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© 2018 Gerhard Markert

Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7528-1829-1

Inhaltsverzeichnis

  1. Wahrheit und Wirklichkeit
  2. Struktur und Prozess in der Biosphäre
  3. Schöpfung Gottes
  4. Gottes Reich

Vorwort

Schulaufsätze waren für mich Qual und Gräuel. Trotzdem fing ich in den 60er Jahren ‘aus freien Stücken’ an, mir Gedanken aus dem Kopf zu schreiben, um einer geistigen Verstopfung zuvorzukommen – vor allem inspiriert durch Dietrich von Oppen. Unter dem Titel »Schöpfung heute« schrieb ich ein erstes Manuskript. Daneben gewannen auch ethische Fragen der Gegenwart und Zukunft an Bedeutung. Einiges davon konnte ich im örtlichen Gemeindeblatt unterbringen. Als in den 70er Jahren die biologische Evolution neue Aktualität erlangte, wurde sie Schwerpunkt meiner Lektüre und Gegenstand meines Schreibens.

All das sammelte sich an wie Heu droben auf den Matten. Als ich dann im Sommer 2006 daran ging, ‘das Heu aus den Stadeln zu Tal zu bringen’, merkte ich, dass ich vieles ganz gut in vier Scheunen unterbringen konnte: Glauben und Wissen, Schöpfung, Heilsgeschichte, Ethik. Einige Matten mussten allerdings noch nachgemäht werden. Und das Gras wächst weiter – Gott sei Dank! In der ersten Scheune sammelte ich unter dem Titel »Wahrheit und Wirklichkeit« naturphilosophisch-historische Texte. In der zweiten »Struktur und Prozess in der Biosphäre« geht es um naturwissenschaftliche und systemtheoretische Grundlagen unter dem Aspekt der Evolution. Im dritten Teil »Schöpfung Gottes« sammelte ich Betrachtungen zur religiösen Entwicklung der Menschheit aus der Sicht der Bibel, vor allem unter dem Aspekt 'Priestertum und Freiheit'. Im vierten Teil »Gottes Reich« steht im Mittelpunkt die Bergpredigt – das 'Grundgesetz im Reich Gottes'.

Um ihre Ursprünglichkeit zu behalten, blieben die Texte weitgehend unverändert, erhielten dafür 'Zeitmarken' und ergänzende Abschnitte, so dass das Ganze eher als Chronik zu sehen ist.

Schöpfung heute

Der Titel ist nicht eindeutig, aber er ist auch mehrdeutig gemeint: Der Begriff Schöpfung steht für Wirken und Werk Gottes. In dem heute steckt nicht nur die Frage nach der heutigen Sicht sondern auch die nach der Fortdauer bis in die heutige Zeit.

Der biblische Schöpfungsbericht besteht bekanntlich aus zwei Fassungen, der älteren vom ‘Jahwist’ und der jüngeren von den Priestern. Die beiden unterschiedlichen Schöpfungsberichte sind das Ergebnis der geistigen Verarbeitung zweier verschiedener Weltbilder. Die Kosmologie der Hirtennomaden und das mythologische Weltbild Babylons mussten auf die gleiche Glaubensaussage über Gott den Schöpfer bezogen werden:

Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Wesen und Dingen.

Wir dürfen uns also nicht wundern, wenn Noah als Utnapischtim in der mesopotamischen Mythologie erscheint. Wer daraus einen heidnischen Ursprung der Bibel ableitet, hat ihre Aussage nicht verstanden. Geschichtliche Erfahrung und wissenschaftliche Weisheit der Menschen aufzugreifen und auf Gottes Botschaft zu beziehen, bleibt bis auf den heutigen Tag die Aufgabe jener, die an Gott glauben. Das galt schon für die Propheten und Evangelisten, für den Verfasser der Apokalypse, ebenso für Augustinus und Thomas von Aquin, aber auch für Johannes Keppler, Joachim Illies und Carl Friedrich von Weizsäcker.

‘Schöpfung, Glaube und Evolution’ war das Thema einer Vortragsserie auf dem Hamburger Kirchentag 1981 - und immer noch das gleiche Bild der Fronten der Wissenden und der Angefochtenen. Es fehlte die Unbefangenheit der Glaubenden, Gottes Schöpfung zu begreifen, - aber auch die offene Demut der Wissenschaftler.

