Roman
Für Antonietta Rudge, Ciccillio Matarazzo, Luizinho Bezerra und Wagner Felipe de Souza Weidebach, den »besten Freund« sowie Joaquim Carlos de Mello.
»Es sind nicht nur die Blutsbande, die Verwandtschaft bilden, sondern auch die des Herzens und des Verstandes.«
Montesquieu
Erster Teil
MAURICE UND ICH
Die Verwandlung
Paul Louis Fayolle
Maurice
Hühnergackern
Träumen
Lass die Sonne scheinen
Abschied von Joãzinho
Zweiter Teil
ZEIT FÜR DEN TEUFEL
Eine langwierige Entscheidung
Der Schmerz der Ungerechtigkeit
Ein Kinderherz vergisst, es verzeiht nicht
Der Hai und die gescheiterte Keksschlacht
Tarzan, der Sohn der Dächer
Dritter Teil
MEINE CURURU-KRÖTE
Das neue Haus, die Garage und Dona Sevéruba
Der Dschungel Manuel Machado
Mein Herz hieß Adão
Liebe
Flittchen der göttlichen Liebe
Der Stern, das Schiff und die Sehnsucht
Aufbruch
Die Reise
Meine Cururu-Kröte
ANHANG
Anmerkungen zu Leben und Werk von José Mauro de Vasconcelos
Essay von Luiz Antonio Aguiar
Plötzlich war alles Dunkel aus meinen Augen verschwunden. Mein elfjähriges Herz schlug aufgeregt in der ängstlichen Brust. »Mein Heiliger Jesus mit dem Lamm auf der Schulter, hilf mir!«
Das Licht wurde heller. Und heller. Und je heller es wurde, desto größer wurde die Angst. So groß, dass ich nicht schreien konnte, selbst wenn ich es gewollt hätte.
Alle schliefen seelenruhig. Die dunklen Zimmer strahlten Ruhe aus.
Ich setzte mich im Bett auf und lehnte meinen Rücken an die Wand. Meine weit aufgerissenen Augen sprangen fast aus dem Kopf.
Ich wollte beten, alle meine heiligen Beschützer anrufen, doch nicht einmal der Name der Heiligen Mutter von Lourdes kam über meine Lippen. Es musste der Teufel sein. Der Teufel, mit dem sie mir immer solche Angst einjagten. Doch wenn er das Licht wäre, hätte es nicht die Farbe der Glühbirne, sondern die von Feuer und Blut, und sicher läge Schwefelgeruch in der Luft.
Nicht einmal Bruder Feliciano konnte ich um Hilfe rufen, den lieben Fayolle. Fayolle dürfte um diese Uhrzeit in der Tiefschlafphase sein und Güte und Frieden schnarchen, dort in der Maristen-Schule.
Eine sanfte, demütige Stimme erklang.
»Keine Panik, mein Sohn. Ich bin nur gekommen, um dir zu helfen.« Mein Herz schlug gegen den Brustkorb, und die Stimme kam dünn und ängstlich heraus, wie das erste Krähen eines Hähnchens.
»Wer bist du? Eine Seele aus dem Jenseits?«
»Nein, Dummerchen.«
Ein gutmütiges Lachen hallte durch das Zimmer.
»Ich mache mehr Licht, aber erschrick nicht, es kann nichts Schlimmes passieren.«
Ich brachte ein unschlüssiges Ja hervor, schloss jedoch die Augen.
»Das gilt nicht, mein Freund. Du kannst sie öffnen.«
Erst riskierte ich eins, dann das andere. Das Zimmer war in so schönes weißes Licht getaucht, dass ich dachte, ich wäre gestorben und im Paradies gelandet. Doch das war unmöglich. Alle im Haus sagten, dass der Himmel nicht für jemanden wie mich gedacht war. Leute wie ich kämen direkt als Bratspießchen ins Höllenfeuer.
»Schau mich an. Ich bin hässlich, aber mein Blick ist gütig und weckt Vertrauen.«
»Wo bist du?«
»Hier, am Fußende des Bettes.«
Langsam näherte ich mich der Bettkante und nahm meinen ganzen Mut zusammen, um zu schauen. Was ich sah, erfüllte mich mit Panik. Ich war so schockiert, dass sich ein kalter Schauder wie ein Reißverschluss durch meine Seele zog. Zitternd rutschte ich auf meinen alten Platz zurück.
»So nicht, mein Sohn. Ich weiß, dass ich sehr hässlich bin. Aber wenn du solche Angst hast, gehe ich gleich wieder, ohne dir zu helfen.«
Seine Stimme hatte sich in ein Flehen verwandelt, sodass ich beschloss mich zusammenzureißen. Trotzdem kroch ich nur sehr langsam in seine Richtung.
»Warum diese Angst?«
»Aber … du bist eine Kröte!«
»Bin ich. Und?«
»Aber könntest du nicht etwas anderes sein?«
»Eine Schlange? Ein Krokodil?«
»Das wäre mir lieber, denn Schlangen sind wunderschön und so glatt. Und Krokodile schwimmen so elegant.«
»Entschuldige, aber ich bin nicht mehr als eine arme Cururu-Kröte und ein Freund. Gut, wenn dich das stört, werde ich gehen. Nur Geduld. Und ich wiederhole: Es ist schade.«
Die Kröte war so traurig und aufgewühlt, dass nur wenig fehlte und sie wäre in Tränen ausgebrochen. Das rührte mich, denn ich war so weich, dass mir sofort die Tränen in die Augen stiegen, wenn ich jemanden weinen oder leiden sah.
»Also gut. Aber lass mich nochmal tief durchatmen, danach kann ich mich vielleicht sogar aufsetzen und langsam an dich gewöhnen.« Allmählich veränderten sich die Dinge wirklich. Vielleicht lag es am milden Schein seiner Augen und an der unbeweglichen Haltung seines absonderlichen Körpers. Ich wagte einen mitfühlenden Satz. Einen Satz, der ziemlich stotternd herauskam. Etwas riet mir, ihn zu siezen.
»Wie heißen Sie?«
Er lächelte. Klar, dass ihn diese Anrede erstaunte. Doch schließlich traf man eine sprechende Kröte ja nicht grundlos. Es verlangte Respekt von meiner Seite.
Er kratzte sich den Kopf und antwortete:
»Adão.«
»Adão wie?«
»Einfach Adão. Ich habe keinen Nachnamen.«
Wieder überkam mich Schwäche. Warum in Teufels Namen sollte mich auch noch eine Kröte rühren?
