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Falkensommer

Anna Maria Pieroth

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Roman

Impressum

Edition Weltenschreiber Imprint vom Wiesengrund Verlag

14827 Wiesenburg/Mark

www.edition-weltenschreiber.de

www.wiesengrund-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Korrektorat: Katharina Platz

Umschlaggestaltung: Sarah Skitschak

ISBN E-Book: 978-3-9448-76-5

WIDMUNG

Für meinen Mann und meine Töchter.

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Inhalt

1 Super Aussichten

2 Zwischen den Fronten

3 Lennards Schau

4 Schwarze Engel

5 Ein rätselhafter Falke

6 Eine heiß erwartete Chance

7 Geheimnisse von Leonie

8 Ginas falsches Spiel

9 Der erste Arbeitstag

10 Wiedersehen mit dem Falken

11 Hedwig

12 Miro

13 Hedwigs Warnung

14 Entscheidung des Herzens

15 Magische Worte

16 Miros Bekenntnis

17 Leonies Hilfe

18 Endeckungen auf der Burg

19 Köder geschluckt

20 Gefahr in der Höhe

21 Unterdrückte Gefühle

22 Gefahr in der Tiefe

23 Wiedersehen mit Lennard

24 Jennys Offenbarung

25 Ein folgenreicher Brief

26 Gefahr auf dem Rhein

27 Eine Finte?

28 Erwischt!

29 Tod aus der Tiefe

30 Ginas wahres Gesicht

31 Zukunft zu zweit?

32 Die Wahrheit über Hedwig

Epilog

Die Autorin

Danksagung

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1Super Aussichten

Jenny atmete auf. Nach der wilden Toberei vor dem Abendessen lagen ihre 6-jährigen Zwillingsbrüder Timi und Flo endlich friedlich in ihren Betten. Ein Blick auf die Uhr verriet Jenny, dass sie es nicht rechtzeitig zu ihrem Rudertraining schaffen würde – dabei hatte Mama um acht zu Hause sein wollen. Jenny ließ sich auf das braune Polstersofa im Wohnzimmer sinken. Das Möbelstück mit der abgewetzten Sitzfläche war ein Erbstück von ihrer Oma. Mama wollte sich erst eine neue Couch leisten, wenn Timi und Flo sie nicht mehr als Trampolin benutzen würden. Gemütlich saß man trotzdem darauf. Doch kaum hatte sie sich hingesetzt, sprang sie wieder auf und lief im Zimmer auf und ab. Auf Mamas Handy meldete sich nur die Mailbox und als die Uhr halb neun anzeigte, war klar, dass Jenny das Training für heute sausen lassen musste. Mit Schwung trat sie gegen die Couch und stieß einen Fluch aus. Dann ließ sie sich darauf fallen und nahm sich eine Zeitschrift, in der sie ziellos herumblätterte.

Erst gegen neun erschien ihre Mutter und berichtete atemlos: »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was heute auf dem Schiff los war. Im Bordrestaurant ist ein Gast kollabiert. Das hatte einen unerwarteten Stopp in Bacharach und einen Notarzteinsatz an Bord zur Folge. Bis das Schiff wieder in St. Goarshausen angelegt hatte, dauerte es eine Ewigkeit. Ich bin fix und fertig.« Mama fiel auf den gegenüberliegenden Sessel und streckte ihre Beine von sich. »Und, alles klar bei dir und den Jungs?«

»Ja«, seufzte Jenny kaum hörbar. Die haben mich auch fix und fertig gemacht, dachte sie bei sich.