Einige hundert Meter von dem Uni-Hörsaal entfernt, im Congress-Centrum, hatte Manfred Eigen ein Dreivierteljahr vorher in einer Diskussion gesagt: „Seien Sie doch nicht so arrogant, anzunehmen, dass ein Schöpfer sich so verhalten muss, wie Sie sich vorstellen können.”

Kurz nach dem Kirchentag erschien Hoimar von Ditfurths Buch ‘Wir sind nicht nur von dieser Welt’. Dort ist in der Einleitung zu lesen: „Wir sind heute frei, die Frage nach der Vereinbarkeit religiöser und wissenschaftlicher Weltdeutung erneut aufzugreifen, unbelastet von den Vorwürfen und Vorurteilen der Vergangenheit. […] Die Wiedergewinnung eines einheitlichen, in sich geschlossenen Weltbildes ist in greifbare Nähe gerückt.” Auf Seite 205 ist zu lesen: „Dem Mittelalter verdanken wir die Einsicht, dass Gott und das Jenseits sich nicht beweisen lassen. Der modernen Naturwissenschaft verdanken wir die Erkenntnis, dass die Möglichkeit der Existenz Gottes und der Transzendenz auf keine Weise widerlegt werden kann.” In Bad Herrenalb hatte ich Gelegenheit, Ditfurth in einer zwanglosen Runde persönlich anzusprechen. Er signierte mir sein Buch; ich war aber enttäuscht, als er sich im Gespräch ausweichend verhielt, wo er doch im Gedruckten so bekennerhaft formulierte.

Im Zeitalter der Galaxienflucht und Doppelhelix kann (muss?) eine neue Genesis geschrieben werden, die unsere heutigen Kenntnisse und Modelle der Wirklichkeit mit der Wahrheit der Gottesbotschaft wieder in Gleichklang bringt. Das ist weder Verrat an der Bibel, noch Vergewaltigung der Wissenschaft.

Schöpfung und Evolution sind zwei sich ergänzende Aussagen über die gleiche eine Wirklichkeit. Aber was ist Wirklichkeit?

I.

Wahrheit und Wirklichkeit

Dieses Kapitel behandelt hauptsächlich die geisteswissenschaftlichen Randbedingungen der Naturwissenschaften.

Aus früheren Ansätzen heraus entstanden die Abschnitte dieses Kapitels etwa Mitte der 80er Jahre. Einige kamen damals allerdings nicht über das Konzept hinaus. Es geht hier darum, das geistige Umfeld darzustellen, das für eine naturwissenschaftliche Welterkenntnis die Voraussetzung ist, oder anders gesagt: die Verträglichkeit von Wirklichkeit und Wahrheit zu erreichen. Aber: „Was ist Wahrheit?“ (Pilatus Joh. 18,38) Und was ist Wirklichkeit?

Wir verwenden die beiden Wörter mit unterschiedlichem Sinngehalt, aber was verstehen wir darunter?

„Wahrheit ist die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand; ein unabhängig vom Gegenstand gültiges Wahrheitskriterium gibt es nicht.“ „Wirklichkeit ist in der Philosophie ein unterschiedlich definierter Inbegriff des wahrhaft Seienden und Wirkenden.“ Das sind Definitionen aus einem Lexikon; aber kann man damit etwas anfangen?

Die Aussagen von Theologie und Naturwissenschaften über die eine Welt liegen auf zwei verschiedenen Ebenen: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat“, ist Glaubenswahrheit. Dass ich als Mensch lebe, ist Wirklichkeit.

Glauben und Wissen - Die eine Wirklichkeit
Kirche und Weltbild - Wie die Theologen ins Abseits kamen
Geist und Materie - Gedanken um das Wesen der Welt
Begriffe des Unbegreiflichen - Wie der Mensch den Horizont verlor
Der Kosmos – real? - Die Wirklichkeit des Universums
Ursache und Ziel - Kausalität kybernetisch betrachtet
Gesetz und Zufall - Die Mathematik der Wechselwirkungen
Ordnung und Sinn - Entropie – das Maß aller Dinge?
Schöpfung - Evolution - Die Frage um das Oder

Glauben und Wissen

Die eine Wirklichkeit

„Gott? - Diese Hypothese benötige ich nicht in meiner Theorie!” antwortete Laplace auf Napoleons Frage, wo denn in seiner Theorie über die Entstehung des Planetensystems Gott vorkomme. Dieses Selbstbewusstsein war gewachsen in den Jahrhunderten der ‘Auseinandersetzung’ von Kirche und Wissenschaft seit den Tagen Giordano Brunos und Galileis.

