Aus dem Amerikanischen von Muna Clelland

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Creature

erschien 2018 im Verlag Flame Tree Press.

Copyright © 2018 by Hunter Shea

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Lektorat: Katrin Holle

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-818-6

www.Festa-Verlag.de

Für Tim Stanton.

Ich wünschte verdammt noch mal,

du wärst hier, um dies zu lesen.

The Dude does not abide.

Die Normalität ist eine gepflasterte Straße;

man kann gut darauf gehen,

doch es wachsen keine Blumen auf ihr.

Vincent van Gogh

Wie kann ich wesenhaft sein,

ohne einen Schatten zu werfen?

Auch das Dunkle gehört zu meiner Ganzheit ...

C. G. Jung

1

Kate Woodson lag im Sterben, und ihr eigener Körper war der Henker.

Während der letzten Untersuchung hatten es die Ärzte nicht so deutlich zum Ausdruck gebracht, aber selbst ihr war bewusst, dass es eine Grenze dessen gab, was ein Körper aushalten konnte. Es war ihr schon schlechter gegangen. Viel schlechter. So schlecht, dass es nach der letzten Ölung und den Beerdigungsvorbereitungen ausgesehen hatte. Doch Kate hatte sich davon erholt wie ein moderner Lazarus.

Aber sie war müde. Sie hatte Schmerzen. Und ihr war übel. Immer war ihr so übel. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie es war, ohne Schmerzen aufzuwachen, ohne Muskeln, die so schwach waren wie die eines Neugeborenen. Sie konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wann sie das letzte Mal das Haus verlassen hatte, etwa um einkaufen zu gehen oder mit Andrew ins Kino.

Obwohl sie nicht heute sterben würde (Vergiss es, Sensenmann!), befand sich Kate nach wie vor am oberen Ende der Leidensskala. Verschlimmert wurde alles noch durch den Schatten, der sie von der Küche aus beobachtete. Jedes Mal wenn sie den Kopf nach ihm umwandte, huschte er aus ihrem Blickfeld.

»Ich kann dich sehen«, sagte sie mit tiefer und kratziger Stimme von ihrem Sofa im Wohnzimmer aus, auf dem sie sich tagsüber ausruhte.

Bei dem Gedanken, dass der Schatten sich vor ihr fürchtete, kicherte sie. Dann wurde ihr jedoch klar, dass sie sich allein bei dem Gedanken an ihn vor lauter Angst fast in die Hosen machte.

»Ruf schnell alle Fernsehsender an, die Sendungen über Gespenster bringen. In Sayreville, New Jersey, treibt ein Geist sein Unwesen.« Andrew war nicht zu Hause, um zu fragen, wovon sie eigentlich redete. Er war bei der Arbeit, in einem Job, den er ihretwegen machte. Einem Job mit Zusatzleistungen, auf die sie nicht verzichten konnten.

Nicht dass Kate ihm von dem Schatten erzählt hätte. Er machte sich schon genug Sorgen um sie. Was sie nicht gebrauchen konnte, war, dass er meinte, sie schlittere auch mental dem Abgrund entgegen.

Oder schlimmer noch, dass er die Schuld bei den Medikamenten suchte und ihr dadurch das Gefühl gab, eine Süchtige zu sein, die an Wahnvorstellungen litt. Die paar Male, die er ihr Verhalten oder ihre Gedanken den Medikamenten zugeschrieben hatte, hatten sie so sehr verärgert, dass sie befürchtete, dadurch einen Schlaganfall zu bekommen. Das war zweifellos eine extreme Reaktion, aber Kate war nie eine von denen gewesen, die etwas in sich hineinfraßen.

Trotzdem unterdrückte sie die Angst, dass er vielleicht doch recht haben könnte.

Und war es nicht außerdem besser, dass der Schatten eine Halluzination war, ein Gebilde ihrer dunklen Fantasien statt einer realen, lauernden Kreatur?

Sie kratzte sich hinten an der Schulter und renkte sich dabei das Handgelenk aus, sodass sie einen Moment lang Sterne sah.

Ja, es war besser, dass es sich um ein Hirngespinst ihrer Fantasie handelte. Sollte der Schatten doch in der Küche bleiben, wenn er wollte. Sie hatte andere Sorgen. Zum Beispiel ihr Handgelenk wieder einzurenken. Sie ergriff es mit der anderen Hand und drehte es leicht. Mit einem zarten, gedämpften Knack schoben sich die Knochen wieder an ihren Platz.

»Schon besser«, sagte sie zu Buttons, ihrem Assistenzhund und treuen Begleiter. Er lag neben dem Sofa und stieß pfeifendes Hundeschnarchen aus. Sie ließ ihre Hand über den Rand des Sofas gleiten und berührte seinen Kopf mit den Fingerspitzen. Durch Buttons war sie wenigstens nie allein. Ein leichtes Lächeln kräuselte Kates Lippen. Sie starrte an die Decke und vermied es bewusst, in Richtung Küche zu blicken.

Sie hatte nicht einmal gewusst, was eine Autoimmunerkrankung ist, bis ihr gesagt wurde, dass sie selbst an einer litt. Als bei ihr dann mehrere Jahre später eine zweite, noch schlimmere Krankheit diagnostiziert wurde, war sie sowohl fassungslos als auch am Boden zerstört. Sie war der Meinung gewesen, nichts könne sie mehr schockieren. Das seltene Ehlers-Danlos-Syndrom, gepaart mit dem häufig auftretenden, entsetzlichen Lupus, war eine gnadenlose Links-rechts-Kombination. Die Kate, die nicht unter unerträglicher Erschöpfung litt, unter Schwellungen, nachlassender Sehkraft, einem zusammenklappenden Verdauungssystem, Herzproblemen und einer ganzen Palette weiterer furchtbarer Dinge, war nur noch eine zunehmend verblassende Erinnerung. An den meisten Tagen kam es ihr so vor, als wäre sie schon immer so gewesen … gebrochen, voller Schmerzen und voller Angst.

Die riesige Ansammlung von Tabletten auf Kates Nachttisch konnte keine Abhilfe schaffen. Bei Ehlers und Lupus gab es keine Heilung. Bestenfalls betäubten die Tabletten die Schmerzen, hielten das Aufflammen der Beschwerden in Schach, und manchmal fühlte sie sich durch sie sogar noch schlechter.

