Gerber, Nadine Unvergessen – Dein Bild für die Ewigkeit

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© 2020 Piper Verlag GmbH, München

Redaktion: Julia Feldbaum

Covergestaltung: Christian Enzler

Covermotiv: Nadine Gerber; Colourbox

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Prolog

»Wir betreuen bei uns im Krankenhaus ein neugeborenes Mädchen, dessen Mutter eine Hirnblutung hatte. Sie liegt auf der Intensivstation und wird in absehbarer Zeit sterben. Dem Vater würde es sehr viel bedeuten, wenn er Erinnerungsbilder für seine Tochter an deren Mutter mit nach Hause nehmen dürfte. Deshalb suchen wir einen Fotografen, der diese Fotos so schnell wie möglich machen könnte. Am besten noch heute Abend. Wer hätte Zeit?«

 

Emma starrte auf den Bildschirm ihre Laptops. Sie wusste, das war ein Fall für sie. So war es immer – sie spürte instinktiv, ob sie die nötige Kraft und Zeit hatte und ob sie in der richtigen Stimmung war. Und das war heute der Fall. Das Krankenhaus lag zudem nicht allzu weit weg von ihr.

»Ich hätte heute Abend Zeit«, tippte sie deshalb ins Kommentarfeld und drückte auf Senden.

Kapitel 1

»Ich bin Emma Wagner, die Fotografin von ›Unvergessen‹.«

»Schön, dass Sie hier sind«, sagte die Hebamme mit ruhiger Stimme und klemmte sich eine dicke graue Haarsträhne hinters Ohr. Viele Krankenhäuser unterstützten die Organisation, und wenn etwas Schlimmes passierte, informierte das Krankenhauspersonal die betroffenen Familien über das Angebot. Denn viele Familien hatten nicht den Mut oder die Kraft, diese Entscheidung zu treffen. Doch immer mehr Familien war bewusst, dass diese Fotos womöglich die einzigen Erinnerungen bleiben würden, und so wurden immer häufiger die Dienste der Fotoengel, wie Emma und ihre Kollegen liebevoll genannt wurden, in Anspruch genommen.

Eine Hebamme, Monika, informierte Emma über die Umstände. Die beiden Frauen standen dabei vor der Tür des Krankenhauszimmers in einem langen, tristen Flur mit senffarbenem Linoleumboden und grellen Lampen an der Decke. Emma hatte schon so oft in solchen Fluren gestanden, doch daran gewöhnen würde sie sich nie.

»Die Hirnblutung ist während der Geburt aufgetreten, den exakten Grund dafür kennen wir noch nicht. Wahrscheinlich ein Aneurysma, eine geplatzte Ader im Kopf«, erklärte Monika. Nur noch die Maschinen hielten die Frau am Leben. Zunächst habe es noch Hirnströme gegeben, doch nun gelte die Frau als hirntot. »Die Maschinen laufen noch, weil die Organe zur Transplantation freigegeben werden könnten. So tragisch es ist, aber wir hoffen natürlich, dass der Ehemann sich dafür entscheidet«, sagte die Hebamme. »So haben wir auch ein bisschen Zeit, diese wertvollen Fotos zu machen.«

Emma nickte. Obwohl Monika die Geschichte sachlich darlegte, spürte Emma die Traurigkeit der Fachfrau, für die so ein Ereignis wohl auch nicht zur Tagesordnung gehörte. »Das Baby ist, soweit wir es beurteilen können, gesund. Das ist ein kleines Wunder. Unsere Ärzte haben sehr schnell reagiert. Babys, die so was überleben, haben oft Hirnschädigungen, weil sie im Mutterleib zu lange ohne Sauerstoff waren. Doch hier ging alles sehr schnell.« Es sei das erste Baby des Paares. Der Vater habe sich für den Einsatz von »Unvergessen« entschieden, um dem Kind gemeinsame Fotos mit seiner Mama zu ermöglichen. »Er wirkt sehr gefasst. Keine Ahnung, wie es in ihm ausschauen mag«, sagte Monika betrübt.

Was für eine Katastrophe!

Emma hatte einen schönen Hintergrund mitgebracht und ein paar kuschelige Decken. Ihr wurde allerdings rasch bewusst, dass sie damit nichts würde bewirken können, denn Monika hatte ihr erklärt, dass die Frau bleiben musste, wo sie war – in einem kühlen, sterilen und alles andere als zauberhaften Krankenhausbett, angeschlossen an tausend Kabel und Monitore.

Die Hebamme ging in den Raum, um nachzuschauen, ob alles bereit war. Manchmal bedauerte Emma den Umstand, dass die Fotos nach Krankenhaus aussahen und keine heimelige Atmosphäre transportierten. Andererseits wusste sie, dass es dem Menschlein später wohl herzlich egal sein würde, unter welchen Umständen die Fotos aufgenommen worden waren – Hauptsache, sie existierten.

Emma beschloss, eine ihrer Decken auf die sterbende Mama zu legen und das Baby darin einzukuscheln.

»Sie können jetzt zur Familie«, sagte Monika, die soeben aus der Zimmertür trat. »Der Vater und das Baby sind bereit.«

Emma nickte und fragte sich für einen kurzen Augenblick, ob sie es auch war. Das war zweifelsohne ihr bisher schlimmster Einsatz. Wenn sie zu einem Schaffensort fuhr, hörte sie für gewöhnlich laute, fröhliche Musik. Das lenkte sie ab und vertrieb die traurigen Gedanken. Vor dem Krankenhaus setzte sie sich dann auf eine Bank und blieb einige Minuten einfach ruhig. Sie konzentrierte sich auf ihre Aufgabe, löschte die Emotionen aus ihrem Kopf und ihrem Herzen. Sie konnte so etwas nur professionell durchstehen, wenn sie ruhig blieb und sich nicht von ihren Emotionen leiten ließ. Klar zeigte sie diese, sie durfte sie nur nicht zu tief in ihr Herz lassen. Dann ging sie in der Regel hinein.

Das war heute nicht anders gewesen, und doch musste sie jetzt leer schlucken, als sie sich bewusst machte, was ihr bevorstand.

Langsam lief sie hinter Monika ins Zimmer. Es piepste. Ein großer dunkelhaariger Mann mit Vollbart saß in einer Ecke auf einem Sessel, in den Armen hielt er ein kleines Bündel. Hinter ihm war ein ausladendes Fenster, das jedoch von einem dicken roten Vorhang bedeckt war. Der Mann trug nur eine Jogginghose, ein weißes T-Shirt und Turnschuhe. Was hatte er in den letzten Stunden alles mitansehen müssen?

Er sprach leise auf das Bündel ein, seine Stimme klang ruhig und gefasst. Emmas Blick schweifte durch den Raum. Das Krankenbett stand rechts neben dem Mann an der Wand, darum herum gab es etliche Monitore. Emma hatte keine Ahnung, was sie alles anzeigten. Sie ging auf den bärtigen Mann zu und streckte ihm langsam die Hand entgegen. Er nahm sie nicht.

