliches dualistisches Verständnis solcher Begriffe bei westlich geprägten Lesern ausgeschlossen werden.
Das Shōbōgenzō ist ein Kosmos von tiefgründigen Aussagen. Viele Einzelaussagen in den jeweiligen Kapiteln sind eigentlich nur verständlich, wenn man die entsprechenden detaillierten Ausführungen anderer Kapitel hinzuzieht. Deshalb wird in solchen Fällen die betreffende Kapitelnummer des Shōbōgenzō als Referenz aufgeführt und darüber hinaus auf meine bereits erwähnte Einführung verwiesen. Ich hoffe, dass der Zugang zu den vielschichtigen und ungemein wertvollen Texten dadurch wesentlich erleichtert wird. Die Angabe der Kapitelnummer ermöglicht es außerdem, auch die originalen Texte in der deutschen oder englischen Fassung zu Rate zu ziehen. Dies möchte ich ausdrücklich denjenigen empfehlen, die tiefer in diese großartige buddhistische Lehre eindringen wollen.
Die Aussagen zum Geist werden von Dōgen in mehreren Kapiteln des Shōbōgenzō und in verschiedenen Kontexten behandelt. Für dieses Buch habe ich insgesamt 13 Kapitel ausgewählt, um die großartige Vielfalt und Tiefe seines Werkes zu diesem Thema zu erfassen. Sie wurden von Dōgen in den Jahren 1238 bis 1245 geschrieben.
Im Zusammenhang mit dem innerbuddhistischen Dialog wird immer deutlicher, dass ein Bezug zu den ursprünglichen, in Pali verfassten, authentischen Schriften Gautama Buddhas notwendig ist. Im ersten Kapitel habe ich daher versucht, einen solchen Bezug zum frühen Buddhismus herzustellen. Im zweiten Kapitel steht der eindeutige Entschluss im Mittelpunkt, für den Buddha-Weg und die Klärung von Körper und Geist die Suche nach dem Wahrheitsgeist konsequent zu beginnen und fortzusetzen. Danach folgt mit den Ausführungen zu »Der Geist hier und jetzt ist Buddha« ein zentrales Kapitel des Zen-Buddhismus, wobei Buddha für den erwachten Geist und die Erleuchtung steht. Es geht also ganz konkret um das Hier und Jetzt der Wirklichkeit und nicht um Spekulationen über einen Geist, den man sich als isoliert vom Körper vorstellt. Im Kapitel 4 wird die strahlende Klarheit von Körper und Geist weiter vertieft und in Kapitel 5 mit dem berühmten Ausspruch des Meisters Gensa verbunden, dass unser Leben und das Universum eine leuchtende Perle sind.
In der Einheit von Körper-und-Geist kommt der Reinigung unseres Körpers eine tiefgründige und exemplarische Bedeutung zu. Dies zeigt auch den ganz konkreten Bezug Dōgens zum wirklichen Leben, und er scheut sich nicht, detaillierte Ausführungen zum Verhalten auf der Toilette zu machen. Im 7. Kapitel dieses Buches wird die für den Westen fast schockierende Aussage begründet, dass der Geist mit dem Denken nicht erfasst werden kann. Dies ist keineswegs Resignation oder Abwertung des analysierenden Denkens, sondern Voraussetzung für die Klarheit, was das Denken leisten kann und was nicht. In diesem Bereich ist aus meiner Sicht ein fundamentaler Lernprozess im Westen notwendig, weil das Denken seit Platon viel zu sehr idealisiert und überhöht wurde und der intuitiven Klarheit, die über das Denken hinausgeht, viel zu wenig Beachtung geschenkt wurde. Gerade die Nüchternheit gegenüber den Fähigkeiten des Denkens ist die Voraussetzung für den Durchbruch zur Klarheit, die wir in unserem materialistischen Zeitalter so dringend benötigen. Ich möchte dabei auf die moderne Physik verweisen, die erst durch Nüchternheit gegenüber naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, zum Beispiel durch die Unschärferelation von Heisenberg, den Durchbruch ermöglichte, der beispielsweise durch die Relativitätstheorie Einsteins und die Quantenphysik von Max Planck gekennzeichnet ist. Damit wurde der fast naive naturwissenschaftliche Fortschrittsglaube des 19. Jahrhunderts überwunden.
Mit den folgenden Kapiteln eröffnet Dōgen verschiedene fundamentale Dimensionen zum Geist (Kapitel 8) und zur Einheit von Ideen, materiellen Formen und Handeln (Kapitel 9). In den Kapiteln 10 bis 13 wird ein wichtiger Bezug zu der lebenden Übertragung des Wahrheitsgeistes im Buddhismus hergestellt und der Frage nachgegangen, wie man mit Worten den Geist des Hier und Jetzt erklären kann, der niemals vollständig mit dem Denken zu erfassen ist. Im Kapitel 12 gehe ich auf Dōgens scharfsinnige Analysen falscher Lehren ein, die sich um den alten Traum der Menschheit ranken, ob und wie man den Geist eines anderen Menschen erkennen und durchschauen kann. Das Kapitel 13 ist dem Phänomen gewidmet, dass wir in unserem Leben Augenblicke großer intuitiver Klarheit erleben, die wir nicht erklären können und die Dōgen als das »Etwas« bezeichnet. Aus meiner Sicht geht es dabei einerseits um sehr konkrete Erfahrungen des Lebens und andererseits um das Mysterium des Lebens selbst, das wir im Westen eigentlich nur als göttlich bezeichnen können. In Kapitel 14 habe ich Gleichnisse und ein herausragendes Kōan-Gespräch zweier großer Meister zum »ewigen Spiegel« behandelt. Dabei stellt Dōgen die zentrale Frage, was ist Einbildung, was ist Täuschung, was sind Worte und was ist Realität. Ohne Klärung in diesem wichtigen Bereich ist nach meiner Erfahrung von über 42 Jahren buddhistischer Theorie und Praxis ein Durchbruch zur Klarheit des Geistes nicht möglich.
