Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
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Copyright © by Frick Verlag GmbH, Pforzheim
1. Auflage 2019
Umschlagfotos, Umschlaggestaltung und Illustrationen:
Toni Traschitzker
Alle Rechte, auch die der auszugsweisen
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Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-939862-69-7
Als diese Geschichte geschrieben wurde, hörte man viel von „Umweltschutz“. Alle stimmten überein: Ja, die Natur muss man schützen! Man muss etwas tun!
Aber wer ist „man“? Wer soll „etwas tun“? Und was ist zu tun?
Wenn es um Unangenehmes ging, hieß es oft: „Die anderen sind schuld!“ Oder: „Zuerst sollen einmal die anderen etwas tun!“ Das war für die meisten die bequemste Lösung.
Es wurde also viel geredet und wenig getan.
Der Professor in dieser Geschichte versucht ernsthaft, Jugendliche zu überzeugen. Am Schulschluss bietet er als „Alternativunterricht“ das Thema „Umweltschutz durch Flurreinigung“ an, und er hilft selber tatkräftig mit.
Nur vier Mädchen und gar nur ein einziger Bursch haben sich für diesen „Alternativunterricht“ gemeldet. Diese fünf jungen Menschen beginnen zu begreifen, was beim Umgang mit der Natur falsch läuft. Sie denken nach – und kommen auf allerlei Einfälle ...
Toni Traschitzker, 16. Dezember 2018
„Also: Treffpunkt Amsbacher Brücke, Punkt drei Uhr!“
Entschlossen blickte Andrea Weitenegger, die blondhaarige Klassensprecherin der 4c, in die kleine Runde, und ihre drei Mitschülerinnen nickten eifrig. Nur ein dunkelhaariger, langer Bursch, der hinter ihnen stand, starrte lustlos vor sich hin. Andrea wandte sich scharf an ihn: „Was ist, Wauwe? Geht’s bei dir auch?“
„Wenn’s sein muss“, brummte der Angesprochene. Nach einem kurzen, misstrauischen Blick auf die Klassensprecherin starrte er wieder zu Boden und murmelte: „Ich find’s einen Schwachsinn – Dreck aufklauben für andere Leute, die ihren Mist unterwegs einfach wegschmeißen, anstatt ihn mit nach Hause zu nehmen und in die richtige Mülltonne zu werfen.“
„Warum hast du dich dann überhaupt für die Gruppe ,Flurreinigung‘ entschieden?“, fragte Andrea vorwurfsvoll.
Ja, warum eigentlich? Das hatte sich Wauwe ebenfalls gefragt, als sich herausgestellt hatte, dass sich für die Gruppe „Flurreinigung“ in der letzten Schulwoche außer ihm nur vier Schüler gemeldet hatten – genauer gesagt: vier Schülerinnen – und alle vier aus seiner Klasse! Freilich – er hätte sich normalerweise für die Gruppe „Fußball“ gemeldet; aber mit Professor Wagner, dem Turnlehrer und Leiter der Gruppe Fußball, hatte er zuletzt eine Auseinandersetzung gehabt. Und die anderen „Angebote“ – was sollte er damit?
Singgruppe? Musikgruppe? Theatergruppe?
Nein, danke, dafür hatte er kein Talent.
Kochkurs? Nähkurs? Kleine Haushaltskunde?
Ojemine!
Zeichnen und Malen mit dem Computer?
Alles nix für Wauwe!
Umweltschutz durch Flurreinigung?
Darunter hatte sich Wauwe zunächst nur so viel vorstellen können: etwas, bei dem man draußen unterwegs ist und nicht dauernd drinnen im Schulgebäude hocken muss; und mit Professor Ebenreider konnte man die drei Tage von Dienstag bis Donnerstag wahrscheinlich noch am ehesten aushalten, obwohl gerade er ...
„Also um drei!“, wiederholte Andrea entschlossen, weil Wauwe nur lustlos mit den Schultern gezuckt hatte und scheinbar teilnahmslos auf seine linke Handfläche starrte, als hätte er sich irgendetwas draufgeschrieben.
„Seid bitte pünktlich!“, mahnte Andrea. „Wir sehen uns ein bisschen um, bevor es morgen um 8 Uhr endgültig losgeht und der Ebi dabei ist.“
Der Pausengong ertönte und scheuchte alle Schülerinnen und Schüler zurück in ihre Klassen, die nächste Unterrichtsstunde begann. Wauwe schlurfte missmutig hinter den vier Mädchen her, mit denen er in der vorangegangenen Geographiestunde von Ebi – Verzeihung – von Professor Ebenreider, dem Geographie- und Biologielehrer, erfahren hatte, dass sie „die fünf einzigen Helden“ wären, die „Interesse für Umweltschutz“ hätten.
