Traurige Tropen
Übersetzt von
Eva Moldenhauer
Suhrkamp
Erster Teil
Das Ende der Reisen
I Abreise
II Auf dem Schiff
III Antillen
IV Das Ringen um die Macht
Zweiter Teil
Reisenotizen
V Rückblicke
VI Wie man Ethnograph wird
VII Sonnenuntergang
Dritter Teil
Die Neue Welt
VIII Die Roßbreiten
IX Guanabara
X In den Tropen
XI São Paulo
Vierter Teil
Das Land und die Menschen
XII Städte und Landschaften
XIII Pionierzone
XIV Der fliegende Teppich
XV Menschenmengen
XVI Märkte
Fünfter Teil
Caduveo
XVII Paraná
XVIII Pantanal
XIX Nalike
XX Eine Eingeborenengesellschaft und ihr Stil
Sechster Teil
Bororo
XXI Gold und Diamanten
XXII Gute Wilde
XXIII Die Lebenden und die Toten
Siebter Teil
Nambikwara
XXIV Die verlorene Welt
XXV Im Busch
XXVI An der Telegrafenlinie
XXVII Familienleben
XXVIII Schreibstunden
XXIX Männer, Frauen, Häuptlinge
Achter Teil
Tupi-Kawahib
XXX Im Einbaum
XXXI Robinson
XXXII Im Wald
XXXIII Das Dorf der Grillen
XXXIV Die Farce des Japim
XXXV Amazonien
XXXVI Seringal
Neunter Teil
Die Rückkehr
XXXVII Die Apotheose des Augustus
XXXVIII Ein kleines Glas Rum
XXXIX Taxila
XL Besuch im Kyong
Abbildungen im Text
Bibliographie
7Für Laurent
Nec minus ergo ante haec quam tu cecidere, cadentque,
Lukrez, De Rerum natura, III, 969
Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende. Trotzdem stehe ich im Begriff, über meine Expeditionen zu berichten. Doch wie lange hat es gedauert, bis ich mich dazu entschloß! Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit ich Brasilien zum letzten Mal verließ, und in all diesen Jahren habe ich oft den Plan gefaßt, dieses Buch zu schreiben; aber jedes Mal hat mich ein Gefühl der Scham oder des Überdrusses davon abgehalten. Soll man etwa des langen und breiten die vielen kleinen Belanglosigkeiten und unbedeutenden Ereignisse erzählen? Für das Abenteuer gibt es im Beruf des Ethnologen keinen Platz; es ist für ihn nichts weiter als ein Zwang, dem er sich unterwerfen muß; es beeinträchtigt seine Arbeit durch das Ungemach verlorener Wochen oder Monate, vieler Stunden, die müßig vergehen, weil der Informant sich davonschleicht; durch Hunger, Müdigkeit, manchmal auch Krankheit; und fast immer durch jene tausend Beschwerlichkeiten, die so sinnlos die Tage beschneiden und das gefahrvolle Leben im Urwald in eine Art Militärdienst verwandeln … Daß es so vieler Mühen, so viel vergeblichen Aufwands bedarf, um dem Gegenstand unserer Untersuchungen nahe zu kommen, wertet diese eher negative Seite unseres Berufs keineswegs auf. Die Wahrheiten, nach denen wir in so weiter Ferne suchen, haben nur dann einen Wert, wenn sie von dieser Schlacke befreit sind. Gewiß kann man eine sechsmonatige Reise voller Entbehrungen und tödlicher Langeweile auf sich nehmen, um einen unbekannten Mythos, eine neue Heiratsregel oder eine vollständige Liste von Clan-Namen zu sammeln (was wenige Tage, manchmal nur wenige Stunden in Anspruch nimmt), doch verdient eine armselige Erinnerung wie folgende: »Morgens um 5 Uhr 30 legten wir in Recife an, während die Möwen kreischten und eine Schar von Händlern, die Südfrüchte anboten, sich um das Schiff drängten«, daß ich die Feder in die Hand nehme und sie festhalte?
Aber genau diese Sorte von Berichten genießt eine Beliebtheit, die mir unerklärlich ist. Amazonien, Tibet und Afrika überschwemmen die Buchläden in Form von Reisebüchern, Forschungsberichten und Fotoalben, in denen die Effekthascherei zu sehr vorherrscht, als daß der Leser den Wert der Botschaft, die man mitbringt, würdigen 10könnte. Statt daß sein kritischer Geist erwacht, gelüstet ihn immer mehr nach dieser Speise, von der er Unmengen vertilgen kann. Heutzutage ist es ein Handwerk, Forschungsreisender zu sein; ein Handwerk, das nicht, wie man meinen könnte, darin besteht, nach vielen Jahren intensiven Studiums bislang unbekannte Tatsachen zu entdecken, sondern eine Vielzahl von Kilometern zu durchrasen und – möglichst farbige – Bilder oder Filme anzusammeln, mit deren Hilfe man mehrere Tage hintereinander einen Saal mit einer Menge von Zuschauern füllen kann, für die sich die Plattitüden und Banalitäten wundersamerweise in Offenbarungen verwandeln, nur weil ihr Autor, statt sie an Ort und Stelle auszusondern, sie durch eine Strecke von zwanzigtausend Kilometern geadelt hat.