Vor dem festgefügten Gebäude der klassischen Physik sah sich die Kirche (die Papstkirche sehr spät) schließlich gezwungen, die Zuständigkeitsbereiche von Theologie und Naturwissenschaft klar abzugrenzen. Die offensichtlichen Erfolge der Naturwissenschaften begünstigten einen oberflächlichen Materialismus. Das ‘Ich glaube nur, was ich sehe’ des einfachen Volkes war genährt von dem nicht verstandenen Prinzip des Objektivismus‘, musste aber die Theologen so beunruhigen, dass sie nicht umhin konnten, diese Einstellung ernst zu nehmen.

Dabei beachtete kaum jemand, dass die Newton’sche Mechanik eine offensichtliche Erfahrung des Menschen nicht beschreiben konnte: den einseitigen Ablauf der Zeit, die Vergänglichkeit. Die klassische Physik ist umkehrbar. Die Gesetze gelten ebenso für einen Vorgang, der in entgegengesetzer Richtung abläuft. Erst mit dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik bekam die Zeit auch in der Physik eine eindeutige Richtung. Die Relativitätstheorie verband dann noch Zeit und Raum zu einer Einheit und machte damit auch den Raum ‘vergänglich’ - mit allem, was darinnen ist. Das expandierende Weltall, die Flucht der Galaxien wurde messbar. Das All verlor seinen räumlichen Nullpunkt und erhielt einen zeitlichen: Was war vor der Zeit Null?

Gibt es Gesetze, nach denen Materie entstehen und sich entwickeln konnte? Wohin dehnt sich das All aus?

Der ‘Rand des Universums’ - nirgends und überall - ist als Hintergrundstrahlung sein historischer Anfang. Das Licht der Quasare scheint als Botschaft aus der Frühzeit des Universums.

Die Menschheit wusste noch nie so viel von der Welt, wie heute, aber noch nie verlor sie sich so im Unfassbaren, wie in unserer Zeit. Ist der Mensch nur ein ‘Zigeuner am Rande des Universums’? Hat er nicht das Recht, in einem isotropen, koordinatenlosen Raum seinen Nullpunkt selbst festzulegen? Wenn das All keine natürliche Mitte hat, hindert den Menschen nichts daran, sich in die Mitte seiner Welt zu stellen.

*

Eine Physikergeneration nach der anderen spürte immer eifriger den letzten Urgründen nach, objektivierte die Welt, zerlegte und reduzierte sie, beschrieb sie in Modellen - und entfernte sich immer weiter vom Anschaulichen.

Die alte Streitfrage ‘Licht - Welle oder Teilchen’ löste sich auf in einem ‘sowohl-als auch’, d.h. in einem ‘weder-noch’. Im Reich des Unanschaulichen gibt es keine ‘Dinge’ sondern nur noch Modelle, keine ‘Teilchen’ sondern nur noch Ereignisse als Antwort der Materie auf Fragen des Physikers.

Kann es noch Kausalität geben, wo es keine definierten Dinge an sich mehr gibt?

Verlor die Wahrscheinlichkeit ihr Lückenbüßerdasein als Platzhalter für das noch-nicht-Bekannte? Dem hielt Albert Einstein entgegen: „Gott würfelt nicht“!

Wie sieht das Wissen aus, das heute eine Anfechtung oder Hilfe für den Glauben sein kann?