Den Leserinnen und Lesern wünsche ich nun viel Engagement, wenn sie diesen Band in die Hand nehmen und sich darin vertiefen. Ich bin sicher, dass es für viele ein großer Gewinn ist, die authentischen und fundierten Texte Dōgens und Nishijima Roshis zu studieren und für ihr eigenes Leben zu nutzen. Ich hoffe sehr, dass dadurch die Verwirrungen und Sackgassen nachhaltig vermieden werden, die gerade beim Thema Geist durch unzuverlässige Schriften zum Zen-Buddhismus sowie selbsternannte Meister und Lehrer entstehen können. Denn Geist-und-Körper sollten klar sein, um die großen Schätze des Shōbōgenzō auch für das eigene Leben zu nutzen. Und Geist-und-Körper werden zusammen mit dem Zazen klar: Das ist wahre und verlässliche Selbstheilung.
Danksagung
Meinem hoch verehrten Lehrer Nishijima Roshi danke ich zuallererst aus vollem Herzen, denn er hat mich über viele Jahre in die schwierigen Texte des Shōbōgenzō eingeführt und mit großem Geschick, pädagogischem Können und menschlicher Wärme meine vielfältigen Fragen beantwortet. Besonders glücklich bin ich darüber, dass ich mit ihm viele Wochen in seinem Apartment in Tokyo an den buddhistischen Schriften arbeiten konnte und täglich mit ihm Zazen praktiziert habe: morgens 45 Minuten und abends 30. Beim Verfassen der vorliegenden Texte sind mir immer wieder die wunderbaren Zeiten der gemeinsamen Praxis in den Sinn gekommen. Häufige Telefongespräche über viele Jahre haben dazu beigetragen, dass sich der großartige Kosmos des Shōbōgenzō Schritt für Schritt für mich eröffnet und mit Leben erfüllt hat. Da ich in der westlichen Kultur und Sprache aufgewachsen bin, ist dieser direkte Kontakt zu Nishijima Roshi von größter Bedeutung. Die Interpretation und Hermeneutik6 der Zen-Texte wird wesentlich dadurch erst ermöglicht.
Bei der Mitarbeit an der deutschen Übersetzung konnte ich viele Jahre mit Ritsunen Gabriele Linnebach zusammenarbeiten. Wir haben auf der Grundlage ihrer Erstübersetzung gemeinsam Satz für Satz analysiert und die Schlussbearbeitung fertiggestellt. Wir haben auf diese Weise im Durchschnitt zwei bis drei Seiten pro Tag bearbeitet. Für diese gemeinsame Arbeit, bei der ich damals viel über Meister Dōgen gelernt habe, bin ich ihr ganz besonders dankbar.
Mein Dank gilt auch den Teilnehmern der Gesprächskreise zum Shōbōgenzō in Bern/Schweiz, Frankfurt und Berlin. Die in diesen Kreisen angesprochenen Fragen haben wesentlich zur Klärung beigetragen und sind in diesem Buch in die Erläuterungen eingeflossen.
Dem Kristkeitz Verlag danke ich besonders, weil er die vier Bände des Shobogenzo in Deutsch redigiert und veröffentlicht hat. Damit steht allen Interessierten eine verlässliche deutsche Originalfassung dieses fulminanten Werkes zur Verfügung.
Herrn Dipl.-Theol. Eberhard Kügler danke ich für eine finale, sehr professionelle sachkundige Durchsicht, die den Text deutlich verbessert hat. Sein großes Interesse an Dōgens Texten hat mir wichtige Anregungen gegeben.
Mein besonderer Dank gilt Gabriele Ernst, die mit großer Sorgfalt, großem Einfühlungsvermögen und beeindruckender Sachkenntnis den gesamten Text lektoriert hat. Ihr verdanke ich viele Anregungen und Verbesserungen, ohne die das Buch nicht das wäre, was es ist.
Für die professionellen Bilder von verschiedenen japanischen Motiven möchte ich May und Ingo Sacher meinen großen Dank und meine Anerkennung aussprechen.
Schließlich möchte ich Marion Salbach und Christine Schärff für die sorgfältigen Schreibarbeiten danken.