Kate überprüfte den Medikamentenplan, den sie auf ihrem Tablet erstellt hatte. Es wurde Zeit für einen ihrer Nervenblockierer. Auf dem Tablet waren die Medikamente ihrer Hausapotheke in all ihrer Pracht stichpunktartig aufgelistet: Fentanyl (ein extrem gefährliches Pflaster, das sie alle drei Tage wechselte und das Patienten mit alarmierender Regelmäßigkeit ins Grab beförderte), Neurontin und Gabapentin (zwei Mittel gegen Epilepsie, die auch in der Schmerztherapie angewandt wurden), Percocet (eine Mischung aus Oxycodon und Paracetamol), Ultram (besser bekannt als Tramal oder Tramadol), Prednisone (ein Cortisonpräparat) und Tagamet zum Schutz der Magenschleimhaut. Ihr Magen war allerdings schon allein durch all die Tabletten vollkommen kaputt. Monatliche Kontrollen waren nötig, um die durch die Medikamente verursachten Schäden an ihrer Leber und ihren Nieren, an Herz und Bauchspeicheldrüse zu messen.

Eine Tablette zu viel, und Exitus …

Andrew versuchte immer wieder, sie dazu zu bewegen, ihre Tabletten in einer dieser Plastikschachteln zu verstauen, auf denen die Wochentage über dem jeweiligen Fach aufgedruckt waren. Aber die einzige Schachtel, die groß genug gewesen wäre, dass sich all ihre Medikamente darin unterbringen ließen, könnte man auch als Beistelltischchen benutzen, wenn man Beine dranschraubte. Die schiere Größe löste Depressionen in ihr aus. Und außerdem fühlte sie sich durch so eine Schachtel wie eine klapprige alte Dame.

Stattdessen hatte sie die Tabletten in ein Einmachglas geschüttet. Damit es hübsch aussah, hatte sie sogar eine rot-weiß-karierte Schleife darumgebunden. Martha Stewart wäre stolz auf sie gewesen.

Sie schluckte die gelbe Tablette ohne Wasser, schraubte den Deckel wieder auf das Glas und wandte ihre Aufmerksamkeit dem Fernseher zu. Kate hatte eine Schwäche für Joseph Cotten. Ganz besonders gefiel er ihr in Portrait of Jenny. Ihre Mutter hatte immer gesagt, sie sehe aus wie Jennifer Jones, die geheimnisvolle Frau, die die Fantasie des am Hungertuch nagenden Künstlers befeuert … und schließlich sein Herz erobert hatte. Was Kate erblickte, wenn sie sich jetzt im Spiegel betrachtete, war Welten von einer Jennifer Jones entfernt. Ihr langes, kastanienbraunes Haar war spröde geworden, ständig hatte sie dunkle Ringe unter den Augen und aufgedunsene Tränensäcke. Sie hatte Schwierigkeiten, ihr Gewicht zu halten, und hatte daher eingefallene Wangen – so, wie sie es sich als Kind gewünscht hatte, als sie glaubte, Kate Moss wäre die schönste Frau der Welt. Was war ich doch für ein dummes Ding, dachte Kate. Was würde sie jetzt für ein bisschen Cellulitis geben.

Als sie das Fernsehprogramm durchstöberte, stellte sie enttäuscht fest, dass Portrait of Jenny heute nicht gezeigt wurde. Oh, aber nach dem Abendessen lief Niagara. Niemand hatte ihr jemals gesagt, sie sehe wie Marilyn Monroe aus. Aber sah überhaupt jemand so aus? Vielleicht das arme Mädchen Anna Nicole Smith, und man schaue sich nur an, wie es ihr ergangen war.

Kate musste pinkeln, aber ihre Fußgelenke, Knie und Hüften schienen in Flammen zu stehen; die Schwellungen brachten die Dehnbarkeit ihrer geröteten Haut an ihre Grenze. Den kurzen Flur hinunter konnte sie das Badezimmer sehen, es hätte genauso gut in einem anderen Bundesstaat liegen können.

»Wirklich schade, dass du nicht größer bist«, sagte sie zu dem Hund. »Wie einer dieser schottischen Hirschhunde. Ich könnte dich satteln und mit dir zum Klo reiten.« Mit traurigen, feuchten Augen blickte Buttons zu ihr auf. »Aber nein, ich musste mich ausgerechnet in einen Beagle verlieben.«

Er leckte ihre Hand und vergrub dann seinen Kopf wieder zwischen seinen Pfoten.

»Kannst du wenigstens für mich pinkeln gehen? Pinkeln kannst du nämlich wirklich gut.«

Er wedelte mit dem Schwanz, doch seine Augen blieben geschlossen. Er war müde und sie störte ihn.

Die Tablette müsste bald wirken. Sobald sie den schlimmsten Schmerz betäubt hatte, würde sie endlich schlafen können. Ums Pinkeln würde sie sich später kümmern. Der Schatten würde sich dahin zurückziehen, wo er hingehörte. Ins Nichts.

Wenn sie jetzt einschlief, verpasste sie nur Peking Express, und der gehörte nicht zu ihren Lieblingsfilmen.

Jetzt ein zweistündiges Nickerchen – oder »kontrolliertes Koma«, wie sie es nannte –, und sie würde ungefähr zu der Zeit aufwachen, zu der Andrew nach Hause kam. Vielleicht schaffte sie es sogar anzufangen, Abendessen zu kochen, bevor er seine Schlüssel in die Schale neben der Haustür warf; denn das würde bedeuten, dass sie sich nicht irgendeinen Fraß über eine der vielen Apps auf ihrem Handy bestellten.

»But-But, willst mit Mommy kuscheln?«, fragte sie und klopfte auf das Sofa. Sofort sprang Buttons auf, legte sich auf die Stelle zwischen ihrem Bein und dem Rückenpolster, immer darauf bedacht, sie nicht mit seinem Gewicht zu belasten.

Kates Blick wanderte zum Fenster. Sie war froh, dass sie Andrew gebeten hatte, die Jalousien zuzumachen, bevor er sich heute Morgen verabschiedet hatte. Die Sonne schien mit voller Kraft, oder zumindest hatte sich der Wetterberichtsmoderator in den Morgennachrichten so ausgedrückt. Kate hasste es, mit der Sonne im Gesicht zu schlafen. Es ging weniger darum, bei greller Sonne zu versuchen einzuschlafen; schließlich hatte sie am Strand auch nie Probleme gehabt einzudösen, sondern es führte ihr lediglich vor Augen, was sie alles versäumte.

Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie die rebellierenden Mikroorganismen in ihrem Körper einen langsamen, qualvollen Tod starben. Ihr Bruder, ein Motivationscoach, hatte gesagt, dass sie sich selbst ganz ohne Medikamente oder Operationen heilen könnte, wenn sie ihre Meditation darauf konzentrierte, die Krankheit zu bekämpfen. Er hatte sie durch unzählige Meditationen geführt. Trotzdem musste sie noch immer ganze Schiffsladungen von Medikamenten einnehmen und hatte sich während der letzten fünf Jahre Dutzende Male operieren lassen müssen. Aber sie liebte ihren Bruder und glaubte an ihn, deshalb versuchte sie es weiter. Vielleicht zahlten sich ihre Anstrengungen eines Tages aus und sie würde sich von ihrem Sofa erheben und einen Skydive machen. Oder zumindest mit Andrew in ein nettes Restaurant gehen.

»Gedanken sind körperlich, Schwesterchen«, erklärte ihr Bruder immer wieder. »Wenn du dich mit reinem Herzen und klarem Verstand auf deine Ziele konzentrierst, kannst du alles erreichen.«

»Wenn die Antwort auf die Leiden des Lebens so einfach ist, warum sind dann so viele Menschen krank?«

»Wer sagt denn, dass es einfach ist? Die Buddhisten behaupten, dass es viele, viele Lebzeiten dauern kann, bis man es auch nur annähernd gemeistert hat.«

»Du sagst also, dass ich keine Chance habe. Ich meine, es ist ja nicht so, als hätte ich keinen klaren Verstand«, hatte Kate gesagt.

Da war es wieder, Rykers immerwährendes Lächeln. »Vielleicht hast du dich in all deinen früheren Leben schon ordentlich nach vorne gekämpft. Es ist durchaus möglich, dass dies nur deine Abschlussprüfung ist.«

»In der Schule habe ich meine Abschlussprüfung in den Sand gesetzt.«

»Das kam daher, dass du immer nur Quatsch vorhattest, anstatt zu lernen.«

»Na ja, jetzt habe ich ja wohl mehr als genug Zeit zum Lernen, oder nicht?«

»Die hast du allerdings.«

Ein Teil von ihr tat das alles als Unfug ab, und vielleicht klappte es deshalb nicht so, wie es sollte. Sie sabotierte sich selbst.

Gedanken, die kranke Zellen in ihrem Körper zerstörten? Ja, klar. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass das Meditieren sie entspannte. Und sie gab auch freiheraus zu, dass es ihr vor einigen Jahren tatsächlich geholfen hatte, als sie sich diesen furchtbaren Virus einfing, der fast ihr Ende gewesen wäre.

Als sie so krank gewesen war, dass sie kaum mehr die Augen öffnen konnte, geschweige denn sprechen, hatte Ryker an ihrem Bett gesessen und sie Schritt für Schritt angeleitet, sich den Virus zu veranschaulichen.

Sie war als leidenschaftlicher Star Wars-Fan aufgewachsen (ja, sie hatte durchaus eine burschikose Phase durchlebt). Ryker bat sie, sich den Virus als TIE-Fighter des Imperiums vorzustellen und wie sie diese in ihrem eigenen X-Wing jagte.

Ihr zuverlässiger Droide saß hinter ihr und gemeinsam sprengten sie die viralen Raumschiffe in tausend Stücke.

Sie erinnerte sich daran, dass sie abgedriftet war und Ryker ihr zuflüsterte und sie in den Kampf zurückholte, bis keine TIE-Fighter mehr übrig waren. Innerhalb weniger Stunden hatte sie sich aufgesetzt und verlangte nach Cheeseburgern; eine Bitte, die ihr prompt abgeschlagen wurde.

Vermutlich hatte die Krankheit auch einfach ihren Lauf genommen und war von allein zum Stillstand gekommen, doch Ryker schwor, dass sie den Virus durch die Kraft ihrer Gedanken besiegt hatte.

Ich stelle mir eine dieser Bambushütten auf dem Wasser in Bora Bora vor.

Auch wenn sie keine davon in ihr Wohnzimmer zaubern konnte, war es schön, solch einer Hütte einen Besuch abzustatten. Sie war zu müde, um heute auf Ehlers-Danlos und Lupus wütend zu sein.

Als sie es sich in ihrem Berg Kissen bequem machte, meinte sie, im Augenwinkel einen grauen Schatten auszumachen, der von rechts nach links flitzte. Sie wandte sich um und starrte die Stelle in der Küche an, wo sie meinte, dass er dort gerade verschwunden war.

Er ist nicht wirklich da. Hör auf, daran zu denken, und er wird weggehen.

Kate zog das Laken bis zum Kinn hoch und kuschelte sich instinktiv dichter an Buttons.

Sie schloss ihre Augen und stellte den Fernseher lauter, damit sie sich nicht so allein fühlte. Stimmen. Sie brauchte Stimmen.

»Pass auf mich auf, But-But. Ich schlafe jetzt ein bisschen.«

Buttons wimmerte im Schlaf.

»Wach auf, du Schlafmütze.«

Kate spürte, wie etwas gegen ihren Kopf drückte. Sie öffnete ein Auge und sah, dass Andrew sich über sie beugte. An seinem Hals befanden sich getrocknete Spuren von seinem Eau de Cologne.

»Wie spät ist es?«

»Fast 19 Uhr«, antwortete er.

Unter Schmerzen setzte sie sich auf. Selbst Omas bewegen sich schneller und eleganter, dachte sie. »Wann bist du nach Hause gekommen?«

Andrew setzte sich auf den Rand des Sofas. Er hatte seinen Anzug ausgezogen und trug ein Notre-Dame-T-Shirt und Jeans. Kate legte ihre Hand auf seine Brust und fühlte sein starkes, gesundes Herz schlagen.

»Kurz nach 17 Uhr.«

»Warum hast du mich nicht geweckt?«

Er lächelte. »Habe ich versucht. Du warst wie bewusstlos. Ich habe sogar kontrolliert, ob du noch atmest.«

Es war unmöglich, die vielen Male zu zählen, die sich ihr Mann voller Angst über sie gebeugt hatte, um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich noch unter den Lebenden weilte. Er behauptete, dass sie alles andere als eine schlafende Schönheit war. Wenn sie schlief, sah sie entweder aus, als hätte sie entsetzliche Schmerzen, oder wäre tot. Sie hatte ihm nicht geglaubt, bis er sie fotografiert und ein Video von ihr gemacht hatte … ihr Mund stand offen, die Wangen waren eingefallen, ihr Arm baumelte schlaff über der Bettkante und ihre Lunge benötigte scheinbar endlose Zeit, um ein- und wieder auszuatmen.

Mein Gott, was musste er ihretwegen durchmachen.