»Möchten Sie meinen Nachnamen benutzen? Es macht mir nichts aus. Hören Sie nur, wie schön es klingt: Adão de Vasconcelos.«
»Vielen Dank, mein Freund. In gewisser Weise werde ich so lange bei dir wohnen, dass ich indirekt auch deinen Namen teilen werde.«
Hatte ich richtig verstanden, was er gesagt hatte? Bei mir wohnen? Gott im Himmel, Heilige Mutter von Mangabas! Wenn meine Pflegemutter ihn in meinem Zimmer sah, würde sie so laut schreien, dass man es bis an den Strand von Ponta Negra hörte. Sie würde Isaura mit einem Besen rufen, damit sie Adão die Treppe hinunterjagte. Und als wäre das nicht genug, müsste Isaura Adão an den Beinchen packen und die Balustrade von Petrópolis herunterwerfen.
»Ich errate alles, was du denkst. Diese Gefahr besteht jedoch nicht.«
»Umso besser« atmete ich erleichtert auf.
»Und wie soll ich dich ansprechen? Sesé?«
»Nicht doch, Sesé existiert nicht mehr. Er war ein dummer kleiner Kerl aus einer anderen Zeit. Mit dem Namen eines Straßen jungen … Heute bin ich ganz anders. Ich bin ein höflicher, ordentlicher junger Mann …«
»Du bist traurig. Vor allem traurig. Vielleicht einer der traurigsten Jungen der Welt, oder?«
»Ich weiß.«
»Wärst du gerne wieder Sesé?«
»Nichts im Leben bleibt, wie es war. Einerseits wäre ich es gern. Anderseits nein. Diese ganze Sache mit den Schlägen, dem Hunger …«
Der alte Schmerz, der mich immer verfolgte, kehrte zurück. Wieder Sesé sein, einen kleinen Orangenbaum haben, den Portugiesen erneut verlieren …?
»Sag die Wahrheit. Wärst du es nicht doch gern? Damals hattest du etwas, das du seit Langem nicht mehr fühlst. Eine kleine und sehr gute Sache: die Liebe.«
Entmutigt nickte ich.
»Noch ist nicht alles verloren. Noch betrachtest du die Dinge ja mit Liebe, sonst würdest du dich nicht mit mir unterhalten.«
Er machte eine Pause, dann erläuterte er sehr ernsthaft:
»Schau mal, Sesé, dafür bin ich hier. Ich bin gekommen, um dir zu helfen. Dir zu helfen, dich gegen alles im Leben zu schützen. Und nicht mehr darunter zu leiden, ein sehr einsamer Junge zu sein … der Klavier üben muss.«
Wie hatte Adão herausgefunden, dass ich Klavier spielte? Und dass es eine Qual für mich war?
»Ich weiß alles, Sesé. Deshalb bin ich hier. Ich werde in deinem Herzen wohnen und dich beschützen. Glaubst du das nicht?«
»Doch, ich glaube es. Ich hatte schon einmal in meinem Leben ein Vögelchen in meiner Brust, das mit mir die lieblichsten Lieder dieser Welt gesungen hat.«
»Und wo ist es?«
»Fort. Es ist fortgeflogen.«
»Das bedeutet, dass du einen Platz hast, um mich aufzunehmen.«
Ich wusste nicht, was ich denken sollte. War mir nicht sicher, ob ich träumte oder irgendeine Verrücktheit erlebte. Ich war dünn und hatte einen eingefallenen Brustkorb mit Rippen wie ein hölzernes Rhythmusinstrument. Wie sollte eine derart dicke Kröte da hineinpassen? Erneut erriet er meine Gedanken.
»In deinem Herzen bin ich klein, sodass du mich kaum spüren wirst.« Als er mein Zögern bemerkte, erklärte er weiter. »Schau mal, Sesé, wenn du mich in dir akzeptierst, wird alles leichter. Ich zeige dir ein neues Leben, bewahre dich vor allem, was schlecht ist, und fege nach und nach dieses Netz der Traurigkeit hinweg, das dich umgibt. Du wirst, auch wenn du allein bist, nicht mehr so leiden.«
»Brauche ich das denn so dringend?«
»Du brauchst es, damit du kein einsamer Mann wirst. Wenn ich in deinem Herzen wohne, wird sich ein neuer Horizont eröffnen. Bald wirst du eine Metamorphose in deinem Leben bemerken.«
»Was ist eine Metamorphose?«
»Eine Veränderung. Eine Verwandlung.«
»Verstehe.«
Tatsächlich merkte ich, dass ich bereits alle Angst und Abneigung gegenüber der Cururu-Kröte verloren hatte. Es schien fast, als wären wir seit gut zweihundert Jahren Freunde.
»Und wenn ich akzeptiere?«
»Du wirst akzeptieren.«
»Und was muss ich tun?«
»Du nichts. Ich schon. Du musst nur sehr mutig und entschlossen sein, um zuzulassen, dass ich in deine Brust eindringe.«
Mir standen die Haare zu Berge, als hätte ich in eine Steckdose gegriffen.
»Durch den Mund?«
»Nein, Dummerchen. Da würde ich gar nicht durchpassen.«
»Wie dann?«
»Du wirst deine Augen schließen und ich werde mich auf deine Brust legen und in dich eindringen, einfach eindringen …«
»Und das tut nicht weh?«
»Überhaupt nicht. Es wird dich nur sehr müde machen.«
Ich kämpfte gegen meine Angst. Auf meiner Haut spürte ich die eisige Kälte seines glitschigen Bauches. Erneut las Adão meine Gedanken.
»Gib mir deine Hand.«
Mir brach der kalte Schweiß aus, doch ich gehorchte.
»Du wirst spüren, dass meine auch weich ist.«
Es war wie ein Wunder. Die Hand der Cururu-Kröte war so groß wie meine und fühlte sich warm und vertraut an.
»Siehst du?«
Mit den Fingern untersuchte ich seine Handfläche.
Ich war fassungslos.
»Spielen Sie auch Klavier?«
Er lachte belustigt.
»Warum?«
»Weil Sie nicht eine einzige Schwiele auf der Hand haben. Auch bei mir ist es so, ich darf keinen Baum hinaufklettern, mir nicht die Finger verletzen, nicht einmal mit ihnen schnipsen. Alles verboten, um das Klavierspiel nicht zu vermasseln.«
Ich seufzte entmutigt.
»Siehst du? Du brauchst mich.«
»Und irgendwann werde ich aufhören, Klavier zu üben?«
»Hasst du die Musik so sehr?«
»Es ist nicht, dass ich sie nicht mag. Was ich nicht mag, ist, dass ich mein Leben über den Tasten verbringe. Mit endlosen Übungen und Tonleitern, die nie aufhören.«
Da fiel mir etwas ein.
»Wissen Sie, Senhor Adão, die chromatische Tonleiter spiele ich sogar ganz gern.«
»Ich weiß, lieber Sesé.«
Jetzt verstand ich, dass unsere Vertrautheit es mir verbot, ihn mit Senhor anzusprechen. Wir lachten gleichzeitig.