»Wenn ich dich nicht hätte …« Auf Mamas Gesicht zeichnete sich Bedauern ab. »Tut mir leid, dass ich es nicht rechtzeitig nach Hause geschafft habe, aber das war höhere Gewalt!« Mama stöhnte auf. »Und Gina hat offenbar einen Auftritt als Loreley. Doppeltes Pech für dich. Ich habe einen Bärenhunger. Was gibt’s?«

»Bratkartoffeln, Speck und Gurkensalat.«

Mama ging in die Küche und kam mit einem vollbeladenen Teller zurück an den Esstisch im Wohnzimmer. In diesem Moment drehte der Schlüssel in der Wohnungstür. Gina, Jennys 17-jährige Schwester, die Sirene, stöckelte herein: Hellblond, bildschön, niemand konnte die echte Loreley besser verkörpern. Gina trug einen schwarzen Minirock, der ihre schlanke Figur betonte. Dazu passend die weißgerüschte Bluse, über die ihre langen offenen Haare wallten. Markenkleidung konnte sie sich nicht leisten, aber an ihr sah alles gut aus. Sie war das geborene Model. In ihrer Hand schwang sie eine Tasche, in der sich ihr Loreley-Kostüm befand: Ein wahr gewordener Mädchentraum aus grün-blauem Seidenstoff mit funkelnden dunkelblauen Pailletten am Dekolleté.

Jenny musste sich eingestehen, dass wegen ihr selbst wohl kein einziger Schiffer von seinem Kurs abgekommen wäre; klein und blass wie sie war. Ihr schwarzgefärbtes glattes Haar band sie gewöhnlich zu einem Zopf zusammen. Nur im Unterricht ließ sie ihre halblange Mähne gerne in ihr Gesicht fallen, um dem bohrenden Blick des Lehrers auszuweichen. Ein schwarz-grünes T-Shirt mit dem Schriftzug von »Breaking Bad« kaschierte ihren Babyspeck am Bauch. Dazu trug sie eine knielange schwarze Cargohose, die ihr bequem auf den Hüften lag. Obwohl es schon sommerlich warm war, zog sie ihre türkisfarbenen Chucks an, wenn sie rausging. Sie hasste Sandalen und Flip-Flops. Die waren höchstens fürs Schwimmbad geeignet und dorthin ging sie nicht.

»Jenny hat frischen Gurkensalat gemacht, Gina!«, rief Mama.

»Danke, aber ich habe mich eben großzügig am Buffet vom Landrat bedient«, antwortete Gina und nahm beschwingt neben Mama Platz.

Nachdem ihre Mutter das Essen verschlungen hatte, lehnte sie sich auf dem Stuhl zurück und rieb sich den Bauch. Jetzt bot sich die Gelegenheit für Jenny, Mama von ihrem Plan zu überzeugen. Wenn sie das jetzt nicht tat, wäre es zu spät für die Anmeldung zur Ferienfreizeit und Spanien wäre gestorben. Jenny nahm die Broschüre aus ihrem Rucksack und betrachtete das Foto eines kilometerlangen Sandstrands. Nur raus aus dieser beengten Wohnung im Obergeschoss am Bahnhof von St. Goarshausen! Weg von den Touristen, die vor allem im Sommer wie Heuschrecken in die Stadt einfielen und mit ihren großen Reisebussen die Bundesstraße vor ihrer Wohnung verstopften. Sie wollte die immer gleichen Bilder vor dem Fenster auf die Autos und den Zug eintauschen gegen den Blick auf das weite Meer. Wellenrauschen hören statt des Lärms der Straße und des Bahnverkehrs und lieber eine salzige Brise in der Nase haben statt der Abgase vor der Haustür und dem Gestank nach Frittenfett von der Dönerbude im Erdgeschoss. Weg von ihrer Familie und dem Alltagstrott. Leonie hatte das Okay von ihren Eltern bereits erhalten. Und was konnte als 15-jährige wie sie schöner sein, als mit der besten Freundin ein Land zu entdecken und neue Leute kennenzulernen? Und vielleicht mit einem süßen Jungen Sonnenuntergänge am Meer zu genießen …

Mama riss sie aus ihren Gedanken: »Schatz, was hast du da Interessantes in der Hand?«