»Hallo«, sagte sie. »Ich bin Emma Wagner, ich bin da, um Ihre Fotos zu machen, und ich habe solange Zeit, wie Sie möchten.«

Der Mann blickte auf und nickte ihr zu, ohne jedoch etwas zu sagen oder aufzustehen.

Sie trat ein bisschen näher ans Bett heran, um die arme Mama des Neugeborenen anzuschauen.

Und Emma gefror das Blut in den Adern.

 

Rückblick – vierzehn Jahre früher

»Patrick hat mich schon wieder versetzt.«

»O Mann, Barbara, schieß den Kerl endlich in den Wind.«

»Es war mir schon klar, dass du das sagen würdest. Dabei hast du keine Ahnung. Vielleicht ist ihm etwas passiert?«

Emma seufzte. Klar war ihm etwas passiert – so wie die letzten gefühlt fünfzehn Mal, als Barbara mit dem gleichen Problem bei ihr angekommen war. »Erzähl, was hattet ihr denn vor?«

»Wir wollten uns einfach unten am See treffen. Aber er kam nicht, und ich kann ihn auch nicht erreichen. Ich mache mir Sorgen.«

»Die letzten Male waren deine Sorgen auch unbegründet. Weißt du eigentlich, wo er immer war?«

Barbara schüttelte den Kopf. »Er war dann einfach irgendwann wieder da.« Sie schaute ihre Freundin an: »Denkst du, er geht fremd?«

»Babs, ich habe keine Ahnung, was in Patrick vorgeht oder was er macht. Dafür kenne ich ihn nicht gut genug.« Sie hatte sich auch nie darum bemüht, Patrick besser kennenzulernen, denn er war ihr von Anfang an nicht sympathisch gewesen, und das hatte auf Gegenseitigkeit beruht.

»Und was soll ich jetzt machen?«

»Ich denke, dir bleibt nichts anderes übrig, als zu warten, bis er sich wieder meldet. Aber bitte ihn dann wenigstens um eine Erklärung.«

»Emma, du bist meine beste Freundin. Du solltest mich wirklich mehr unterstützen.« Barbara war verärgert.

»Ich unterstütze dich, indem ich dir die Wahrheit sage, Barbara. Ich finde Patrick abscheulich, ich stehe dazu, und ich bin froh, wenn du ihn endlich los bist. Du hast was Besseres verdient als ihn.«

Barbara stand auf und rannte weg. »Auf eine Freundin wie dich kann ich verzichten«, rief sie über die Schulter zurück.

Emma seufzte. Typisch Barbara. Wie oft hatten sie sich schon wegen Patrick gestritten. Barbara würde Patrick auch diese Eskapade verzeihen. Doch beim nächsten Liebeskummer würde sie wieder zu ihr kommen. Das wussten sie beide. Dennoch hätte sie gern mal wieder etwas mit ihrer Freundin unternommen, wäre ausgegangen, ins Kino oder in eine Bar, um zu tanzen oder einfach was zu trinken. Sie waren jung, gerade neunzehn, und standen kurz vor der Matura. Sie sollten das Leben genießen. Doch dieser Nichtsnutz von Patrick machte nicht nur Barbara, sondern auch ihre langjährige Freundschaft kaputt.

Emma stand auf und begab sich auf den Heimweg. Dass sie einsam war, war ihr bewusst. Sie musste versuchen, Barbara ihre Beziehung nicht madig zu machen, nur weil sie ihr wichtiger war als ihre Freundschaft. Aber das war es nicht. Sie fand Patrick einfach unmöglich. Emma wusste, dass ihre Freundschaft das nur überstehen würde, wenn sie treu an Barbaras Seite blieb und für sie da war, wann immer sie sie brauchte.

Kapitel 2

Emma stand wie erstarrt vor dem Bett. Das konnte doch … durfte doch … nicht wahr sein. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. Einem Impuls folgend schloss sie die Augen, eine einzelne Träne lief ihr über die Wange. Sie wandte sich ab. Blickte erneut hin. Wandte sich wieder ab.

»Ich kann das nicht«, stieß sie hervor, drehte sich um und ging aus dem Zimmer.

Eine verdutzte Hebamme Monika blickte ihr hinterher.

Emma ließ die Tür offen und rannte aufs Geratewohl nach links. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Eine Krankenschwester auf dem Flur starrte sie mit großen Augen an.

»Sie ist es. Sie ist es tatsächlich.« In Emmas Kopf hämmerte es wie verrückt. Was sollte sie nur tun? Da wieder reinzugehen war keine Option. Nach ein paar Sekunden ließ sie sich mitten im Flur auf den Boden sinken. Sie zitterte. Monika war ihr gefolgt.

»Frau Wagner, ist alles okay?«

Was sollte sie nur tun? Sie musste nachdenken. Sie fror. »Alles okay, ich brauche nur ein paar Minuten Zeit«, stammelte sie. »Es ist mein bisher schwierigster Einsatz.«

Die freundliche, sanfte Hebamme blickte ihr direkt in die Augen.

»Können Sie mich für ein paar Minuten allein lassen? Ich komme dann gleich zurück. Entschuldigen Sie bitte.«

»Natürlich. Sagen Sie, wenn Sie etwas brauchen. Da vorn rechts ist das Schwesternzimmer, Sie können sich gern dort hineinsetzen.«

Emma stand auf und schleppte sich in den von Monika genannten Raum. Ihre Gedanken purzelten wild durcheinander. Sie musste sagen, was sie wusste. Oder nicht? O Gott, sie hatte sie wiedergefunden. Doch sie würde sterben. Sie würden nie mehr miteinander sprechen können. Was konnte sie tun? Die Zeit drängte. Sie konnte das doch alles nicht einfach ignorieren. Sie würden nie wieder ein Wort wechseln. Sie würde sterben. Sterben. Sterben. Emma schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. Sie wollte weinen. Sie konnte nicht. Sie zitterte. Ihre Kamera lag noch immer in dem Zimmer. Sie wollte einfach nur weg.

Monika kam erneut in den Raum. »Möchten Sie gehen, Frau Wagner? Vielleicht könnte ›Unvergessen‹ auch jemand anderen schicken.«

Emma wusste, dass sie die Einzige gewesen war, die sich für den schwierigen Einsatz gemeldet hatte. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte sie auch nicht gewusst, dass … »Nein, es wird schon gehen. Entschuldigen Sie die Umstände.«

»Sie schwitzen, meine Liebe.«

»Ich … Es geht schon.« Emma hatte eher das Gefühl, sie würde erfrieren. Als sie sich erheben wollte, wurde ihr schwarz vor Augen. Ihr Kreislauf machte schlapp. Sie setzte sich hin, um sich zu sammeln.

»Möchten Sie eine Beruhigungstablette?«

»Ja, danke, das würde vielleicht helfen.« Ihr war alles egal, Hauptsache, dieser Albtraum endete irgendwie.

Monika ging eilig zu einem Schrank, der in dem Schwesternzimmer stand. Kurz darauf reichte sie ihr eine weiße Tablette und einen Becher Wasser. »Das wird Ihnen helfen«, meinte sie, und Emma schluckte die Tablette hinunter.