Kirche und Weltbild

Wie die Theologen ins Abseits kamen

Johann Conrad Lichtenberg - Vater des berühmten Georg Christoph - soll, als er noch Dorfpfarrer in Ober-Ramstadt war, von seinen Bauern gebeten worden sein, doch bald wieder einmal ‘von den Sternen’ zu predigen. Lichtenberg war nämlich nicht nur ein guter Seelenhirt, der es bis zum Superintendenten für den Sprengel Darmstadt brachte, und Dichter von Kantatentexten für seinen Schwager, den Hofkapellmeister Christoph Graupner, sondern auch Baumeister von Kirchen und Rathäusern, Experimentalphysiker und begeisterter Astronom. Wenn ein Pfarrer in jener Zeit ein Universalgelehrter war, musste er gewiss eine entsprechende Veranlagung haben, aber er hatte auch noch die Chance, das Wissen des abendländischen Kulturkreises zu überblicken. Lichtenbergs Interesse an naturwissenschaftlicher Klarheit hatte wahrscheinlich auch handfeste Motive eines Seelsorgers, der täglich mit Aberglauben konfrontiert wurde. Fünfzig Jahre früher schrieb einer seiner Vorgänger, der Pfarrer Konrad Kalenberg in die Chronik: „Anno 1680 vom 16. Dezembris biß lang in den Januarium des folgenden 1681t. Jahrs, ist ein schrecklich Comet gesehen worden. ... Anno 1681 den 25. Jan. zwischen 4-5 Uhr morgens ist ein schrecklich Erdbeben auf den Cometen gefolget." Als ein Jahr später der Main eine Überschwemmungskatastrophe verursachte und 1683 die Türken Wien belagerten, sah man auch darin noch Auswirkungen des Kometen.

Anno 1751 - im Todesjahr von Johann Conrad Lichtenberg - erschien der erste Band der Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert, die sich vorgenommen hatten, das gesamte Wissen ihrer Zeit in einem Nachschlagewerk zusammenzufassen. Es dauerte Jahrzehnte, bis das dreißigbändige Werk abgeschlossen war - umfangreich, aber doch überschaubar und den Interessierten zugänglich, sofern sie das Geld dazu hatten.

Damals waren noch viele Pfarrer Universalgelehrte - Seelenhirte und wissenschaftliche Autorität der Gemeinde in einer Person. Zweihundert Jahre später schrieb Karl Barth, einer der großen Theologen des

20. Jahrhunderts, über das Verhältnis der Theologie zu den Naturwissenschaften: „Die Naturwissenschaft hat freien Raum jenseits dessen, was die Theologie als das Werk des Schöpfers zu beschreiben hat. Und die Theologie darf und muss sich da frei bewegen, wo eine Naturwissenschaft ihre gegebene Grenze hat.”

Barths Abgrenzung zwischen Theologie und Naturwissenschaft entsprach dem Zeitgeist, war historisch und biographisch gesehen verständlich und wissenschaftlich notwendig, erweist sich aber in der existentiellen Praxis als unrealistisch, d.h. weder möglich, noch nötig, noch verantwortbar. Historisch gesehen war der Bruch zwischen Theologie und Naturwissenschaft vorgezeichnet, als Positivismus und Reduktionismus als Grundprinzipien naturwissenschaftlicher Arbeitsweise eingeführt wurden. D.h. als man die Auswertung von Tatsachen zum einzigen Erkenntnisweg erklärte und außerdem noch die Hypothese aufstellte, alle Phänomene seien auf eine Summe von einfacheren Erscheinungen zurückführbar. Soziologie sei biologisch erklärbar, die Biologie chemisch und die Chemie mit Physik, die nichts anderes sei als realisierte Mathematik.

Die methodische Selbstbeschränkung im Positivismus erwies sich als unermessliche Triebkraft bei der stürmischen Entwicklung der Naturwissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert. Daraus sollte aber auch mit klarer Logik folgen, dass die so gewonnene Erkenntnis nur innerhalb ihrer methodisch gesetzten Grenzen überprüfbar und damit nur dort gültig war. So gesehen gab Barth einen wissenschaftlich einwandfreien Sachverhalt wieder, als er die Aussagebereiche beider Wissenschaftsgebiete klar trennte.

Biographisch gesehen war ein Ausblenden der Naturwissenschaft verständlich. Unter den Pastoren waren die Universalgelehrten längst ausgestorben, - aber nicht nur weil die moderne Naturwissenschaft ‘atheistisch’ war. Man könnte sogar sagen, der Atheismus habe sich gerade deshalb so stark ausgebreitet, weil die Theologen das Feld geräumt hatten. Der Riss, der im Prozess gegen Galilei seinen Ursprung hatte, wurde immer größer. Eine der Triebkräfte war die stürmische Entwicklung der Naturwissenschaft selbst. Welcher Theologe konnte nebenbei den universalen Wissenszuwachs der Menschheit verkraften? Wie sich die Naturwissenschaft in der Zeitspanne eines Menschenlebens veränderte, sei in einer synoptischen Biographie, bezogen auf Karl Barth1, dargestellt:

Anno Domini 1886, als Karl Barth in Basel geboren wurde, gelang dem Karlsruher Physiker Heinrich Hertz der experimentelle Nachweis, dass es elektromagnetische Wellen gab, so wie sie nach der Maxwell’schen Theorie existieren sollten.