Ach, dieser Professor Ebenreider! An und für sich wäre an ihm wenig auszusetzen; und dass er als Biologielehrer auch gleich eine Art Umweltschützer sein musste, war ja naheliegend. Das störte Wauwe nicht. Aber dass der Professor gleich am Schulanfang, als Wauwe neu in die Klasse gekommen war, mit der blöden Namenspielerei angefangen hatte, konnte ihm Wauwe noch immer nicht verzeihen. Der Lehrer hatte nämlich behauptet, er hätte eine „bombensichere Art“, sich mehrere Namen zu merken: Er brauche sich nur jeweils die ersten zwei oder drei Buchstaben einzuprägen, das reiche auch schon für den Rest. „Name, bitte?“, hatte er sich an den neuen Schüler gewandt, und der hatte geantwortet: „Wegscheider. Walter Ulrich Wegscheider.“ – „Alles klar“, hatte der Lehrer schmunzelnd erwidert und den Namen gleich aufgeschrieben. „Also Wa – Ul – We, Walter Ulrich Wegscheider. Wa – Ul – We. Sehr schön!“
„Gar nicht schön“, hatte der Neuling gedacht, weil ein paar Witzbolde, die in seiner Nähe saßen, spöttisch grinsend geflüstert hatten: „Waul-we, waul-we ... he, Waul-we!“ Aus diesem „Waul-we“ war gleich nach der ersten Geographiestunde der Spitzname „Wauwe“ geworden. Und da sich der Neuling nicht dagegen gewehrt hatte, war es bei „Wauwe“ geblieben, und keiner hatte ein schlechtes Gewissen dabei, diesen Spitznamen zu verwenden.
„Ein Name wie für einen Hund“, dachte Wauwe einmal, aber er gewöhnte sich daran. In der neuen Klasse gab es viele verrückte Spitznamen. Beispielsweise war die kleine Anna Zliem mit dem braunen Lockenkopf für alle „das Zliemli“; und statt Andrea Weitenegger sagten manche „die Scharfe“, weil sie sich als Klassensprecherin von keinem Professor einschüchtern ließ und bei „Verhandlungen“ zugunsten der Klasse nie sofort nachgab.
Thomas Schmuckner – gewöhnlich „Schmucki“ gerufen – hatte einmal versucht, Wauwe den Namen „Alter“ zu verpassen. „He, Alter!“, hatte er gerufen. „Du bist mit fünfzehn Jahren der Älteste von uns! Dürfen wir ,Alter‘ zu dir sagen?“ Darauf hatte Wauwe brummend gedroht: „Wenn du meinst. Dann darf ich aber zu dir ,Teppich‘ sagen und dich verklopfen, falls es mir gerade taugt.“
Daraufhin war es bei „Wauwe“ geblieben. „Alter“ hätte ihn immer daran erinnert, dass er ein „Repetent“ war, ein „Sitzenbleiber“, der eine Schulstufe wiederholen musste. Im Vorjahr – das wollte er niemandem anvertrauen – hatte er durch eine lange Krankheit so viel versäumt, dass sein Vater es für das Beste gehalten hatte, Wauwe die Klasse wiederholen zu lassen.
„Mir hat es auch nicht geschadet“, meinte der Vater. „Lieber ein Jahr in Ruhe wiederholen und sicherer werden – statt aufsteigen und als Klassentepp gelten, weil man überhaupt nicht mehr mitkommt.
Ich war froh, dass ich durch das Wiederholen meine alten Klassenkameraden losgeworden bin. Das waren keine Kameraden, das waren Kummeraden. Nichts als Ärger hatte ich mit denen!“
Genau das traf auch für Wauwe zu. Mit seinen ehemaligen Mitschülern hatte er sich nicht gut vertragen. Man hatte ihn wegen seiner langen, fast dürren Gestalt oft gehänselt. In der 4c, seiner neuen Klasse, hatte man ihn nach ein bisschen Neugier an den ersten Schultagen bald in Ruhe gelassen, sodass er sich besser auf die neuen Lehrer einstellen konnte. In Mathematik, Chemie und Englisch, seinen „Schreckensgegenständen“ im Vorjahr, stand er nun seit Schulbeginn auf einem glatten Genügend. Was er bisher noch nicht geschafft hatte, war eine echte Freundschaft mit einem Mitschüler; oder einer Mitschülerin. Von Anfang an war er allein in der letzten Bank der Türreihe gesessen und ein Außenseiter geblieben.