Es war ihr ganz egal, was es war.

»Warten Sie ein paar Minuten, es wird gleich wirken.«

»Wer hat überhaupt nach einem Fotoengel gefragt? Der Vater?«

»Nein, wir haben es ihm vorgeschlagen. Er hat einfach nur genickt. Ich weiß nicht, was in ihm vorgeht. Er sagt fast gar nichts. Aber ich denke, die Fotos werden irgendwann sehr wichtig sein.«

Emma nickte. Ihre Arbeit war wichtig. Sie spürte langsam die Wirkung der Tablette. Ihre Hände wurden wärmer und hörten auf zu zittern. Doch ihr Kopf fühlte sich matschig und beduselt an, und sie wusste nicht, ob sie in diesem Zustand würde fotografieren können. Sie hatte noch immer keine Ahnung, was sie tun sollte. Sie spürte eine große Müdigkeit. Mochte nicht mehr nachdenken. Sie wollte es einfach hinter sich bringen – um alles andere konnte sie sich auch danach kümmern. »Lassen Sie uns anfangen!«

Die beiden Frauen liefen in das Zimmer zurück. Emma ging auf den großen, bärtigen Mann zu. »Es tut mir so leid, was Ihnen passiert ist. Ich hoffe, ich kann Ihnen behilflich sein. Entschuldigen Sie bitte meinen Zusammenbruch.« Ihre Stimme zitterte.

Konzentrier dich, Emma!

Der Mann stand auf und erwiderte: »Lassen Sie uns anfangen, dann haben wir es schneller hinter uns.«

»Was für Fotos wünschen Sie sich?«

»Ich möchte gern, dass Sophie mit ihrer Mama auf den Bildern ist. Und ich hätte auch noch gern ein Foto von uns dreien zusammen.« Der Mann wirkte müde, er hatte tiefe Falten unter den Augen. Doch seine Stimme klang stark. Überhaupt war er von beeindruckender Statur, und er erweckte den Eindruck, als hätte er seinen Platz im Leben gefunden. Wie durcheinander dieses Leben nun auf einmal sein musste.

Konzentrier dich!

Monika nahm dem Mann das Baby – Sophie – ab und wollte es zur Mama legen.

Konzentrier dich!

»Warten Sie«, stoppte Emma die Hebamme. »Ich habe noch ein paar schöne Sachen dabei.« Sie zog aus ihrer Tasche eine weiche, gewobene Decke in einem zarten Altrosa. Dazu passend hatte sie ein Wraptuch mitgebracht, in welches man das Baby wickeln konnte.

»Ich möchte das nicht«, insistierte der Vater. »Es soll einfach so sein, wie es ist.«

»Mit der Decke könnte ich die ganzen Kabel etwas verstecken«, versuchte Emma, matt zu erklären.

Er winkte mit der Hand ab. »Nein.«

Emma war den Widerstand der Eltern in Not gewohnt. Sie waren nicht in der Verfassung, eine in Emmas Augen vernünftige Entscheidung zu treffen. Diese Shootings waren eine Gratwanderung. Emma wollte so schöne Fotos wie möglich machen – sie blieben die einzige Erinnerung. Und gleichzeitig wollte sie den Willen der Betroffenen respektieren. Das war so oft ein Widerspruch, und dann konnte sie nur hoffen, dass die Eltern ihre Entscheidung nicht eines Tages bereuen würden. Die Organisatorinnen der Shootings betonten immer und immer wieder, dass die Eltern froh seien, überhaupt Fotos zu haben. Wahrscheinlich hatten sie recht. Doch Emma war die Ästhetik wichtig. Auch wenn ihr in diesem Augenblick und in ihrem Zustand so ziemlich alles egal war. Sie vermied es, in Richtung des Bettes zu blicken.

»Nehmen Sie meinetwegen die Decke«, klang die tiefe, dunkle Stimme ergeben hinter Emmas Rücken.

Emma griff erleichtert hin. Als sie den Blick dann doch zum Bett wandte, stockte ihr der Atem. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Sie durfte nicht nachdenken. Sie musste einfach ihren Job machen. Nachher hatte sie Zeit. Nachher konnte sie das Richtige tun. Nachher. Sie legte die Decke sanft auf die Schulter der Sterbenden, die nackt unter einer Decke lag und aussah, als würde sie einfach nur schlafen. Wenn nicht die Sauerstoffmaske ihr halbes Gesicht bedecken würde. Sie war tot. Tot. Nur noch die Maschinen hielten den Körper am Leben. Emma betrachtete das schwarze Haar. Das schöne Gesicht mit der langen, schmalen Nase unter der Maske. Die vollen Lippen. Die dichten Wimpern. Die Frau war perfekt geschminkt. Als ob das wichtig wäre.

Emma schob ein paar Kabel unter die Decke. Monika half ihr dabei. »Es kann nichts passieren«, raunte sie Emma zu.

»Die Maske muss bleiben?«

»Ja, sie wird künstlich beatmet. Das dürfen wir nicht abstellen.«

Monika bettete Sophie auf die Decke. Das Baby lag an der Schulter seiner Mama, die beiden Wangen berührten sich sanft.

Emma packte ihre Kamera aus und stellte das Licht ein. Sie wollte es ohne Blitz versuchen, obwohl es relativ dunkel war im Raum. »Können wir die Lampe anschalten?«

Monika blickte den Vater an, dessen Namen Emma gar nicht kannte. Er nickte, und Monika drückte auf den Schalter. Es war ein künstliches Licht. Ein Krankenhauslicht. Es hatte nichts Sanftes, Heimeliges. Aber es wurde sofort hell genug. Emma musste nun eben damit leben und die Fotos entsprechend nachbearbeiten.

Als sie auf das schöne Gesicht der Frau blickte, verlor sie erneut fast die Fassung. Sie hätte so gern alles hinausgeschrien. Es ging nicht. Es war, als hätte sie einen riesig großen Frosch in der Kehle, der nichts weiter erlaubte als ein paar geflüsterte Worte. Sie war ein Profi. Eigentlich. Sie konnte negative Gedanken ausblenden und sich für den Moment auf ihre Arbeit konzentrieren. Nachher! Sie riss sich zusammen und legte Sophies kleine, perfekte Hände in die großen, leblosen Hände ihrer Mama, fotografierte die Finger – so viel Nähe, so viel Liebe. Fotos von den beiden Gesichtern, ganz nah, kuscheln, Wange an Wange. Nahaufnahmen. Aufnahmen von weiter weg. Emma probierte alle Einstellungen aus. Nichts wollte sie verpassen, nichts vergessen.

Dann bat sie auch den Vater dazu. Er stellte sich hinter das Bett und hielt seine beiden Frauen mit starken Armen fest. Er sah unendlich traurig aus, fassungslos. Er küsste sein Töchterchen, küsste seine Frau. Emma bat ihn, die Hand seiner Frau und seiner Tochter in seine Hände zu legen. Nur Hände. Alle drei. Eine Familie. Kurz verbunden und danach für immer getrennt.

