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GEORG WÖGERBAUER

Flugversuche

Wie ich meine
persönlichen Vögel
zum Fliegen bringe

Orac

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-7015-0619-4

eISBN 978-3-7015-0623-1

Copyright © 2020 by Orac im Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co.KG, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Einbandgestaltung: Andreas Ortag

Illustrationen: Walpurga Ortag-Glanzer

Inhalt

Vogel-Kunde, ein Register

Vorwort

Flugversuche

Sehnsucht nach Leichtigkeit

Vogelweisheit

Der Sucht-Vogel

Ein bunter Vogel

Der Macht- und Kontroll-Vogel

Der Opfer-Vogel

Der Ärgernis-Vogel

Die Vögel der anderen

Der Angst-Vogel

Wer vorverurteilt, beschränkt sich selbst

Der Vogel der Enge und des Perfektionismus

Einladung zum Überflug

Alle Vöglein sind schon da …

In Beziehung kann der Angst-Vogel fliegen

Beziehung oder: Abheben in Verbundenheit

Hallo Freund!

Der schöne Vogel Solidarität

»Dir werden sie noch die Flügel stutzen!«

Der Starthelfer

Du bist so »mamig«!

Flugversuch: Das Schöne erkennen

Flugversuch zur Abschiedlichkeit

Verbundenheit oder: Beim Propheten Elias

Ikarus oder: Vom sicheren Landen

Flugenten oder: Ein Tagtraum

Bruchlandung und Aufbruch

Vier Minuten ganz da sein

Lisa-Maria oder: Die Flügel der Seele

Fridolin, der Herzensöffner

Metamorphose

Georgia und Nektarios: Verbundenheit und Heilung

Danksagung

Vogel-Kunde, ein Register

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Allmachts-Vogel 145

Angst-Vogel 15, 24, 64ff., 90, 99, 145

Arbeits-Vogel 135

Ärgernis-Vogel 52, 54

Bequemlichkeits-Vogel 108

Bewertungs-Vogel 71

Bunter Vogel 25, 38f., 49

Depressions-Vogel 65

Dokumentations-Vogel 136

Druck-Vogel 99

Eitelkeits-Vogel 108

Frecher Vogel 25

Freizeitstress-Vogel 31

Freude-Vogel 75, 136

Funktions-Vogel 60

Geduld-Vogel 80

Genuss-Vogel 25, 31ff., 75, 136

Gestaltungs-Vogel 136

Gesundheits-Vogel 31, 135

Gier-Vogel 8, 25, 108

Gutmensch-Vogel 15

Helfer-Vogel 146

Ignoranz-Vogel 124, 126

Jammer-Vogel 8, 15, 24

Konsum-Vogel 108

Kontroll-Vogel 24, 42ff.

Kreativer Vogel 25

Leidens-Vogel 108, 146

Leistungs-Vogel 8, 15, 25, 135

Let-it-be-Vogel 66

Listiger Vogel 25

Lust-Vogel 75

Lustiger Vogel 25

Macht-Vogel 15, 25, 42ff., 75, 87

Manipulations-Vogel 42

Man-muss-doch-gesehen-haben-Vogel 135

Missionarischer Vogel 24

Misstrauens-Vogel 77

Neugier-Vogel 25

Nicht-gesehen-werden-Vogel 124

Nicht-gut-genug-Vogel 8

Opfer-Vogel 15, 24f., 47ff., 145

Ordnungs-Vogel 87

Perfektions-Vogel 9, 24, 74, 76, 145

Rechter und linker Vogel 87

Reiselust-Vogel 40

Religions-Vogel 87

Rückzugs-Vogel 146

Selbstausbeutungs-Vogel 60

Sing-Vogel 49

Solidaritäts-Vogel 106

Sorgen-Vogel 135

Status-Vogel 142

Sucht-Vogel 15, 30ff.

Tanz-Vogel 49

Überlebens-Vogel 116, 122

Urteils-Vogel 72

Vogel der Enge 16, 74ff.