Yudo J. Seggelke
Berlin, im August 2012
Am 3. Juli 2012 ergab die Suchanfrage »Geist« bei Google im Internet die kaum vorstellbare Zahl von ca. 49 Millionen Treffern. Es wäre sicher eine Mammut-Aufgabe, in dieser Vielfalt den roten Faden bei der Frage zu finden, was der Geist wirklich ist und wie er in verschiedenen Kulturen und Traditionen verstanden wird. Ein solcher Versuch wird mit diesem Buch nicht unternommen, sondern ich möchte die Frage nach dem Geist auf den Zen-Buddhismus zuschneiden und dabei den frühen Buddhismus heranziehen. Vielleicht gewinnt sie durch die jüngsten Ergebnisse der Gehirnforschung sogar eine ganz neue Pragmatik und zusätzliche Dimensionen. Das heißt nichts anderes, als dass unsere westliche, scheinbar überwiegend materialistische Gesellschaft ein außerordentlich hohes Interesse gerade an den spirituellen, philosophischen und psychischen Bereichen hat, die mit dem Begriff Geist verbunden werden.
Die meisten Menschen möchten nicht zuletzt Befreiung von vielfältigen Fesseln des Geistes erleben. Sie möchten mehr Klarheit über sich selbst, das soziale Zusammenleben und die politischen Abhängigkeiten gewinnen. Denn es ist sicher unbestritten, dass unsere Welt eine bisher in der Menschheit völlig unbekannte, gewaltige Komplexität erreicht hat. Allein die Überflutung mit verschiedensten Informationen und Daten, zum Beispiel durch die Medien, hat ungeahnte Dimensionen angenommen. Dabei verwirrt nicht nur die gewaltige Informationsmenge, sondern auch die unüberschaubare Vielfalt und Widersprüchlichkeit der moralischen Werte und Bewertungen. Kann der Zen-Buddhismus hier fulminante Impulse geben und den Aufbruch zu neuer Klarheit ermöglichen? Ich meine ja, auf jeden Fall! Die suggestiven Versprechungen der Konsumgesellschaft und die sehr begrenzten Möglichkeiten, die der materielle Reichtum bietet, können den meisten von uns offenbar auf dem Weg zur geistigen Freiheit und Klarheit nicht helfen.
Ein so großes Interesse lockt aber auch falsche Gurus, selbsternannte »Meister« und dubiose Geschäftemacher auf den Plan. Es werden Kurz-Seminare angeboten, in denen angeblich jeder Teilnehmer an einem Tag umfassende geistige Freiheit und Glück erlangen kann. Bei anderen zweifelhaften Veranstaltungen werden Psychopharmaka und Drogen gereicht, um transpersonale Erfahrungen der Freiheit von Körper und Geist zu erzeugen. Und in der Tat: Ähneln LSD-Trips nicht in gewissem Sinne den Erlebnissen, die als geistiges Einssein mit der Welt und dem Universum charakterisiert werden? Was ist der Unterschied zu wahrer Klarheit des Körper-und-Geistes, die sicher nicht zum Nulltarif zu haben ist? Dieser Frage möchte ich in diesem Buch nachgehen und hierfür bei Gautama Buddha und bei Meister Dōgens verlässlichen Werken zum Zen-Buddhismus ansetzen.
Wie ist es dazu gekommen, dass Gautama Buddha den Weg der Befreiung von den Fesseln von Körper-und-Geist und der Überwindung psychisch-geistiger Leiden mit großem Scharfsinn und unermüdlicher Ausdauer gegangen ist? Die vedischen Traditionen der Religion im alten Indien waren bereits vor Buddha erstarrt und den spirituell wirklich suchenden Menschen fremd geworden.7 Die Brahmanen hatten sich politisch als wichtigste Kaste in Indien etabliert und die Macht ihrer Rituale und Zeremonien sogar höher als die Götter eingestuft. Das heißt, die Götter waren in den Augen der Brahmanen von deren scheinkomplexen Ritualen genauso abhängig wie die Menschen. Der Brahmanismus hatte sich zu einer extrem idealistischen Religion entwickelt, die einen abgelösten spirituellen Geist zur Grundlage hatte und aus meiner Sicht den Bezug zur Wirklichkeit vielleicht sogar vorsätzlich verleugnete. Außerdem hatten die Brahmanen ihre finanziellen Einnahmen gewaltig erhöht und die wahren spirituellen Bereiche vernachlässigt. Es ist daher verständlich, dass bereits etwa ab dem 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung verschiedene bedeutende religiöse Strömungen in Indien entstanden sind, die nach wahrer Spiritualität, Erwachen und geistiger Klarheit strebten und die verkrusteten Zeremonien der Brahmanen grundsätzlich ablehnten. Solche Gruppen bestanden meistens aus sogenannten hauslosen Suchern, die sich um einen wahren oder selbsternannten Lehrer scharten.
Gautama Buddha wuchs bekanntlich wohlhabend und wohlbehütet als Sohn des Königs eines kleinen Königreiches in Nordindien auf und wurde zunächst von allem Negativen und den Leiden dieser Welt ferngehalten. Aber das Elend der Menschen konnte ihm auf Dauer nicht verborgen bleiben, sodass er nach der Geburt seines Sohnes beschloss, ein Hausloser, ein Sucher zu werden, um zu erwachen, für seinen Körper-und-Geist Klarheit zu gewinnen und das Leiden zu überwinden.
Zunächst ging er zu zwei idealistisch-spirituellen Lehrern8, befasste sich mit deren Lehren und hatte sicher auch entsprechende spirituelle Erleuchtungserlebnisse. Aber ein Erleuchtungserlebnis des isolierten Geistes bedeutet noch nicht die nachhaltige Überwindung des Leidens im menschlichen Leben durch eine neue kreative und lebendige Klarheit. Es ist ein zeitlich sehr begrenzter Lichtpunkt unter besonderen Bedingungen, der nur begrenzte Auswirkungen für das nachfolgende Leben haben kann, nicht mehr und nicht weniger: Die Anschlussqualität ist gering. Damit konnte sich Gautama Buddha also nicht zufriedengeben.