Sie war überzeugt, dass sie nur deshalb überlebt hatte und er nie von ihrer Seite gewichen war, weil sie sturer war als zehn Esel zusammen. Wenn die Dinge mal wieder wirklich schlecht standen, wechselten sie sich ab, in den Himmel zu schauen und zu sagen: »Netter Versuch, aber es wird nicht funktionieren. Mich kriegst du nicht klein!« Sie weigerten sich, aufzugeben oder sich zu trennen. Wenn die Krankheit überhaupt etwas Positives bewirkt hatte, dann war es die Erkenntnis, wie zäh sie beide waren und wie sehr sie sich liebten.

»Leg dich nicht mit Jersey an«, hatte Andrew viele, viele Male gesagt, immer mit einem schiefen Lächeln.

Sie war so froh, dass er da war, als sie aufwachte. Seine Gegenwart machte das Haus … leichter.

Sich den Schlaf aus den Augen reibend sagte sie: »Ich wollte was beim Chinesen bestellen.«

»Alles schon organisiert. Ich habe eine Pizza von Milano’s geholt. Und einen Salat, falls wir so tun wollen, als ob wir gesund essen.«

Ihr lief sofort das Wasser im Mund zusammen. Nach einem Dutzend Operationen an ihrem Verdauungstrakt hatte sie Probleme mit dem Essen. Aber mit der Pizza mit dünnem Rand von Milano’s kam sie gut zurecht, und die war wahrlich ein kleines Stückchen Paradies. Sie scherzten oft, dass sie sich ausschließlich von dieser Pizza ernährten, wobei das nicht einmal allzu weit hergeholt war.

Kate küsste Andrew auf die Lippen, wandte sich jedoch schnell ab und bedeckte ihren Mund mit der Hand.

»Habe ich Mundgeruch?«

Er küsste sie noch mal. »Ja.«

»Du bist der Allerbeste«, sagte sie.

»Für mein kleines Krüppelchen tu ich alles.«

Andere schauderten, sobald er sie so nannte; sie konnten es nicht verstehen. Alle gingen in ihrer Gegenwart wie auf Eierschalen. Andrew konnte sich das nicht leisten, deshalb gönnten sie sich eine gesunde Portion Galgenhumor. Wenn andere nicht darüber lachen konnten … auch gut … sie jedenfalls hatte genügend geweint, um einen ganzen Stausee zu füllen.

Als Andrew sich erhob, wollte sie ihn mit einem leichten Schlag hinten an den Beinen erwischen – verfehlte ihn aber.

Andrew trug weder Socken noch Schuhe. Buttons folgte ihm; sein Gespür sagte ihm, dass es gleich etwas zu essen gab. Andrew klappte den Deckel des Pizzakartons auf.

»Soll ich dir ein Stück aufwärmen?«

»Nein, ich esse es so.«

»Salat?«

»Gern. Aber nicht zu viel.«

»Du kannst meine Gurken haben«, sagte er, während er das Dressing aus dem Kühlschrank holte.

»Die krieg ich doch immer.«

Er richtete ihr Abendessen auf einem hölzernen Klapptablett an und stellte es auf ihren Schoß. Buttons saß daneben und blickte zu ihr hoch.

»Menschenessen ist nichts für dich, Kumpel«, sagte Andrew. Er öffnete eine Dose Hundefutter. Buttons rührte sich nicht.

Der Hund liebte die Pizza von Milano’s genauso sehr wie Kate.

Seufzend nahm Andrew ein Stück Pizza aus dem Karton. »Buttons, möchtest du vielleicht Pizza?«

Der alte Hund kam in die Küche gerast, wobei seine Nägel über die Fliesen schlitterten. Er konnte nicht rechtzeitig stoppen und krachte in den Küchenschrank. Kate verschluckte sich fast an ihrer Pepsi.

»Wenn wir ein Kind hätten, wäre es so wie du«, sagte Andrew zu ihm.

»Da hat das ungeborene Kind aber Glück gehabt.«

Keine Kinder haben zu können war schon lange kein wunder Punkt mehr für sie. Auf ihre damalige Enttäuschung war Traurigkeit gefolgt, dann bittere Einsicht. Jetzt war es einfach eine Tatsache des Lebens. Es machte keinen Sinn, etwas zu bedauern oder mit den Zähnen zu knirschen über das, was hätte sein können. Außerdem konnte Kate sich nicht vorstellen, wie sie ein Kind aufziehen sollte, wo sie sich doch kaum mehr um sich selbst kümmern konnte. Es wäre nur eine riesige, zusätzliche Last für Andrew gewesen, und er hatte schon genug auf dem Zettel.

Andrew plumpste neben sie aufs Sofa, in der Hand die Pizza und ein Bier. Er schaltete den Fernseher auf stumm; es lief gerade die Werbung für eine Retrospektive über Jean Arthur.

Kate hätte ihre Pizza am liebsten heruntergeschlungen, zwang sich aber dazu, nur daran zu knabbern. Ihr Körper kam nicht mit allzu schneller Nahrungsaufnahme klar.

»Wie war’s bei der Arbeit?«, fragte sie.

Er machte sein Bier auf. Schaum rann an der Dose hinab und tropfte auf seinen Schoß. Er schüttelte nur mit dem Kopf und versuchte, so viel wie möglich davon abzuschlürfen.

»Ich kam an, sah mich um und ging wieder«, begann er. »Heute standen eigentlich nur Meetings an, und das heißt, dass ich nichts geschafft habe.«

»Kannst du ihnen nicht einfach sagen, dass du echte Arbeit zu erledigen hast, und die Meetings sausen lassen?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob du dir dessen bewusst bist, mein Schatz, aber in der Geschäftswelt des heutigen Amerika wird die Tatsache, rein gar nichts zu schaffen, weil der ganze Tag mit Meetings vollgepackt ist, genauso eingestuft, als hätte man seinen Job anständig erledigt.«

Sie angelte sich eine einzelne Gurkenscheibe aus seinem Salat und schob sie sich in den Mund. »An so einem Arbeitsplatz würde ich verrückt werden. Niemals im Leben wäre ich in der Lage, den Mund zu halten.«

»Und genau deshalb war dir das Schicksal hinsichtlich deiner Zukunft gnädig und sagte sich‚ hm, ich gebe dieser Tussi etwas, das sie von dem Versuch abhalten wird, jemals wieder mit anderen Menschen zu arbeiten … jetzt hab ich’s, ich werde mir einfach irgendetwas Unheilbares ausdenken, mit dem ich sie in die Knie zwingen kann. Dadurch wird das delikate Gleichgewicht zwischen Fortschritt und Stagnation gewährleistet, an dem wir so hart gearbeitet haben, um es in unserer sogenannten Geschäftswelt zu verwurzeln.«

Kate kicherte. »Dann danke ich dem Schicksal, dass es uns beide gerettet hat.«

Sie zuckte zusammen, als Andrew sich vorbeugte, um sein Bier auf dem Wohnzimmertisch abzustellen.

