2020
© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlaggestaltung: Nele Steinborn
Satz- und Layoutgestaltung: Nele Steinborn, Wien
Schriften: Questa, Questa Sans
Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien
ISBN 978-3-7022-3843-8 (gedrucktes Buch)
ISBN 978-3-7022-3844-5 (E-Book)
E-Mail: buchverlag@tyrolia.at
Internet: www.tyrolia-verlag.at
Facebook: Tyrolia Verlag Kinderbuch
… Nils schreckte hoch.
Nein, nicht weiter, so viel war sicher.
Man konnte nicht davonlaufen.
Vor fast nichts …
Erster Teil
Zweiter Teil
Hallo Sara!
Sara reagiert nicht.
Ist es in Ordnung, wenn ich unser Gespräch aufnehme?
Sara zuckt die Schultern.
Gut. Sagst du mir deinen ganzen Namen, bitte?
Sara Auster.
Gut, Sara, dann fangen wir jetzt an. Magst du mir erzählen, was passiert ist?
Pause. Dann: Sara schüttelt den Kopf und steht auf.
Ich geh jetzt!
Sie geht.
Hallo Jo!
Jo reagiert nicht.
Ist es in Ordnung, wenn ich unser Gespräch aufnehme?
Jo zuckt die Schultern.
Mir doch egal!
Gut. Sagst du mir deinen Namen noch einmal, bitte?
Wieso? Kennen Sie doch!
Stimmt! Also dann erzähl mir, was passiert ist, Jo!
Wozu? Ich hab doch alles gesagt! Was wollen Sie noch von mir? Ich bin das Opfer! Nicht der Täter! Was wollen Sie also von mir?
Dir helfen, Jo.
Mir helfen?
Jo lacht.
Brauch ich nicht! Echt nicht!
Jo geht.
Guten Morgen, Sara. Wie geht es dir?
Sara sitzt still da, die Augen gesenkt.
Weiß nicht. Besser. Nein. Keine Ahnung.
Pause.
Magst du heute erzählen?
Weiß nicht.
Was soll ich denn erzählen?
Was dir einfällt. Fang einfach an. Wir haben Zeit.
Pause.
Haben wir? Zeit? Stimmt doch gar nicht!
Pause.
Ich bin gestern noch im Wald gewesen. Weiß nicht, wie lang. Bis meine Mutter angerufen hat. Die war völlig hysterisch. Wo ich bin. Dass es spät ist. Dass ich heimkommen soll. Dass das nix bringt.
Pause.
Ich hab geglaubt, ich find den Nils. Irgendwo im Wald zwischen den Bäumen. Dass er da sitzt. Aber der war nirgends. Ich weiß nicht, wo der ist.
Pause.
Wissen Sie es? Haben die ihn gefunden?
Nein.
Nicht? Scheiße …
Sara schlägt die Hände vor das Gesicht, wendet sich ab.
Guten Morgen, Jo. Wie geht es dir?
Wie es mir geht? Pffff…
Jo wirkt angespannt und aggressiv, wippt ständig mit dem rechten Bein.
Scheißfrage! Der wollte mich umbringen! Wie soll’s mir da gehen! Der wollte MICH abstechen, der Scheiß-Nils!
Jo springt auf.
Ihr kapiert das einfach nicht! Ihr kapiert das nicht!! ICH Opfer – ER Täter!! Nicht umgekehrt!! Ach Scheiße …
Jo schlägt die Hände vor das Gesicht, schüttelt den Kopf, wendet sich ab, zögert, wendet sich zur Tür, geht darauf zu.
Ich geh jetzt. Sie können mich nicht zwingen zu bleiben.
Jo dreht sich um.
Seine Mutter schläft nicht mehr, hab ich gehört. Sagen die.
Er deutet nach draußen.
Stimmt das?
Ja.
Jo nickt.
Okay … na ja … ist ja erst eine Nacht.
Jo starrt vor sich hin, dann geht er.
Du kennst den Nils schon länger, Sara?
Sara nickt.
Schon ewig. Schon immer.
Pause.
Ja. Schon immer. Da waren wir noch Kinder und ich mochte seinen Namen. Nils. Von Nils Holgersson. Der Junge, der fliegen konnte. Der Winzling aus dem Buch, aus dem Film. Kennen Sie den?
Sie blickt hoch.
Ja.