In den Neunziger Jahren, als Karl Barth die Lerberschule in der Berner Nägeligasse besuchte, hielt Ludwig Boltzmann an der Universität München Vorlesungen über seine Gastheorie, die - abweichend von der Newton’schen Dynamik - der physikalischen Größe ‘Zeit’ eine eindeutige Richtung gab.

Als Karl Barth konfirmiert wurde, publizierte Hugo de Vries gerade seine Mutationstheorie, und Emil Fischer erhielt den Nobelpreis für seine fundamentalen Arbeiten in der Proteinforschung.

Als Barth 1905 Student wurde und in den Farben der ‘Zofingia’ in den Straßen seiner Heimatstadt flanierte, schrieb dort im Eidgenössischen Patentamt ein Vorprüfer namens Albert Einstein, sozusagen nebenbei, eine Publikation „Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichtes betreffenden heuristischen Gesichtspunkt” und konfrontierte die wissenschaftliche Welt mit der Zumutung, Licht als Welle und Korpuskel zugleich zu sehen

Für einen Theologiestudenten, der die allgemeine Matura erworben hatte, spielten sich allerdings diese Ereignisse außerhalb der Interessensphäre ab. Und die Ministerien waren sicher auch nicht darauf bedacht, die Schulbücher auf dem neuesten Stand der Wissenschaft zu halten.

In seinen Lern- und Wanderjahren 1906 bis 1908 kam Barth nach Berlin, Tübingen und Marburg. Dabei lernte er namhafte Theologen seiner Zeit kennen, in Berlin beispielsweise Adolf Harnack, dessen Kollege Walter Nernst gerade sein ‘Wärmetheorem’ formulierte und damit die endgültige Verbindung zwischen Physik und Chemie herstellte und die ‘Physikalische Chemie’ als eigenen Wissenschaftszweig schuf. Adolf Harnack, der Theologe, war übrigens der Initiator und erste Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der späteren Max-Planck-Gesellschaft, anscheinend einer der letzten Universalisten unter den Theologen.

In den Jahren, als Barth Vikar in Genf war, publizierte Rutherford seine Experimente, die zeigten, dass die feste Materie überwiegend aus leerem Raum besteht. Wenige Jahre später entwarf, darauf aufbauend, Niels Bohr sein Atommodell.

Barth war inzwischen Gemeindepfarrer in Safenwil und engagierte sich für den Religiösen Sozialismus. Er schuf damit neue Perspektiven für die Kirchen der Reformation. Wie dringend nötig diese Neuorientierung war, zeigte sich schon wenige Jahre später, als im Deutschen Reich die ‘Landesväter von Gottes Gnaden’ abtreten mussten und ein verwaistes Kirchenvolk hinterließen. Zur gleichen Zeit bahnte sich auch ein Wandel des naturwissenschaftlichen Weltbildes an, der mit der ‘kopernikanischen Wende’ durchaus vergleichbar ist: In den Modellen der Atomphysiker gewann die Welt des unfaßbar Kleinen geistige Gestalt; zur gleichen Zeit weitete sich in den Weltformeln der Astronomen der Raum des unvorstellbar Großen. Das Bohr’sche Atommodell und Einsteins Relativitätstheorie stellten die Naturwissenschaften vor völlig neue erkenntnistheoretische Fragen. Aber das bemerkten damals weder die Physiker, noch die Philosophen, geschweige denn die Theologen.

Noch eine weitere Umwälzung bahnte sich an: Ein junger Metereologe namens Alfred Wegener, stellte mit seiner Kontinentalverschiebungs-Hypothese die Unwandelbarkeit der Grundfesten dieser Erde in Frage. Was zunächst als Kuriosität eines Außenseiters erschien, revolutionierte fünfzig Jahre später die Geologie. Dazwischen lag ein Zeitraum, der mit der Ordination Barths begann und mit seiner Emeritierung endete.