Vogel Strauß 108

Vorurteils-Vogel 71

Wander-Vogel 80

Werte-Vogel 136

Wertungs-Vogel 72

Zwangs-Vogel 43, 64ff.

Zweisamkeits-Vogel 136

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Vorwort

Das Thema dieses Buches hat mich die letzten Jahre in meinen ganz privaten Beziehungen, zu meiner Frau, meinen Kindern und Kindeskindern, begleitet und auch gefordert. Ihnen danke ich besonders, denn sie sind mir am nächsten, kennen mich am besten, lieben mich in meinen Höhenflügen, aber auch in Momenten der Schwere und Schwäche. Abschiede in meinem Leben waren und sind immer wieder solche Momente, da geht gar nichts leicht, da bin ich weit weg vom Abheben, an Flugversuche ist nicht zu denken. In diesen schweren Lebenszeiten besteht die Gefahr, dass mich meine eigenen Vögel fest am Boden halten. Sie sitzen auf meinen Schultern oder auch in mir drinnen, z.B. der Nicht-gut-genug-Vogel oder der Leistungs-Vogel, der Vogel der Gier, manchmal auch der Jammer-Vogel. Mantraartig singen sie mir ihre Vogelbotschaften vor: »Das könnte doch noch besser sein!«, oder »Was denken denn die anderen von dir?«, oder »Nur nicht aufgeben, das hast du begonnen, das musst du also fertig machen!« Mit diesen Botschaften hindern mich die eigenen Vögel daran, loszulassen, wieder zu vertrauen, zuerst mir selbst und dann auch den anderen.

Flugversuche begleiten mich täglich in meiner ärztlich-therapeutischen Praxis, wenn ich Menschen ermutige, ihre Flugverhinderer aufzuspüren, ihre jeweiligen Vögel zu entlarven, sie kennenzulernen, sie immer wieder fliegen zu lassen, um selbst zu der ersehnten Leichtigkeit zu gelangen. Ich arbeite mit Menschen an ihren ganz persönlichen Flugermöglichern. Meinen Patienten und Patientinnen gebührt an dieser Stelle ein besonderer Dank, manchmal darf ich Flugbegleiter sein, und schon oft habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich als Therapeut ein von meinen Patienten Beschenkter bin, beschenkt von ihren Fluggeschichten, ihren Neustarts nach so mancher Bruchlandung und ihrem oft so klaren Umgang mit den eigenen Vögeln. Veränderung beginnt dort, wo wir die Dinge sehen, erkennen können, und ich habe große Wertschätzung vor Menschen, die sich trauen, genau hinzuschauen.

Oft sind es Erkrankungen, die uns deutlich an unsere Vögel und Überlebensmuster heranführen. So habe ich mich in den letzten Jahren mit der Diagnose einer Herzerkrankung erstmals auf der Patientenseite erlebt. Ich habe dabei die Erfahrung gemacht, dass es leichter ist, ein Buch über Herzensangelegenheiten zu schreiben als zu akzeptieren, selber eine Herzensangelegenheit zu haben. Und ich spüre immer deutlicher, wie viel mir noch am Herzen liegt, dieses Buch ist ein Teil davon. So habe ich gelernt, genau hinzuschauen, was mir wirklich wichtig ist, wie weit mich und mein Leben Loyalität bestimmt und prägt, und wann es mir gelingt, als Liebender zu leben.

Als Therapeut habe ich gelernt, mit anderen Herzen in Verbindung zu gehen, hinzuhören und »Herzen zu lauschen«, jetzt ist es mein größter Flugversuch, mit meinem eigenen Herzen gut in Verbindung zu sein und dorthin zu lauschen. Mit meiner eigenen Krankheitserfahrung kann ich mich auf Flugversuche nochmals ganz anders einlassen, und ich habe gelernt, dass Veränderung Zeit benötigt, dass der Versuch ein Ausdruck meiner Hoffnung ist und dass manchmal der Versuch schon bedeutsamer ist als ein glänzender Höhenflug. Es geht für mich eben nicht um Perfektion, zwanghafte Perfektion ist ein Vogel, der uns unfrei macht. Das Gegenteil von Mangel ist nicht Perfektion, sondern »gut genug sein«. In diesem »gut genug sein können« steckt auch der Mut, sich selbst verletzlich, manchmal auch hilfsbedürftig zu zeigen, auch der Mut zur Lücke oder der Mut, sich Hilfe zu holen.