Was hören wir in solchen Vorträgen und was lesen wir in solchen Büchern? Wir erfahren, was die mitgenommenen Kisten enthalten, was der kleine Hund, der sich an Bord befand, angestellt hat, und, vermischt mit Anekdoten, einige verwaschene Informationsfetzen, die schon seit einem halben Jahrhundert in allen Handbüchern herumschwirren und die eine nicht alltägliche Dreistigkeit, die jedoch der Naivität und Ignoranz der Konsumenten die Waage hält, sich nicht scheut, als ein Zeugnis, was sage ich, eine neue Entdeckung anzupreisen. Sicher gibt es Ausnahmen, und zu jeder Zeit hat es redliche Forschungsreisende gegeben; und zwei oder drei von denjenigen, die sich heute in die Gunst des Publikums teilen, könnte ich sofort mit Namen nennen. Mein Ziel ist es nicht, die Mystifikationen zu entlarven oder Diplome zu vergeben, sondern vielmehr, ein moralisches und soziales Phänomen zu begreifen, das sich besonders in Frankreich und auch hier erst seit kurzem breitmacht.
Vor zwanzig Jahren unternahm man selten eine Reise, und die Erzähler von Abenteuern wurden nicht in überfüllten Konzertsälen begrüßt, sondern in dem einzigen Ort, den es in Paris für diese Art von Vorstellungen gab, nämlich in dem dunklen, eiskalten und baufälligen kleinen Hörsaal in einem alten Gebäude am Ende des Jardin des Plantes. Die Société des Amis du Muséum organisierte dort allwöchentlich – vielleicht tut sie es noch heute – naturwissenschaftliche Vorträge. Der Projektionsapparat warf, mit viel zu schwachen Lampen, undeutliche Schatten auf eine viel zu große Leinwand, Schatten, deren Umrisse selbst der Vortragende schwer erkennen konnte und die das Publikum kaum von den Wasserflecken an den Wänden zu unterscheiden vermochte. Eine Viertelstunde nach der angekündigten Zeit fragten wir uns noch ängstlich, ob überhaupt Zuschauer kommen würden außer den wenigen Unentwegten, deren verstreute Silhouetten die Stufen des Amphitheaters schmückten. Als 11wir schon fast verzweifelten, füllte sich die Hälfte des Saals mit Kindern in Begleitung von Müttern oder Dienstmädchen: die einen kamen, weil sie sich eine kostenlose Abwechslung nicht entgehen lassen, die anderen, weil sie sich vom Lärm und Staub der Straße erholen wollten. Vor dieser Mischung aus verstaubten Phantomen und ungeduldigen Gören – der höchste Lohn für so viel Mühen, Sorgfalt und Arbeit – nahmen wir uns das Recht heraus, einen Schatz von Erinnerungen auszupacken, die auf einer solchen Sitzung auf ewig zu Eis erstarrten und die sich, während man im Dämmerlicht sprach, von einem loszulösen und eine nach der anderen wie Kieselsteine in die Tiefe eines Brunnens zu fallen schienen.
So sah die Rückkehr aus, kaum schauriger als die Feierlichkeiten der Abreise: das Bankett, welches das franko-amerikanische Komitee in einem Hotel der heute so genannten Avenue Franklin Roosevelt gegeben hatte, einem unbewohnten Gebäude, in das zwei Stunden vorher ein Gastwirt gekommen war, um sein Lager aus Kochplatten und Geschirr aufzuschlagen, ohne daß es einer hastigen Lüftung gelungen wäre, den Geruch von Verödung zu vertreiben.
An die Würde eines solchen Ortes ebensowenig gewöhnt wie an die staubige Langeweile, die er ausdünstete, um einen Tisch sitzend, der viel zu klein war für den riesigen Saal – man hatte gerade noch Zeit gehabt, den nun tatsächlich benützten Mittelteil auszufegen –, kamen wir zum ersten Mal miteinander in Kontakt, junge Professoren, die wir gerade erst die Arbeit an unseren Provinzgymnasien aufgenommen hatten und die eine etwas perverse Laune von Georges Dumas plötzlich aus dem feuchten Winterhafen in den möblierten Zimmern einer Kleinstadt, die ein Geruch von Grog, Keller und erkaltetem Rebholz durchtränkte, herausgerissen hatte, um sie auf die tropischen Meere und auf Luxusdampfer zu schicken; im übrigen alles Erfahrungen, die dazu beitrugen, eine ferne Beziehung zu dem unausweichlich falschen Bild zu knüpfen, das wir uns – ein Schicksal, das den Reisen anhaftet – bereits von ihnen machten.
Ich war Schüler von Georges Dumas zur Zeit seines Traité de psychologie gewesen. Einmal in der Woche, ich weiß nicht mehr, ob donnerstag- oder samstagmorgens, versammelte er die Philosophiestudenten in einem Hörsaal von Sainte-Anne, dessen den Fenstern gegenüberliegende Wand von oben bis unten mit fröhlichen Bildern von Irren vollgehängt war. Schon hier fühlte man sich einer besonderen Art von Exotik ausgesetzt; auf einem Podium pflanzte Dumas seine robuste, wie mit der Axt gehauene Statur auf, von einem knorrigen Haupt gekrönt, das einer durch einen langen Aufenthalt 12auf dem Grund der Meere gebleichten, ausgewaschenen Rübe glich. Denn seine wächserne Hautfarbe bewirkte, daß sich das Gesicht kaum von den weißen Haaren, die er sehr kurzgeschnitten trug, und dem ebenfalls weißen Schnurrbart abhob, der in alle Richtungen sprießte. Dieses wunderliche, noch mit seinen Wurzelfasern gespickte pflanzliche Treibgut wurde mit einem Mal menschlich durch einen kohlschwarzen Blick, der die Weiße des Kopfes noch stärker hervortreten ließ, ein Gegensatz, den das weiße Hemd und der gestärkte Kragen fortsetzten, die im Kontrast zu dem breitkrempigen Hut, der Halsbinde und dem Anzug standen, die stets schwarz waren.