»Was tut dir am meisten weh?«, fragte er.

Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, nicht zu fragen, ob etwas wehtat. Denn alles tat weh, die ganze Zeit. Es war einfacher zu erklären, welcher Körperteil gerade am meisten schmerzte.

»Meine Knie bringen mich um.«

Er schlug die Decke zurück und inspizierte die geschwollenen Melonen, die sie als Knie bezeichnete. »Ich kann gefrorene Erbsen holen.«

»Nach dem Essen. Vielleicht. Was soll es schon anderes bewirken, als dass mir kalt wird?«

Behutsam berührte er ihre Knie. »Ob du’s glaubst oder nicht, es wird gegen die Schwellungen helfen.«

»Dann kann ich also all die Ärzte und Medikamente vergessen und mich einfach mit gefrorenen Erbsen bedecken?«

»Absolut! Nun ja, wir wollen nicht alles auf eine Karte setzen. Wir sollten sie mit etwas Brokkoli, Mais und Karotten mischen. Vielleicht sogar mit einer Tüte Kartoffelkroketten.«

»Wie sieht es mit Eiscreme aus?«

»Das gibt zu viel Schmiererei. Außerdem wird sich Buttons schon darüber hergemacht haben, bevor es seine volle Wirkung entfalten kann.«

Sie blickte zu Buttons hinüber, der Pizzasoße an der Schnauze hatte. »Eis liebt er wirklich.«

»Und wie jedes Kind hasst er sein Gemüse. Wie wäre es, wenn ich zu ShopRite fahre, einen Rundumschlag in der Tiefkühlabteilung mache und wir deine ganzen Medikamente im Klo hinunterspülen? Es wird uns viel Kohle sparen. Und wir können alles essen. So schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe.«

Kate biss von ihrer kalten Pizza ab.

»Können wir die Kohle dann in Milano’s Pizza investieren?«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Absolut. Du und Buttons werdet geradezu nach Käse und Peperoni stinken.«

»Das würde mir richtig gut gefallen.«

»Ja, das würde es.«

Sie ließ die Pizza fast fallen, als sich ein stechender Schmerz in der Mitte ihrer Brust ausbreitete. Sie zischte und kniff die Augen zusammen. Der Schmerz ging schnell vorüber.

»Alles in Ordnung bei dir?«

Der humorvolle Ausdruck auf Andrews Gesicht war gewichen.

Sie nickte und brauchte einen Augenblick, um wieder zu Atem zu kommen. Weil der Lupus so lange unentdeckt geblieben war, hatte er mehr als genug Zeit gehabt, ihr Herz zu schädigen. Nur eine Herztransplantation konnte die jahrelange Schädigung rückgängig machen. Allerdings würde ihr niemand ein gesundes Herz einsetzen; dafür war ihre Verfassung zu schlecht.

»Weißt du, wenn du willst, dass ich die Klappe halte, dann hättest du mir das sagen sollen«, witzelte Andrew und streichelte ihren Rücken. Sie hatte nicht einmal mitbekommen, dass er ihr den Teller aus den Händen genommen und das Tablett auf den Tisch gestellt hatte.

Als sie meinte, wieder atmen zu können, sagte sie: »Jaja, als ob du jemals aufhörst zu reden.«

»Bei Filmen rede ich nie.«

»Und das weiß ich zu schätzen. Also, kann ich jetzt meine Pizza zurückhaben?«

»Bist du sicher, dass es vorbei ist?«

Mit einer Hand an der Brust antwortete sie: »Ich bin sicher.«

Aber sie war sich keineswegs sicher. Sie konnte nur hoffen.

Nach dem Essen saßen sie zusammen und sahen ein paar Sitcoms, bis sie einschlief. Irgendwann um Mitternacht weckte Andrew sie sanft und führte sie zu ihrem Bett im Schlafzimmer. Kaum war er damit fertig, sie zuzudecken, ihr ihre Medikamente zu geben und eine kalte Flasche Wasser aus dem Kühlschrank zu holen, da schlief er schon selbst … und schnarchte dabei wie ein Sägewerk.

Sie beneidete ihn darum, dass er sich ausschalten konnte wie ein Roboter, dem man den Akku entfernt hatte, so wie der in der alten Fernsehserie Lost in Space. Und im Gegensatz zu ihr schlief er wie ein glückseliges Kind, zusammengerollt in einer halb fetalen Stellung, mit den Händen unter seinem Kopf und dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen.

Klar, sie konnte auch von jetzt auf gleich einschlafen. Aber ihr Schlaf war eine Kombination aus Betäubungsmitteln und einem Immunsystem, das sie vollkommen erschöpfte, obwohl sie nichts weiter getan hatte, als sich tagsüber aufzusetzen.

Und nun, wo er schlief, war sie natürlich hellwach.

Und schlimmer noch, es war eine dieser Nächte, in denen der Tod so nahe war, dass sie Angst hatte, die Augen zu schließen. Ein Teil von ihr wusste, dass es irrational war, doch die Erinnerung an die Zeit, als die Möglichkeit, nicht wieder aufzuwachen, durchaus real gewesen war, ließ sie nicht mehr los. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass sie dieses Gefühl nicht abschütteln konnte, egal was sie tat. Ihr blieb nichts anderes übrig, als wach zu bleiben und es durchzustehen, bis die Erschöpfung sie übermannte.

Dies war wahrlich eine Nacht der schlechten Gefühle. Kate setzte sich im Bett auf und starrte angestrengt in die Ecken des Raums, darauf gefasst, ihren schattenhaften Voyeur zu erblicken.

Ihre Hände krallten sich in das Bettzeug.

Etwas schnaufte in der Dunkelheit.

Buttons lag zu ihren Füßen und rührte sich nicht.

Sie tastete nach der Fernbedienung, schaltete den Fernseher ein und stieß auf einen Sender, der Produktionen der 70er-Jahre brachte. Licht. Sie brauchte Licht im Zimmer, und seien es nur die flackernden Bilder von Mannix.

Kate streckte den Arm aus und legte die Hand auf Andrews Rücken. Sie spürte den sanften Rhythmus seines Schlafs. Sie hatte sich selbst Angst gemacht und wollte, dass er wach war, damit er ihr versicherte, dass da kein Schatten im Raum war, kein Geist, der nur darauf wartete, dass sie ihre Deckung sinken ließ.