»Könnte es sein, dass Sie mir dabei helfen, mit dem Klavierspielen aufzuhören?«
»Nun, Sesé, das kann ich nicht garantieren. Doch vielleicht finden wir einen Weg, damit du nicht weiter so leiden musst.«
»Das ist schon mal was.«
Er warf mir einen eindringlichen Blick zu. Dann schaute er auf die Armbanduhr, als wollte er mich daran erinnern, dass die Stunden vergingen.
Ich würde nicht weiter schwanken. Allein die Tatsache, mich nicht mehr mit dem Klavier langweilen zu müssen, hatte mir die Entscheidung abgenommen.
»Was soll ich tun?«
»Knöpf deine Schlafanzugjacke auf und hab keine Angst.«
»Ich werde keine haben.«
»Jetzt musst du mir helfen. Lass die Ecke des Bettlakens herunter und zieh mich hoch.«
Gesagt, getan. Adão befand sich jetzt sehr dicht neben mir. In der Nähe des Lichts nahmen seine Augen eine himmelblaue Farbe an. So wie der Himmel, wenn er richtig blau ist. Schon kam er mir nicht mehr so hässlich und unangenehm vor.
»Ich möchte nur, dass du mir die Wahrheit sagst. Wird es wehtun?«
»Überhaupt nicht.«
»Du wirst mein Herz nicht aufessen?«
»Doch, werde ich. Es wird so zart sein, als kaute ich eine Wolke.«
»Und wenn mein Vater irgendwann ein Röntgenbild machen lässt?«
»Niemand wird es herausfinden. Denn mit der Zeit werde ich ein Herz werden, das genauso aussieht wie das, das du früher hattest.«
»Ich möchte alles sehen.«
»Möchtest du nicht lieber schlafen?«
»Nein. Ich werde mich an die Wand lehnen und zuschauen.«
»Dann werde ich deine Ohren eine besonders schöne Musik hören lassen.«
»Darf ich eine auswählen?«
»Darfst du.«
»Ich würde gern die Serenade von Schubert und die Träumerei von Schumann hören.«
»Am Klavier?«
»Ja.«
Adão strich mit seinen Fingern über meine Haare und lächelte.
»Sesé! Gib zu, dass du das Klavier doch nicht so hasst.«
»Manchmal finde ich es schön.«
»Fangen wir an?«
»Fangen wir an.«
Liebliche Musik erklang. Adão legte sich auf meine Brust und alles war sanft wie der Wind.
»Bis gleich.«
Ich sah, wie er den Mund auf meine Brust legte und anfing, in mich einzudringen. Adão hatte nicht gelogen. Es tat nicht weh und ging sehr schnell. Bald darauf sah man nur noch seine Beinchen in meinem Fleisch verschwinden. Ich strich mit der Hand über die Stelle, alles war unversehrt geblieben. Trotzdem schlug mein Herz erwartungsvoll. Ich wartete ein bisschen, dann hielt ich es nicht mehr aus.
»Adão, bist du da?«
Die Stimme war jetzt nur leise zu vernehmen.
»Bin ich, Sesé.«
»Hast du mein Herz schon gegessen?«
»Ich bin gerade dabei. Aber ich kann nicht mit vollem Mund sprechen. Warte kurz.«
Ich gehorchte und zählte meine Finger. Es war wunderbar. Niemand ahnte, dass ich kein gewöhnliches Herz mehr hatte. Sondern einen so guten Freund wie die Cururu-Kröte.
»Schon fertig?«
»Fertig. Es war lecker. Jetzt musst du schlafen, morgen ist ein neuer Tag.«
Glücklich rekelte ich mich. Dann zog ich die Bettdecke hoch, um meine Brust und meine Cururu zu wärmen, die gleichmäßig und furchtlos schlug.
Etwas ließ mich im Bett hochschrecken.
»Was ist los, Sesé?«
»Du hast vergessen, das Licht auszumachen. Das ist los.«
»Ich bringe es dir bei. Blas die Backen gut auf und puste.«
Ich gehorchte, schon war es in meinem Zimmer wieder dunkel. Meine Lider waren schwer vor Müdigkeit. Doch ich lächelte.
»Adão, schläfst du schon?«
»Nein, warum?«
»Vielen Dank für alles. Und du darfst mich immer Sesé nennen. Selbst wenn ich eines Tages erwachsen bin. Du kannst mich so nennen, weil es mir gefällt, in Ordnung?«
Die Antwort kam von weit, weit her, man konnte sie kaum noch hören. »Schlaf, mein Sohn. Schlaf, denn die Kindheit ist wundervoll.«
Dadada klopfte an meine Zimmertür, und als ich nicht antwortete, legte sie die schwieligen Hände auf die Klinke und öffnete sie. Zuerst erschrak sie wegen meines Stöhnens. Dann nahm sie es nicht weiter ernst.
»Avie, mein Junge. Zeit für die Schule. Du wirst doch nicht die ganze Zeit schlafen wollen!«
Da ich nicht aufhörte zu stöhnen, näherte sie sich dem Bett und wunderte sich über meine Mattigkeit. Nie war ich einer dieser faulen Jungen gewesen. Musste ich aufstehen, tat ich es normalerweise sofort.
Dadada trat noch näher an das Bett und erschrak wegen meiner geröteten Augen. Sofort legte sie ihre Hand auf meine Stirn und murmelte sorgenvoll.
»Heiliger Franziskus von Canindé, wache über diesen vor Fieber glühenden Jungen.«
Sie knöpfte meine Schlafanzugjacke zu und zog die Decke über meinen Körper. Hastig verließ sie das Zimmer, um Hilfe zu holen.
Wieder fielen mir die Augen zu. Ich fühlte mich dermaßen matt, dass ich nicht einmal meine Arme spürte.
Meine Mutter kam schimpfend aus dem Wohnzimmer.
»Wahrscheinlich hat er wieder was ausgefressen. Denkt sich einen Grund aus, um nicht in die Schule gehen und heute kein Klavier üben zu müssen.«
Doch als sie die Hand auf meine Stirn legte, änderte sie ihre Meinung. Sofort gab sie allem Möglichen die Schuld.
»Das sind die Mandeln. Er hat bei offenem Fenster geschlafen und durch die Morgenkälte eine Grippe bekommen. Das hat gerade noch gefehlt!«
Dadada wurde bereits nervös und ergriff für mich Partei.
»Armes Ding. Das Würmchen ist krank. Immer so ruhig, so schweigsam. Warten wir, bis der Doktor aus der Messe kommt.«
Als mein Vater aus der Messe kam, zögerte er keinen Moment.
»Lungenentzündung, und zwar eine ordentliche.«
Eine wilde Rennerei begann. Apotheke. Spritze. Tabletten …
»Wenn es nicht besser wird, müssen wir die Schröpfgläser ansetzen.« »Nichts müsst ihr. Das geht schon vorbei«, antwortete ich erschöpft.
»Woher willst du wissen, dass das vorbeigeht? Was vorbeigehen muss, geht vorbei?«
»Es ist aber keine Lungenentzündung.«
Mein Vater fasste sich an den Kopf.