Mit meinem Bruder Hans durfte ich schon einige Bücher schreiben, auch dieses Projekt haben wir gemeinsam begonnen, und dann war es ein Flugversuch für meinen Bruder, an einem bestimmten Punkt des Schreibens auszusteigen, und es ist mein mit meinem Herzen gut abgestimmter Flugversuch, erstmals ein Buch alleine zu schreiben. Ich will meinem Bruder hier im Vorwort Platz geben, weil er den ganzen Prozess der Entstehung dieses Buches vollinhaltlich bis zum Abschluss mit mir mitgetragen und gestaltet hat, auch in der Form, wie er sich die letzten Jahre auf seine eigenen Flugversuche eingelassen hat, und somit richte ich an ihn ein großes Danke für seine Treue zu unserer Bruderfreundschaft, für sein Vertrauen in mich und meine Flugtauglichkeit, für seine vielen inhaltlichen Beiträge und Bereicherungen und für so manchen gemeinsamen Höhenflug.

Wir werden in Beziehung geboren, wir werden in Beziehung auch immer wieder verletzt, was ursächlich für unsere »Vögel« ist, und wir können auch in Beziehung heilen. In vielen Patientengeschichten und auch in unserem Afrika-Projekt »Dialog mit Itete« durfte ich lernen, wie Heilung letztlich dort gelingt, wo Menschen bereit sind, für ein klar definiertes Ziel zusammenzuarbeiten, wo sie nicht in ihren eigenen Vögeln gefangen sind, sondern sich in Wertschätzung füreinander und die jeweils anderen Vögel konkurrenzfrei für etwas Gemeinsames einsetzen. So ist dieses Buch auch als ein Flugversuch meinerseits zu verstehen, mich klar für eine gesellschaftliche Entwicklung der Öffnung zu exponieren, für Dialog, für Integration, für ein Leben in Resonanz mit den Menschen, in Resonanz mit der Welt, die wir als Gäste bewohnen.

Dieses Buch, »Flugversuche«, ist auch ein Bekenntnis von mir, das Lebensgeschenk dankbar, neugierig und wertschätzend anzunehmen und als Liebender zu leben. Dankbar darf ich das mit meiner Frau Sigrid seit über 40 Jahren ernten und bin ihr auch dankbar für ihr kritisches Lektorat nicht nur der vorliegenden Texte und Geschichten, sondern auch ihr »Lektorat« im Zuhören und mit mir sein, dankbar vor allem für so viele liebevolle Start- und Neustartversuche auf unserem langen gemeinsamen Flug durch ein aufregendes Leben. Niemand kann mich so liebevoll wie sie auf manch störenden Vogel hinweisen, mir meine eigenen Flugverhinderer aufzeigen und mich zum gemeinsamen Flug einladen.

Und so bin ich schon mitten drin im Thema: Es geht bei Flugversuchen um Beziehungen, Begegnungen, Verbindungen und Lösungen, ums Sein und ums Lassen. All das und einen guten Flug beim Lesen, mit immer wieder sicheren Landungen, wünsche ich allen meinen Lesern und Leserinnen.

Georg Wögerbauer, Kreta, im September 2019

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Flugversuche

Vorweg eine gute Nachricht:

Sie haben auch einen Vogel, oder hoffentlich mehrere!

Die zweite gute Nachricht:

Ihre Vögel haben Flügel. Sie können fliegen!

Und die dritte gute Nachricht:

Sie dürfen Ihre Vögel durchaus gerne haben!

Unsere Vögel sind unsere wahren Lehrmeister.

Wir verdanken ihnen viele Fähigkeiten. Sie zeigen uns unsere Verletztheiten und unsere Verletzlichkeit auf und bergen Potenzial für unsere Entwicklung zu Zufriedenheit und Wachstum.