Nachdem sich auch die lang andauernde extreme Askese für seinen Klärungsweg als unbrauchbar erwiesen hatte, waren die damals angebotenen Möglichkeiten zum Erwachen von Körperund-Geist für ihn erschöpft. Er musste deshalb einen ganz neuen, eigenen Weg suchen. Und tatsächlich fand er neben anderen Lehren vor allem mit den Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad den Weg zum Erwachen des Geistes und zur Überwindung des menschlichen Leidens. Dieser Weg ist wesentlicher Teil der sogenannten »Geistigen Gegebenheiten« im Sūtra der Grundlagen der Achtsamkeit.9 Dabei spielen die umfassend verstandene Achtsamkeit und die Sammlung, der Samādhi, mit den vier Vertiefungsstufen (Jhana) eine zentrale Rolle. Die vierte Stufe der Vertiefung ist nach meiner festen Überzeugung identisch mit der Zazen-Praxis des Zen-Buddhismus, die für Meister Dōgen zum Schlüssel des Erwachens, der Erleuchtung und der Klärung von Körper-und-Geist wurde.
Nach meinem Verständnis, das auf dem Shōbōgenzō und der Lehre Nishijima Roshis aufbaut, haben auch die Kōans einen zentralen Stellenwert auf dem Buddha-Weg der Klarheit, denn sie sind Kernpunkte der buddhistischen Lehre und Praxis und gleichzeitig authentische Zitate der großen Meister aus China und Japan. Kōans überschreiten regelmäßig den Dualismus, der oft der Käfig des wahren Selbst ist; darin liegt gerade ihre große therapeutische Kraft. Allerdings muss man die Kōan-Praxis deutlich unterscheiden von der Zazen-Praxis. Diese Praxis in Form des Shikantaza (»nur sitzen«) bedeutet die Entleerung unseres Körper-und-Geistes von Gedanken und Emotionen, oder wie der große Meister Yakusan Igen es formulierte: Zazen ist »nicht denken (Hishiryo)«10. Zazen ist also keine direkte Methode, um die schwierigen existentiellen Fragen der Kōans zu bearbeiten. Allerdings ist es genauso falsch zu behaupten, dass der Zen-Buddhismus unabhängig von Logik und Vernunft wäre. Das intensive Studium der buddhistischen Lehre und die Praxis müssen vernetzt laufen; sie durchdringen und unterstützen sich wechselseitig. Dann ist es möglich, auf dem Buddha-Weg das Erwachen zur Klarheit wirklich selbst zu erfahren und Schritt für Schritt in das eigene Leben zu integrieren oder besser: das eigene Leben grundlegend zu transformieren.
Für Dōgens Weg zur Befreiung und Klarheit ist es zwingend, die Einheit von Körper, Psyche, Geist und Universum zu erlernen und zu praktizieren. Dabei sind abstrakte Theorien und Lehren nur von begrenzter Wirksamkeit, denn das Lernen und die Klarheit des Geistes sind nicht auf unser Neuhirn beschränkt, und selbst das ist Teil unseres Körpers. Mit Dōgen lernen wir, ganz konkret und mit intuitiver Klarheit im Hier und Jetzt zu handeln, nicht zuletzt durch die Zen-Meditation. Diese Klarheit schließt gerade Ethik und Moral mit ein. Von großer Bedeutung ist dabei ein ausgeprägter Realitätssinn, wo die Grenzen unserer Vernunft liegen, denn Dōgen sagt: »Der Geist kann nicht (vollständig) erfasst werden.«
Nach meinem Verständnis ist eine solche Bescheidenheit notwendig, um die Qualität intuitiver Vernunft und Klarheit so auszubauen, wie es unserer wahren Natur entspricht. Wer seinen Geist permanent überschätzt, kann sein eigenes, fast unbegrenztes Potential in seinem Leben niemals wirklich entwickeln und ausschöpfen. Dadurch sind schwere Existenzkrisen vorprogrammiert und kaum zu vermeiden.
Das Sūtra von den Grundlagen der Achtsamkeit ist zweifellos eine wesentliche Basis der authentischen Lehre Gautama Buddhas. Am Anfang dieser Lehrrede heißt es:
»Der eine Weg ist dies, ihr Mönche, zur Läuterung der Lebewesen, zur Überwindung von Kummer und Klage, zum Untergang von Leiden und Betrübtheit, zum Erlangen des Richtigen, zur Verwirklichung vom Nibbāna: Das sind die vier Grundlagen der Achtsamkeit.«11
Wie der Buddhologe Peter Gäng überzeugend darlegt, wird der Begriff »Achtsamkeit« im heutigen Sprachgebrauch im Allgemeinen viel zu eng verstanden, denn er bezieht sich meist nur auf individualpsychologische Bereiche und wird in diesem Sinne oft auch für psychotherapeutische Verfahren verwendet.12 Dieser Ansatz entspricht nicht dem umfassenden Verständnis und der Praxis von Gautama Buddha. Denn wie er in diesem Sūtra sehr genau ausführt, handelt es sich um die Achtsamkeit bei der klaren Betrachtung des Körpers, der Gefühle, des Geistes und der geistigen Gegebenheiten. Dies sind die vier Grundlagen der Achtsamkeit. »Eifrig, klar erkennend und achtsam nach Abwendung von Begierde und Betrübtheit in der Welt« soll die Betrachtung dieser Grundlagen erfolgen, sagt Buddha. Seine sehr praktisch formulierten Aussagen über den Geist und die geistigen Gegebenheiten, mit deren Hilfe das Leiden überwunden werden kann, bilden mit der Untersuchung des Körpers und der Gefühle eine Einheit; es ist überhaupt nicht sinnvoll, sie isoliert zu betrachten.