»Jetzt auch das noch. Da verbringt man sein Leben über Büchern, und dann kommt so ein Hanswurst und will dem Pfarrer das Vaterunser beibringen.«
Der Gedanke an diese Schröpfgläser entsetzte mich.
»Was ist ein Schröpfglas?«
»Das ist eine einfache Methode, damit jemand Schleim aushustet. Es wird dein Blut durcheinanderwirbeln. Verflixt nochmal! Du kannst das nicht verstehen.«
»Wie macht man das?«
»Ganz einfach. Indem man es eben macht. Und frag nicht so viel, davon steigt dein Fieber!«
Dann hatte er Mitleid mit mir und erklärte es ruhiger.
»Es ist einfach. Wir setzen sie auf deine Brust und deinen Rücken. Man kann es sogar mit einer Kaffeetasse tun. Und hab keine Angst, denn es tut nicht weh.«
Etwas pikste mich innerlich. Würde es der Kröte auch nicht schaden? Adão hörte bestimmt alles, und sicher zitterte er vor Angst.
»Wie lange dauert es eigentlich, bis diese Spritze abgekocht ist?«
Er regte sich auf und sofort kam die Spritze mit dem aufgezogenen Medikament, umgehend gefolgt vom Befehl: »Streck den Po nach oben!«
Ich gehorchte. Wieder regte er sich auf.
»Dieser Unglücksrabe hat nicht mal Fleisch auf den Knochen.«
»Nur nicht so ungestüm, Mann«, tadelte meine Mutter ihn. »Schließlich kommst du gerade aus der Messe und von der Kommunion.«
Am liebsten hätte ich gelacht. Denn so war er wirklich. Über alles regte er sich auf, und dann war es plötzlich wieder vorbei. Doch statt zu lachen, stieß ich einen Schrei aus, der gegen die Blätter der Kokospalmen in der Nachbarschaft schallte.
»Fertig, schon vorbei. Es tut ja schon ein bisschen weh. Aber hätte ich dir das vorher gesagt, wäre es noch schlimmer gewesen.«
Der Geruch des Äthers, der auf meinem Po verrieben wurde, machte mich schwindlig. Mein Vater setzte sich auf die Bettkante und schaute mich an. Es war so selten, dass er mir seine Aufmerksamkeit schenkte. So selten betrachtete ich seine gerötete Haut, den dichten blauschimmernden Bart, so selten sah ich seine kleinen, fast schwarzen Augen.
Ich griff nach seiner Hand, und zu meiner Überraschung zog er sie nicht zurück.
»Es ist keine Lungenentzündung.«
»Und was ist es dann?«
»Die Cururu-Kröte hat gestern Nacht mein Herz gegessen, und danach ging es mir so.«
Er riss die Augen auf und legte die Hand erneut auf meine Stirn. »Er fiebert wieder.«
Eine sehr dünne, leise Stimme flüsterte mir zu. Es war Adão.
»Du Dummerchen, weißt du nicht, dass Erwachsene nichts verstehen? Selbst wenn du die größte Wahrheit der Welt sagst, es nützt nichts.«
»Entschuldige, Adão.«
Mein Vater wunderte sich.
»Entschuldige was?«
»Nichts, gar nichts. Ich muss geträumt haben.«
»Du bist durcheinander. Sprichst von einer Cururu-Kröte, die dein Herz verschluckt hat und nennst mich Adão.«
Gleich würde er aufstehen. Sanft drückte ich seine Hand gegen das Bettlaken.
»Werde ich sterben?«
»Blödsinn. Das geht bald vorbei. Wenn es heute Mittag nicht besser ist, setze ich die Schröpfgläser.«
»Und die Schule?«
»Du darfst nicht aufstehen. Du musst ganz ruhig liegen bleiben. Kein Unterricht, nicht einmal Klavier. Bis du gesund bist. Mindestens eine Woche.«
Er ging hinaus und ließ mich allein. Nein, nicht allein, denn ich spürte Adãos Anwesenheit.
»Sesé, Sesé, du musst vorsichtiger sein, du darfst niemandem unser Geheimnis verraten.«
»Ich erzähle wirklich nichts. Ich habe nur etwas gesagt, weil ich Angst hatte, dass die Schröpfgläser dir schaden könnten.«
»Du hast recht. Aber man kann nicht vorsichtig genug sein.«
Erneut überkam mich Müdigkeit. Sie hatten mir Milchkaffee gebracht, und ich hatte alles hinuntergeschluckt, bis mir schlecht war. Besser ich blieb ganz ruhig liegen, als existierte nichts um mich herum.
»Adão!«
»Was ist denn? Ruf mich nicht grundlos. Du hast gehört, was dein Vater gesagt hat. Du musst dich ausruhen. Denn wenn es dir gutgeht – vergiss das nicht –, werden wir gemeinsam ein neues Leben beginnen.«
»Ich will dir nur eine Sache sagen. Es gibt eine Person, der ich es erzählen muss. Und du wirst sie sehr mögen. Es ist Bruder Feliciano, in der Schule. Er ist so nett, ein so guter Freund.«
»Und wird er es verstehen?«
»Sicher. Er versteht alles, was ich tue.«
»Dann werden wir sehen. Aber jetzt sei still.«
»Nur noch eine Klitzekleinigkeit. Können wir nicht ausmachen zu sprechen, ohne zu sprechen?«
»In Gedanken?«
»Ja. Dann müssen wir uns nicht anstrengen und niemand merkt was.« »Das ist eine Lösung. Dann denk an etwas, damit wir sehen, ob es funktioniert.«
Ich dachte: Ich werde eine Woche lang kein Klavier spielen und nicht in die Schule gehen. Adão lachte so heiter, dass meine Brust wackelte. Sofort antwortete er in Gedanken.
»Du Schlawiner. Jetzt sieh zu, dass du schläfst.«
Zufrieden schloss ich die Augen. Es hatte funktioniert. Niemand würde jemals unser Geheimnis aufdecken. Alles in unserer Freundschaft würde gut und immer besser werden. Ich hatte einen Freund gefunden, hatte eine Woche frei und konnte es kaum erwarten zu erfahren, wie mein Leben sich verbessern würde.
Ich betrat die Schule und ging entschlossen die Treppe hinauf. Die Krankheit war verschwunden. Ich wollte Adão alle Orte zeigen, an denen sich mein Leben abspielte.
»Hast du gesehen, Adão? Gleich wirst du Bruder Feliciano kennenlernen.«
Die Schultasche unter dem Arm, die für einen kleinen, mageren Kerl wie mich übrigens sehr schwer war, betrat ich das Direktorat.
Hinter dem hohen Schreibtisch sah ich Bruder Felicianos geröteten Kopf. Wahrscheinlich hatte er ihn über ein Blatt gesenkt und schrieb. Er schrieb immer, denn seine Aufgabe als Assistent des Direktors war es eben, zu schreiben.