Vielleicht wurde es im nächsten Schuljahr besser. Dann galt er nicht mehr als „Repetent“. Dass er diesmal die vierte Klasse schaffen würde, stand bereits fest. Nur die letzte Schulwoche musste er noch überstehen. Statt gewöhnlichem Unterricht gab es von Dienstag bis Donnerstag bloß noch den sogenannten „Alternativunterricht“: Jeder Professor bot einen Schwerpunkt an, und jeder Schüler musste sich für einen dieser Schwerpunkte entscheiden. Wauwe hatte angenommen, er würde auf diese Weise von seiner Klasse, der 4c, ganz wegkommen. Das war ein Irrtum: Mit vier Mädchen aus seiner Klasse sollte er den Rest dieser Woche verbringen: Andrea Weitenegger – der „scharfen“ Klassensprecherin –, Gerda Westritz, Ina Zussner und Anna Zliem, genannt „Zliemli“.
„Wo bleibt er denn?“, fragte Gerda ungeduldig. Sie wartete mit ihren Mitschülerinnen Andrea, Ina und Anna am südlichen Ende der Amsbacher Brücke, die den Fluss Fella überquerte. Gleich nach der Brücke zweigte von der Hauptstraße ein asphaltierter Weg ab. Er führte am Südufer der Fella flussaufwärts nach Westen und war jener Weg, den Professor Ebenreider für die „Flurreinigung“ ausgewählt hatte.
„Es ist noch nicht Punkt drei. Zwei Minuten hat Wauwe noch Zeit. Aber der Kerl kommt nicht daher!“ Vorwurfsvoll blickte Andrea, die Klassensprecherin, auf ihre Armbanduhr – und ahnte nicht, dass sie soeben in den Sucher eines Fotoapparats gelangt war. Sie konnte das Klicken der Kamera nicht hören, der Fotograf war zu weit entfernt. Außerdem hatte er sich hinter einem Gebüsch versteckt und fotografierte heimlich zwischen Zweigen hindurch.
„Wauwe müsste längst zu sehen sein“, meinte Gerda. „Wenn er nicht pünktlich auftaucht, kann er uns gern haben.“ Sie seufzte missmutig und strich sich eine Strähne ihrer langen, schwarzen Haare aus dem Gesicht. Ein leichter Wind blies von Norden her und brachte dauernd ihre Frisur durcheinander.
Am anderen Ende der Brücke, von wo die vier Mädchen Wauwe erwarteten, tat sich noch immer nichts.
„He, ihr Müllbanditen!“, ertönte es plötzlich.
Die Mädchen, die unablässig zum anderen Ende der Brücke geblickt hatten, wandten sich überrascht um. Auf der Seitenstraße, wo sie am nächsten Morgen mit der Flurreinigung beginnen sollten, stand einer. Er schaute in den Sucher eines Fotoapparats und drückte auf den Auslöser.
„Mensch, Wauwe, was treibst du da?“, platzte Gerda heraus.
Wauwe nahm den Fotoapparat vom Gesicht, grinste und entgegnete: „Ich fotografiere Müllbanditen.“
„Werd’ bloß nicht unverschämt!“, warnte Andrea.
„Ach so, ja, ’tschuldige!“ Wauwe grinste noch immer. „Hätte ich ,Müllbanditinnen‘ sagen sollen? Sodass klar ist, dass ich – Damen meine?“
„Ich zeig’ dir gleich, wie eine Dame mit einem Müllbanditenschlingel umgeht!“, drohte Andrea.
Ina, die Streit vermeiden wollte, mischte sich mit einer Frage ein: „Wieso kommst du auf dieser Straße her, Wauwe, und nicht über die Brücke?“
„Weil ich die Fella schon flussaufwärts weiter oben überquert habe – bei der Brücke zum Fella-Wirt“, antwortete Wauwe. „Ich bin also die ganze Flurreinigungsstrecke schon gegangen; und ich sage euch: Das gibt morgen Schwerarbeit!“
„Mach uns keine Angst!“, rief Andrea. Sie trat zum Brückengeländer, griff nach ihrem Fahrrad, das dort lehnte, und schob es auf die Seitenstraße. Gerda, Ina und Anna folgten mit ihren Rädern.