Bei allen vier Grundlagen der Achtsamkeit weist Gautama Buddha den Übenden auf die richtige Körperhaltung hin: »(Der Mönch) setzt sich mit gekreuzten Beinen nieder, den Körper gerade aufgerichtet und errichtet ringsum die Achtsamkeit.«13 Dabei geht es um achtsames Atmen, klares Empfinden, Beruhigung der verschiedenartigen Aktivitäten sowie die Betrachtung, die von innen und von außen stattfindet: »So weilt er innen (…), oder er weilt außen (…), oder er weilt innen und außen.«14 Bei diesen Prozessen der Achtsamkeit sollen wir sowohl das Entstehen als auch das Vergehen betrachten.
Buddha verwendet zudem die folgende interessante Formulierung für alle vier Grundlagen: »So ist seine Achtsamkeit gegenwärtig, soweit es eben dem Wissen dient, soweit es der Achtsamkeit dient, unabhängig lebt er und haftet an nichts in der Welt.«15 Aus diesen Worten spricht die große Lebenserfahrung und Weisheit Buddhas. Achtsamkeit und Klarheit von Körper und Geist sind verbunden mit der Unabhängigkeit und Freiheit von Anhaftungen des Menschen.
Ohne hier die physische Betrachtung des Körpers im Einzelnen zu vertiefen, möchte ich auf eine besondere Übung Buddhas hinweisen, bei der er seinen Schülern rät, sich den eigenen Tod ganz konkret vorzustellen, also der Frage nicht auszuweichen, wie der eigene Körper nach dem Tod zerfällt und verwest. Das mag uns recht ungewöhnlich vorkommen, denn in der modernen westlichen Gesellschaft werden Krankheit und Tod weitgehend tabuisiert und als unfassbare Katastrophen empfunden. In früheren Zeiten war der Tod aber noch viel gegenwärtiger und wegen der für unsere heutigen Vorstellungen nur rudimentären medizinischen Versorgung fast alltäglich. Neuere Forschungen haben zum Beispiel ergeben, dass zur Zeit von Jesus in Palästina 50 Prozent der Kinder bis zu ihrem fünften Lebensjahr gestorben sind. Auch Gautama Buddha selbst war tief bewegt, als er die Unausweichlichkeit von Krankheit, Alter und Tod erfahren hat, nachdem er laut der Überlieferung in seiner Jugend von diesen Lebensbereichen ferngehalten wurde. Nach seinem Verständnis gehört es jedoch zur Überwindung des Leidens, dass wir uns mit dem eigenen Tod sehr realistisch und pragmatisch beschäftigen und ihn nicht verdrängen.
Bei der Betrachtung der Gefühle unterscheidet Buddha freudige, leidige und weder freudige noch leidige Gefühle. Er sagt uns, dass wir sie ganz konkret betrachten und ihnen durch die Übung der Achtsamkeit eine unnötige Dramatik und überschießende Emotionalität nehmen sollen.
Er versucht in diesem Sūtra nicht, den Geist zu definieren und philosophische Grundsatztheorien darüber zu entwickeln. Bei der Betrachtung des Geistes erklärt er einfach, dass wir uns klar darüber sein sollen, ob der Geist mit Lustverlangen, Hass oder Verblendung erfüllt ist, oder ob er frei von diesen drei »Giften« ist, wie es im Buddhismus heißt. Lustverlangen wird häufig verkürzt als Gier bezeichnet und Verblendung auch als Dummheit.16
Ganz wesentlich sei es, dass wir klar erkennen, »wenn der Geist befreit ist, oder wenn er nicht befreit ist«. Dabei wird deutlich, dass ein mit Lustverlangen oder Verblendung erfüllter Geist niemals befreit sein kann, weil er gerade dadurch gefesselt und unklar ist. Die Aussagen Buddhas decken sich weitgehend mit den Erkenntnissen der heutigen Psychologie und der psychischen Therapie im Hinblick auf die Aufgabe, Klarheit zu gewinnen, was im Bereich der Gefühle und des Geistes wirksam ist. Daraus können die wirklichen psychischen Tatsachen klarer und unverstellter erkannt werden, die dann Grundlage einer erfolgreichen Therapie sind.
Buddha differenziert außerdem, ob der Geist gefasst oder zerstreut ist, und ob er »weit geworden ist« oder »nicht weit geworden ist«.17 Und er ordnet dem Geist die Begriffe niedrig und hoch zu, die wir auch ethisch verstehen sollen. Sicher ist damit nicht nur die intellektuelle Scharfsinnigkeit des Verstandes und des Geistes gemeint.