Ich schlich mich neben ihn und wartete darauf, dass er mich bemerkte. Wie lange es dauerte. Ich konnte nicht widerstehen.
»Paul Louis Fayolle!«
Er ließ alles fallen, als wäre ein Stromschlag durch ihn gefahren. Heftig warf er seine Brille auf den Tisch. Sein Gesicht hellte sich auf wie eine riesige Sonne.
»Schusch!«
Ich hatte die Art, wie er mich anredete, vermisst.
Schusch. Ich wusste nicht, was er damit sagen wollte, und hatte nie gefragt, was es bedeutete. Es war ein Name, eine Erfindung, etwas voller Liebe, das Bruder Feliciano für mich geschaffen hatte. Nur er nannte mich so.
Eine Sekunde lang betrachtete er mich zufrieden, dann breitete er seine Arme aus, um mich zu umarmen. Selbst nachdem ich mich auf den Stuhl neben ihn gesetzt hatte, schaute er mich an, musterte mich von oben bis unten.
»Dann bist du also zurück, Schusch?«
»Ja, bin ich. Ich habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten.«
Ich war glücklich in der Nähe von jemandem, der mir nie schaden oder es auch nur zulassen würde, dass man mich schlecht behandelte. Er war der erste Mönch, dem die Einsamkeit meiner Seele aufgefallen war. Die Traurigkeit des unverstandenen Jungen, dessen Blick nur Kummer und Not verströmte. Er wusste über meinen elfjährigen Kampf Bescheid. Die Geschichte eines armen Jungen, der zu einem reichen, kinderlosen Paten gegeben wird, damit dieser ihn großzieht. Die plötzliche Veränderung im Leben eines Straßenjungen, Herrn der Sonne, der Freiheit und des Ungehorsams, der jetzt an eine neue Familie gefesselt und unweigerlich verloren, vernachlässigt, vergessen war. Wie oft hatte Fayolle sich für meine kleinen Probleme interessiert. Wie oft hatte er meine Tränen getrocknet, mich getröstet und mir gezeigt, dass es unmöglich war, in meine so weit entfernte Straße in meinem fernen Vorort zurückzukehren. Er war der Erste, der mich verstand und beschützte. Nur die anderen Maristen-Mönche wussten, dass er Paul Louis Fayolle hieß. Ich hatte das Geheimnis aufgedeckt. Ich durfte ihn Fayolle nennen und duzen, wenn wir allein waren. Vor den anderen Jungen war er wieder Bruder Feliciano und wurde mit Senhor angeredet.
»Erzähl mir alles. Du bist dünner geworden, Schusch.«
Er lächelte, und bevor ich anfing, fiel ihm noch etwas ein.
»Ich habe immer bei dir zu Hause angerufen, um zu erfahren, wie es dir geht. Wusstest du das?«
Ich nickte bejahend.
»Ich habe mir Sorgen gemacht, mein Sohn. Aber jetzt ist alles vorbei und ich habe schon im Speisesaal der Pater Bescheid gesagt. In der Zwei-Uhr-Pause, nach der Religionsstunde, wird jeden Tag eine Süßigkeit für dich bereitstehen. Du musst nur mit Manuel sprechen, er weiß Bescheid.«
»Danke.«
Er schaute auf die Armbanduhr und sah, dass noch Zeit war.
»Wir haben noch Zeit, Fayolle. Mein Vater hat mich im Auto mitgenommen. Er verschreibt Medikamente in der Irrenanstalt.«
»Dann erzähl.«
Eigentlich hatte ich gar keine Lust, von meiner Krankheit zu berichten. Der Schmerz war weg und hatte keine Bedeutung mehr. Adãos Existenz war der Höhepunkt. Aber ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte.
»Versprich mir, dass du nicht über mich lachst und denkst, bei mir ist eine Schraube locker.«
Fayolle machte ein ernstes, erwartungsvolles Gesicht. Ich erzählte ihm alles und schaute ihm fest in die Augen, weil ich fürchtete, leisen Zweifel oder Spott zu entdecken. Aber nichts in seinen gutmütigen braunen Augen deutete darauf hin. Das beruhigte mich.
»Nun gut, Schusch. Du hast also eine Cururu-Kröte in Form eines Herzens?«
Ich war etwas verblüfft. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht darüber nachgedacht, ob das Herz die Form einer Kröte hatte oder ob es umgekehrt war.
»Ja, sieht so aus. Und das ist gut. Er wird mir sehr helfen.«
Dennoch beschloss ich, erst einmal nicht zu erzählen, dass die Kröte Adão hieß. Vielleicht wollte Adão es nicht.
»Also glaubst du mir, Fayolle?«
»Natürlich glaube ich dir. Wir glauben so viele Dinge im Leben. Es ist immer ratsam, auf den richtigen Zeitpunkt im Herzen zu warten.« Mir wurde klar, dass Fayolle etwas verwirrt war und mich nicht enttäuschen wollte. Und plötzlich schoss mir einer meiner verrückten Gedanken in den Kopf.
»Ich glaube, es ist nicht zu viel verlangt, zu glauben, eine Kröte im Herzen zu haben. Zumindest habe ich gesehen, was mit mir geschehen ist. Wir glauben doch auch, dass die Hostie der Leib und das Blut unseres Herrn Jesus Christus ist, oder?«
Fayolle schaute mich mit größter Sanftmut an und lächelte.
»Also dann, Schusch, ich glaube dir alles, was du sagst. Hast nicht du selbst mir einmal erzählt, dass du als kleiner Junge ein singendes Vögelchen in deiner Brust hattest?«
»Das habe ich.«
»Also dann hoffe ich nur, dass deine Kröte dir lauter Gutes beibringt und dafür sorgt, dass dein Herz ehrlich bleibt.«
Er schwieg und lächelte weiter, während er mich lange ansah. Dann schaute er auf die Armbanduhr und holte mich in die Realität zurück.
»Es ist Zeit, Schusch. Gleich läutet die Schulglocke.«
Ich stand auf und Fayolle sagte noch: »Später reden wir weiter.«
Ich ging zur Tür. Dort drehte ich mich um und winkte ihm zum Abschied. Ungeduldig wedelte er mit der Brille, damit ich endlich im Flur verschwand.
Ich dachte an Adão.
»Was hältst du von ihm? Mochtest du ihn?«
»Sehr. Er ist sogar unter Wasser ein Freund.«
Die Sonne erleuchtete den ganzen Korridor, die Wände schienen den blauen Himmel in Teile zu zerlegen. Würde Adão die frühere Freiheit, die Sonne, den Regen, das Zirpen der Grillen, den Lärm der Jungen, die Drachen fliegen ließen, das Summen der sich auf der Straße drehenden Kreisel nicht vermissen?