Seine Vorlesungen waren nicht gerade lehrreich; niemals bereitete er sich darauf vor, denn er vertraute ganz dem körperlichen Charme, den das ausdrucksvolle Spiel seiner von einem nervösen Zucken verzerrten Lippen, aber vor allem seine rauhe, melodiöse Stimme auf sein Publikum ausübten: eine wahre Sirenenstimme, deren fremdartige Modulationen nicht nur an sein heimatliches Languedoc erinnerten, sondern mehr noch an regionale Besonderheiten, an sehr archaische Formen der Musik des gesprochenen Französisch, so daß Stimme und Gesicht in zwei verschiedenen sinnlichen Bereichen ein und denselben sowohl rustikalen wie beißenden Stil beschworen: den Stil jener Humanisten des 16. Jahrhunderts, Ärzte und Philosophen, deren Rasse er durch Geist und Körper fortzupflanzen schien.
Die zweite, manchmal auch die dritte Stunde waren der Vorführung von Kranken gewidmet; dann erlebten wir erstaunliche Nummern zwischen dem durchtriebenen Praktiker und Subjekten, die durch viele Jahre im Irrenhaus auf alle Übungen dieser Art trainiert waren; sie wußten genau, was man von ihnen erwartete, produzierten die Störungen auf einen Wink hin oder leisteten dem Dompteur gerade so viel Widerstand, um ihm Gelegenheit zu einem Bravourstück zu geben. Auch wenn sich die Zuschauer nicht hinters Licht führen ließen, waren sie dennoch von diesen Demonstrationen der Virtuosität fasziniert. Hatte sich einer die Aufmerksamkeit des Meisters verdient, so wurde er dadurch belohnt, daß dieser ihm einen Kranken für ein Gespräch unter vier Augen anvertraute. Keine Kontaktaufnahme mit wilden Indianern hat mich mehr eingeschüchtert als jener Vormittag, den ich mit einer in Wolljacken gehüllten alten Dame zubrachte, die sich mit einem verfaulten Hering in einem Eisblock verglich: äußerlich unversehrt, jedoch ständig in Gefahr, sich aufzulösen, sobald die schützende Hülle schmelzen würde.
Dieser etwas mystifizierende Gelehrte, Förderer von Werken der Synthese, deren breit angelegter Entwurf einem ziemlich enttäuschenden Positivismus dienstbar blieb, war ein Mann von großem 13Adel; das sollte er mir später, einen Tag nach dem Waffenstillstand, kurz vor seinem Tod beweisen, als er mir, schon fast erblindet, aus seinem Heimatdorf, in das er sich zurückgezogen hatte, einen aufmerksamen und taktvollen Brief schrieb, der keinen anderen Zweck haben konnte, als mich seiner Solidarität mit den ersten Opfern der Ereignisse zu versichern.
Ich habe stets bedauert, ihn nicht in seiner Jugend gekannt zu haben, als er, braungebrannt wie ein Konquistador und vor den wissenschaftlichen Perspektiven erschauernd, welche die Psychologie des 19. Jahrhunderts eröffnete, aufgebrochen war, sich der geistigen Eroberung der Neuen Welt zu widmen. In jener Art Liebe auf den ersten Blick, die zwischen ihm und der brasilianischen Gesellschaft entstehen sollte, ist gewiß ein geheimnisvolles Phänomen zutage getreten, als zwei Fragmente eines vierhundert Jahre alten Europas – von dem einige wesentliche Elemente erhalten geblieben waren: auf der einen Seite in einer Protestantenfamilie im Süden Frankreichs, auf der anderen in einer äußerst raffinierten und leicht dekadenten Bourgeoisie, die in den Tropen gleichsam in Zeitlupe lebte – einander begegneten, erkannten und fast miteinander verschmolzen. Der Fehler von Georges Dumas war, daß er sich des wahrhaft archäologischen Charakters dieser Konstellation nie bewußt wurde. Das einzige Brasilien, das er zu verführen vermochte (und dem ein kurzer Aufstieg zur Macht die Illusion gab, das wahre zu sein), war das Brasilien jener Großgrundbesitzer, die ihr Kapital schrittweise in Industrien mit ausländischer Beteiligung investierten und die in einem Parlamentarismus der guten Gesellschaft einen ideologischen Deckmantel suchten; eben jene, die unsere Studenten, Söhne von Immigranten oder Landjunkern, die mit ihrem Boden verbunden und durch die Schwankungen des Welthandels ruiniert waren, mit Groll den gran fino nannten, den großen Schlauen, das heißt das Feinste vom Feinen.
Ein Kuriosum: die Gründung der Universität von São Paulo, das große Lebenswerk von Georges Dumas, sollte jenen bescheidenen Klassen den Aufstieg durch Diplome ermöglichen, die ihnen Zugang zu Verwaltungsposten verschafften, so daß unsere Universitätsmission dazu beigetragen hat, eine neue Elite heranzubilden, die sich in dem Maße von uns abwenden sollte, in dem Dumas und in seinem Gefolge der Quai d’Orsay sich der Erkenntnis verschlossen, daß sie unsere kostbarste Schöpfung war, selbst wenn sie sich daranmachte, ein Feudalsystem zu vernichten, das uns zwar in Brasilien Zutritt verschafft hatte, aber nur, damit wir ihm einerseits als Garantie, andererseits als Zeitvertreib dienten. 14Aber an dem Abend des franko-amerikanischen Diners waren wir, meine Kollegen und ich – sowie unsere Frauen, die uns begleiteten –, noch nicht in der Lage, die unfreiwillige Rolle zu ermessen, die wir bei der Entwicklung der brasilianischen Gesellschaft spielen sollten. Wir waren viel zu sehr damit beschäftigt, uns gegenseitig zu bewachen und unsere möglichen Fauxpas zu beobachten; denn Georges Dumas hatte uns eingeschärft, daß wir uns darauf vorbereiten müßten, das Leben unserer neuen Herren zu führen: das heißt, den Automobilclub, die Kasinos und die Pferderennen zu besuchen. Das war etwas ganz Außergewöhnliches für junge Professoren, die vorher sechsundzwanzigtausend Francs im Jahr verdienten, und selbst dann noch – so selten waren diejenigen, die sich um die Expatriierung bewarben –, als man unsere Gehälter verdreifacht hatte.