Die Betrachtung der geistigen Gegebenheiten bildet wie erwähnt eine der vier Grundlagen der Achtsamkeit. Sie werden sehr detailliert behandelt und umfassen etwa die Hälfte dieses Sūtra.18 Sie sind also von ganz entscheidender Bedeutung und berücksichtigen viele Bereiche des Lebens und der Wirklichkeit des Geistes.
Zu diesen Gegebenheiten zählen nicht zuletzt die Vier Edlen Wahrheiten mit dem Achtfachen Pfad. Dessen achtes Glied ist der Samādhi (Sammlung), zu dem die Zazen-Praxis gehört. Weiterhin nennt Buddha bei den geistigen Gegebenheiten zum Beispiel die Fünf Hemmnisse des Erwachens: auf Sinnlichkeit gerichtetes Wollen, Übelwollen, Erstarren und Trägsein, Aufgeregtheit und Unruhe sowie Zweifelsucht. Ich möchte darauf hier jedoch nicht näher eingehen, da dies an anderer Stelle geschehen ist und dort nachgelesen werden kann.19 Bedeutsam ist, dass Gautama Buddha für alle diese Hemmnisse betont, dass wir erkennen sollen, ob sie in uns sind oder nicht, ob sie bereits entstanden sind oder vergehen und abgebaut werden und wie sie in der Vergangenheit und Zukunft entstehen oder vergehen. Dabei wiederholt er seine Aussage über den Übenden: »Unabhängig lebt er, und er haftet an nichts in dieser Welt.«
Ebenfalls in den Bereich der geistigen Gegebenheiten fällt die Anhaftung oder – wie Peter Gäng es formuliert – das »Anhangen« an die Fünf Komponenten (skandas) des Lebens. Diese Komponenten sind nach der buddhistischen Lehre: Form, Gefühl, Wahrnehmung, formende Kräfte und Bewusstsein.
Zu der sinnlichen Wahrnehmung beziehungsweise den »sechs Wahrnehmungsfeldern« gehören laut Buddha das Sehen mit den Augen, Hören mit den Ohren, Düfte erkennen mit der Nase, Geschmäcke erkennen mit der Zunge und Berührungen erkennen mit dem Körper. Alle diese Formen der Wahrnehmung sind zweifellos mit geistigen Aktivitäten verbunden oder, genauer gesagt, ohne geistige Gegebenheiten überhaupt nicht funktionsfähig. Es muss also eine wichtige buddhistische Übung sein, wirklich realitätsgetreu wahrzunehmen und nicht in unklaren geistigen und gefühlsmäßigen Energien hängen zu bleiben.
Als Nächstes führt Buddha die ebenfalls zu den geistigen Gegebenheiten gehörenden Sieben Glieder des Erwachens auf: Achtsamkeit, Unterscheidung der Gegebenheiten, Energie, Freude, Gestilltheit, Sammlung und Gleichmut.20 Wir dürfen uns nicht davon irritieren lassen, dass hier wiederum die Achtsamkeit aufgeführt wird, denn das gesamte Sūtra behandelt deren Grundlagen. Gautama Buddha geht nach meinem Verständnis meistens nach der Bedeutung und Wichtigkeit vor und legt auf die logische Gliederung weniger Wert. Daher kann es sein, dass bestimmte Bereiche seiner Lehre mehrfach an verschiedenen Stellen aufgeführt und in verschiedene Gruppierungen eingeordnet werden.
Bei den Gliedern des Erwachens verwendet Buddha in diesem gesamten Kapitel die Formulierung, ob sie völlig »entfaltet« sind oder nicht. Damit wird auch gesagt, dass Erwachen ein natürlicher Zustand des Menschen ist, der sich »entfaltet«, so wie er wirklich ist.
Das Kernstück der buddhistischen Lehre und Praxis sind Buddhas Aussagen in den Vier Edlen Wahrheiten über das Leiden: Welches Leiden gibt es, wie entsteht das Leiden, und wie wird es aufgehoben und überwunden?21
»Was nun, ihr Mönche, ist die Edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens, eben jenes Durstes restlose von Gier freie Aufhebung, sein Aufgeben, seine Entäußerung, die Befreiung davon, das ohne Grundlage sein?«22
Den Begriff Durst verwendet Peter Gäng in seiner Übersetzung für die Abhängigkeit von der Gier, denn der Durst muss gelöscht werden, damit der Mensch überhaupt leben kann. Gautama Buddha benutzt also sehr lebensnahe Begriffe, die in einem heißen Land wie Indien besonders anschaulich sind. Wer bei der Hitze Durst hat und nichts zu trinken bekommt, stirbt schon nach wenigen Tagen. Der psychisch-geistige Druck, der beim Menschen zum Beispiel durch die Gier erzeugt wird, ist subjektiv von gleicher Qualität. Der Mensch ist fest davon überzeugt, dass er dieser Gier nachgeben muss, damit er überhaupt existieren kann. Dies ist nach Gautama Buddha eine zentrale Ursache für das Leiden, und seine Übungen zielen vor allem darauf ab, die Abhängigkeit von der Gier aufzuheben und existentiell zu erfahren, dass es dafür überhaupt keine realen Grundlagen gibt.