Lass ihn schlafen, dachte sie. Tu so, als ob du schon groß bist, und komm alleine damit klar. Du machst dich selbst verrückt, wie ein Dummchen.

Nach Mannix kam Hawaii Five-0, danach Hazel und The Flying Nun. Sie war gelangweilt und konnte kaum mehr aus den Augen schauen, aber das schlechte Gefühl blieb.

Erst zum Morgengrauen hin gewann der Schlaf die Oberhand. Als sie aufwachte, war Andrew weg.

2

Auf den Hinterbeinen stand Buttons vor der Waschmaschine. Die Vorderpfoten hatte er auf dem Rand abgestützt und schnupperte am Waschmittel. Kate schloss den Deckel, lehnte sich gegen die Maschine und streichelte den Hund. Heute hatte sie die Jalousien geöffnet. Die grauen Wolken hingen tief und versprachen Regen. Ein Lieferwagen der Post fuhr die Straße hinunter. In ihrer Nachbarschaft gab es kaum Hausfrauen oder Rentner. Ab morgens um neun hatte Kate die gesamte Straße für sich allein.

Was nicht gerade ein Trost war.

Kates Tablet brummte. Es wurde Zeit, ihr Schmerzpflaster zu wechseln.

»Komm, But-But.«

Sie besaß einen Stock und eine Gehhilfe, weigerte sich aber, sie zu benutzen. Sie wusste, dass es albern und geradezu dumm war, vor allem weil niemand sah, wie sie damit herumschlurfte, doch es war ihr wichtig, sich selbst zu beweisen, dass sie noch allein gehen konnte … egal wie sehr es schmerzte, wie ungeschickt sie sich anstellte oder wie oft sie dabei hinfiel.

Früher oder später würde der Tag kommen, an dem das keine Option mehr war. Wenn es so weit war, würde sie grinsen und es ertragen. Aber bis dahin …

Die Fentanyl-Schachtel lag auf dem Tisch neben dem Sofa. Sie zog das alte Pflaster von ihrem Arm ab und faltete es wie beim Origami, der japanischen Kunst des Papierfaltens, immer wieder und wieder zusammen, wobei das winzige Päckchen von dem restlichen Klebstoff zusammengehalten wurde. Sie würde es erst später in den Müll werfen, zusammen mit dem feuchten Hundefutter, das Buttons nicht aufgefressen hatte. Der Missbrauch von Fentanyl hatte epidemische Ausmaße angenommen. Junkies durchsuchten regelmäßig die Mülltonnen nach gebrauchten Pflastern, aus denen sie den letzten Rest der nach Fäulnis schmeckenden Droge saugten.

Kate wollte nicht dafür verantwortlich sein, wenn jemand eine Überdosis abbekam. Deshalb mischte sie das Pflaster unter den widerlichsten Müll, den sie finden konnte, in der Hoffnung, dass dies die Müll durchwühlenden Junkies fernhielt. Ihre Dosis war die höchste, die erhältlich war. Nach drei Tagen mochte es zwar für sie an der Zeit sein, sich ein neues Pflaster aufzukleben, weil die Wirkung nachließ, aber das bedeutete noch lange nicht, dass die restliche Menge Fentanyl, die sich noch in dem weggeworfenen Pflaster befand, nicht zu viel für einen verzweifelten Junkie war.

Normalerweise war Andrew da, wenn sie ihr Pflaster wechselte, und passte auf, dass sie sich nicht aus Versehen überdosierte. Doch die Schmerzen waren wirklich schlimm und sie konnte nicht warten, bis er nach Hause kam.

Buttons beobachtete sie dabei und bellte, nachdem sie das Pflaster auf ihren Oberarm geklebt hatte.

»Freut mich, dass du zustimmst.«

Sie schlurfte zurück in die Küche, nahm seinen Hundefutternapf und klebte das alte Pflaster mitten in sein Nassfutter. Dann kippte sie alles zusammen in den Müll unter der Spüle und nahm sich ein paar Minuten Zeit, um sich zu sammeln.

Laut der Anzeige der Waschmaschine war die Wäsche in 20 Minuten fertig. Bis dahin würde sie sich mit irgendetwas anderem beschäftigen, um noch wach zu sein und die Wäsche in den Trockner zu werfen. Mit ein bisschen Glück war sie sogar noch wach, um sie wieder herauszuholen und zusammenzulegen, bevor Andrew nach Hause kam.

Wimmernd kratzte Buttons an der Hintertür.

»Das war ja klar, dass du wartest, bis ich auf der anderen Seite des Hauses bin, und dann rauswillst.«

Ihre Hüfte knackte, kugelte sich aber Gott sei Dank nicht aus. Buttons lief zur Tür hinaus. Sich die Hüfte auszukugeln war das Letzte. Es schmerzte unglaublich und es war nicht einfach, sie wieder einzurenken. Manchmal musste Andrew an ihrem Bein ziehen; das dumpfe, schmatzende Klack, das darauf folgte, versicherte Kate, dass ihre Hüfte wieder da war, wo sie hingehörte.

Sie rieb sich die Hüfte und beobachtete Buttons, der um die Forsythien herumschnupperte, bis er seine Lieblingsstelle an dem Baum gefunden hatte, den sie und Andrew ihren Penis-Baum nannten. Er sah aus wie ein drei Meter hoher, grüner Dildo, der durch Andrews sorgfältiges Trimmen immer wieder Gesprächsstoff lieferte.

Als Buttons wieder ins Haus kam, fing ihr Telefon an zu klingeln. Sie blickte aufs Display, bevor sie ranging.

»Hi, Mama«, sagte sie, machte es sich auf dem Sofa bequem und schaltete ohne Ton durch die Fernsehsender. Jerry Springer gab gerade seine Schlussgedanken zum Besten, in einer Gerichtsshow wurden einem Kerl, der aussah wie das Mitglied einer Gang, 500 Dollar für sein beschädigtes Klavier zugesprochen, es liefen Werbespots für diverse Genossenschaftsbanken und Anwälte, die sich an die Fersen von Krankenwagen hefteten, um die jeweiligen Patienten zu ihren nächsten Mandanten zu machen. Eine Schar Klatschtanten tratschte über einen Prominenten, den Kate nicht kannte, und es lief ein ganzer Haufen spanischer Telenovelas mit vollbusigen Frauen in tief ausgeschnittenen Kleidern und Kerlen mit struppigen Schnurrbärten.