»Kein bisschen.«
Ich staunte und sagte: »Du bist ein echter Held. Aber mal sehen, ob du acht Unterrichtsstunden hier aushältst. Und drei Klavierstunden zu Hause!«
»Lieber Sesé. Jeder Mensch auf der Welt hat seine Bestimmung. Schon als ich ankam, wusste ich über alles Bescheid.«
»So, Joãozinho, du Erbsenzähler! Schluss mit der Faulheit, auf in den Kampf!«
Meiner Cururu-Kröte musste ich Joãozinho nicht vorstellen. Sie kannte ihn wahrscheinlich besser als alles andere.
Ich zog die Gardine im Salon zur Seite, damit das Tageslicht, damit die wunderbare Sonne hereinscheinen und ihn bis in den letzten Winkel mit Leben erfüllen konnte. Wie immer fiel mir der Anfang schwer. Aber nach einiger Zeit wurde ich warm und machte weiter. Bevor ich aber den Klavierdeckel überhaupt aufschlug, betrachtete ich die schwarze Figur: eine schwarze Frau aus Ton, die meine Oma zu ihrem fünfzehnten Geburtstag aus Paris bekommen hatte. Laut meinem Vater würde ich diese Figur mit dem weißen Turban und den traurigen Augen eines Tages erben. Ich behandelte die schwarze Barbara mit viel Respekt und glaubte, dass sie meine Musik sogar mochte, wenn ich richtig spielte. Doch dieses Mal wandte ich mich vor dem Üben mit einer Empfehlung an sie.
»Besser, Sie ziehen den Turban bis über die Ohren, Frau Barbara, denn ich habe seit einer Woche nicht geübt und meine Finger sind eingerostet.«
Ich schlug Joãozinhos Deckel auf und zog gemächlich das grüne, mit einer Reihe gelber Noten bestickte Tuch weg. Joãozinho zeigte seine strahlendweißen Zähne, seine Welt der Noten, der Durs und Molls. Nie verstand ich, warum man Des-Dur und b-Moll brauchte. Eins genügte. Entweder Des-Dur oder b-Moll. Warum dieses ganze Durcheinander, wenn ein As-Dur ein c-Moll war? Eigentlich war das Dur viel sympathischer, denn es wirkte wie ein Vogelschwarm in einem kleinen aufgehängten Käfig. Ich mochte es, dass mein Klavier immer wie neu roch, dass es seinen Duft in der Seele bewahrte. Nie im Leben würde ich diesen Geruch vergessen können. Gerade bereitete ich mich darauf vor, die Finger auf die Tasten zu legen, als ein langer Sonnenstrahl über das Gesicht der schwarzen Barbara tanzte.
Wie schön die Sonne wurde, wenn wir gesund waren! Weit weg von hier war um diese Zeit Totoca auf dem Weg in die Schule Martins Júnior. Die ganze Meute. Wahrscheinlich begrüßten die Zikaden in den Dornenbüschen zirpend den Sommer. Godóia würde das Wohnzimmer fegen, das Schlafzimmer aufräumen und die Küche vorbereiten. Und ich saß hier, eingesperrt im Salon, in dem ich nur einen Sonnenstrahl erheischte. Mir stiegen schon die Tränen in die Augen, als ich Adãos Stimme hörte.
»Vergiss es, Sesé, das bringt doch alles nichts. Nach und nach wirst du vergessen, und wenn du dich dann erinnerst, wird alles so weit weg sein, dass du nicht mehr darunter leiden wirst.«
Ich kehrte in die Realität zurück. Zuerst strich ich leicht mit den Fingern über die Tasten. Ich mochte Joãozinho. Es war nicht seine Schuld. Nie ermahnte er mich, wenn ich falsch spielte. Immer gehorchte er mir. Machte er einen Fehler, war es meine Schuld. Ein Klopfen des Fußes an der Decke zeigte mir, dass meine Mutter die Verzögerung stutzig machte. Zweimal bedeutete, nochmal von vorne beginnen zu müssen. Dreimal hieß allgemeiner Alarm. Wenn ich mich nicht konzentrierte, kam sie herunter, um den Grund herauszufinden. Anfangs ertönten die drei Schläge gelegentlich. Aber bald war ich überzeugt, dass es besser war, alles gut zu machen, denn dann war es schneller vorbei und es gab kein Donnerwetter.
Das war das Leben. Vor dem Frühstück eine halbe Stunde Klavier. Nach dem Frühstück nochmal zwanzig Minuten, bis es Zeit war, in die Schule zu gehen. In der Mittagspause: vierzig Minuten, bis es Mittagessen gab und ich zurück in die Schule musste. Meine Hausaufgaben machte ich fast immer in der Studierzeit und um halb sechs kam ich wieder nach Hause. Ich duschte, zog frische Kleider an und übte noch ein bisschen Klavier, um die Zeit bis zum Abendessen zu überbrücken. Nach dem Essen hatte ich eine halbe Stunde Zeit zu spielen. Aber mit wem sollte ich spielen? Ich hatte keine Freunde. Niemand bei mir zu Hause mochte es, wenn ein Freund auftauchte. Vor lauter Angst wurde ich sogar nervös, dass einmal jemand unangekündigt kommen könnte. Ich streichelte das Hündchen Tulu, das wegen eines Unfalls völlig verkrüppelt war. Dafür liebte mich das Tierchen. Normalerweise setzte ich mich auf die Stufen der Hintertreppe, die an das Grundstück der Hafenbehörde grenzte. Wir konnten den Potengi-Fluss sehen, bevor es dunkel wurde. Die langsam dahingleitenden Boote in der untergehenden Sonne, die die geblähten weißen Segel in goldenes Licht tauchte. Jetzt war es noch schöner, denn wir drei träumten vor uns hin: Tulu, Adão und ich.
»Irgendwann fliehen wir mit einem Boot aufs offene Meer, stimmt’s Adão?«
»Ja, das machen wir.«
Als Tulu meine Stimme hörte, wedelte er mit dem Schwanz.
»Ich nehme dich mit, Tulu. Wir können den Ärmsten doch mitnehmen, oder Adão?«
»Keine Frage.«
Es war die schnellste halbe Stunde der Welt. Die Stimme meiner Mutter ertönte.
»Genug gespielt. Es ist Zeit.«
Ich ging hinein, wusch meine Hände und betrachtete meine schlanken Finger, als würde ich sie hassen. Dann steuerte ich auf den Salon zu und öffnete Joãozinhos Deckel.
Jedes Mal, wenn ich das tat, las ich den Herstellernamen. Es war ein Rönisch-Klavier. Die ersten Töne klangen entrüstet und murmelten Rönisch-Rönisch-Rönisch. Danach verlor ich mich in der Welt von Czernys Klavierübungen und spielte Tonleitern und Übungsstücke, bis es Zeit war, schlafen zu gehen.