»Vor allen Dingen«, hatte Dumas uns ermahnt, »müssen Sie gut gekleidet sein«, und, um uns zu beruhigen, mit rührender Naivität hinzugefügt, daß wir uns sehr preisgünstig unweit der Hallen bei einer Firma namens A la Croix de Jeanette einkleiden könnten, bei der er immer etwas zum Ausleihen gefunden hatte, als er noch junger Medizinstudent in Paris gewesen war.
Jedenfalls ahnten wir nicht, daß unsere kleine Gruppe in den nächsten vier oder fünf Jahren – von wenigen Ausnahmen abgesehen – die gesamte Belegschaft der ersten Klasse auf den kombinierten Fracht-Fahrgastschiffen der Compagnie des Transports Maritimes bilden sollten, die nach Südamerika fuhr. Man hatte uns die zweite Klasse auf dem einzigen Luxusdampfer, der diese Linie befuhr, oder die erste Klasse auf bescheideneren Schiffen angeboten. Die Intriganten entschieden sich für die erste Lösung und bezahlten den Mehrpreis aus eigener Tasche; so hofften sie, mit Botschaftern in Kontakt zu kommen, wovon sie sich problematische Vorteile versprachen. Wir anderen nahmen die kombinierten Schiffe, die zwar sechs Tage länger unterwegs waren, aber auf denen wir die Herren waren und die in vielen Häfen anlegten.
Ich wünschte mir heute, ich wäre damals vor zwanzig Jahren in der Lage gewesen, den Wert des unerhörten, wahrhaft königlichen Vorrechts richtig zu würdigen, das darin bestand, daß acht bis zehn Passagiere allein über Deck und Kabinen, über Rauchsalon und Speisesaal eines Schiffs verfügten, das gebaut war, hundert bis hun15dertfünfzig Personen zu beherbergen. Dieser Raum, den keine fremde Gegenwart beengte, war während der neunzehn Tage auf See gleichsam unser eigenes kleines Reich: unsere Apanage reiste mit uns. Nach zwei oder drei Überfahrten fanden wir sofort unsere Schiffe, unsere Gewohnheiten wieder; und noch bevor wir an Bord gingen, kannten wir bereits die Namen all der trefflichen Stewards aus Marseille, schnurrbärtig und mit festem Schuhwerk, die einen starken Knoblauchgeruch ausströmten, wenn sie uns die suprême de poularde oder die filets de turbot servierten. Die Mahlzeiten, die ohnehin für eine Gesellschaft von Pantagruels berechnet schienen, wurden noch üppiger durch die Tatsache, daß wir nur wenige waren, die die Schiffsküche in Anspruch nahmen.
Das Ende einer Zivilisation, der Beginn einer anderen, die plötzliche Entdeckung, daß unsere Welt vielleicht zu klein zu werden beginnt für die Menschen, die sie bewohnen – diese Wahrheiten konkretisierten sich für mich nicht so sehr durch die Zahlen, Statistiken und Revolutionen als vielmehr durch die telefonische Benachrichtigung, die ich vor einigen Wochen erhielt, als ich, nach fünfzehn Jahren, mit der Idee spielte, durch einen neuerlichen Besuch in Brasilien meine Jugend wiederzufinden, nämlich die Mitteilung, daß ich die Überfahrt vier Monate im voraus buchen müsse.
Und ich hatte mir vorgestellt, daß seit der Einrichtung von Flugverbindungen zwischen Europa und Südamerika nur noch wenige Exzentriker mit dem Schiff reisen würden! Leider macht man sich Illusionen, wenn man glaubt, daß das massenhafte Auftreten eines neuen Elements ein anderes entlastet. Durch die Constellation findet das Meer ebensowenig zur Ruhe zurück, wie der serienmäßige Verkauf von Grundstücken an der Côte d’Azur der Umgebung von Paris wieder zu ihrem ländlichen Charakter verhilft.
Aber zwischen den herrlichen Überfahrten von 1935 und derjenigen, auf die zu verzichten ich mich beeilte, hatte es 1941 noch eine weitere gegeben, von der ich ebenfalls nicht ahnte, in welchem Maße sie künftige Zeiten symbolisierte. Kurz nach dem Waffenstillstand hatte ich es der freundschaftlichen Aufmerksamkeit, mit der Robert H. Lowie und A. Métraux meine ethnographischen Arbeiten verfolgten, sowie der Wachsamkeit in Amerika lebender Verwandter zu verdanken, daß ich im Rahmen des Plans der Rockefeller-Stiftung zur Rettung europäischer Gelehrter, die von der deutschen Besatzung bedroht waren, eine Einladung in die New School for Social Research erhielt. Aber wie sollte ich ihr Folge leisten? Mein erster Gedanke war, eine Reise nach Brasilien vorzutäuschen, um dort meine vor dem Krieg begonnenen Studien fortzusetzen. In dem kleinen Erdgeschoß 16der brasilianischen Botschaft in Vichy spielte sich eine kurze, für mich tragische Szene ab, als ich die Verlängerung meines Visums beantragte. Der Botschafter Louis de Souza-Dantas, den ich gut kannte, der aber nicht anders gehandelt haben würde, hätte ich ihn nicht gekannt, hatte bereits den Stempel in der Hand und schickte sich an, ihn auf den Paß zu drücken, als ein willfähriger Botschaftsrat ihn kalt mit der Bemerkung unterbrach, daß er aufgrund einer neuen gesetzlichen Verfügung dazu nicht mehr befugt sei. Eine Sekunde lang blieb der Arm mit dem Stempel in der Luft hängen. Mit einem ängstlichen, fast flehenden Blick versuchte der Botschafter, seinen Mitarbeiter dazu zu bewegen, sich kurz abzuwenden, damit der Stempel sich auf das Papier senken könne, was es mir ermöglicht hätte, Frankreich zu verlassen und vielleicht in Brasilien einzureisen. Aber nichts geschah, das Auge des Botschaftsrats starrte unentwegt auf die Hand, die mechanisch neben das Dokument zurückfiel. Ich bekam kein Visum, und der Paß wurde mir mit einer bedauernden Geste zurückgegeben.