Jenny reichte ihr die Anmeldung und informierte sie über die wesentlichen Eckdaten. Als ihre Mutter nicht antwortete, schob Jenny schnell hinterher: »Sozial schwache Familien zahlen nur die Hälfte, das ist doch was, oder? Ich lege meine Ersparnisse obendrauf!« Mama seufzte und sah sie mit sorgenvoller Miene an. »Tut mir leid, mein Schatz, das geht nicht. Am Geld liegt es nicht alleine. Ich brauch dich.«

Jenny senkte den Kopf. Wofür sie gebraucht wurde, konnte sie sich denken, und es ärgerte sie, dass sich ihre Lage im Vergleich zum letzten Jahr nicht im Geringsten verändert hatte. Dabei hatte sie insgeheim gehofft, dass ihr Wunsch sich in diesem Sommer erfüllen würde. Mit einem Ohr schaltete sie bereits ab, als Mama mit ihrer Erklärung fortfuhr.

»Ich bekomme in den Sommerferien keinen Urlaub, da ist Hauptsaison auf dem Schiff. Die Zwillinge sind wie letztes Jahr von 8 Uhr bis 16 Uhr bei der Ferienbetreuung im Nachbardorf. Danach muss jemand zu Hause auf sie aufpassen. Das schaff ich wegen der flexiblen Arbeitszeiten nicht immer.«

Mama wandte ihren Blick von Jenny ab und begann, an ihren Fingern zu nesteln. Jenny kannte diese Geste nur allzu gut. Sie kam immer dann zum Vorschein, wenn es darum ging, Jenny oder ihren Geschwistern einen Wunsch abzuschlagen. Jennys Blick glitt zu Gina, die sich bislang äußerst still verhalten hatte. Sie sprach ihre Schwester mit kaum unterdrückter Verärgerung in der Stimme an: »Und was ist mit dir, Gina?« Die hob ihre Augenbrauen und streckte abwehrend die Hände von sich.

»Schau dir mal meinen vollen Terminkalender an! An manchen Tagen bräuchte ich eine Doppelgängerin, damit ich alle Empfänge, Weinproben und touristischen Veranstaltungen wahrnehmen kann.«

Das war ja klar, dachte Jenny. Wer so wichtig wie Gina war, brauchte sich nicht mit alltäglichem Kram wie Kinderbetreuung abzugeben. Ungerecht war das trotzdem.

Jenny spürte den Kloß in ihrem Hals. Doch dieses Mal sollte ihre Schwester nicht so leicht davonkommen: »Ich habe es satt, die ganze Zeit hier herumzuhängen und den Babysitter zu spielen!«

Mama schaute sie nur kurz an, dann verlor sich ihr Blick auf dem Tisch. Ihr schlechtes Gewissen war unverkennbar. Sie antwortete: »Ich muss dir unsere Situation doch nicht noch einmal erklären – hätten sich eure Väter nicht aus dem Staub gemacht …

»… dann müsstest du keinen Vollzeitjob annehmen und hättest mehr Zeit für uns«, vervollständigte Jenny den Satz. Sie kannte diese Rede ihrer Mutter, aber auch sie musste mal an die Reihe kommen. Mamas Schultern sackten ein.

Jedes Mal kochte die Wut in Jenny hoch über diese Drückeberger, die Mama, sie und ihre Geschwister in diese Situation zwangen.

»Trotzdem ist es nicht fair! Gina hat letztes Jahr während der ganzen sechs Wochen Ferien ihr Praktikum in Südfrankreich gemacht, während mir bei dem verregneten Sommer hier mit den Zwillingen die Decke auf den Kopf gefallen ist!« Gina verdrehte die Augen.

»Ich brauche das Praktikum für die Zulassung zum Touristikstudium nach dem Abi, das weißt du genau!«, blaffte sie und sah Jenny dabei an, als sei sie ein dummes, begriffsstutziges Kind.