Das Shooting dauerte nur ein paar Minuten. »Möchten Sie noch etwas festhalten? Haben Sie noch einen Wunsch?«, fragte Emma den Mann. Er schüttelte den Kopf. »Sie müssen leider noch das Formular ausfüllen«, erklärte Emma und reichte ihm einen Zettel. Er nickte und notierte Name, Adresse, E-Mail. Schließlich wollte sie ihm bald die Fotos überreichen können, und dazu brauchte sie seine Angaben.

Emma packte alles zusammen, verabschiedete sich von dem Mann, von der kleinen Sophie, von Monika. Jetzt musst du es sagen. Doch sie eilte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter, aus dem Krankenhaus hinaus, vor die Tür.

»Geh zurück, sag es«, raunte sie sich zu.

Es war kalt, es regnete. Es war ihr egal. Sie stolperte, fiel, fing sich auf, setzte sich vor einer Sitzbank auf den Boden direkt in eine Pfütze. Sie konnte keinen einzigen Schritt mehr gehen, in keine Richtung. Sie stellte ihre Taschen ab. Vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Und weinte, wie sie noch nie zuvor geweint hatte.

Kapitel 3

Emma wusste nicht mehr, wie sie nach Hause gekommen war. Diese verflixte Tablette hatte dazu geführt, dass sie überhaupt nicht mehr klar hatte denken können.

Jetzt war sie mitten in der Nacht erwacht und hatte schreckliche Kopfschmerzen. Sie lag mit Jacke, Schuhen und Mütze auf dem Sofa. Sie schwitzte wie verrückt. Sie war eingeschlafen. Verdammt. Sie hatte sich um so viel kümmern wollen. Sie blickte auf die Uhr auf ihrem Handy. Es war nach zwei. Wer konnte ihr jetzt helfen?

Diese verdammte Tablette. Was hatte diese Hebamme ihr da verabreicht? Klar, das Medikament hatte sie überhaupt erst einsatzfähig gemacht, und sie hatte sich damit zusammenreißen können. Und doch war sie davon so unendlich müde geworden.

Sie tippte im Handy den Namen des Krankenhauses ein. Dort war auch in der Nacht jemand wach. Sie bat die Empfangsdame, sie mit dieser Hebamme zu verbinden. Sie wusste noch nicht einmal den Nachnamen.

»Hallo, hier ist Emma Wagner, die Fotografin von ›Unvergessen‹, die gestern am frühen Abend bei Ihnen war. Könnte ich bitte mit einer Monika sprechen? Ich weiß leider ihren Nachnamen nicht. Doch sie war die betreuende Hebamme und hat mich begleitet.«

»Monika hat Feierabend. Worum geht es denn?«

»Diese Frau, die ich fotografiert habe, die Mutter des neugeborenen Babys … Ich müsste mit dem Vater reden. Leider bin ich wegen des Medikaments, das mir Ihre Kollegin freundlicherweise gegeben hatte, eingeschlafen. Doch es ist sehr wichtig.«

»Frau Wagner, was möchten Sie denn sagen?«

»Die Frau muss am Leben bleiben.«

»Warum?«

»Weil es so viel zu klären und zu erklären gibt.«

»Sie sprechen in Rätseln.«

Das war Emma bewusst. Sie war auch wahnsinnig verwirrt. »Es ist einfach sehr wichtig, dass die Frau nicht stirbt. Ich würde morgen gern vorbeikommen und Ihnen alles erklären.«

»Frau Wagner. Sie wissen, wir dürfen keine Auskunft gegenüber nicht verwandten Personen geben. Aber Sie sind ein Fotoengel, Sie haben einen anderen Status. Ich muss Ihnen eine traurige Mitteilung machen: Frau Baumann ist bereits tot. Sie starb kurz nach dem Fotoshooting.«

Emma ließ den Hörer fallen.

»Frau Wagner? Hallo?«

Sie war tot. Es war zu spät. Dieses verdammte Medikament. Ihre verdammte Feigheit. Was sollte sie jetzt tun? Sie war tot. Obwohl Emma es voraussehen hätte müssen, machte diese Tatsache jetzt alles noch einmal schlimmer. Sie konnte ihre Tränen erneut nicht zurückhalten und weinte hemmungslos. Tot war tot. Sie konnte die Pläne, welche ihr in ihrem Schockzustand durch den Kopf gejagt waren, nicht mehr umsetzen. Es war zu spät. Doch immerhin hatte sie jetzt Zeit, sich die richtigen Schritte zu überlegen.

Liebes Tagebuch,

wie lange habe ich mich schon nicht mehr bei dir gemeldet. Ich weiß nicht, warum ich die ganze Zeit verzichtet habe. Früher hat es mir so gutgetan, meine Gedanken bei dir zu platzieren und zu wissen, dass du sie für dich behältst – und dass sie dort gut aufgehoben sind. Ich versuche im Moment, meine Gedanken zu ordnen. Im Moment purzelt alles wild durcheinander, und ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.

Barbara ist tot.

Sie ist tot.

Da habe ich sie seit vierzehn Jahren nicht mehr gesehen – und dann liegt sie vor mir in einem Krankenbett und stirbt. Und ich konnte nicht einmal mehr mit ihr sprechen. Sie fragen, wo sie war, wie es ihr ergangen ist. Fragen, wie es ihr geht. Meine Güte, wie sollte es ihr gehen? Sie war kurz vor tot. Tot. Tot. Tot. Was hätte ich tun sollen? Ich weiß genau, was ich hätte tun sollen. Ich hätte schreien sollen. Ich hätte sagen sollen, ich kenne diese Frau, ihre Eltern vermissen sie, niemand wusste, wo sie war. Lasst uns alle informieren! Lasst die Eltern kommen. Abschied nehmen. Ich war so ein Feigling. Rechtfertigt das alles? Erklärt das meine Unfähigkeit, das Richtige zu tun? Nur einmal in meinem Leben?

Was soll ich jetzt bloß tun?

Nichts macht sie wieder lebendig. Und während ich hier schreibe und weiterhin feige bin, wird sie bald beerdigt, und ihre Familie wird sie nie wiedersehen. Und ich auch nicht. Und weil ich eingeschlafen bin, können ihre Eltern jetzt nicht mal mehr Abschied nehmen.

Was bin ich nur für eine Idiotin. Ich sollte einfach hingehen und es allen erzählen. Aber da gibt es noch so viele Gedanken. Was für ein Mensch ist ihr Ehemann? Was hat er über die Vergangenheit gewusst? Und noch viel wichtiger: Was hat er nicht gewusst? Was wird er seiner Tochter über ihre Mama erzählen? Wird er die Erinnerung an sie wahren?

Kann ich ihm helfen, die Erinnerung zu erhalten?

Es fällt mir alles so schwer. Welche Schritte sind die richtigen? Fragen über Fragen. Im Moment ist einfach alles unsortiert. Ich möchte nicht schon wieder alles falsch machen.