Ich kehrte zu meinem Haus in den Cevennen zurück, in dessen Nähe, nach Montpellier, der Zufall des Rückzugs mich verschlagen hatte, und ging dann nach Marseille. Dort schlenderte ich umher und hörte aus Hafengesprächen, daß in Kürze ein Schiff nach der Insel Martinique abgehen sollte. Ich klapperte alle Docks und Werften ab und erfuhr schließlich, daß das fragliche Schiff derselben Compagnie des Transports Maritimes gehörte, der die Universitätsmission von Frankreich in Brasilien all die vorangegangenen Jahre eine treue und äußerst exklusive Kundschaft beschert hatte. An einem stürmischen Wintertag im Februar 1941 fand ich in den ungeheizten und fast immer geschlossenen Büros endlich einen Beamten, der uns früher im Namen der Schiffahrtsgesellschaft begrüßt hatte. Ja, das Schiff existierte, ja, es sollte abfahren; aber es sei ausgeschlossen, daß ich es nehme. Warum? Ich hätte ja keinen Begriff davon, er könne es mir nicht erklären, es sei nicht wie früher. Aber wie denn? O, sehr langwierig, sehr beschwerlich, und ich auf einem solchen Schiff – das könne er sich nicht einmal im Traum vorstellen.
Der brave Mann sah in mir immer noch einen, wenn auch bescheidenen Botschafter der französischen Kultur; während ich mich bereits als gehetztes Wild fühlte, auf der Flucht vor dem Konzentrationslager. Zudem hatte ich die letzten beiden Jahre zunächst tief im Urwald und später, von einem Quartier zum anderen, auf einem wilden Rückzug zugebracht, der mich von der Maginotlinie nach Béziers verschlagen hatte – über die Sarthe, die Corrèze und den Aveyron: in Viehwaggons und Schafställen; die Skrupel meines Gesprächspartners 17schienen mir völlig unangebracht. Ich konnte mir durchaus vorstellen, daß ich auf den Weltmeeren mein umherirrendes Dasein wieder aufnahm, die Arbeiten und kargen Mahlzeiten einer Handvoll Matrosen teilen durfte, die der Zufall auf ein klandestines Schiff verschlagen hatte, daß ich auf dem Deck schlief, lange Tage der wohltuenden Gegenwart des Meeres ausgesetzt.
Schließlich erhielt ich meine Schiffskarte auf der Capitaine Paul Lemerle; aber erst am Tag der Abreise begann ich zu begreifen, nämlich als ich durch die Spaliere der mit Helmen und Maschinenpistolen ausgerüsteten Wachtposten ging, die den Kai absperrten und die Passagiere von jedem Kontakt mit ihren Angehörigen oder Freunden abschnitten, die sie begleiteten, wobei sie den Abschied durch Rippenstöße und wüste Beschimpfungen abkürzten: es war wahrhaftig kein einsames Abenteuer, vielmehr ein Auszug von Strafgefangenen. Mehr noch als von der Art und Weise, mit der man uns behandelte, war ich wie betäubt von unserer Vielzahl. Etwa dreihundertfünfzig Personen wurden in einen kleinen Dampfer gepfercht, der – wie ich sofort sah – nur zwei Kabinen mit insgesamt sieben Schlafplätzen enthielt. Eine von ihnen wurde drei Damen zugewiesen, in die andere sollten sich vier Männer teilen, zu denen auch ich gehörte, eine unerhörte Vergünstigung, die ich M. B. verdankte, der es als Zumutung empfand, einen seiner früheren Luxusgäste wie Schlachtvieh zu transportieren. Denn alle meine Reisegefährten, Männer, Frauen und Kinder, wurden in luft- und lichtlosen Frachträumen verstaut, in denen Schiffsschreiner notdürftig Betten übereinandergebaut und mit Strohsäcken bestückt hatten. Einer der vier privilegierten Männer war ein österreichischer Metallwarenhändler, der bestimmt wußte, was ihn diese Annehmlichkeit gekostet hatte; der andere ein junger »béké« – ein reicher Kreole –, den der Krieg aus seiner Heimat Martinique vertrieben hatte und der eine Sonderbehandlung verdiente, da er auf diesem Schiff der einzige war, der nicht als Jude, Ausländer oder Anarchist galt; der vierte schließlich, ein merkwürdiger Nordafrikaner, der angeblich für nur wenige Tage nach New York reiste (ein extravagantes Vorhaben, wenn man bedenkt, daß wir drei Monate unterwegs sein sollten), trug einen Degas in seinem Koffer und schien, obwohl er Jude war wie ich, bei allen Polizeiämtern, Sicherheitsdiensten und Gendarmerien der Kolonien und Protektorate persona grata zu sein, ein unter den damaligen Verhältnissen erstaunliches Geheimnis, in das ich nie habe dringen können. 18Unter dem Gesindel, wie die Gendarmen zu sagen pflegten, befanden sich unter anderen André Breton und Victor Serge. André Breton, der sich auf dieser Galeere sehr unbehaglich fühlte, wanderte ruhelos auf den wenigen menschenleeren Teilen des Decks auf und ab; ganz in Plüsch gehüllt, ähnelte er einem blauen Bären. Zwischen uns entspann sich eine dauerhafte Freundschaft durch einen Briefwechsel, den wir während dieser endlosen Reise ziemlich lange fortsetzten und in dem wir über das Verhältnis zwischen ästhetischer Schönheit und absoluter Originalität diskutierten.