Dieses Buch ist eine spezielle Abhandlung über Vogelkunde. Obwohl ich kein Ornithologe bin, habe ich mich doch viele Jahre in meiner ärztlich-therapeutischen Tätigkeit mit so manchen Vogeltypen auseinandergesetzt, vor allem, und das ist so wichtig in meinem Beruf, immer wieder mit meinen eigenen Vögeln.

In meinem Beruf begegne ich Menschen mit sehr unterschiedlichen Flugkonzepten und Eigenschaften: ständige »Überflieger«, Getriebene, Rastlose wie »wilde Hummeln«, aber auch solche, die gar nicht mehr daran glauben, fliegen zu können. Manche benötigen eine Starthilfe, andere sind dankbar für Navigation bis hin zur sicheren Landung.

Ich bin kein Flugexperte, aber ich weiß um meine eigene Sehnsucht nach Leichtigkeit im Leben, nach Authentizität. Jedes Jahr älter werdend und speziell immer wieder hier in Kreta landend, werde ich darin bestärkt, dass ich das Angestrengte in meinem Leben nicht mehr will. Ich bin überzeugt, dass echte Höhenflüge in lebendig gelebten, authentischen Beziehungen gelingen und dass gerade solche Beziehungen notwendig und nährend sind, um auch Krisen, Turbulenzen, manchmal auch Notlandungen meistern zu können.

Der erste Teil des Buches beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Vögeln, die ich in vielen Jahren bei mir selbst und den Menschen, die sich mir anvertrauen, entdecken durfte: vom Leistungs-Vogel über den Opfer-Vogel und den Angst-Vogel bis hin zum Jammer-Vogel, dem Macht- und Kontroll-Vogel oder dem Gutmensch-Vogel.

Ich erforsche die unterschiedlichsten Start- und Landebedingungen für diese Vogelarten und beobachte genau, welcher Vogel womit genährt wird und warum sich manche Vögel bei bestimmten Menschen so heimisch fühlen.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit der tiefen Sehnsucht von uns Menschen nach einem Leben in Leichtigkeit. Ich beschreibe ideale Flugbedingungen und erforsche mögliche Turbulenzen in Zusammenhang mit den individuellen Vögeln.

Mein Zugang als Arzt zu den Flugversuchen ist nicht primär »evidence based«, sondern »human based«. Das heißt, mir geht es hier nicht um einen wissenschaftlichen Zugang, sondern ich will mich diesem Thema ganz menschlich nähern. Ich erzähle Geschichten, stelle Bilder zur Verfügung und will damit berühren, und durch die Berührtheit auch etwas bei mir und den Lesern und Leserinnen in Bewegung bringen. Ich erhebe nicht den Anspruch, beispielsweise in der Beschreibung des Sucht-Vogels, alle Details bis hin zur Psychopathologie der Suchterkrankung zu beschreiben, sondern will als Arzt für Gesundheitsentwicklung und -förderung Impulse geben für eine Lebensgestaltung, die unserer Leib-Seele-Einheit guttut und dem Gesundsein im individuellen, aber auch im soziokulturellen Kontext förderlich ist.

Ich will mit den »Vogeltypen« nicht kategorisieren und Menschen nach Schemata einteilen, sondern will Impulse geben für gelingende Flugversuche.

Wir Menschen sind zu komplex gebaut, als dass wir mit einem Rezept von »drei Mal täglich« versorgt werden könnten. Das würde der Spezies Homo sapiens nicht gerecht und würde eher dem Vogel der Enge entsprechen.

Wer seine Vögel kennt und sie auch gernhaben kann, hält – so meine Überzeugung – auch bereits das gesamte Potenzial für echte Flugversuche in den eigenen Händen. Manche gehen den Vogelheilkunde-Weg alleine, manche, und das ist sehr hilfreich, in Beziehungen, die tragen.

Das Ziel bleibt immer: ein Leben in Stimmigkeit und Zufriedenheit zu leben, in lebendigen Beziehungen.