Sara nickt.
Ja. Den kennt jeder.
Pause.
Aber … der Nils … der andere Nils … unser Nils …
Pause.
… der war nicht wie der Nils Holgersson, der war nicht so, dass man ihn bewundern konnte. Nein. Den konnte man nicht bewundern.
Pause. Sara beginnt zu lächeln.
Oder doch! Doch. Ja. Als wir klein waren. Kinder.
Da hab ich ihn bewundert.
Sara lächelt. Pause.
Hatte ich vergessen.
Pause.
Aber dann, als die sich gegenüberstanden, der Jo und der Nils, da ist es mir wieder eingefallen.
Was ist dir wieder eingefallen?
Dass wir gespielt haben als Kinder. Ritter und Schaf. Er war der Ritter und ich war das Schaf, ein silberner Ritter war er in einem silbernen Harnisch und mit einem silbernen Schwert und jedes Mal hat er mich vor dem Drachen gerettet.
Pause. Sara lächelt.
Ich kniete am Boden mit einem Schaffell, das hatte zwei Ausschnitte für die Arme, damit man es anziehen konnte wie einen Mantel. Und auf dem Kopf trug ich einen Haarreifen, da waren Ohren dran und dann war ich das Schaf.
Pause.
Wir haben das gebastelt, der Nils und ich mit unseren Müttern, genauso wie das Schwert und den Harnisch für Nils, die waren aus Karton und Alufolie.
Pause. Sara lächelt.
Also ich kniete am Boden und machte: Mäh! Mäh! Und tat ängstlich, als ob ich mich fürchten würde. Und Nils stellte sich vor mich hin mit weit geöffneten Armen. Er hielt das Schwert und glänzte stolz und silbern, und er kämpfte gegen den Drachen und immer gewann er.
Pause. Sara lächelt.
Manchmal hat er mich gefragt, ob ich der Ritter sein will und er das Schaf. Aber das wollte ich nie.
Sara holt tief Luft, hört zu lächeln auf.
Wissen Sie, seine Mutter ist die beste Freundin meiner Mutter. Schon immer. Da waren die noch in der Schule. Also waren wir ständig zusammen. Bei denen daheim. Bei uns daheim. Am Spielplatz. Da hatte sie immer Verbandszeug dabei. Wenn einer von uns sich die Knie aufgeschlagen hatte, holte sie es raus, tupfte mit irgendeinem Wunderzeug, da brüllten wir noch mehr, denn das brannte wie die Hölle. Aber sie ist Ärztin, da muss sie ja wissen, was sie tut. Und die Hölle … das weiß ich jetzt …
Pause.
… die Hölle brennt ganz anders.
Keine Nacht! Fuck!
Pause. Jo schüttelt den Kopf, wirkt hilflos.
Scheiße, die soll sich Tabletten krallen! Zum Beruhigen! Die muss das doch wissen, die ist doch Ärztin! Die kippt doch sonst um! Und was dann? Fuck!
Pause.
Mein Alter brüllt jetzt ständig rum. So nach dem Motto: Du lebst unter meinem Dach und stellst deine Füße unter meinen Tisch!
Und ich darauf: Aber ich bin fünfzehn! Du kannst mir nichts mehr erzählen!
Und er: Solange du …
Und ich: Aber ich bin …
Und so weiter und so weiter.
Pause.
Was?!
Pause.
Wieso sagen Sie nichts?
Ich hör dir zu.
Ach fuck, lassen Sie mich doch in Ruhe!
Aber irgendwie war der Nils immer komisch. Ein kleiner Wicht, der sich nicht anpassen konnte. Doofes Gesicht. Irre Bewegungen. Und dabei weiß der aber alles. Den kann man fragen, was man will, der weiß es. Ich meine, da ist es doch kein Wunder, dass die ihn schon immer im Visier hatten. Schon in der Volksschule. Schon im Kindergarten. Der konnte tun, was er wollte.
Pause.
So läuft das eben. So ist die Welt.
Pause.
Wissen Sie, manchmal suche ich mein Gesicht nach Wimpern ab.
Kennen Sie das auch? Machen Sie das auch?
Ja.
Also, ich reiße mir keine aus, das nicht, aber hin und wieder verliert man doch welche …
Pause.
Oder nicht?
Doch. Ja.
Sara nickt.