„Mensch, Wauwe, bist du die weite Strecke wirklich zu Fuß gegangen?“, fragte Anna Zliem, „das Zliemli“.
„Ich bin mit dem Schuhtaxi gefahren“, entgegnete Wauwe.
Andrea deutete auf den Fotoapparat und wollte wissen, was Wauwe fotografiert hatte.
„Na was wohl? Müllbanditen – äh – innen“, gab Wauwe zurück. Er zeigte Andrea auf dem kleinen Bildschirm das erste Foto, das er geknipst hatte: Andrea, wie sie gerade vorwurfsvoll auf ihre Uhr blickte.
„Das gibt’s nicht!“, staunte sie. „Wie kommst du zu dieser – Nahaufnahme?“
„Kein Kunststück“, meinte Wauwe. „Mit einem dreißigfachen Zoomobjektiv. Das ist wie ein Fernrohr, ganz ohne digitale Umrechnerei.“
Auch die anderen Mädchen staunten. Auf dem zweiten Foto waren sie alle zu sehen. Die fotoscheue Ina klagte: „Du hättest uns wenigstens fragen können, bevor du uns fotografierst.“
„Hättest du ,ja‘ gesagt?“, erwiderte Wauwe.
„Natürlich ,nein‘!“, beteuerte Ina.
Ihre Begleiterinnen lachten. Andrea klopfte ihr auf die Schulter und ermunterte sie: „Na komm schon, du Miss Müllbandit!“
„Müllbanditin!“, verbesserte Wauwe.
„Hol du lieber dein Fahrrad!“, forderte Gerda ihn auf. „Wetten wir, du hast es irgendwo im Gebüsch am Wegrand versteckt!“
„Ja, wetten wir!“ Wauwe schmunzelte. „Die Wette hab’ ich schon gewonnen. Schade, dass du nicht verraten hast, was der Sieger bekommt.“
„Einen Siegeskranz aus Müllstücken, Herr Müllboss“, knurrte Gerda.
„Danke, Frau Müllbossin“, wagte Wauwe zu erwidern.
„Quatscht nicht dauernd! Aufgesessen!“, rief Andrea, und schon schwang sie sich auf ihr Fahrrad. Ihre Begleiterinnen machten es ebenso. Langsam fuhren sie los, Wauwe trabte hinter ihnen her.
„Ihr könnt gleich wieder absteigen. Beim Fahren überseht ihr den meisten Müll, der hier herumliegt“, mahnte Wauwe.
„So genau wollen wir’s heute noch gar nicht wissen. Zeig lieber, dass du rennen kannst wie ein Pferd!“, spottete Gerda.
„Fahrt schon ab, ihr Müllbanditen!“, versetzte Wauwe.
„Banditinnen!“, rief Zliemli lachend über die Schulter zurück.
Wenn ihnen jemand entgegengekommen wäre, hätte er sich gewundert: Vier Mädchen, eins nach dem anderen, radelten gemächlich daher, ein hagerer Bursch trabte als Letzter zu Fuß hinterdrein.
„He, ihr Müllbanditen!“, rief er. „Ihr habt schon das erste Müllstück übersehen.“
Die Mädchen hielten an und schauten zu ihrem Begleiter zurück. Der zeigte mit ausgestrecktem Arm auf das hohe Gras am Wegrand. Tatsächlich – dort lag, kaum zu erkennen, eine zerquetschte Aludose.
„Sollen wir sie gleich mitnehmen?“, fragte Zliemli.
„Lass liegen das eklige Ding!“, erwiderte Gerda. „Damit können wir uns morgen noch früh genug die Hände schmutzig machen. Fahren wir lieber weiter!“ Ein wenig spöttisch wandte sie sich an Wauwe: „Magst du bei mir hinten aufsitzen?“
„Wie ,hinten‘?“, entgegnete Wauwe. „Auf dem Gepäcksträger deines Fahrrads oder auf deinem Rücken?“
„Ach, renn doch lieber zu Fuß, du Wortklauber!“, brummte Gerda beleidigt.
Im Schritt-Tempo, sodass Wauwe nicht „rennen“ musste, setzten sie ihren Weg fort.