Im Jahre 1921 kehrte Barth zur Universität zurück. Seine erste Professur erhielt er in Göttingen, wo hundertfünfzig Jahre vorher Georg Christoph Lichtenberg, der Sohn des eingangs erwähnten Johann Conrad, den Lehrstuhl für Physik innehatte. An dieses traditionsreiche Institut wurde in eben jenem Jahr 1921 Max Born, der Vater der Quantenmechanik, berufen. Drei Jahre später verfasste Barth seine erste Dogmatik, kurz danach publizierte Borns Mitarbeiter Werner Heisenberg seine »Quantentheoretische Umdeutung mechanischer und kinematischer Beziehungen«, berühmt geworden als Unschärferelation.

Im gleichen Jahr (1925) erhielt Barth einen Ruf nach Münster, wo er erstmals dem Katholizismus näher begegnete und seine Lehre vom Wort Gottes erarbeitete. In der gleichen Zeit erkannte Edwin Hubble in den Spektrallinien der Galaxien Indizien für deren unvorstellbares Auseinanderstreben. Die Rückrechnung dieser Galaxienflucht gab dem Universum einen kosmologischen Zeitpunkt Null. Es dauerte Jahrzehnte, bis die Theologen begriffen, dass ihre Predigt vom Wort Gottes, das am Anfang war, ganz neue Perspektiven erhalten konnte.

Wegeners Kontinentaltrift und Hubbles Galaxienflucht waren genauso umwälzend wie die Nullpunktsverschiebung eines Kopernikus: Erde und Weltall wurden nun nicht mehr als „Firmamentum“, das unwandelbar Festgefügte, gesehen, sondern als das Sich-stetigändernde, das einer fortdauernden geologischen und kosmologischen Entwicklung unterliegt, so lange die Zeit läuft.

Von 1930 bis 1935 folgten Barths Bonner Jahre, die Zeit des ersten Bandes seiner berühmten Kirchlichen Dogmatik und der Barmer Erklärung, an der er maßgeblich mitgearbeitet hatte. In die Zeit des beginnenden Kirchenkampfes fiel in der Naturstoffchemie die Strukturaufklärung der Vitamine, Hormone und Enzyme durch Karrer, Butenandt, Ruzicka und Warburg. Die Entdeckung des Atmungsfermentes durch Warburg stand am Anfang eines Erkenntnisweges, der schließlich zu einer universellen Biochemie für alles Leben auf dieser Erde führte. Biochemisch gesehen, ließ sich der Mensch zwanglos einfügen in die Gesamtheit des irdischen Lebendigen - jenem Erdenkloß gleich, den Gott mit seinem Hauch beseelte, als er den Menschen schuf.

In den Spannungen des Kirchenkampfes wurde Barth 1935 in den Ruhestand versetzt, konnte aber schon zwei Tage später einen Ruf an die Universität seiner Geburtsstadt Basel annehmen, wo am Chemischen Institut Paul Karrer gerade am Vitamin A laborierte. Barth führte mit bestaunenswerter Konsequenz sein Lebenswerk, die ‘Kirchliche Dogmatik’ weiter - unabhängig davon, was in den Naturwissenschaften und in der Weltpolitik geschah.

Als er 1942 seine Vorlesung über die Schöpfung hielt, erschien gerade das Buch Evolution - a modern synthesis von Julian Huxley, und zwei Jahre später überraschte einer der Begründer der Quantentheorie, Erwin Schrödinger, die wissenschaftliche Welt mit seinem Buch What is life?. Die Naturwissenschaft des 20. Jahrhunderts hatte einen Erkenntnisstand erreicht, der philosophische Fragen provozierte. Das hatte auch kurz vorher Konrad Lorenz gezeigt mit seiner Publikation über »Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie«.

Dann brach 1945 mit der Bombe von Hiroshima der ethische Schock über die Physiker herein. Als 1951 Barth seine Ethik in der Schöpfung publizierte, schrieb gerade der Ingenieur Friedrich Dessauer über »Religion im Lichte der heutigen Naturwissenschaft«. Wenige Jahre später - 1955 - warnten achtzehn Nobelpreisträger in der Mainauer Kundgebung vor dem Gebrauch der Atomwaffen. Zu den Unterzeichnern gehörte auch Max Born, Barths Kollege in seinen Göttinger Jahren.