In meiner Vergangenheit ist so viel schiefgelaufen. Irgendwie fühle ich, dass ich jetzt die Gelegenheit habe, das alles aufzuarbeiten. Es könnte doch auch eine Chance für mich sein, nicht wahr?

Musste sie sterben, damit ich doch noch glücklich werden kann? Damit ich endlich mit allem abschließen kann. Wie kann ich glücklich sein, wenn sie tot ist? Wie kann ich jemals wieder glücklich sein? Im Moment tut mein Herz weh, wenn ich an sie denke, zieht sich alles in mir zusammen, und die Tränen rinnen über meine Wangen, ohne dass ich weine. Ich weiß nicht, wann ich mich zum letzten Mal so gefühlt habe.

Ist es überhaupt wichtig, wie ich mich fühle? Meine Güte, ich denke die ganze Zeit an mich und an mein Unglück. Dabei sollte ich mich aufraffen und mir überlegen, wie ich helfen kann, wie ich etwas retten kann, was nicht mehr zu retten ist.

Dieses Mädchen wächst ohne Mutter auf. Das ist so furchtbar, dass es mich gleich wieder durchschüttelt. Das Mädchen braucht alles, was es an Erinnerungen kriegen kann. Okay, fast alles. Etwas kann ich Barbaras Tochter nicht erzählen. Ich kann ihr nicht sagen, dass Barbara damals … Nein, das schaffe ich nicht. Diese Erinnerung darf die Kleine nicht haben. Wie soll ich das alles nur in die Wege leiten?

Denk, Emma! Denk!

Ich bin so müde. Das alles macht mich so müde. Ich habe mich noch längst nicht von diesen Ereignissen erholt. Ich muss meine Gedanken in Ordnung bringen. Am liebsten würde ich einfach verschwinden. Irgendwie fällt mir die Decke auf den Kopf, und ich fühle mich gefangen in meiner wirren Gedankenwelt.

Während ich das schreibe, tropfen immer wieder Tränen auf das Papier, und die Farbe verwischt. Wer schreibt überhaupt noch von Hand? Ich sollte alles in den Computer tippen. Irgendwie ist das hier viel romantischer. Und so vergänglich. Vergänglich wie das Leben. Ich wünschte, das wäre alles nur ein schlimmer Albtraum. Und ich würde aufwachen, und alles wäre wieder wie vor vierzehn Jahren. Oder wenigstens wie vor ein paar Tagen. Aber ich träume nicht. Ich bin in einer neuen Realität. Traurig. Geschockt. Überfordert. Und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.

Ich werde jetzt ein bisschen schlafen. Dann werde ich nachdenken. Und dann werde ich dir meine Gedanken wieder mitteilen, versprochen.

Danke, dass du mir zugehört hast.

Deine Emma

 

Kapitel 4

Emma hatte sich seit mehreren Tagen in ihrem Haus verschanzt, alle Fotoshootings abgesagt oder verschoben. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ihre Vergangenheit hatte sie mit einer Wucht eingeholt, mit der sie niemals gerechnet hätte.

Sie saß an ihrem Computer und versuchte, einige neuere Fotos auf ihre Webseite zu laden. Doch sie konnte sich auch dafür nicht erwärmen. Ihre Gedanken kreisten immer und immer wieder um das vergangene Shooting für »Unvergessen«. Um Sophie. Um deren Vater. Und um die sterbende Frau im Bett … Barbara.

Niemand hatte etwas mitbekommen. Wer hätte sich in dieser Situation schon für ihre Gefühle interessiert? Diese Monika hatte geglaubt, ihr Schwächeanfall sei von der Schwierigkeit des Einsatzes gekommen. Sie konnte einfach so tun, als wäre das alles gar nicht passiert. Sie konnte es ignorieren. Doch das fühlte sich so verdammt falsch an. Da war dieses kleine Mädchen, das seine Mutter verloren hatte. Da war ein Vater, der aus dem Nichts heraus alleinerziehend war. Da waren so viele Probleme. Doch das war nicht alles – da war ihre Chance, ihre Vergangenheit endlich aufzuarbeiten.

Auch sie hatte Probleme. Das wusste sie. Sie hatte ihre Vergangenheit nie ganz bewältigt. Ihr Engagement, ihre Leidenschaft für Kinder – egal ob gesund oder krank – hatten einen Grund. Sie musste so viel wiedergutmachen.

Deshalb hatte sie sich vor einigen Jahren bei der Organisation »Unvergessen« gemeldet. »Unvergessen« schickte professionelle Fotografen zu Familien, die vom Schicksal gebeutelt wurden. Deren Kinder schwer krank oder behindert waren oder bald sterben würden. Manchmal gab es auch Einsätze in Familien, in denen ein Kind ohne ein Elternteil aufwachsen musste. Ihm blieben dann nichts außer den Fotos. Wie im Fall von Sophie: Emmas Bilder würden die einzigen sein, die das Kind zusammen mit seiner Mama zeigen würden – für immer.

Die Fotoengel, wie sie liebevoll genannt wurden, arbeiteten ehrenamtlich neben ihrem normalen Fotografenjob. Einsätze wurden in einer geheimen Gruppe bei Facebook gepostet – und meist rückte der Fotograf aus, der sich als Erster meldete. Emma hatte Erfahrung mit dieser Art von Arbeit, und sie wusste: Es fanden immer automatisch die Menschen zusammen, die zueinanderpassten, und die Situationen wurden meist mit großem gegenseitigen Respekt gemeistert.

Sie blickte auf den Bildschirm. Unter einer rosafarbenen Fotokamera, in deren Objektiv ein Herz abgebildet war, stand in einem schwungvollen Schriftzug »Emma Wagner Fotografie«. Emma hatte Fotografie studiert und sich dann auf Kinder- und Familienfotografie spezialisiert. Das war schon immer ihr Traumberuf gewesen.

Sie wohnte in einem kleinen Häuschen und hatte sich den Traum vom Fotostudio in den eigenen vier Wänden erfüllt. Das Haus stand in einem kleinen Dorf in der Nähe von Zürich. Sie mochte die Abgeschiedenheit und gleichzeitig die Nähe zur Stadt. Sie war ihr eigener Herr, konnte arbeiten, wann sie wollte, und sich auch mal freinehmen oder eben einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachgehen.

Emma hatte Glück: Sie war gut gebucht. Die Familien kamen gern in ihr Studio, denn ihre Bilder waren zauberhaft, voller Liebe und Glück und ein kleines bisschen kitschig – aber nicht zu sehr. Sie hatte ein Auge für die schönen Momente. Emma gelang es immer wieder, das Leuchten der Kinderaugen für die Ewigkeit festzuhalten. Sie liebte ihren Beruf. Glückliche Familien zu sehen trieb sie an – und sie hatte das Gefühl, damit die Geschehnisse in ihrer Vergangenheit ein Stück weit wiedergutzumachen.