Auf der rechten Seite der Straße fiel das Gelände ein paar Meter steil nach unten zum Fluss ab. Sehen konnte man ihn – wegen hoher Bäume und dichten Gestrüpps – meistens nicht. Aber zu hören war er stets – ein friedliches Rauschen. Die Sonne schien warm, doch der Nordwind machte die Wärme erträglich. Nur Gerda schimpfte ein paarmal, weil ihr der Wind die langen Haare immer wieder ins Gesicht wirbelte, wenn sie sich nach Ina umdrehte.
„Du solltest dir Zöpfe flechten“, schlug Ina vor. „Oder bind dir die Haare wenigstens zu einem Ross-Schweif!“
„Ja, Ross-Schweif ist gut!“, rief Zliemli, die hinter Ina fuhr. „Dann haben wir endlich auch für Gerda einen Spitznamen: Ross-Schweif-Gerda. Und statt mit einem Rad kann sie mit einem Ross durch die Gegend reiten.“
„Reit’ du lieber mit deinem Rad!“, fauchte Gerda über die Schulter zurück. „Du bist ja nur neidisch, weil du dein braunes Lockengewirr nie und nimmer zu einem langen Ross-Schweif binden könntest.“
„Oooch – für eine hübsche Schleife geht sich’s immer noch aus“, erwiderte Zliemli.
„Ja, ja!“, entgegnete Gerda spöttisch. „Eine riesengroße Schleife! Dann siehst du aus wie eine Mickymaus.“
„Solche Quasseltanten“, dachte Wauwe. Doch er mischte sich nicht in das Gezänk ein. Er schaute sich lieber nach Müll um und schwieg, wenn seine Begleiterinnen wieder einmal eine weggeworfene Plastikflasche oder eine Aludose oder einen Fetzen Papier übersehen hatten. Ina achtete als Einzige von den Mädchen auf das, was am Wegrand herumlag. Ihren drei Mitschülerinnen schien es eher um einen gemütlichen Fahrradausflug zu gehen.
„Eigentlich ist das hier eine schöne Gegend“, meinte Andrea, die an der Spitze fuhr. „Der Fluss rauscht, die Blätter rascheln, die Bienen summen, die Vögel singen ...“
„... die Andrea singt nicht, zum Glück!“, ergänzte Gerda spöttisch.
Andrea drehte sich mit bissiger Miene nach Gerda um, sagte jedoch nichts. Erst als sich auf der linken Seite der Straße eine Weide ausbreitete und Gerda entzückt rief: „Schaut! Kühe!“, wandte sich Andrea wieder um und fragte: „Sind das Schwestern von dir?“
„Nein, du Ochse!“, fauchte Gerda. Ihre Begleiterinnen platzten mit einem hellen Gelächter heraus – sie lachte mit.
Wauwe schwieg und dachte wieder: „Quasseltanten.“
Etwa zehn Minuten später erreichte die Gruppe das Ende der Weide. Jetzt wuchsen auch wieder auf der linken Seite der Straße hohe Laubbäume. Unter ihrem Schatten näherte sich auf einmal ein älterer Spaziergänger. In der linken Hand hielt er eine zusammengerollte Hundeleine, in der rechten, wie man bald erkennen konnte, eine Zigarette. Der Hund, ein weißer Spitz, lief frei herum. Als er die Radfahrerinnen entdeckte, steuerte er gleich auf die erste von ihnen zu – Andrea. Die blieb stehen und rief: „Geh weg, Wauwau!“
Wauwe zuckte zusammen. Als Letzter hatte er das Tier noch gar nicht bemerkt, weil er unablässig die Böschung auf der rechten Wegseite nach Müllresten absuchte. Jetzt erst stellte er fest, dass Andrea nicht ihn gemeint hatte. Neben ihrem Fahrrad trieb sich ein Hund herum und wandte sich plötzlich Gerdas Rad zu. Gerda hatte – wie ihre Mitschülerinnen – ebenfalls angehalten.
„Spitz, sitz!“, befahl sie und zeigte auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo sich der Hundebesitzer näherte.
Der Spitz hielt inne und starrte Gerda an.
„Spitz, sitz!“, wiederholte sie verunsichert. Freundlich fügte sie hinzu: „Spitzi, brav sitzi!“
„Wau!“, entgegnete der Hund. „Wau! Wau!“
„Ach, bitte nehmen Sie Ihren Hund an die Leine!“, bat Ina den Hundebesitzer ängstlich.