Barth setzte sein Lebenswerk konsequent fort: 1953 erschien der nächste Band der Kirchlichen Dogmatik, die Versöhnungslehre. Im gleichen Jahr publizierten Watson und Crick ihr Modell der Doppelhelix, das zum Symbol der Molekularbiologie werden sollte. Daneben brachte die naturwissenschaftliche Forschung noch ein ganzes Paket revolutionierender Beiträge:

Physik, Chemie und Biologie wuchsen zu einer neuen Einheit zusammen, die über die Vorstellungen eines Walter Nernst - fünfzig Jahre vorher - weit hinausging und den Reduktionismus des 19. Jahrhunderts hinter sich ließ. Die Theologen starrten aber immer noch auf die ausgehöhlte Attrappe einer klassischen Naturwissenschaft.

Währenddessen schrieb Barth am letzten, unvollendet bleibenden Band seiner Kirchlichen Dogmatik: der Versöhnungsethik, gegliedert nach den Bitten des Vaterunsers. Das Thema Schöpfung hatte er abgearbeitet - unbeirrt abgehakt, trotz der aufregenden Perspektiven. Ein Theologe, der mit dem ewig gültigen Gotteswort umzugehen gewohnt war, rechnete nicht damit, dass das naturwissenschaftliche Weltbild in einen Umbruch geraten konnte.

In der Mitte der 60er Jahre, vier Jahrzehnte nach seiner ersten Begegnung mit dem Katholizismus in Münster, konnte er sein Bemühen um einen Konsens zwischen den Konfessionen mit einer Papstaudienz krönen. Da blieb wohl keine Zeit, um den Wandel in den Naturwissenschaften wahrzunehmen:

Karl Barth, der 1968 starb, lebte nicht mehr, als Eigens Publikation über Selforganization of matter erschien. Allmählich formte sich ein neues naturwissenschaftliches Weltbild: dynamisch, von einem universellen Evolutionsprozess geprägt, der auch als Schöpfung interpretiert werden konnte.

„Seien Sie doch nicht so arrogant, anzunehmen, ein Schöpfer müsse sich so verhalten, wie Sie sich vorstellen können!” Was hätte wohl Karl Barth gesagt, wenn er diese Worte vernommen hätte, die Manfred Eigen 1980 auf der Tagung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte in der Diskussion nach seinem Vortrag sagte?

Es bleibt hier offen, wie weit Karl Barth die Entwicklung in den Naturwissenschaften wahrgenommen hatte. Die biographische Skizze soll nur zeigen, welches Pensum an naturwissenschaftlicher Allgemeinbildung Barth oder einer seiner gleichaltrigen Kollegen nach dem Abitur hätte verkraften müssen, wenn er - wie damals Johann Konrad Lichtenberg - kompetent von Gott und der Welt hätte predigen wollen. Es ist verständlich, dass Barth sich für die klare Trennung der beiden Aussagebereiche einsetzte. Ihm war die Klarstellung der Beziehungen wichtiger, als die Verarbeitung neuer Erkenntnisse, deren Tragweite ihm wahrscheinlich gar nicht bewusst wurde. Aus kirchlicher Sicht schien es keinen Handlungsbedarf zu geben, da in der Gesellschaft die Mehrheit der Ewig-Gestrigen immer noch den Disput der Jahrhundertwende führte.

Geist und Materie

Gedanken um das Wesen der Welt

„Geschrieben steht:

‘Im Anfang war das Wort’

‘Im Anfang war der Sinn’

Es sollte stehn:

‘Im Anfang war die Kraft’

Ich schreibe getrost:

‘Im Anfang war die Tat.”

Das war Goethe: heroisch zum Berauschen, aber unlogisch:

Tat wird getan. Also muss das tuende Subjekt vorher dagewesen sein. ‘Im Anfang war der Knall’ - nach Ansicht der Kosmologen, der Urknall: ein passives Ereignis aus dem Nichts heraus.

Gab es vorher schon etwas? Können wir uns vorstellen, dass es nur das Nichts gab - sonst nichts?

Stephen Weinberg berechnete, was in den ersten drei Minuten geschah - nach Gesetzen, die damals schon gegolten haben müssen. Also war im Anfang das Gesetz. Aber: Gesetz wird gesetzt, wie Tat getan wird. Also war im Anfang doch der Geist, der Logos, das Wort. Oder sind das nur menschliche Hirngespinste? Sind Naturgesetze nur von den Menschen hineingedacht?