Eine eigene Familie wünschte sie sich insgeheim auch selbst. Bisher hatte es damit jedoch nicht geklappt, was vor allem daran lag, dass sie seit eh und je Single war. Oder vielmehr, seit sie ihre erste große Liebe Jonas damals nach dem ganzen Drama verloren hatte. Sie war überzeugt, dass sie dieses Glück auch nicht verdient hatte. Sie hatte in ihren Augen zu viele schwere Fehler gemacht. Und doch wünschte sie sich ein bisschen Glück.

Dass ihre Vergangenheit sie so sehr eingeholt hatte, ließ ihr keine Ruhe. Sie wusste, dass sie auf eine Möglichkeit, diese aufzuarbeiten, gewartet hatte. Und doch hatte sie Angst davor, sich ihr zu stellen. Sie musste die Dämonen loswerden, sonst würde sie wohl niemals richtig glücklich werden. Sie hatte keine Ahnung, wie sie vorgehen wollte. Im Moment war ihr nur klar: Sie musste um ihre Freundin trauern. Und sie musste sich um dieses Mädchen und um seinen Vater kümmern.

Sie hatte seinen Namen. Lukas Baumann. Und seine Adresse. Er hatte alles auf dem Formular notiert. Normalerweise lud sie die Fotos auf einen hübschen Stick und schickte ihn zusammen mit einer selbst verfassten Karte an die Familie. Manchmal, bei besonders tragischen Schicksalen, druckte sie die Bilder auf Leinwände oder gestaltete ein Album. Doch hier war alles anders.

Emma wusste, sie musste behutsam vorgehen, durfte keinen Fehler machen und nichts übereilen. Sie gestaltete besonders liebevoll das Album für die kleine Sophie. Noch war sie viel zu klein, um die Wichtigkeit des Büchleins zu deuten. Doch Emma hoffte, dass es eines Tages eine wertvolle Erinnerung für das Mädchen sein würde. Sophie würde nie andere Erinnerungen an ihre Mutter haben als diese Fotos – und das, was ihr Vater ihr erzählte.

Oder sie, Emma.

 

Vier Wochen waren ins Land gegangen, und erst jetzt hatte Emma den Mut gefunden. Sie stand mit zitternden Händen und klopfendem Herzen vor der Haustür von Lukas Baumann. Wie es ihm wohl gehen mochte? Würde er sie überhaupt noch erkennen? Sie wollte nicht zu früh mit der Tür ins Haus fallen, jedoch sollte die Familie die Bilder so schnell wie möglich bekommen. Und weil sie sie nicht – wie gewöhnlich – per Post verschickt hatte, war sie eh schon viel zu spät dran.

Es war ein kühler Abend im Februar und schon beinahe dunkel. Emma zog den Schal fester um ihren Hals. Hoffentlich war er da. Hoffentlich war er nicht da. Sie wusste wirklich nicht, was ihr gerade lieber war.

Sie stand vor einem riesigen Gebäude im modernen Zürich-West. Emma blickte sich staunend um. Sie war noch nie hier gewesen, es hatte nie einen Grund gegeben. Unzählige nigelnagelneue Hochhäuser schossen aus dem Boden, und wer hier wohnte, verdiente bestimmt eine Menge Geld. Zudem war die Gegend zu einem Partyviertel mutiert – es gab hier viele Klubs, Bars und Restaurants. Diese Entwicklung war neu, früher war Zürich-West ein eher trister Fleck gewesen.

Emma drückte auf die Klingel und blickte verheißungsvoll nach oben. Doch sie konnte nicht sagen, welche Wohnung die von Lukas Baumann war – und ob darin die Lichter brannten.

Emma wollte sich schon wieder abwenden und weggehen, als doch noch die tiefe Stimme aus dem Lautsprecher klang.

»Wer ist da?«

»Hier ist Emma Wagner, die Fotografin von ›Unvergessen‹. Ich würde Ihnen gern die Fotos und das Album geben?«

»Bringen Sie das immer selbst vorbei?«, klang die Stimme mürrisch.

Die Frage war berechtigt, wenn auch etwas unwirsch. Und es war bestimmt nicht die Frage, die Emma als erste eingefallen wäre. Immerhin hatte sie sich herbemüht – und sich in seinen schwersten Stunden in die Höhle des Löwen gewagt. »Nein, um ehrlich zu sein«, antwortete Emma vorsichtig, »aber ich wollte Sie gern wiedersehen und Ihnen etwas sagen.«

»Was denn?«

»Es ist sehr persönlich. Und es geht um Ihre Frau.« Emma glaubte, sie habe den Mann jetzt für immer vergrault, doch zu ihrem Erstaunen ertönte der Summer, der das Öffnen der Tür ankündigte.

»Siebter Stock«, klang es noch aus der Fernsprechanlage, und Emma trat nervös in das große Gebäude ein.

Sie fuhr mit dem Aufzug in die angegebene Etage und war froh, dass die Wohnung nicht ganz oben lag – sie mochte den Blick von oben in die Tiefe nicht besonders. Wahrscheinlich hatte sie so etwas wie Höhenangst. Sie blickte an sich hinunter auf ihre bequemen, kuscheligen Stiefel, die blaue Jeans und die dicke militärgrüne Jacke. Sie trug zudem eine Bommelmütze und Handschuhe. Sie fühlte sich total fehl am Platz. Hier war alles so chic und teuer. Egal. Sie wollte heute nur das Album übergeben – und Lukas Baumann die Wahrheit sagen. Oder zumindest einen Teil davon. Sie brauchte nicht in diese Gesellschaft hier zu passen.

»Hallo«, sagte Emma schüchtern, nachdem sie aus dem Lift gestiegen war.

Lukas Baumann stand bereits im Flur. Er wirkte ungehalten, was Emma nicht so richtig verstehen konnte. Und abgekämpft, traurig … müde. Natürlich hatte sie keine Ahnung gehabt, in welchem Zustand sie den jungen Witwer vorfinden würde. Er hatte erst kürzlich seine Frau verloren – und er hatte keine Ahnung, was dieser Verlust auch für sie, Emma, bedeutete.

»Ich habe nicht viel Zeit«, lautete die Antwort des großen, bärtigen Mannes. Er trug eine teuer aussehende Anzughose und ein Hemd. Die Krawatte hatte er wohl abgelegt, ebenso die Schuhe. Emma hörte aus der Wohnung das Schreien der Kleinen. Sophie. Dann eine Frauenstimme, die beruhigend auf das Baby einredete.

»Entschuldigen Sie bitte den Überfall!«

»Was möchten Sie mir über meine Frau sagen?«

»Zunächst einmal möchte ich Ihnen mein tiefstes Beileid aussprechen. Was Ihnen und Ihrer Tochter passiert ist, ist einfach unvorstellbar schrecklich.« Emma zog das Album aus ihrer Tasche und reichte es dem Mann. »Das habe für Sie und Ihre Tochter gestaltet, ich hoffe, dass Sophie damit eine schöne Erinnerung an ihre Mama hat.«

Lukas Baumann nahm das Album und fuhr mit dem Zeigefinger über das Foto, das Emma auf der Titelseite platziert hatte. Es war eine Nahaufnahme der drei Hände, die ineinander lagen. In Schwarz-Weiß. Emmas Lieblingsbild. Sie hatte den Eindruck, als träten dem Mann die Tränen in die Augen. Er schien jedoch nicht der Typ zu sein, der dies einer Fremden gegenüber offen gezeigt hätte.