Victor Serge dagegen und seine Vergangenheit als Gefährte Lenins schüchterten mich ein, wobei ich gleichzeitig die größte Schwierigkeit empfand, diese Vergangenheit mit seiner Person in Einklang zu bringen, die eher an eine alte Jungfer mit Prinzipien erinnerte. Sein bartloses Gesicht, seine feinen Züge, seine helle Stimme sowie sein steifes, bedächtiges Benehmen hatten jenen fast asexuellen Charakter, den ich später bei den buddhistischen Mönchen an der birmanischen Grenze kennenlernen sollte, weit entfernt von dem männlichen Temperament und der überschäumenden Vitalität, welche die französische Tradition mit den sogenannten subversiven Tätigkeiten verbindet. Das liegt daran, daß kulturelle Typen, die in jeder Gesellschaft in ähnlicher Form immer wiederkehren, weil um sehr einfache Gegensätze gruppiert, von jeder Gruppe benutzt werden, um unterschiedliche soziale Funktionen zu erfüllen. Der Typus von Victor Serge hatte sich in einer revolutionären Laufbahn in Rußland verwirklichen können; was wäre anderswo aus ihm geworden? Sicherlich wären die Beziehungen zwischen zwei Gesellschaften leichter, wenn es möglich wäre, mit Hilfe einer Art Raster ein System von Entsprechungen zwischen den Methoden aufzustellen, mit deren Hilfe jede von ihnen analoge menschliche Typen verwendet, um unterschiedliche soziale Funktionen zu erfüllen. Statt sich wie heute darauf zu beschränken, Ärzte mit Ärzten, Industrielle mit Industriellen und Professoren mit Professoren zu vergleichen, würde man dann vielleicht erkennen, daß es zwischen Individuen und Rollen weit subtilere Entsprechungen gibt.
Außer seiner Ladung an Menschen transportierte das Schiff ich weiß nicht welches klandestine Material; wir verbrachten eine erstaunlich lange Zeit auf dem Mittelmeer und an der afrikanischen Westküste, flüchteten von einem Hafen in den anderen, um, wie es schien, der Kontrolle der englischen Flotte zu entgehen. Die Inhaber von französischen Pässen durften zuweilen an Land gehen, die anderen blieben auf den wenigen Quadratzentimetern zusammengedrängt, die jedem einzelnen zur Verfügung standen, auf einem Deck, das sich in der 19Hitze – die in dem Maße wuchs, in dem wir uns den Tropen näherten, und die den Aufenthalt in den Frachträumen unerträglich machte – allmählich in eine Mischung aus Speisesaal, Schlafraum, Kinderzimmer, Waschküche und Solarium verwandelte. Am unangenehmsten war jedoch, was man beim Militär die »Körperpflege« nannte. An der Reling entlang, Backbord für die Männer und Steuerbord für die Frauen, hatte die Schiffsmannschaft zwei Reihen von Bretterbuden errichtet, ohne Luft und Licht; in der einen befanden sich einige Duschhähne, aus denen nur morgens Wasser kam; die andere, in der sich eine lange, ins Meer mündende Rinne aus grob mit Zink verkleidetem Holz befand, diente einem leicht zu erratenden Zweck. Die Gegner einer allzu weitgehenden Promiskuität, denen das kollektive, im übrigen durch das Schlingern erschwerte Hocken widerstrebte, konnten sich nur dadurch behelfen, daß sie schon in aller Frühe aufstanden, und während der ganzen Überfahrt organisierte sich eine Art Wettrennen zwischen den Zartbesaiteten, so daß man schließlich nur um drei Uhr morgens mit einer relativen Einsamkeit rechnen durfte. Und am Ende legte man sich überhaupt nicht mehr schlafen. Dasselbe passierte mit den Duschen, bei denen es zwar nicht um dieselbe Schamhaftigkeit, aber darum ging, sich einen Platz im Gedränge zu erkämpfen, in dem ein spärliches und bei der Berührung mit so vielen feuchten Leibern gleichsam verdunstendes Wasser nicht einmal mehr die Haut erreichte. In beiden Fällen beeilte man sich, fertig zu werden und diesen Ort zu verlassen, denn die ungelüfteten Baracken bestanden aus frischen, noch harzigen Fichtenholzbrettern, die, mit schmutzigem Wasser, Urin und Seeluft getränkt, unter der Sonne zu gären begannen und einen warmen, süßlichen, ekelerregenden Geruch ausströmten, der zusammen mit anderen Dünsten bald unerträglich wurde, besonders bei hohem Wellengang.