„Der tut doch nichts!“, knurrte der Mann mürrisch, dann rief er seinem Tier zu: „Her da, Knuffel! Gemma!“
Der Hund Knuffel wandte seinen Kopf ein paarmal ruckartig zwischen seinem Herrchen und den Mädchen hin und her. Erst nach einem weiteren scharfen „Gemma!“ gehorchte er.
Der Hundebesitzer sog an seiner Zigarette und kümmerte sich nicht mehr um die vier Radfahrerinnen und ihren Begleiter. Die setzten ihren Weg langsam fort.
„Blöder Nikotinsauger!“, fauchte Gerda, als der Mann es nicht mehr hören konnte.
„Schaut!“, rief Zliemli mit gedämpfter Stimme. „Jetzt hat er seinen Nikotinstängel weggeworfen. Einfach auf die Straße! So ein Mistkerl!“
„Solche Mistkerle laufen hier anscheinend massenweise herum“, murmelte Wauwe.
Die Mädchen wandten sich ihm erstaunt zu, weil er schon lange kein Wort mehr gesagt hatte.
„Wieso – wie kommst du darauf?“, fragte Zliemli verwirrt.
„Ihr müsst genauer hinschauen“, entgegnete Wauwe. „Hier liegen immer wieder Zigarettenstummel herum. Auch leere Zigarettenschachteln.“
„Was?“ Gerda starrte ihn verdutzt an. „Und wir sollen morgen dieses schmutzige Zeug einsammeln?“
„Na klar. Was hast du sonst gedacht?“ Wauwe grinste. „Es geht ja um Flur-Reinigung. Reinigen heißt sauber machen – gleichgültig, welcher Mist weg muss.“
„Aber ... so unappetitliche, winzige Dinger!“, widersprach Gerda empört. „Wir sind keine Putzfrauen für alte Nikotinknacker!“
„Wart’s ab, was der Ebi morgen sagt!“ Wauwe grinste noch immer.
„Verflixt, du hast recht“, gestand Andrea. „Das wird morgen nicht nur Schwerarbeit – das wird Drecksarbeit! Da heißt’s: Arbeitshandschuhe einpacken!“
Langsam, sodass Wauwe zu Fuß leicht folgen konnte, fuhren die Mädchen weiter. Doch schon bald meldete Andrea an der Spitze: „Steilhang in Sicht! Alles absteigen!“
„Steilhang“ war übertrieben. Aber die Straße führte jetzt tatsächlich in einer Linkskurve bergauf. Dann bog sie nach rechts und verlief so weit weg von der Fella, dass man den Fluss nicht mehr sehen konnte. Obwohl die Steigung bald überwunden war, schoben die Mädchen weiterhin ihre Räder.
„Hier liegt fast gar kein Müll am Wegrand“, sagte Ina.
„Doch, da drüben!“ Gerda zeigte auf die gegenüberliegende Straßenseite. „Da hat so ein Nikotinschlepper seinen Nikotinkoffer einfach weggeschmissen.“
„Nikotinkoffer?“ Zliemli schaute verdutzt drein.
„Na ja, diese kleinen Transportschachteln mit den obergescheiten Sprüchen drauf“, entgegnete Gerda. „Rauchen kann Ihre Gesundheit gefährden. Nutzloses Geschwafel!“
„Was würdest du draufschreiben?“, fragte Andrea.
„Ich?“ Gerda überlegte eine Weile, dann antwortete sie grinsend: „Rauchen raubt Ihr Geld, vielleicht sogar noch mehr.“
Die Mädchen lachten. Da wandte sich Gerda an Wauwe: „Sag du auch einmal etwas!“
„Na ja ...“ Wauwe blickte nachdenklich vor sich hin, bevor er weitersprach: „Ich brauche kein Rauchzeug. Aber andere Leute sind nicht besser als Raucher. Erst genießen – dann wegschmeißen. Ihr habt ja gesehen, was allein auf dieser Straße alles an Flaschen und Dosen herumliegt.“
„Stimmt“, bestätigte Zliemli. „Menschen sind Wegwerftiere. Alles schmeißen sie in der Gegend herum.“
„Darüber könnten wir übermorgen bei der Nachbesprechung mit Professor Ebenreider reden“, schlug Andrea vor. „Ich werde ihn heute Nachmittag anrufen und ihm andeuten, wie viel Müll hier herumliegt.“
„Ihr habt ja mindestens die Hälfte davon übersehen“, wollte Wauwe einwenden, doch er schwieg wieder einmal.