Und dann, also wenn ich eine habe, dann … dann blas ich sie in den Wind. Und meine Wünsche mit.
Pause.
Ja. So funktioniert das. So macht man das. Bläst seine Wünsche in den Wind. Mit geschlossenen Augen. Und dann …
Pause.
… gehen sie in Erfüllung.
Pause.
Oder auch nicht.
Pause.
Machen Sie das nicht so?
Doch.
Finden Sie das blöd?
Nein.
Pause.
Was wünschst du dir denn, Sara?
Sara lächelt zaghaft, flüstert.
Immer das Gleiche.
Und was ist das?
Pause.
Mut.
Sara schaut hoch. Sie weint. Pause.
Dass ich mutig gewesen wäre. Früher. Als noch Zeit war.
Pause.
Aber dann …
Pause.
Ja?
… hätten sie mich auch … und dann …
Sara senkt den Blick.
»Detlef«, sagten sie und grinsten. »Hallo, Detlef, alter Spinner!«
Und Nils: »Nils. Ich heiße Nils.«
Er sagte das immer, jeden Tag sagte er das, wenn er morgens in die Klasse kam und sie ihn Detlef nannten und ihm die Tasche wegrissen und ihm laut grölend auf die Schultern schlugen, immer wieder auf die Schultern, jeden Tag, jeden Morgen, egal, wann er kam, spät oder früh, sie warteten auf ihn und schlugen ihm auf die Schultern und grölten: »Detlef, alte Sau!« Und er sagte: »Nils. Ich heiße Nils.« Und wurde kleiner unter ihren Schlägen, immer kleiner, aber sagte: »Nils. Ich heiße Nils.«
Das ging immer so. Immer. Und er hat sich nicht gewehrt. Also nicht richtig, nicht mit den Fäusten. Und da haben sie wohl gewusst, dass sie machen können, was sie wollen.
Pause.
Und wir anderen alle …
Pause.
Sara flüstert.
… wir haben uns halt nicht getraut.
Pause.
Was habt ihr euch nicht getraut?
Pause.
Ihm zu helfen. Stopp zu sagen! Zu Rasmus! Zu Fadi! Zu Jo!
Und warum nicht?
Weil …
Pause.
… weil … wir Angst hatten! Also … also ich weiß es nicht von den anderen, aber ich … ich hatte Angst. Vor Rasmus und Fadi und Jo. Und auch vor Mila.
Ja.
Pause.
Das ist schwer, Sara. Das weiß ich.
Was?
Stopp sagen. Für jemand anderen. Wenn man Angst hat und um sich selber fürchtet.
Pause.
Aber ihr wart viel mehr als die. Ihr wart die halbe Klasse.
Pause.
Ja. Stimmt. Waren wir. Aber einer hätte anfangen müssen. Und wir wissen doch nichts voneinander. Wie wer zu wem steht. Wem man trauen kann. Sowas weiß doch keiner.
Pause.
Warum habt ihr euch keine Hilfe geholt, Sara?
Sara schlägt die Hände vors Gesicht und beginnt zu weinen.
Wer hätte denn geholfen?! Wer hilft dir denn, wenn es dir dreckig geht?! Schaut doch jeder nur auf sich!
Sie fängt sich wieder und wischt die Tränen ab.
Die Lehrer kriegen nix mit! Und wenn, dann können die auch nix tun. Oder es ist ihnen egal.
Glaubst du das wirklich?
Sara zuckt die Schultern.
Weiß nicht. Keine Ahnung.
Sara seufzt. Pause.
Wissen Sie, nach der Volksschule hat Nils’ Mutter einen Mann kennengelernt, einen Engländer, und sie ist mit ihm und Nils nach England gegangen und ich war … irgendwie froh darüber, weil es mit dem Nils in der Schule nie so besonders einfach war und weil ich dachte, jetzt gehen die weg und dann hab ich meine Ruhe und muss nicht ständig hinter ihm her zum Aufpassen.
Du hast auf Nils aufgepasst?
Ja! Sicher!
Warum?
Na, weil meine Mutter das wollte. Und Nils’ Mutter. Weil die halt schon irgendwie auch ahnten, dass …
Pause.
Na ja. Auf alle Fälle gingen sie dann weg und ich war froh. Echt froh. Aber dann … na ja … leider hat das nicht geklappt und nach drei Jahren waren sie wieder zurück.