Wo kann Gier entstehen, und wo setzt sie sich fest? In diesem Sūtra werden dafür die Bereiche der sinnlichen Wahrnehmung durch Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper und Geist genannt. Auch durch das Denken kann nämlich bei der sinnlichen Wahrnehmung eine Abhängigkeit und Gier entstehen, so üben zum Beispiel der verführerische Glanz des Goldes und das magische Glitzern von Diamanten eine starke Anziehungskraft auf manche Menschen aus; sexuelle Gier kann durch die äußere Attraktivität und Schönheit eines Menschen ausgelöst werden.
Im Zentrum der Vier Edlen Wahrheiten steht der rechte Weg zur Aufhebung des Leidens, der aus den folgenden acht Gliedern besteht: rechte Sichtweise, rechter Entschluss, rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebenswandel und rechter Beruf, rechte Bemühung und Anstrengung, rechte Achtsamkeit sowie rechter Samādhi (Sammlung).23 Das heißt, das praktische, umfassende Leben ist der Weg zur Überwindung des Leidens und ein wesentlicher Bereich der geistigen Gegebenheiten.
Für moderne Menschen ist bedeutsam, dass der ganze Umfang der Achtsamkeit, also der Betrachtung von uns selbst, und die meditative Sammlung mit den sogenannten Vier Vertiefungen für die Befreiung aus dem Leiden unbedingt notwendig sind. In der heutigen westlichen Welt gibt es die Meditation als Methode der Leidensüberwindung überhaupt nicht oder nur in Ansätzen. Gerade die Vierte Vertiefung beim Samādhi, die frei ist von Objekten des Denkens und Fühlens und im Zen-Buddhismus als Zazen bezeichnet wird, ist aber nach meiner Erfahrung von zentraler Bedeutung.
Dōgen beschreibt die Zazen-Praxis zum Beispiel in seiner ersten Schrift Fukan zazengi sehr detailliert.24 Er hatte diese Übung erst auf seiner Chinareise bei seinem eigenen Meister und Lehrer Tendō Nyojō erlernt und als Schlüssel zum Erwachen und zur Klarheit erfahren.
Durch den Bodhi-Geist oder Wahrheitsgeist entsteht der klare Entschluss, sich auf den Buddha-Weg zu begeben und anderen Menschen und Lebewesen zu helfen und sie zu befreien, bevor man selbst die große Befreiung erlangt hat. Wie hängt nun der Bodhi-Geist mit dem Handeln zusammen? Kann man beide voneinander trennen und allein auf den Geist setzen? Gibt es überhaupt einen vom Körper getrennten, eigenständigen Geist, wie sicher viele annehmen? Kann man umgekehrt nach der buddhistischen Lehre ohne Bewusstsein und Klarheit »nur so« handeln, in den Tag hineinleben und den Geist und die Vernunft vernachlässigen? Manche Zen-Buddhisten sind tatsächlich dieser Meinung. Solche Fragen werden wir im Folgenden anhand von Dōgens Ausführungen klären.
Zur Erweckung des Wahrheitsgeistes auf dem Weg zum Erwachen finden sich im Shōbōgenzō zwei Kapitel. Fachleute nehmen an, dass das Kapitel »Die Erweckung des Willens zur höchsten Wahrheit (Hotsu mujōshin)«25 als Dharma-Rede für Laien bestimmt war, vor allem für die Handwerker und Arbeiter, welche die Tempelanlage von Eihei-ji – den Haupttempel der Sōtō-Übertragungslinie – unter der Leitung Dōgens erbauten. Den Schwerpunkt seiner Ausführungen legt er daher auf die praktische buddhistische Arbeit, zum Beispiel das Errichten von Stupas und das Erstellen von Buddha-Bildnissen.
Das Kapitel »Die Erweckung des Bodhi-Geistes (Hotsu bodaishin)«26 war vermutlich als Dharma-Vortrag für Mönche konzipiert. Es stimmt inhaltlich weitgehend mit dem vorherigen Kapitel überein, bezieht aber darüber hinaus auch tiefgründige theoretische Aspekte der buddhistischen Lehre mit ein. Da es die wichtigen Aussagen über die Sein-Zeit und Augenblicklichkeit des Universums27 enthält, dient es für die folgenden Untersuchungen als Grundlage.
Hotsu bedeutet »erwecken«, bodain »höchste Wahrheit«, und shin heißt »Geist« oder »Wille«. Hotsu bodaishin lässt sich daher mit der Formulierung »das Erwecken des Geistes oder Willens zur höchsten Wahrheit« wiedergeben. Ich möchte auch im Deutschen meist den Begriff »Bodhi-Geist« für den Wahrheitsgeist verwenden, damit keine Unklarheiten entstehen, was mit dem Begriff »Geist« gemeint ist, und deutlich wird, dass der Geist nicht vom Körper und Handeln getrennt werden kann. Er hat nämlich einen wesentlich breiteren semantischen Umfang, als im westlichen Verständnis des Begriffs üblich. Dieses vielschichtige buddhistische Wort darf nicht mit »Bewusstsein« oder »Denken« im westlichen Sinne verwechselt werden. Der Bodhi-Geist ist wirksam, wenn wir anderen helfen, nach der Wahrheit zu streben, und nicht nur die eigene Vervollkommnung und Erleuchtung zum Ziel haben.28 Es geht immer um die Einheit von Körper-und-Geist sowie um Ethik, also moralisch klares Denken und Handeln.29 Für diese Haltung ist es laut Dōgen sehr wichtig, dass wir uns der Vergänglichkeit unseres Lebens bewusst sind, damit wir es nicht verpassen, sondern im Augenblick ganz präsent sind und unsere Aufgaben in der Gesellschaft wahrnehmen. Wir sollen also angesichts der Vergänglichkeit nicht niedergeschlagen und depressiv werden, sondern im Gegenteil im Gleichgewicht und in der Fülle des Augenblicks leben und handeln. Daraus wird ersichtlich, wie wichtig diese beiden Kapitel über den Bodhi-Geist für die buddhistische Lehre sind.