Als die Straße, an Häusern vorbei, nach unten und zurück zum Fluss führte, schwangen sich die Mädchen auf ihre Räder, ließen sie immer schneller bergab rollen und achteten nicht auf Wauwe. Der hetzte keuchend hinterdrein. Erst am unteren Ende des Hanges warteten die Mädchen auf ihn.
„He, ihr Müllbanditen! Habt ihr keine Bremsen?“, stieß er atemlos hervor.
„Die haben wir weggeschmissen“, scherzte Zliemli. „Hier liegt so viel Müll herum, da kommt es auf ein paar Fahrradbremsen auch nicht mehr an. Aber schau nicht so verzweifelt! Dort vorn ist schon die Brücke beim Fella-Wirt. Das Ende unserer Flurreinigungs-Strecke hätten wir erreicht.“
Nachdem sie die Brücke überquert hatten, trennten sich ihre Wege. Wauwe, der in der Nähe wohnte, bog in eine Seitenstraße ein.
„Bis morgen!“, verabschiedete er sich. Schmunzelnd fügte er hinzu: „Vergesst nicht eure Arbeitshandschuhe! Und du, Gerda, denk an deine Ross-Schweif-Frisur!“
„Treffpunkt für morgen: Amsbacher Brücke, 8 Uhr – aber diesmal ohne Fahrräder!“, verkündete Andrea, als sie am Nachmittag – wie vereinbart – alle Mitglieder der Gruppe „Flurreinigung“ telefonisch verständigte. „Sammelbeginn: Amsbacher Brücke. Sammelschluss: Brücke beim Fella-Wirt. Der Ebi bringt Müllsäcke mit. Die vollen Säcke können wir in sein Auto laden, das er beim Fella-Wirt parken will.“
„Also wieder eine Weitwanderung“, murrte Gerda am Telefon.
„Meckere nicht! Denk lieber an deine Ross-Schweif-Frisur!“, entgegnete Andrea lachend.
Gerda band ihre schwarzen Haare am nächsten Tag tatsächlich zu einem langen Ross-Schweif zusammen. Wieder waren die vier Mädchen die Ersten bei der Amsbacher Brücke. Wieder kam Wauwe nur knapp vor dem vereinbarten Zeitpunkt an, und zwar wieder vom Fella-Wirt her. Auf heimliche „Müllbanditen-Fotos“ verzichtete er diesmal, obwohl er sich seine Kamera umgehängt hatte.
„Was willst du heute fotografieren?“, fragte Zliemli.
„Hm ...“ Wauwe zuckte mit den Schultern. „Vielleicht die schöne Umgebung. Heute ist ja richtiges Fotowetter. Blitzblauer Himmel.“
Gerda bettelte um ein „hübsches Gruppenfoto“. Wauwe erwiderte jedoch, „gestellte Fotos“, auf denen jeder „blöd in die Kamera grinst“, seien fad. Er warte lieber auf eine Gelegenheit für einen „Schnappschuss im rechten Augenblick“.
„Geh heim, du Spielverderber!“, entgegnete Gerda. Als sich Wauwe von ihr wegdrehte und zum Fluss schaute, zückte sie hastig ihr Handy.
„He, Wauwe!“, rief sie.
Wauwe ging in die Falle. Er drehte sich um – und schon hatte Gerda ihn mit dem Handy fotografiert. Sofort drängten sich die anderen Mädchen um sie herum, um sich das Foto anzusehen – mit viel Gekicher.
„Na warte! Irgendwann schieß’ ich zurück!“, drohte Wauwe.
„Willst du dich nicht auf dem Foto bewundern?“, lockte Gerda.
„Pah!“, gab Wauwe zurück. „Daheim seh’ ich mich jeden Tag im Spiegel.“
„Spiegelaffe!“, spottete Gerda, und daraufhin verzichtete Wauwe erst recht darauf, sich das Foto anzuschauen. Gemächlich zog er seine Kamera aus der Fototasche heraus und überprüfte die Einstellungen. Dann fotografierte er – nein, nicht die Mädchen, sondern das prächtige Gebirge im Norden. Anschließend trat er ans östliche Brückengeländer und machte eine Aufnahme von der Fella, die hier in einer leichten Biegung das etwas höher gelegene Örtchen Amsbach umfloss.
„He, Wauwe! Ein Müllbandit! Schnell!“, rief Zliemli plötzlich.