Um sonntags die Zeit zu nutzen, die ich nicht in der Schule verbrachte, lernte ich fast den ganzen Vormittag. Zuerst die Hausaufgaben, dann zur Abwechslung ein bisschen Klavier üben. Selten gab es Sonntage, an denen mein Vater beschloss, an den Strand zu gehen. Aber dann, ja dann wurde eine verzauberte Welt Wirklichkeit. Ich schwamm bereits wie ein Fisch. Doch selbst dabei zeigte sich, dass ich verdammt war.
»Leugne nicht, dass du Indioblut in dir hast. Du kannst nicht leugnen, dass du Pinagé-Indianer bist.«
Darauf reagierte ich gar nicht mehr, ich musste die zwanzig Minuten Schwimmen im Meer in die Länge ziehen. Denn am Strand konnte man viel beobachten. Achtung mit der Sonne! Bleibt nicht so lange, denkt an seinen Hals! Wenn er Halsweh bekommt, wird er trotzdem Klavier üben, selbst mit 100 Grad Fieber!
Nach dem Mittagessen musste ich mein Notenheft vorlegen. Alles war in Ordnung: gute Noten. Dann kam die größte Prüfung: »Hast du gebeichtet und die Kommunion empfangen?« Ja. Ich rief mir die Wochentage ins Gedächtnis, um zu sehen, ob ich nichts schuldig geblieben war, keinen Unsinn gemacht hatte. Es reichte, um gehen zu dürfen.
Ich zog mich gut an, um für die Zweiuhrvorstellung gerüstet zu sein. Bevor ich das Haus verließ, kamen die üblichen Anweisungen.
»Setz die Ledermütze auf. Du hast fünfzehn Minuten, um das Kino zu verlassen und nach Hause zu kommen.«
Käme ich auch nur fünf Minuten zu spät, würde man mich bereits am Gartentor erwarten.
»Geh ins Kino Carlos Gomes. Es läuft Skippy, ein Film mit Jackie Cooper. Danach musst du mir den Film zusammenfassen.«
Ratlos machte ich mich auf den Weg. Es war Zeit genug, um die Bilder am Kino Royal anzuschauen. Zum Glück hatten sie die Sache mit dem Guten-Tag-Sagen aufgegeben. Schon zweimal war mir der sonntägliche Kinobesuch entgangen, weil ich mich geweigert hatte, »Guten Tag« oder »Gute Nacht« zu sagen. Selbstverständlich hatte ich meine Gründe.
Sie waren nicht meine Eltern. Ich war hierher gebracht worden, als ich noch sehr jung war und keine Wahl hatte. Alles, aber auch alles konnte als Vorwand dafür herhalten, mich zu bestrafen. Immer ließen sie mich spüren, dass ich nicht ihr Kind war. Schlimmer noch, in meiner Verbitterung hatte ich die Erklärung für alles: Sie machen das mit mir, weil ich nicht ihr Sohn bin. Sie wollen mich perfekt machen, wozu weiß ich nicht.
Unbeeindruckt ging ich meinen Weg.
»Weißt du, Adão, was er mit mir gemacht hat? Nein, du hast damals noch nicht bei mir gewohnt oder mit mir gedacht. Nun gut. Du hast schon bemerkt, dass ich der jüngste und kleinste Schüler in meiner Klasse bin, oder?«
Adão pflichtete mir bei und hörte aufmerksam zu.
»Nun gut. Als das Schuljahr begann und damit mein erstes Jahr auf dem Gymnasium, war ich glücklich und stolz. Sie gaben mir eine endlose Liste mit Büchern und Heften. Alles zusammen kam auf 25.000 Réis. Ich rannte zur Praxis meines Vaters, um ihm die Liste zu zeigen und um Geld zu bitten. Wusstest du, dass man im ersten Jahr auf dem Gymnasium die meisten Fächer hat, Adão?«
»Nun, Sesé, was Schule betrifft, habe ich keine Ahnung. Das Einzige, worüber ich verfüge, ist Lebenspraxis.«
»Entschuldige. Wirklich?«
»Ist gut, aber fahr fort.«
»Ich ging die Treppe zur Praxis hinauf, setzte mich und wartete brav, bis er Zeit hatte und die Tür öffnete. Es dauerte gar nicht mal so lange, aber ich war so aufgeregt, dass es mir wie eine Woche vorkam. Nachdem er geöffnet hatte, gab er mir ein Zeichen zu warten. Zuerst nahm er ein Telefonat entgegen und verabredete einen Termin. Dann rief er mich. Er forderte mich auf, mich zu setzen und schaute sich die Bücherliste an. Langsam rechnete er alles zusammen, zog die Brille ab und blickte mich kühl an.
»Du bist den Preis der Bücher nicht wert. Aber gut. Zu Hause gebe ich dir Geld.«
Adão wurde ungeduldig, wollte das Ende erfahren. Aber ich hielt inne, da mir blöderweise mitten auf der Straße die Tränen in die Augen traten.
»Und was hast du dann gemacht, Sesé?«
Noch immer schluckte ich häppchenweise meine Gefühle hinunter … »Rede, Sesé, sei nicht niedergeschlagen. Ich bin hier, um dir zu helfen. Was ist dann passiert, Sesé?«
»Also gut. Ich war am Boden zerstört. Die Liste in meiner Hand wog so schwer, als wären alle Bücher riesige Münzen. Da kam mir dieser Gedanke: Wäre ich sein Sohn, würde er nicht so reden.«
»Stör dich nicht daran, Sesé. Lass uns alles vergessen. Lass uns ins Kino gehen. Vor dir liegen zwei Stunden Freiheit.«
Ich blieb stehen, um die Plakate zu betrachten. Alles für das Kind. Auf Englisch hieß er A Bedtime Story! Mit Maurice Chevalier und Helen Twelvetrees. Eine Verlockung. Noch nie hatte ich den Künstler mit dem Strohhut gesehen. Diesen Skippy hatte sich mein Klassenkamerad Tarcísio Medeiros bereits in einer Abendvorstellung angeschaut. Er hatte mir sogar die Geschichte erzählt und ich konnte sie zu Hause wiederholen.
Also … Unentschlossenheit lähmte meine Beine. Doch Adão kam mir zu Hilfe.
»Geh rein, Sesé.«
»Aber wenn sie es herausfinden?«
»Wie sollten sie es denn herausfinden?«
Das half mir nicht weiter. Mein gesunder Menschenverstand befahl mir etwas und Adão riet mir zum Gegenteil. Wahrscheinlich hatte ihn meine Geschichte entrüstet und er wollte mich dafür entschädigen.
Mit der größten Selbstverständlichkeit kaufte ich die Eintrittskarte. Niemanden störte es, ob der Film für Kinder geeignet war oder nicht. War er nicht geeignet, sollten sie ihn nicht in der Nachmittagsvorstellung zeigen. Ich setzte mich auf einen unauffälligen Platz, zog die Kappe ab und wartete auf den Beginn der Vorstellung. Zum Glück sahen wir keine Bekannten.