»Was ist jetzt mit meiner Frau?«, fragte er dann ganz abrupt.

»Wollen wir uns vielleicht irgendwo hinsetzen?«

»Nein«, erwiderte er. »Ich habe im Moment keine Nerven, um mit einer Fremden über meine Frau zu reden. Sagen Sie einfach, was Sie sagen möchten.«

Emma fühlte sich eingeschüchtert, sie hatte nicht damit gerechnet, dass Lukas Baumann so schroff und abweisend sein würde. Immerhin hatte sie den Mut gehabt, in seiner schwersten Stunde für ihn da zu sein. Vielleicht hatte sie sogar ein Dankeschön erwartet. Oder war das zu viel verlangt … nach nur einem Monat? Es war auch eigentlich ganz egal: Sie musste jetzt Farbe bekennen – sie musste ehrlich sein. So ehrlich, wie sie in diesem Augenblick nur sein konnte. Vielleicht konnte sie dadurch nicht nur Sophie und ihrem Vater helfen, sondern auch sich selbst. Sie hatte keine andere Wahl, als hier im Flur mit ihm darüber zu sprechen. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen.

»Herr Baumann. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir etwas über Ihre Zeit mit Ihrer Frau erzählen würden. Im Gegenzug würde ich Ihnen gern etwas über meine Zeit mit ihr erzählen.« Er schaute verwundert, jedoch nicht uninteressiert. Emma fühlte sich ermutigt weiterzusprechen. Sie holte tief Luft. »Barbara war in unserer Kindheit und Jugend meine beste Freundin – bis sie von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand. Es war ein Schock für mich, als ich sie in dem Bett liegen sah, erkannte und wusste, ich hatte sie endlich wiedergefunden, doch ich würde nie wieder ein Wort mit ihr wechseln können.«

Emma brach in Tränen aus. Lukas Baumann fuhr sich nervös durch die Haare, es war offensichtlich, dass er mit Emmas Ausbruch nicht viel anfangen konnte. Himmel, er war doch in tiefster Trauer. Emma hoffte, er würde ihr eine Chance geben. Sie wollte so gern wissen, was Barbara widerfahren war.

Sie schaute Lukas Baumann an.

Seine Miene wirkte wie versteinert. »Frau Wagner. Ich weiß nicht, was das soll. Sie sind verrückt. Meine Frau hieß Victoria. Sie kommen einfach hierher und wollen mir etwas über sie erzählen? Ich weiß alles über meine Frau. Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Ist es Ihre Art, trauernde Menschen zu belästigen … mit irgendwelchen Schauermärchen? Gehen Sie.«

Emma war verdattert. Victoria. Barbara. Natürlich. Ein anderer Name. So weit hatte sie gar nicht gedacht. »Ich lüge nicht. Ich kann es Ihnen beweisen.« Emma öffnete ihre Tasche, um ein altes Foto herauszuziehen. Doch Baumann wies sie erneut schroff ab. »Frau Wagner. Sie haben meinen allergrößten Respekt für das, was Sie für mich und meine Tochter getan haben. Für Ihre Fotos und für das Album möchte ich mich bei Ihnen bedanken. Aber lassen Sie mich jetzt in Ruhe! Bitte!«

Emma fühlte sich wie ein kleiner, geprügelter Hund. Es hatte keinen Sinn. Nicht jetzt. Womöglich nie … Womöglich würde sie für immer auf ihren Fragen sitzen bleiben. Sie schaute auf den Boden und nickte. Dann drückte sie auf den Liftknopf.

Kapitel 5

Was sollte sie jetzt tun? Sie hatte diesem Baumann noch nicht einmal das Foto von früher zeigen können. Es fühlte sich an, als wäre es vorbei. Das durfte einfach nicht wahr sein. Emma hatte große Lust, etwas kaputt zu hauen. Das würde nur nichts bringen, dessen war sie sich durchaus bewusst.

Seit diesem Abend im Krankenhaus war ihr Leben aus den Fugen. Verdammt, sie litt doch genauso wie dieser elende Kerl. Oder zumindest fast genauso. Oder anders. Es gab kein Maß für Leid. Klar, er wusste nichts davon. Sie hatte ihn doch nicht belästigen wollen, und sie war ganz bestimmt keine Lügnerin. Er hatte sie noch nicht einmal erklären lassen. Sie wollte sich so sehr jemandem anvertrauen. Doch wem? Ihre wenigen Freunde wussten nichts von ihrer Vergangenheit. Oder zumindest nicht das. Nicht die Geschichte mit Barbara. Das ganze Drama. Einzig ihrer Psychologin, Annabelle Tirschner, hatte sie alles erklärt. Sie besuchte die Therapeutin immer wieder in größeren Abständen. Sie hatte nie ganz abschließen können.

Ihr könnte sie es erzählen.

Doch sie brauchte einen Plan. Sie wollte nichts falsch machen. Ihr bisheriges Auftreten war offenbar bereits zu forsch gewesen. Sie hoffte, dass sie wenigstens noch eine Chance hatte. Victoria. Barbara. Victoria. Barbara. Ihre damalige beste Freundin hatte nicht sehr weit weg von ihrem Heimatort gelebt. Sie war sehr mutig gewesen – immer wieder hätte ihr in Zürich jemand von früher über den Weg laufen können. Dann die sozialen Medien …

Emma schaltete ihren Laptop ein. Sie suchte die gängigen Social-Media-Plattformen nach Victoria Baumann ab. So hatte sie ja zuletzt geheißen. Sie kam sich vor wie ein Stalker. Tatsächlich hatte Barbara einige Profile angelegt. Sie waren privat, wer nicht mit ihr befreundet war, konnte kaum etwas sehen. Nur ein Profilfoto, das sie an einem Strand zeigte. Im Bikini. Von hinten. Die langen dunklen Haare hingen ihr über den Rücken, sie hatte die Arme zur Seite ausgestreckt und lief aufs Meer zu. Es war mehr ein Schatten. Im Hintergrund ging soeben die Sonne unter. Die Accounts würden wohl bald gesperrt werden. Was würde es bringen, da eine Nachricht zu hinterlassen? Nichts. Die Accounts waren so diskret angelegt – mit dem fremden, neuen Namen und ohne sichtbare Fotos –, dass wohl kaum jemand aus der Vergangenheit zufällig darauf gestoßen wäre.

Emma beschloss, auch Google nach Victoria Baumann zu befragen. Hier erschien ihr Porträt auf der Webseite der Immobilienfirma Baumann. Sie erkannte die alte Barbara sofort, wenngleich sie auch zugeben musste, dass sie sich optisch stark verändert hatte. Womöglich hätte sie sie auf den ersten Blick nicht gleich erkannt. Barbaras Tarnung war perfekt gewesen. Sie hatte definitiv nicht vorgehabt, in ihr früheres Leben zurückzukehren. Warum nicht? Es war doch so viel Zeit vergangen. Womöglich hatte sie ein ganzes Lügengebäude aufgebaut, welches zerbrochen wäre, hätte sie auch nur einen Schritt zurückgemacht. Klar war, Lukas Baumann wusste nichts von einer Barbara. Sie hatte ihm offensichtlich die Geschichte nie erzählt.