Kein Wunder, dass sie sich lieber an die alten Klassiker hielt.

»Hat dein Bruder dich angerufen?«

Kate massierte sich die Schläfen.

»Nein, aber du ja auch nicht seit drei Wochen.«

Wenn ihre Mutter nicht nett sein wollte, verhielt Kate sich genauso. Die Frau wohnte gerade einmal 16 Kilometer entfernt und besuchte sie nur alle sechs Monate. Damit hatte sie jedenfalls keine Chance, Mutter des Jahres zu werden.

»Na ja, er meinte, dass er sich melden wollte.«

»Ich habe von Ryker nichts mehr gehört, seit er und Nikki nach Aruba geflogen sind. Aber hey, vielen Dank, dass du dich erkundigst, wie es mir geht.«

Es folgte eine lange Pause.

Schließlich sagte ihre Mutter: »Sie sind seit Sonntag wieder da, weißt du?«

»Wie schön für sie.«

»Bist du gar nicht neugierig darauf, warum er mit dir sprechen möchte?«

Kate ballte die Hand zur Faust. Buttons, der ihren Ärger spürte, sprang auf und legte seinen Kopf in ihren Schoß. »Bis vor zehn Sekunden wusste ich nicht einmal, dass er mich überhaupt anrufen wollte. Und tatsächlich ist das auch gar nicht so unglaublich, wenn man bedenkt, dass Ryker und ich ständig miteinander reden. Weißt du, so wie in normalen Familien.«

»Okay, ich wollte nur nachfragen.«

»Was, mehr nicht? Als wir das letzte Mal telefoniert haben, hatte ich eine Lungenentzündung. Willst du nicht einmal fragen, wie es mir damit geht?« Kate spürte ihren Blutdruck in die Höhe schnellen. Sie war mit einer Mutter aufgewachsen, die Ryker so sehr vergötterte, dass es für sie nichts und niemand anderen gab, ihren Vater eingeschlossen, der sich wie ein vergessener Besucher mit diesem und jenem im Haus beschäftigt hatte. Ryker sollte der große, leuchtende Stern der Familie werden, der so hell schien, dass seine liebe, alte Mama dem Rest der Welt gegenüber blind war.

Und genau das war auch aus Ryker geworden. Sein Licht stellte Kate in einen immer breiter werdenden Schatten, zumindest was ihre kurzsichtige Mutter betraf. Kate hatte sich immer eingeredet, dass ihre Mutter nicht mit dem klarkam, was ihre Tochter durchmachte; dass es einfacher für sie war, den Kopf in den Sand zu stecken. In Wahrheit jedoch war es schon immer so gewesen. Auf eine Änderung ihrer Beziehung zu hoffen, war sowohl Zeit- als auch Energieverschwendung, und sie hatte weder von dem einen noch dem anderen genügend vorrätig.

»Ich bin davon ausgegangen, dass es dir inzwischen wieder besser geht«, blaffte ihre Mutter.

»Ich war fünf Tage im Krankenhaus, weil sich in meinen Lungen Flüssigkeit angesammelt hatte.«

»Aber jetzt bist du nicht mehr dort.«

Kate hielt das Telefon von sich weg und stieß einen lautlosen Schrei aus. Dann atmete sie tief ein. »Mein Arzt sagt, dass der Zeitplan für meine Hüftoperationen durch die Lungenentzündung bis zum Herbst zurückgeworfen wurde. Bis sich meine Lungen regeneriert haben, wollen sie mich von jeglicher Narkose fernhalten.«

»Ich verstehe sowieso nicht, warum er meint, dass du neue Hüften brauchst. Du kannst doch laufen.«

Damit erreichte Kates Blut den Siedepunkt. »Klar, ich kann wie ein Krüppel laufen, der von den Alten überholt wird. Ich würde ganz gerne etwas stabiler werden.«

Ihre Mutter seufzte ins Telefon. »Aber warum das Risiko einer Operation auf sich nehmen? Es ist ja nicht so, als verließest du ständig das Haus.«

Das brachte das Fass zum Überlaufen. Anstatt zu brüllen, antwortete Kate: »Sei bloß dankbar, dass dich der ganze Mist übersprungen hat und bei mir gelandet ist, Mama. Nicht jedem ist es vergönnt, sein Leben mit Scheuklappen zu leben.«

Schweigen.

Das war die ultimative Waffe ihrer Mutter. Wenn sie auf Widerstand traf, saß sie am liebsten einfach da, stumm wie ein Fisch.

»Danke für deinen Anruf. Ich werde natürlich sofort Bescheid geben, sobald sich Ryker bei mir meldet.«

»Es gibt keinen Grund, solch einen Ton anzuschlagen, Kate.«

»Ich bin mir sicher, dass du das denkst.«

»Jetzt sei mal nicht gleich eingeschnappt. Es ist schließlich nicht so, als ob du mich angerufen hättest.«

Mit aufeinandergebissenen Zähnen antwortete Kate: »Ich war so krank, dass ich kaum atmen konnte, geschweige denn sprechen. Und das wusstest du, weil Andrew dich angerufen und dir eine Nachricht hinterlassen hat, auf die du nie geantwortet hast.«

Und da war es wieder, das Schweigen.

»Hör zu, Mama, ich muss die Wäsche aus der Waschmaschine holen.«

»O prima, du bist also fit genug, um die Wäsche zu machen. Siehst du, ich wusste doch, dass es dir gut geht.«

Kate beendete das Gespräch, bevor ihr etwas herausrutschte, das sie bereuen würde … oder genießen. Sie warf das Telefon auf ein Kissen und kam mit Mühe auf die Beine, dicht gefolgt von Buttons. Es war eine Sache, chronisch krank zu sein. Eine ganz andere war es jedoch, nicht die Pflege, das Mitgefühl und die Aufmerksamkeit der eigenen Mutter zu haben. Das wünschte sie ihrem ärgsten Feind nicht.

Etwas krachte in der Küche zu Boden. Kates Herz pochte, ihr wurde schwindelig und sie ließ sich aufs Sofa zurückfallen.

Buttons bellte in Richtung Küche, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt.

Kate bückte sich, um seinen Rücken zu streicheln, und sagte: »Wir zwei sind schon ein paar Angsthasen. Ganz ruhig, But-But. Lass uns nachsehen, was heruntergefallen ist.«

Gemeinsam näherten sie sich der Küche. Die blaue Vase, die auf dem Regal über dem Küchentresen stand, war zerbrochen. Darin waren die Gute-Besserung-Blumen gewesen, die Andrew ihr während ihres letzten Krankenhausaufenthalts geschenkt hatte.