Im übrigen: Der Urknall folgt rückwärts gedacht aus der Expansion des Weltalls, die sich aus dem ‘Hubble-Effekt’ ergibt. Nach allem, was wir derzeit wissen, kann die Rotverschiebung der Spektrallinien nur mit einem Doppler-Effekt erklärt werden. Ob laufendes Licht in langen Zeiträumen - in Jahrmillionen! - eine Frequenzverschiebung erleidet, kann niemand mit Sicherheit verneinen. Dann wären aber auch andere All-Modelle denkbar - etwa einem Spiegelsaal vergleichbar.

*

Die Frage nach dem Wesen von Geist und Materie und nach ihrer gegenseitigen Beziehung beschäftigte die abendländische Philosophie von Anfang an. Schon bei Plato und Aristoteles erreichten die gegensätzlichen Perspektiven die klassische Form: Für Plato waren außernatürliche Idealformen das eigentlich Wesenhafte und die Gegenstände nur deren unvollkommene Projektion in die raue Wirklichkeit. Aristoteles stimmte mit Plato in so weit überein, dass dem Gegenständlichen geistige Idealformen zuzuordnen sind. Diese seien aber in den Dingen als wesenhafte Wahrheit enthalten. Diese »Entelechie« sei als innewohnende, zielstrebige Kraft Urbild und Zielbild zugleich. Alles Werden und Wirken verwirkliche die ewig gleiche Entelechie in steter Wiederkehr und schaffe - der geistigen Struktur aller Entelechien entsprechend - einen hierarchischen Kosmos, ein Stufenreich, in dem Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen ihren festen Platz haben.

Die Polarität zwischen Plato und Aristoteles wäre antike Vergangenheit, wenn nicht

In der frühmittelalterlichen Scholastik wurde nur die überlieferte Weisheit gesammelt und geordnet. Albertus Magnus und Thomas von Aquin waren die Meister des umfassenden Gedankengebäudes, das oft mit den großen Kathedralen ihrer Zeit verglichen wird. In der geistigen Bauhütte der Scholastik gab es aber trotz des alten Stoffes zähe Dispute, als antike Philosophie mit christlicher Theologie verarbeitet wurde. Im Universalienstreit stießen die Konzepte des Platon und Aristoteles wieder hart aufeinander: Existierten die Ideen (die Universalien) in einer geistigen Welt oder in den realen Dingen. Die theologische Anwendung der philosophischen Prinzipien ergab eine brisante kirchenpolitische Folgerung: Ob der Heilige Geist in der Kirche (nach Plato) wirkt oder (nach Aristoteles) ist.

Dann kam noch der Nominalismus Ockhams hinzu, der in den Allgemeinbegriffen keine »Realität« sondern nur vom Menschen erdachte Namen sah. Im Grunde ging es darum, welchen Rang die Materie, gemessen am Geist, habe. Als das Mittelalter zu Ende ging, war die Frage immer noch offen.

Die Philosophen der Neuzeit begnügten sich nicht mehr mit der Pflege der antiken und christlichen Tradition. Sie entwarfen neue Konzepte, aber die uralte Kernfrage konnten sie doch nicht von sich weisen. Für René Descartes war die Materie der Stoff einer mechanistischen Welt und der Geist das außernatürliche (göttliche) Etwas, an dem nur der Mensch teilhatte. Gottfried Wilhelm Leibniz zerstückelte die Materie mit dem Prinzip seiner Infinitesimalrechnung so weitgehend, dass am Ende als einzig Beständiges nur der Geist übrigblieb. So kam er zu einem Weltgefüge immaterieller Substanzen, die er Monaden nannte. Baruch Spinoza hingegen versuchte die umfassende Synthese und wollte Geist und Materie als Attribute einer einzigen Wirklichkeit in dem Ureinen aufgehen lassen. Johann Gottlieb Fichte wagte schließlich eine Umkehrung der platonischen Projektion: Das Ich des Menschen setzt für sich selbst die Umwelt. Dieser heroische Idealismus, der es dem Geist des Menschen zutraut, sich seine eigene Welt zu bilden, schwingt auch mit in den Worten Fausts ‘Im Anfang war die Tat’.

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