Pause.
Und ausgerechnet da wurde in unserem Nachbarhaus eine Wohnung frei und meine Mutter wusste das und also zogen sie da ein, der Nils und seine Mutter. Und dann hat sie ihn in meiner Schule angemeldet und dann kam der auch noch in meine Klasse.
Pause.
Wie lang ist das her?
Ein Jahr. Im letzten Sommer kamen sie zurück.
Sara zupft an ihrem Taschentuch, zerlegt es in kleine Fussel.
Wissen Sie, es war halt einfach nicht so, dass ich den Nils besonders mochte.
Pause.
Eigentlich mochte ich ihn gar nicht. Ich meine, das ist doch in Ordnung, oder?
Ja.
Ich meine, man kann nicht alle mögen, oder?
Nein, kann man nicht. Muss man auch nicht.
Und der Nils, der … der hat es einem wirklich nicht leicht gemacht.
Pause.
Aber das, was da jetzt passiert ist, das hätte nicht passieren dürfen.
Sie schüttelt den Kopf.
Nein, Sara, das hätte es wirklich nicht.
Pause.
Wann hat es begonnen?
Sara denkt nach.
Ich weiß nicht. Eigentlich hat es nicht begonnen. Es war einfach. Von Anfang an.
Pause.
Wenn du das perfekte Opfer bist, dann bist du einfach das perfekte Opfer. Immer und überall.
Die ersten Sommertage des Jahres. Die Sonne knallte, als gäbe es kein Halten.
Frau Degenhard hatte die Klasse über den Sportplatz getrieben, nun spielten sie noch eines dieser Kickoutspiele, mit zwei Mannschaften und Ballfangen und Gegner-Abschießen, und wer am Ende noch jemanden im Feld hatte, hatte gewonnen. Mila tänzelte hin und her, war ständig in Bewegung, sprang hoch, holte sich ein ums andere Mal den Ball. Ihre bräunliche, glatte Haut glänzte vom Schweiß, der dunkle Pferdeschwanz wippte im Takt. Wieder fing sie den Ball, holte aus, schoss ihn mit Wucht zurück ins andere Feld und traf Sara. Die jaulte ein bisschen, aber lief rasch vom Spielfeld. Hinter Jo suchte sie sich einen Schattenplatz.
»Mila ist gut«, sagte Rasmus und schnalzte mit der Zunge, »verdammt gut!«
»Mila ist auch schön«, sagte Jo und lachte. »Verdammt schön. Mila ist die Schönste. Da können alle anderen sich verstecken!«
»Der Paulsen findet das auch«, sagte Rasmus. »Ich hab den gesehen, am Fenster. Der hatte Augen wie Weihwasserbrunnen. Durchleuchtet! Durchseligt! Und dabei hat die Mila gar nix gemacht. Aber der Paulsen wahrscheinlich.«
Rasmus umfasste mit seinen Fingern die Wasserflasche, schob sie in raschem Tempo auf und ab, verdrehte die Augen und stöhnte, als ob es ihm ans Leben ginge. Jo lachte, konnte dieses eine einzige Mal den Paulsen gut verstehen. Männersolidarität.
»Obwohl der doch die Degenhard fickt«, sagte Rasmus grinsend, »und die ist auch nicht schlecht für ihr Alter. Schau sie dir doch an!«
Er deutete zu der Lehrerin, die mit der Trillerpfeife im Mund am Rand des Spielfeldes stand, und rief ihr zu: »Na, Frau Degenhard, alles gut?«
Frau Degenhard wandte sich um und schaute ihm kühl ins Gesicht. Ansonsten ignorierte sie ihn, manchmal war das das Beste, was man tun konnte. Die Jungs lachten.
Seit man denken konnte, waren sie eine Clique, Jo, Rasmus, Fadi und Mila, fest verschworen, unbesiegbar, von manchen Mitschülern neidvoll bestaunt, von den meisten jedoch gehasst und gefürchtet. Die Lehrer nannten sie das schreckliche Quartett oder die fürchterlichen Vier. Jo war der hofierte Anführer, Rasmus der Stratege, der immer wusste, was Sache war, und alle Fäden zog, und Fadi der willige Vollstrecker aller Pläne. Und am Rand der drei tänzelte Mila herum, wandte sich mal hierhin, mal dorthin, legte sich nicht fest.