Anders als sonst fragte beim Abendessen niemand nach dem Kino. Sie vertrauten blind darauf, dass ich gehorchte und nicht das Risiko einging, einen Monat Kino zu verpassen, weil ich die erhaltenen Anweisungen missachtete.
Bevor ich an diesem Abend schlafen ging, setzte ich mich unaufgefordert an Joãozinho. Ich übte mit dem größten Vergnügen. Meine Finger spielten wie im Schlaf. Ich war so magnetisiert, dass meine Mutter sich wunderte.
»Du bist schon viel zu spät dran. Was ist heute nur mit dir los? Lass es gut sein. Morgen machst du weiter.«
Ich spürte, dass sie sehr zufrieden war. Aber nicht so sehr wie ich. Ich schlüpfte in meinen Schlafanzug und putzte mir die Zähne. Dann beschloss ich, das Beten sparsam zu gestalten. Statt des gewohnten Rosenkranzes betete ich nur drei Ave-Maria. Ein Abend machte nichts, wir beteten ja schon in der Schule so viel, dass wir Schwielen im Mund bekamen. Was ich jedoch unbedingt wollte war, mich mit Adão zu unterhalten. Mit ihm und mit meinem Kopfkissen, das ebenfalls Komplize all meiner Träume war.
»Glaubst du, der Teufel wird mir erscheinen, weil ich nicht den ganzen Rosenkranz gebetet habe?«
»Blödsinn, Sesé. Es gibt keinen Teufel. Hat nie einen gegeben. Es sind die schlechten Menschen, die diese Geschichten erfinden, um andere zu ängstigen.«
»Er ist das Einzige, wovor ich Angst habe.«
»Aber warum? Ich bin bei dir, du musst vor nichts Angst haben. Nicht vor Geistern, nicht vor Hexen oder irgendwelchem anderen Unsinn.« »Weil du mutig bist. Ich kann die Religionsstunden nicht vergessen. Bei allem sprechen sie vom Teufel. Nur Fayolle nicht.«
»Na dann. Glaub ihm, er weiß es besser.«
Ich erinnerte mich an etwas.
»Hast du schon Pater Monte gesehen?«
»Diesen Spindeldürren mit Brille?«
»Ja, der Beichtvater der Schule. Du hast keine Ahnung, wie gut es tut, bei ihm zu beichten. Es kommt einem so vor, als würde er gar nicht hören, was man sagt. Er gibt einem gleich drei kleine Ave-Maria auf und verzeiht. Ein Heiliger.«
Ich machte eine Pause.
»Und weiter?«, fragte Adão ungeduldig.
»Einmal war ich beichten und wusste nicht, dass Pater Monte für zwei Wochen nach Recife gefahren war. Erst als ich in den Beichtstuhl trat, bemerkte ich den Unterschied. Der Pater war riesig, mit tropfender Nase und abstehenden Ohren. Und ich starr vor Schreck, denn der verfluchte Kerl wollte jede Einzelheit wissen. Mag gar nicht daran denken. Er verpasste mir einen gehörigen Denkzettel und gab mir zur Strafe drei Rosenkränze als Buße auf.«
»Aber wie groß kann die Sünde bei einem Kind wie dir sein?«
»Na ja, Adão. Sünde halt. Sünden, die jedes Kind begeht. Nur dass er meinte, wir müssten uns merken, wie oft wir gesündigt haben. Ich war so nervös, dass ich mich an nichts erinnern konnte. Das alles wäre kein Problem gewesen, hätte ich in der darauffolgenden Woche nicht wieder zur Beichte gemusst. Weißt du, was er gesagt hat?«
»Nein.«
»Dieses Mal fragte er mit derselben näselnden Stimme: Und? Hast du dieses Mal gezählt? Mir verschlug es die Sprache. Denn im Katechismus haben sie garantiert, dass der Pfarrer alles vergisst, sobald er den Beichtstuhl verlässt. Ich war schockiert. Es fehlte nicht viel und ich wäre, ohne die Beichte zu beenden, aus der Kirche gerannt. Doch ich habe es ausgehalten. Ich musste am Sonntag die Kommunion empfangen, um nicht die Chance zu verpassen, an den Strand oder ins Kino zu dürfen. Also fasste ich Mut und erzählte alles. Am Ende war der Pfarrer wütend. Behauptete, dass ich nicht einmal versuchen würde, mich zu bessern. Dass ein Junge, der sich so benahm, in die Hölle verdammt würde. Und was wäre, wenn ich einen Schuss abbekäme und an einer Todsünde sterben würde? Ich käme direkt in die Hölle. Satan würde mit einer riesigen Gabel auf mich warten, um mich in die ewige Glut zu werfen. Schwindel überkam mich. Angst. Und am Schluss gab er mir zur Strafe drei Rosenkränze Buße auf. Weißt du, was das bedeutet, Adão? Neun Gebetsreihen. Und ich würde sie an einem Tag erledigen müssen, um am nächsten zur Kommunion gehen zu können.«
»Und dann?«
»Dann kam zum Glück Pater Monte bald wieder und alles war wie zuvor: Wir bezahlten kaum etwas für unsere Sünden. Trotzdem habe ich schreckliche Nächte verbracht. Habe mit brennendem Licht geschlafen und beim kleinsten Geräusch von Kopf bis Fuß gezittert und geglaubt, Satan würde die Riesengabel unter mich schieben.«
»Von heute an ist das vorbei. Ich bin hier.«
»Das stimmt.« Ich legte die Arme auf das Kopfkissen und seufzte.
»Was ist jetzt los, Sesé?«
»Nichts. Nur, dass ich unbedingt schlafen gehen wollte, um über eine bestimmte Sache zu reden. Und jetzt haben wir enorm viel Zeit verschwendet, ohne darüber zu sprechen. Aber jetzt muss ich schlafen, damit ich um sechs Uhr wieder aufstehen kann.«
»Also, wenn es sich um eine lange Sache handelt, verschieben wir’s auf morgen. Einverstanden?«
»Einverstanden.«
Ich gähnte herzhaft.
»Adão!«
»Was gibt’s?«
»Seit du bei mir wohnst, gefällt mir das Leben besser.«
»Ist das nicht gut?«
»Doch, ist es. Aber ich muss oft an etwas denken.«
»An was?«
»Du wirst nicht sterben, oder?«
»Nein, ich sterbe nicht. Ich sterbe nie.«
Langsam fielen mir die Augen zu.
»Ob du eines Tages weggehen wirst?«
»Das kann sein. Aber nur wenn ich weiß, dass du mich nicht mehr brauchst. Schlafen wir?«
»Nur noch eine Frage. Hat es dir gefallen?«
»Was? Die Geschichte vom Pater?«
»Nein. Ich spreche vom Kino. Von ihm.«
»Dem Schauspieler? Diesem Maurice Chevalier?«
»Genau. Nur dass man ihn Morice ausspricht und das ›R‹ am Ende von Chevalier nicht.«