Darauf richtete sich Mama auf und fixierte Jenny. »Apropos – du hast ja immer noch keinen Platz für dein Schülerpraktikum gefunden, da könntest du die Zeit in den Ferien sinnvoll nutzen und dich umgucken!«

Jenny seufzte. Gina hatte Mama genau das richtige Stichwort geliefert, mit dem sie ihren wunden Punkt traf. Dieses Praktikum – sie fragte sich, woher sie mit 15 Jahren schon wissen sollte, was sie beruflich machen wollte. Nicht jeder war schließlich mit einem Businessplan auf die Welt gekommen wie Gina.

»Was hat denn die Analyse deiner Stärken in der Schule ergeben?«, fragte Mama fordernd.

Jenny wich dem Blick ihrer Mutter aus und murmelte mehr vor sich hin als an ihre Mutter gerichtet: »Ach, nichts genaues – Büro, etwas Soziales oder Labor – nichts, was mich brennend interessiert.«

Mama zeigte auf Gina und sagte: »Nimm dir deine Schwester zum Vorbild, die weiß, was sie will! Wenn du unentschlossen bist, musst du dir mehr Mühe bei der Suche geben!«

Mama hatte gewonnen. Diesem Argument hatte Jenny nichts mehr entgegenzusetzen. Jedes Mal versetzte es ihr einen Stich ins Herz, wenn Mama Ginas Stärke ihren Schwächen gegenüberstellte.

Die Lieblingstochter, die Streberin, die Mama auf Kosten ihrer Freizeit förderte. Wie rasend vor Wut ihre Mutter sie damit machte. Arbeit, Geldverdienen und Karriere – nichts anderes zählte für Mama.

»Das sind ja super Aussichten für die Sommerferien – Praktikumssuche und Kinderbelustigung«, sagte sie trotzig. Der Kloß in ihrem Hals verfestigte sich. Jenny war sich sicher – jeder Einwand würde nun ins Leere laufen.

»Dazwischen wird doch ein bisschen Zeit für Freizeit sein, oder? Stell dich nicht so an!«, schob Mama nach.

Jenny verschränkte die Arme vor der Brust. Mama schien nicht im Geringsten zu verstehen, wie ausgelaugt sie sich fühlte, wie sehr sie sich nach Abwechslung sehnte, wenn es auch nur für zwei Wochen war. Was sollte sie ohne Leonie in ihrer freien Zeit anfangen? Außer ihr hatte sie keine richtigen Freunde. Im Ruderclub würde auch nicht viel los sein. Die einzigen Leute, die sie zuverlässig treffen würde, waren die Mamis an der Bushaltestelle, die ihre Kinder zur Ferienbetreuung bringen und abholen würden. Diese Mütter hatten sie schon letztes Jahr so mitleidig angesehen. Sie, die Einzige in ihrem Alter, die während der Ferien nicht in Urlaub fahren würde und sich stattdessen um ihre jüngeren Geschwister kümmern musste.

»Denk langfristig!«, durchbrach Mama ihre Gedanken für noch eine ihrer Belehrungen: »Lerne einen anständigen Beruf und pass auf, mit welchem Kerl du dich einlässt, sonst ergeht es dir wie mir – zu früh schwanger, keine Ausbildung und schon bleiben nur die undankbarsten Jobs für dich übrig!«

Jenny spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen, aber diese Blöße wollte sie sich vor ihrer Mutter und Schwester nicht geben. Sie sprang auf. »Ich hab echt keine Lust mehr auf diese Scheiße hier!« Ohne sich nach den beiden umzudrehen, hechtete sie aus dem Raum, ließ die Tür krachend hinter sich zufallen und lief in ihr Zimmer.