Victoria. Warum hatte sie sich Victoria genannt? Hatte sie einen zweiten Vornamen gehabt? Verdammt, das müsste sie, Emma, doch wissen. Hatten sie jemals über zweite Vornamen geredet? Sie musste Barbaras Eltern fragen, doch dazu war sie im Moment nicht in der Lage. Erst musste sie ihre Gedanken ordnen. Sie wollte nicht einfach blind drauflosagieren. Am Ende würden Baumann und die Kleine von der Wahrheit völlig überfahren. Sie musste behutsam vorgehen. Eigentlich spielte es auch keine Rolle. Barbara war Victoria, und Victoria war Barbara. Damit musste sie im Moment leben. Und arbeiten.

Emma seufzte. Sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte. Am Ende lief alles über den jungen Witwer Lukas. Und mit diesem hatte sie es sich – aus welchen Gründen auch immer – total verscherzt. Dabei hatte sie es doch nur gut gemeint. Vielleicht hätte sie mehr Zeit verstreichen lassen sollen, ja. Die Trauer war so frisch. Und Baumann hatte seine Frau bestimmt von Herzen geliebt. Auch wenn er auf sie wie ein arroganter Schnösel wirkte – so war er doch von einer Sekunde auf die andere zum Witwer und zum alleinerziehenden Vater geworden.

Sie durchsuchte die Webseite von Baumann Immobilien, wo Barbara gearbeitet hatte. Offensichtlich gehörte das Unternehmen Baumanns Vater. Er selbst war jedoch auch dort tätig. Die Firma vermietete Wohnungen in und um Zürich. Barbara war als Justiziarin dort angestellt gewesen.

Immobilien. Emma hatte nicht nur wenig Erfahrung damit – es war eine Branche, die sie auch überhaupt nicht interessierte. Sie beschloss jedoch, ein Foto von Barbara und sich zusammen mit einem Brief, in dem sie sich erklären konnte, an Baumanns Geschäftsadresse zu senden. Wahrscheinlich würde der Brief dort eher Beachtung finden als bei ihm zu Hause, überlegte sie.

Sie suchte ein Foto heraus, auf dem sie zusammen mit Barbara abgebildet war. Wenn sie sich nur den Namen Victoria erklären könnte. Doch Baumann würde seine verstorbene Frau auf dem Foto erkennen, dessen war sich Emma sicher. Es war ein Foto, das sie beide zeigte, kurz bevor … das alles passiert war. Sie waren damals schon volljährig gewesen. Die dunkle Barbara umarmte die blonde Emma, beide lachten glücklich in die Kamera. Emma konnte sich noch sehr gut an den Zeitpunkt erinnern, an dem das Foto entstanden war. Sie hatten eine gemeinsame Wanderung unternommen, auch ihre Eltern und Geschwister waren mitgekommen. Es war eine wunderschöne, eine friedliche Zeit gewesen. Und kurz darauf hatte sich alles so sehr verändert.

Sie steckte das Foto in den Umschlag und bat Baumann in einem Brief, ihr zuzuhören. Sie wollte nicht als Lügnerin oder als verrückt abgestempelt werden. Sie sagte ihm aber auch, dass er sich so viel Zeit nehmen sollte, wie er brauchte. Sie wusste, sie durfte nichts überstürzen. Sie musste Geduld haben.

Sie verschloss den Umschlag und frankierte ihn.

Jetzt konnte sie nur noch abwarten.

Kapitel 6

Lieber Herr Baumann,

verzeihen Sie – ich möchte Sie mitnichten belästigen. Ich verstehe, dass Sie trauern und tief geschockt sind. Deshalb nehmen Sie sich bitte so viel Zeit, wie sie benötigen. Doch bitte, sehen Sie sich das Foto an. Sie werden erkennen, dass wir beide von derselben Person sprechen. Ich bin ebenso fassungslos wie Sie. Und auch in tiefer Trauer um meine allerbeste Freundin, die vor vierzehn Jahren plötzlich spurlos verschwunden ist und die ich erst an diesem Krankenbett wiedergesehen habe.

Dass Sie sie Victoria nennen, heißt für mich, dass Sie die Vergangenheit höchstwahrscheinlich nicht so kennen, wie sie war. Deshalb würde ich Ihnen so gern davon erzählen – auch um Sophies willen. Und ich würde so gern von Ihnen erfahren, was aus Barbara oder Victoria geworden ist. Ich möchte Sie bitten, mit mir Kontakt aufzunehmen, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen.

Bis dahin grüße ich Sie herzlich,

Emma Wagner

 

Er saß an seinem Schreibtisch. Die Firma seines Vaters befand sich in einer altehrwürdigen Villa im Seefeld – mit Seezugang. Die Büroräume waren so belassen worden, wie sie gewesen waren – mit dem alten Parkettboden, den Fachwerkbalken an der Decke und den Fresken. Die modernen Möbel bildeten einen interessanten Kontrast dazu. Sein Schreibtisch war weiß, ebenso wie die Schränke und Kommoden, welche die Wand vor ihm säumten. Als Juniorchef hatte er ein Büro für sich allein, nur bestückt mit einem kleinen weißen Sitzungstisch und vier Stühlen aus dunkelbraunem Leder. Edel. Teuer.

Lukas Baumann ballte seine Hand, in der sich der Brief befand, zur Faust zusammen, sodass das Papier zerknüllte. Es war mehr ein Reflex. Es ging nicht darum, den Brief kaputt zu machen. Er schmiss ihn auf den Schreibtisch. Das Foto ließ keinen Zweifel zu. Die jungen Frauen darauf waren diese Emma Wagner – und seine Victoria. Barbara. Victoria. In seinem Kopf begann sich alles zu drehen.

Was war hier los? Warum konnte diese Fotografin ihn nicht einfach in Ruhe lassen. Ganz einfach – weil es offensichtlich etwas gab, was er wissen musste. Und was sie wissen musste. Er wünschte sich, dass nicht ausgerechnet Emma Wagner ins Krankenhaus gekommen wäre. Dann hätte er nie erfahren, dass seine Frau ihm offensichtlich etwas verschwiegen hatte. Bevor sie gestorben war. Er wusste gar nicht mehr, was zählte. Die Trauer. Oder die aufkeimende Wut wegen der Halbwahrheiten. Was waren Victorias Gründe gewesen? Was hatte sie ihm noch nicht erzählt? Und warum? Irgendwas musste dran sein an der Aussage dieser Fotografin – und das Foto sprach eine deutliche Sprache. Er hatte eigentlich seine Trauer überwinden wollen. Einen neuen Weg finden wollen. Abschließen wollen. Doch wie es schien, hatte er noch eine Hürde zu nehmen.