Ein neuer Tag, ein neuer Flugversuch

noch ramponiert

von den Turbulenzen

des gestrigen Fluges

mit unsanfter Landung

putze ich sorgfältig

mein Gefieder

sitz’ einfach da

Lebenstag beschenkt

ordnend – fühlend

und horche

auf mein Herz

wissend um viele

wunderbare Flugbegleiter

denen ich heute

begegnen darf

werden wir fliegen?

gemeinsam?

Sehnsucht nach Leichtigkeit

Flugversuche habe ich schon viele gemacht, elegante Starts und viele Startversuche. In den 59 Jahren meines Lebens ist mir auch so mancher Flug gelungen, Höhenflüge gab es sogar, dann wieder heftige Landungen – manchmal sanfte, dann wieder solche mit erheblichen Verletzungen.

Die vielen Versuche lassen mich vorsichtiger werden. Meine Erfahrung hilft mir, vor allem in meinem Beziehungsleben mit Flugversuchen achtsamer umzugehen, im eigenen Interesse, aber auch im Sinne aller Menschen, denen ich begegne, mit denen ich mein Leben teile.

Wonach sehne ich mich in meiner Lebensgestaltung, was ist mir wichtig zu erleben in den Jahren, die mir noch geschenkt sind? Wofür klopft mein Herz, was will ich mit den Menschen erleben, die mein Leben mit mir teilen? Worauf will ich mich jeden Tag freuen, wenn ich in der Früh aufwache, und wofür will ich abends dankbar sein, um zufrieden einzuschlafen? Wie will ich mein Lebensgeschenk täglich annehmen?

Häufig ist es eine Erkrankung, die uns kritischer und aufmerksamer macht, wenn wir unsere Lebensspur betrachten. Manchmal kann Kranksein, eine Krise, eine ungeplante Veränderung in unserem Lebenskonzept eine Starthilfe sein für einen neuen Flugversuch, eine neue Definition dafür, was ich in meinem Leben noch erfliegen will.

Leichtigkeit als Kontrapunkt zur Schwere. Ich spüre eine tiefe Sehnsucht nach einer Leichtigkeit, die mich wendig macht, die Flugmanöver zulässt, eine Lockerheit, die es mir ermöglicht, viele und vieles aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen, Menschen in ihrer Buntheit und Vielschichtigkeit zu erkennen, zu begreifen, sodass es mir möglich wird, spontan auf Veränderungen zu reagieren, auf geänderte Rahmenbedingungen, auf Neues.

Ich habe Sehnsucht, eingefahrene Geleise in unterschiedlichen Lebensbereichen zu verlassen, bei mir selbst, in meinen Beziehungen, aber auch in meinem Beruf. Als zu bunt und zu einzigartig habe ich das Wunder Mensch in meinem Leben kennengelernt, um auch nur einen Tag länger eingefahrene Geleise zu akzeptieren, für mich, aber auch für andere.

Allein über diese Sehnsucht zu schreiben, öffnet mein Herz. Ganz Ähnliches geschieht mit mir, wenn mich mein sechs Monate alter Enkelsohn anstrahlt. Er tut das mit der Selbstverständlichkeit eines Geliebten und immer mehr Liebenden! Dieses Gefühl erfasst nicht nur mein Herz, sondern auch meine Atmung.

Dieses erkennend, wünsche ich mir wieder jene Beweglichkeit, die in mir steckt, die gelebt werden und zum Ausdruck kommen will als notwendige Ergänzung zur Bewegtheit in mir.

Möge dieses Leicht-Sein, nach dem ich mich so sehne, auch meine Gedanken erfassen und dort viele Schleusen öffnen, Programme schließen und To-do-Listen löschen. Ich sehne mich nach Freiheit im Kopf, nach einer Leichtigkeit, die mir hilft, mit meinen Sinnen und Gefühlen zu sein.

aufsaugen, was ich sehe, ohne es zu bewerten

riechen, was da ist, und schmecken voller Genuss

tasten, berühren, erspüren, mich

und alles um mich, Natur und menschliche Wesen mit allen Sinnen erfassen

und so herzverbunden

wieder den Sinn meines Seins begreifen.