Als wir nach einem Monat der Überfahrt mitten in der Nacht den Leuchtturm von Fort-de-France erblickten, ließ nicht die Hoffnung auf ein endlich genießbares Mahl, ein frischbezogenes Bett, eine ruhige Nacht die Herzen der Passagiere höher schlagen. Alle jene Menschen, die bis zu dem Augenblick, da sie an Bord gingen, die »Annehmlichkeiten« der Zivilisation genossen hatten, hatten mehr als unter Hunger, Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Promiskuität und Verachtung unter dem aufgezwungenen, durch die Hitze noch schlimmer gewordenen Dreck gelitten, in dem sie die letzten vier Wochen hatten verbringen müssen. Es waren hübsche junge Frauen an Bord; Flirts hatten sich angebahnt, man war einander nähergekommen. Für sie war die Tatsache, vor der Trennung endlich in einem günstigeren 20Licht zu erscheinen, mehr als eine Frage der Koketterie: sie bedeutete einen einzulösenden Wechsel, eine zu begleichende Schuld, den Beweis dafür, daß sie der vielen Aufmerksamkeiten nicht von Grund auf unwürdig waren, die man ihnen, wie sie mit rührendem Zartgefühl glaubten, lediglich geborgt hatte. Es lag also nicht nur etwas Komisches, sondern auch etwas Taktvolles und Pathetisches in jenem Schrei, der aus allen Kehlen drang und den traditionellen Ruf der Seefahrer »Land! Land!« ersetzte: »Ein Bad! endlich ein Bad!«, ertönte es allenthalben, während man fieberhaft das letzte Stück Seife, ein sauber gebliebenes Handtuch, ein für dieses große Ereignis aufbewahrtes Hemd zusammenklaubte.
Abgesehen davon, daß dieser hydrotherapeutische Traum einen übertriebenen optimistischen Glauben an die Wohltaten der Zivilisation zum Ausdruck brachte, die man von vier Jahrhunderten Kolonisation erwarten darf (denn in Fort-de-France sind Badezimmer eine Seltenheit), sollten die Passagiere sehr schnell erfahren, daß ihr dreckiges und überfülltes Schiff eine Idylle gewesen war, verglichen mit dem Empfang, den uns, kaum hatten wir angelegt, eine Soldateska bereitete, die einer kollektiven Form geistiger Zerrüttung zum Opfer gefallen war, welche die Aufmerksamkeit des Ethnologen verdient hätte, wäre dieser nicht damit beschäftigt gewesen, all seine intellektuellen Kräfte aufzubieten, um den widerwärtigen Folgen dieser Geistesstörung zu entrinnen.
Die meisten Franzosen hatten einen sehr »wunderlichen« Krieg mitgemacht; den Krieg der Offiziere, die in Martinique in Garnison lagen, kennzeichnet kein Superlativ, der ihm eine genaue Qualität bescheinigte. Ihre einzige Aufgabe, nämlich das Gold der Bank von Frankreich zu schützen, hatte sich zu einem Alptraum entwickelt, an dem der übermäßige Konsum von Punsch nur zum Teil die Schuld trug, denn eine weit heimtückischere, aber darum nicht minder entscheidende Rolle fiel dabei der Inselsituation zu, der Entfernung von der Metropole sowie einer historischen Tradition voller Piratenerinnerungen, in der die nordamerikanische Überwachung und die geheimen Missionen der deutschen Unterseeflotte mühelos die Stelle der einstigen Protagonisten mit den goldenen Ohrringen, dem ausgestochenen Auge und dem Holzbein einnahmen. So war ein Belagerungsfieber entstanden, das, obwohl aus gutem Grund kein einziges Gefecht stattgefunden hatte, nichtsdestoweniger bei den meisten Leuten ein Gefühl der Panik erzeugte. Auch die Reden der Inselbewohner zeugten, wenn auch weit prosaischer, von dieser Geisteshaltung: »Es gab keinen Kabeljau mehr, die Insel war futsch«, konnte man oft hören, während andere erklärten, daß Hitler niemand ande21res sei als Jesus Christus, auf die Erde herabgestiegen, um die weiße Rasse dafür zu bestrafen, daß sie in den letzten zweitausend Jahren seine Lehren so schlecht befolgt hatte.
Zur Zeit des Waffenstillstands schlossen sich die Unteroffiziere keineswegs dem Freien Frankreich an, sondern fühlten sich der Regierung der Hauptstadt verpflichtet. Sie blieben weiterhin »draußen«; ihr seit Monaten körperlich wie moralisch ausgezehrter Widerstand hätte sie ohnehin außer Stand gesetzt zu kämpfen, falls es je dazu hätte kommen sollen; ihr kranker Geist fand dadurch zu einer gewissen Ruhe zurück, daß er einen realen, aber weit entfernten und damit unsichtbar und gleichsam abstrakt gewordenen Feind – die Deutschen – durch einen imaginären Feind ersetzte, der den doppelten Vorzug besaß, sowohl nah wie greifbar zu sein: die Amerikaner. Im übrigen kreuzten ständig zwei nordamerikanische Kriegsschiffe vor der Küste. Ein geschickter Adjutant des Oberbefehlshabers der französischen Streitkräfte aß täglich bei ihnen an Bord zu Mittag, während sein Vorgesetzter sich befleißigte, bei seiner Truppe Haß und Wut gegen die Angelsachsen zu schüren.