Niemand wollte den Vieren in die Quere kommen, Rasmus’ Pläne konnten vernichtend sein, also legte man sich besser nicht mit ihnen an. Musste man aber auch nicht, denn seit diesem Schuljahr hatten sie einen einzigen beständigen Feind, der alles ab- und einfing: Nils.
»Fadi!« Frau Degenhards Stimme schnitt durch die sommerliche Hitze wie Eis. »Bist du verrückt! Wir schießen hier nicht so scharf! Das weißt du genau!«
Sie beugte sich zu Nils, der am Spielfeld lag und sich krümmte. »Alles in Ordnung, Nils?«
Nils schnappte nach Luft. Wie eine stahlharte Faust war Fadis Ball in seiner Magengrube gelandet.
»Atme, Nils, atme! Ganz ruhig!«
Nils versuchte es. Es gelang.
Vom Schulgebäude ertönte die Pausenglocke. In Nullkommanichts hatte die Klasse sich verdrückt. Langsam richtete Nils sich auf, gestützt von Frau Degenhard. Ein paar Meter entfernt stand Fadi, die Hände in die Hüften gestützt, abwartend, lässig, cool.
»Das wird ein Nachspiel haben, Fadi«, sagte Frau Degenhard mit zornbebender Stimme und wusste doch genauso wie Fadi und Nils, dass es mit Sicherheit keines haben würde.
Fadis Vater war im diplomatischen Dienst, seine Mutter hatte vor ihrer Heirat Sprachen studiert und war nun Hausfrau. Seit Fadi denken konnte, waren sie von Land zu Land gezogen, von Hauptstadt zu Hauptstadt. Den Fixpunkt einer Heimat hatte es nie gegeben, wenn man davon absah, dass er mit seiner Mutter jedes Jahr im Sommer für zwei Wochen nach Tunis zu den Großeltern reiste. Fadi wusste also sehr genau, wie es war, wenn man nicht dazugehörte, wenn sie einen nicht einließen in ihre Kreise. Immer waren ihm abschätzende, misstrauische Blicke begegnet, wenn er neu an eine Schule kam, und er wusste gar nicht mehr, wie oft das gewesen war, in wie vielen Schulen er vorübergehend geparkt worden war, wie er es in Gedanken ironisch nannte. Nicht immer war es bei den misstrauischen Blicken geblieben. »Terrorist« hatten sie ihn genannt, »Scheißterrorist«, »Scheißaraber, dich sollte man in die Luft sprengen!« Auch Handgreiflichkeiten hatte es gegeben, er hatte ihren Hass zu spüren bekommen, ihren Zorn, irgendwann hatte er gelernt sich zu wehren, sogar sich zu behaupten.
Dabei, wenn man es genau nahm, war er nicht einmal Araber, Tunesien war beileibe nicht Arabien, aber das wollte keiner so genau wissen, es genügte, dass er aussah, wie er aussah, alles andere zählte nicht.
An dieser Schule aber war von Anfang an alles anders gewesen. Jo und Rasmus hatten ihn gesehen und ihn ungefragt in ihren Kreis aufgenommen. Fadi hatte keine Ahnung, warum.
Vielleicht war er der Quotenaraber, den eine Clique möglicherweise brauchte, um elitär zu wirken, der Quotenflüchtling, der sich gut integriert hatte, obwohl er alles andere als ein Flüchtling war. Vielleicht war Jo in ihn verliebt, wer konnte das wissen, und wenn Fadi manchmal Jos Blicke bemerkte, wenn der sich unbeobachtet fühlte, und wenn diese Blicke ihn fast zu streicheln begannen … dann … dann wurde es Fadi schummrig im Kopf und im Magen, und er stellte sich für Sekundenbruchteile vor, was sie mit so einem machten in seinem Kulturkreis … mit so einem …
Aber im Grunde war ihm das alles egal, denn er fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben angekommen, und von daher war er vielleicht doch zeitlebens ein Flüchtling gewesen, denn nie zuvor hatte er dieses Gefühl verspürt, dieses Gefühl von Wärme, Schutz, Glück und Geborgenheit. Mit tausendprozentiger Sicherheit wusste er, dass er darauf niemals wieder verzichten würde, und wenn das bedeutete, dass er den Staub von Jos Füßen lecken musste, dann war das eben so.