Wenn ich zu Flugversuchen schreibe, will ich es nicht beim Versuch belassen. Ich spüre die Sicherheit in mir, dass ich abheben kann, wenn es mir gelingt, ich selbst zu sein. Fixe Bilder, eigene und jene, die andere von mir haben, engen ein, verhindern Abheben und zwingen mich, immer wieder alte Muster zu leben. Doch meine Sehnsucht ist, Neues zu erleben, wachsend und lernend, und dem Leben in seiner Buntheit ebenso bunt, spielerisch und leicht zu begegnen.

Flugversuche zu leben heißt auch, immer wieder Kontakt mit Kindern und jungen Menschen zu suchen, mich anstecken zu lassen von ihrer so spürbaren Selbstverständlichkeit, das Eigene zu leben.

Ich sehne mich nach einem Sein, das es mir ermöglicht, auch andere Menschen in ihrem Sein sehen und verstehen zu können.

Da gibt es auch noch die Sehnsucht, aus der Einsamkeit des »Immer-wieder-tun-Müssens«, aus dem Überlebensmodell des Funktionierens herauszufinden, wissend, dass so mancher Flugversuch und Überflug einfacher und schöner ist, wenn er in Kooperation, in Gemeinschaft geschieht, vorausgesetzt, das Ziel ist klar und gemeinsam definiert.

In über 30 Jahren ärztlich-therapeutischer Tätigkeit bin ich sehr vielen Menschen begegnet, die große Sehnsucht haben, ihr Leben frei zu gestalten, die gerne abheben wollen, alleine oder zu zweit, ohne unnötigen Ballast, den Flug durch ein aufregendes und schönes Leben wagen und gleichzeitig alte Rucksäcke zurücklassen wollen.

Auch dieses Buch ist ein Flugversuch. Ich will Ihnen nicht als Ratgeber begegnen, sondern als einer, der Sie bei Ihren Flugversuchen begleitet und Sie dazu ermutigt.

Wie schnell

reißt der

Verbindungsfaden

der Faden

ist mir lieber

als ein Strick

der Strick bindet

der Faden verbindet

ganz vorsichtig

will ich

ihn pflegen

den Verbindungsfaden

und wenn er reißt

braucht’s Fingerspitzen

und Gefühl

den Zarten

wieder

zu knüpfen

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Vogelweisheit

Wir alle werden in unterschiedliche Nester hineingeboren. Wir können uns diese Nester nicht aussuchen.

imageIch kenne Kinder in Südtansania, deren Mütter bei der Geburt gestorben sind, ihre Väter haben sie nie kennengelernt. Sie wachsen in einer sogenannten extended family irgendwo bei Verwandten oder in einem Waisenhaus auf.

imageIch kenne Kinder, die längst landen wollen in einem Nest, von ihren Eltern zwar gewünscht, allein, das Nest ist nicht bereit. Es gibt keinen Landeplatz für sie – zu wenig Zeit, zu viele Aktivitäten.

imageIch kenne Kinder, die in einem wunderbaren Nest landen, geliebt und getragen von präsenten Eltern.

imageIch kenne auch liebend gelandete Kinder, die samt ihren Eltern kriegs- und armutsbedingt flüchten müssen, um zu überleben. Diesen Familien auf der Flucht wünsche ich starke Zivilgesellschaften, die ihnen Landeplätze für einen neuen Nestbau gewähren, die Integration ermöglichen und nicht erschweren.

Unterschiedliche Nestqualitäten und Lebensräume, in die wir Menschen geboren werden, schaffen unterschiedliche Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten.

Wir erhalten in unseren Nestern viel Gutes, Nährendes, Positives, erleben aber auch manche Irritation und Verletzung. Jeder von uns trägt auf diese Weise seinen Rucksack, gefüllt mit Ressourcen, aber auch mit unnötigem Ballast. So gehen wir mit diesem Rucksack durchs Leben, Ressourcen