Zunächst knüpft Dōgen an die aus Indien stammende Unterscheidung in drei verschiedene Arten des Geistes30 an:
Die erste Art ist citta, der Geist, der das Denken und Reflektieren, die Intelligenz, Vernunft und das Gedächtnis umfasst. Citta bedeutet auch Absicht und Wille beim Denken.31 In China und Japan wird citta laut Dōgen »der denkende Geist« genannt. Wichtig dabei: Citta ist der denkende Geist in der Gegenwart, also genau in der Gegenwart. Man darf ihn nicht mit abschweifenden Gedanken über die Vergangenheit oder Zukunft verwechseln.
Die zweite Art trägt die eigenartige Bezeichnung »Geist des Grases und der Bäume«, in Sanskrit hridaya. In Ostasien beschreibt der Geist des Grases und der Bäume instinktive, »lebenskluge« Prozesse, die auf ursprünglichen Lebenskräften beruhen und zeitlich vor dem Bewusstsein liegen.
Die dritte Art des Geistes, in Sanskrit vriddha, nennt Dōgen den »erfahrenen und konzentrierten Geist«. Er ist der gesteuerte, ausbalancierte Geist der wahren Weisheit.32
Nachdem Dōgen die verschiedenen Arten des Geistes kurz beschrieben hat, hält er fest:
»Von diesen (Arten des Geistes) wird der Bodhi-Geist zweifellos auf der Grundlage des denkenden Geistes erweckt.«
Er verwendet den indischen Begriff bodhi in der Bedeutung von »Wahrheit«. Im Shōbōgenzō wird Bodhi-Geist daher nicht als Intelligenz verstanden, sondern als eine umfassende Weisheit, die der »harmonische Zustand des Körper-Geistes im Zazen« ist.
»Ohne diesen denkenden Geist ist es unmöglich, den Bodhi-Geist zu erwecken.«
Das sind klare Worte an diejenigen Zen-Buddhisten, die das Denken der Menschen gering schätzen. Sie unterliegen einem gravierenden Irrtum, denn mithilfe des denkenden Geistes wird laut Dōgen der Bodhi-Geist, also der Geist der umfassenden Wahrheit, erweckt.
Entscheidend für Dōgen ist es, dass der Bodhi-Geist im Sinne des Bodhisattva-Ideals handelt, also andere zuerst und ohne Bedingungen von ihren Blockaden und psychischen oder auch materiellen Problemen befreien will. Der Bodhi-Geist ist demnach von den vier Himmlischen Verweilungen des frühen Buddhismus erfüllt: von liebevoller Zuwendung, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut.33 Aber er bleibt nicht beim Denken und Empfinden stehen, sondern bringt das Handeln selbst in Gang.34 Der denkende Geist ist die Voraussetzung für die Erweckung des Bodhi-Geistes der Wahrheit.
Der Bodhi-Geist ist jedoch nicht mit dem denkenden Geist gleichzusetzen, sondern er geht darüber hinaus. Denn durch die Erweckung des Bodhi-Geistes geloben wir, anderen Menschen zu helfen und sie aus der Fessel des Leidens zu befreien, bevor wir uns selbst befreien. Er hat eine sehr starke ethische Komponente, während dies auf den denkenden Geist allein so nicht zutrifft.
Beim Bodhi-Geist ist sogar über das Helfen hinaus maßgeblich, dass wir uns fest vornehmen und geloben, das eigene Ziel der Erleuchtung zurückzustellen, um für die anderen tätig zu sein und für sie zu handeln. Im Kapitel »Der Bodhisattva des großen Mitgefühls und des Helfens«35 verdeutlicht Dōgen, dass dieses Helfen im Kern ein ganz natürlicher und selbstverständlicher Vorgang ist und keinerlei berechnende Absichten enthält.
Wer den Bodhi-Geist erweckt hat, ist »bereits Lehrer und Führer aller Lebewesen«, sagt Dōgen, selbst wenn er äußerlich eher unauffällig, bescheiden oder sogar ärmlich wirkt.
»Dieser Geist ist nicht angeboren, und er entsteht nicht jetzt plötzlich, er ist weder eine noch viele, er ist nicht (künstlich) geformt oder naturalistisch, er verweilt nicht innerhalb unseres Körpers, und unser Körper verweilt nicht im Geist.«
Damit distanziert sich Dōgen von verschiedenen Dogmen der buddhistischen Theorie, die an Worte und Begriffe gefesselt sind; solche Dogmen sind auch heute noch in einigen buddhistischen Gruppen anzutreffen.
von zentraler Bedeutung. In der theoretischen und begriffsorientierten buddhistischen Lehre des damaligen Japans gab es diese fundamental neuen Ansätze vor ihm nicht.