Von den Feinden, an denen sie ihre seit Monaten angestauten Aggressionen auslassen konnten, weil sie verantwortlich waren für eine Niederlage, mit der sie nichts zu schaffen hatten, da sie an den Kämpfen nicht teilgenommen hatten, aber für die sie sich in anderem Sinn dennoch vage schuldig fühlten (hatten sie nicht das beste Beispiel für Sorglosigkeit, Illusion und Schlaffheit geliefert, denen zumindest teilweise das Land zum Opfer gefallen war?) – von diesen Feinden lieferte ihnen unser Schiff eine besonders gut ausgewählte Mustersammlung. So als hätten die Autoritäten von Vichy, indem sie uns in Martinique einreisen ließen, diesen Herren eine Ladung Sündenböcke geschickt, um ihre Galle zu erleichtern. Die Truppe, die Shorts, Helme und Waffen trug und sich im Büro des Kommandanten breitmachte, schien uns, die wir einzeln vor ihnen erschienen, weniger einem Verhör über unsere Anwesenheit an Bord zu unterziehen, als sich in wüsten Beschimpfungen zu ergehen, die wir uns gefallen lassen mußten. Wer kein Franzose war, galt als Feind; und wer es war, dem sprach man diese Eigenschaft gröblich ab und beschuldigte ihn gleichzeitig, durch seine Abreise sein Land feige im Stich gelassen zu haben, ein Vorwurf, der nicht nur widersprüchlich, sondern auch sehr seltsam klang im Mund von Männern, die seit der Kriegserklärung im Schutz der Monroedoktrin gelebt hatten …
Bäder, lebt wohl! Es wurde beschlossen, alle Passagiere in einem »Lazarett« genannten Lager auf der anderen Seite der Bucht zu internieren. Nur drei Personen erhielten die Genehmigung, an Land 22zu gehen: der »béké«, der unbeteiligt war, der geheimnisvolle Tunesier nach Vorlage eines Dokuments, und ich selbst aufgrund einer besonderen Gnade, die dem Kommandanten des Schiffskontrollamts gewährt wurde, denn es hatte sich herausgestellt, daß wir alte Bekannte waren: er war der zweite Offizier auf einem der Schiffe gewesen, auf denen ich vor dem Krieg gefahren war.
Punkt zwei Uhr nachmittags glich Fort-de-France einer toten Stadt; unbewohnt schienen die Bretterbuden am Rand eines langgestreckten, mit Palmen bestandenen und mit Unkraut überwucherten Platzes zu sein, der einem unbebauten Gelände glich, von dem man lediglich die mit Grünspan überzogenen Statuen von Josephine Tascher de la Pagerie und Beauharnais wegzuschaffen vergessen hatte. Kaum hatte man uns in einem ausgestorbenen Hotel untergebracht, stürzten wir uns, noch verwirrt von den Ereignissen des Vormittags, in einen Mietwagen und fuhren zum Lazarett, um unsere Gefährten, insbesondere zwei junge deutsche Frauen zu trösten, die uns während der Überfahrt den Eindruck vermittelt hatten, als hätten sie es sehr eilig, ihre Ehemänner zu betrügen, sobald ihnen die Möglichkeit gegeben würde, sich zu waschen. In dieser Hinsicht vergrößerte die Sache mit dem Lazarett unsere Enttäuschung.
Während sich der alte Ford im ersten Gang durch unebene Pfade kämpfte und ich mit Entzücken die vielen Pflanzen wiederentdeckte, die mir aus Amazonien vertraut waren, hier aber andere Namen trugen, dachte ich an die unerfreulichen Szenen, die sich kurz zuvor abgespielt hatten, und ich versuchte, sie mit ähnlichen Erfahrungen zu verbinden. Denn meinen Gefährten, die nach einem oft friedlichen Dasein dem Abenteuer ausgesetzt waren, erschien jene Mischung aus Bosheit und Dummheit als ein unerhörtes, einmaliges, außergewöhnliches Phänomen, als eine in der Geschichte noch nie dagewesene internationale Katastrophe, die sowohl über sie als einzelne als auch über ihre Gefängniswärter hereinbrach. Für mich, der ich die Welt gesehen und mich im Lauf der vergangenen Jahre schon öfter in ungewöhnlichen Situationen befunden hatte, war diese Art von Erfahrungen nicht ganz ungewohnt. Ich wußte, daß sie langsam, aber sicher ausbrechen würden wie der gefährliche Schweiß einer ihrer Zahl sowie ihrer täglich komplizierter werdenden Probleme überdrüssigen Menschheit, so als wäre ihre Epidermis durch die Reibung 23gereizt, die der durch die Intensität der Kommunikation verstärkte materielle und intellektuelle Austausch erzeugt. Auf dieser französischen Erde hatten Krieg und Niederlage lediglich einen universellen Prozeß beschleunigt und die Ausbreitung einer bleibenden Seuche erleichtert, die niemals vollständig vom Antlitz der Welt verschwinden, sondern, wenn sie sich irgendwo abschwächen sollte, sofort an einem anderen Punkt wieder aufflammen würde. All diesen unsinnigen, haßerfüllten und leichtgläubigen Vorstellungen, welche die sozialen Gruppen wie Eiter ausscheiden, wenn es ihnen an Raum zu mangeln beginnt, begegnete ich heute nicht zum ersten Mal.
Erst vor kurzem, wenige Monate vor der Kriegserklärung, als ich mich auf der Rückreise nach Frankreich befand und durch die Altstadt von Bahia schlenderte, besichtigte ich jene alten Kirchen, von denen es dreihundertfünfundsechzig geben soll, eine für jeden Tag des Jahres, unterschieden auch in Stil und Innenausstattung je nach den Tagen und Jahreszeiten. Ich war ganz darin vertieft, architektonische Details zu fotografieren, verfolgt von einer Schar halbnackter Negerkinder, die mich bestürmten: tira o retrato! tira o retrato!« »Bitte, ein Foto!« Gerührt von einer so anmutigen Bettelei – um ein Foto, das sie, anders als eine Münze, niemals zu Gesicht bekommen würden –, war ich bereit, die Kinder zufriedenzustellen und die Kamera auf sie zu richten. Ich war noch keine hundert Meter weitergegangen, als sich eine Hand auf meine Schulter legte: zwei Zivilbeamte, die mir Schritt für Schritt auf meinem Spaziergang gefolgt waren, belehrten mich, daß ich einen feindseligen Akt gegenüber Brasilien begangen hätte – sicherlich weil das Foto, in Europa veröffentlicht, der Legende Vorschub leisten könnte, daß es Brasilianer mit schwarzer Hautfarbe gibt und daß die Kinder von Bahia barfuß herumlaufen. Ich wurde arretiert, zum Glück nur für kurze Zeit, denn das Schiff fuhr ab.
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