»Ich habe sie wohl zu nah an die Kante gestellt, ich Depp«, sagte sie zu dem Beagle, der sich wieder beruhigt hatte. »Siehst du, was Oma anrichtet? Allein der Klang ihrer Stimme lässt Böses geschehen.«

Das Letzte, was sie wollte, war die Scherben aufzufegen, aber sie konnte es nicht Andrew aufbürden. Außerdem wollte sie nicht, dass Buttons hineintrat. Nachdem sie den Hund zurück ins Wohnzimmer gescheucht hatte, holte sie Schaufel und Besen. Gerade als sie die Scherben in den Abfalleimer kippte, piepte die Waschmaschine.

In den Schultern und Handgelenken hatte sie starke Schmerzen, als sie sich schließlich erschöpft aufs Sofa fallen ließ; sie war gerade rechtzeitig für einen Audrey-Hepburn-Film gekommen. Kate versuchte es mit Meditieren, und als das nicht half, war es sowieso Zeit, die nächste Tablette zu nehmen. Die half.

Andrew blickte auf seinen Terminkalender und glich ihn mit Kates Arztterminen ab. Der Palliativstelle war klar, dass die Leute weiterhin arbeiten gehen mussten, um die Rechnungen zu bezahlen, deshalb boten sie donnerstags späte Termine an. Nach der Arbeit konnte er Kate leicht dorthin bringen. Aber der Kardiologe am Dienstagmorgen stellte ein Problem dar.

Sein Chef, der wusste, was er und Kate durchmachten, hatte ihm wieder und wieder gesagt, dass er jederzeit von zu Hause aus arbeiten könne. Doch in seiner letzten Beurteilung wurde sein Team-Engagement beanstandet, was heißen sollte, dass er nicht genügend mit dem Team zusammengearbeitet hatte. Dabei war die Tatsache nebensächlich, dass er von zu Hause aus viel mehr schaffte und – dank ihres Videokonferenzsystems – in ständigem Kontakt mit seinem Team stand.

»Kommst du heute Abend mit etwas trinken?«, fragte James, dessen Kopf über der Trennwand von Andrews Arbeitsnische erschien.

»Was ist diesmal der Anlass?« Andrew klappte seinen Terminkalender zu.

»Brandi hat gestern Abend diesen riesigen Kunden an Land gezogen. Sie sagte, sie gibt einen aus, und wer bin ich, dass ich kostenlose Getränke ausschlage?«

James trommelte mit seinen Fingern auf die Kante der Trennwand. Der Mann war ein Ausbund an nervöser Energie.

»Ich würde gern, aber ich muss nach Hause«, antwortete Andrew.

»Na, komm schon. Du hast auch Drews Ausstand verpasst und Caras Beförderung. Und wie man hört, kommst du nächsten Monat auch nicht mit zu dem Teambildungswochenende.«

»Ich kann nicht drei Tage von zu Hause wegbleiben, Jim. Das weißt du.«

Ganz abgesehen davon, dass er kein Verlangen danach hatte, klettern zu gehen und dabei einem Karriere-Coach zuzuhören, der den ganzen Tag inspirierende Zitate von sich gab. Welcher Idiot war darauf gekommen, dass das eine gute Idee war?

»Jaja, aber was ist mit heute Abend? Wir sind nur für ein paar Stunden im Johnny’s East Side.«

»Trink einen für mich mit. Beim nächsten Mal bin ich dabei.«

»Ich werde dich beim Wort nehmen«, erwiderte James und verabschiedete sich, indem er mit seinem langen Zeigefinger eine Pistolengeste machte. Er ging in Richtung Toilette oder nach hinten auf den Parkplatz zum Rauchen. Wahrscheinlich beides.

Andrew hätte einen Drink wirklich gut gebrauchen können. Vielleicht hatte die Beanstandung hinsichtlich seines Team-Engagements darauf abgezielt, dass er an solchen Gelegenheiten nicht teilnahm – diese Zusammenkünfte waren zwar geselliger Natur, jedoch innerhalb des Vertriebs wichtig. Na ja, wenn sie ihm das Gehalt kürzten, weil er sich nicht jede Woche – und manchmal sogar zweimal die Woche – besaufen konnte, dann war es eben so. Ja, er musste auf viele gute Zeiten und auf Teambildungsveranstaltungen verzichten, aber er hatte Verpflichtungen. Das Leben geht weiter oder so ähnlich, zumindest hatten die Beatles das gesagt.

»Ob-la-di, ob-la-da«, murmelte er.

In 15 Minuten fand eine große Telefonkonferenz statt. Dann ein Meeting per Skype mit ihrem Team in Portland. Danach stand ein weiteres Meeting an, in dem es um die neue Datenbank ging, an der die Entwickler für das Vertriebsteam arbeiteten.

Diese Meetings dauerten immer Stunden. Und die Hälfte der Zeit wusste er nicht einmal, worüber sie zum Teufel eigentlich redeten. Irgendwann dazwischen musste er seinen Vorschlag zur Tariferhöhung seines zweitgrößten Klienten fertigstellen. Er würde zeitlich ziemlich jonglieren müssen.

Da sein Magen knurrte, überlegte Andrew, sich kurz beim Feinkostladen am Ende des Blocks ein Sandwich zu holen.

Besser nicht, dachte er. Wenn ich hier einmal rausgehe, komme ich vielleicht nicht zurück.

Stattdessen kaufte er sich unten in der Cafeteria einen Wrap zum Mitnehmen und verschlang es, während er Kate anrief, um zu sehen, wie es ihr ging.

Das Telefon klingelte, und sofort sprang der Anrufbeantworter an.

Er legte auf.

Andrew machte sich immer gleich Sorgen, wenn sie nicht ranging. Es konnte bei jedem Anruf sein, dass sie zu schwach war, ihn entgegenzunehmen … oder Schlimmeres. Das Schlimmste, was ihn wohl schon jetzt Jahre seines Lebens gekostet hatte, war, dass er nie wusste, was er vorfand, wenn er nach Hause kam.

»Ihr geht’s gut.«

Er überlegte, nochmals anzurufen.

»Ihr geht’s gut«, wiederholte er. Wenn er es oft genug sagte, glaube er es vielleicht.

Es wurde sowieso Zeit für die Telefonkonferenz. Er schickte ihr eine kurze SMS und setzte das Headset auf.

Ich brauche eine Pause, sonst klappe ich zusammen.

Er lächelte Brandi und Luke an, als sie an seiner Arbeitsnische vorbeigingen, und hob den Daumen. Innerlich jedoch ging es ihm beschissen.