Hinter der Tür sank Jenny auf den Boden und schluchzte. Sich gegen Mama und Gina durchzusetzen, war wie gegen den Felsen zu kämpfen, der sich draußen vor ihrem Haus erhob. Da ratterte ein Zug an ihrem Fenster vorbei und riss sie aus ihren Gedanken. Sie schnellte hoch, eilte zum Fenster und schlug es zu. Unmöglich, hier Ruhe zu finden! Obwohl die Scheiben dreifach verglast waren, würde sie den nächsten Zug trotzdem hören. Sollte sie zum Rheinufer gehen und frische Luft schnappen? Eine Gefängniszelle stellte sie sich kaum kleiner vor als dieses Zimmer; zwischen dem Hochbett auf der rechten Seite, das sie sich mit Gina teilte und den zwei Schreibtischen auf der anderen Seite war kaum genug Platz, um sich zu bewegen. Die Hängeschränke nahmen alle verfügbaren Leerflächen an den Wänden ein, sodass der Raum noch enger und beklemmender wirkte. Selbst bei strahlendem Sonnenschein musste man hier das Licht anknipsen. Am Wochenende schlief Gina bei ihrem Freund Maurice Sovigny, dem Sohn des Besitzers des 5-Sterne-Hotels »Rheinblick« und ließ es sich bei ihm zu Hause fast ebenso gut gehen wie in einem Luxushotel, während sie hier schmorte. Die Zwillinge, die sich ein ähnlich kleines Zimmer teilten, verbrachten jedes zweite Wochenende bei ihrem Vater in einem großen Haus bei Köln mit einem Garten zum Fußballspielen.

Jenny war gerade im Begriff, das Zimmer zu verlassen, da rief Leonie sie über Skype an. Seit Leonie mit ihrer Familie vor zwei Jahren zu Beginn der 8. Klasse von Frankfurt ins Rheintal gezogen war, hatten Jenny und sie sich schnell angefreundet. Im Gegensatz zu den anderen in der Klasse legte Leonie keinen Wert auf Markenklamotten. Gegen blöde Kommentare setzte sie sich mit ihrer offenen und humorvollen Art zu Wehr. Als Sitznachbarinnen unterstützten sich beide im Unterricht gegenseitig. Längst vertraute Jenny ihrer Freundin alles an, was sie bewegte. Skypen war eine gute Gelegenheit, bei der sie sich den Frust über den Streit mit Mama und Gina von der Seele reden konnte. Sie setzte sich an den Schreibtisch vor ihren Computer. Vor ihr erschien Leonies Bild.

Gut gelaunt fragte sie: »Na, Jenny, hast du mit deiner Mutter wegen der Ferienfreizeit gesprochen?« Dabei hob sie erwartungsvoll die Augenbrauen.

»Ja«, seufzte Jenny und senkte den Blick, »aber ich darf nicht mit. Mama muss zu ganz unterschiedlichen Zeiten arbeiten und Gina hat ständig irgendwelche PR-Termine. Ich bin stinksauer, weil ich vor und nach der Ferienbetreuung auf die Zwillinge aufpassen soll.«

»Das lief doch letztes Jahr genauso! Warum lässt du dir das gefallen?« In Leonies Stimme schwang Empörung mit.

»Ich habe ja protestiert«, verteidigte sich Jenny, »aber Mama hat sonst niemanden, der ihr die Zwillinge abnimmt. Und Gina hat wie immer die wichtigeren Gründe, um sich vor der Aufgabe zu drükken!« Sie verdrehte die Augen.

»Sag einfach nein!«, kam von Leonie, als wäre das alles so einfach.

Typisch verwöhntes Einzelkind aus einer Lehrerfamilie, dachte Jenny. Wie soll sie sich auch in meine Lage versetzen können, wenn sie nicht am eigenen Leib spürt, wie es ist, wenn die Mutter für vier Kinder allein verantwortlich ist und Hilfe braucht.

»Wie stellst du dir das vor? Soll Mama, die sich für jeden Cent abrackert, auch noch einen Babysitter engagieren?« Jennys Stimme hatte an Schärfe zugenommen. Leonie war jetzt echt keine Hilfe.

Verlegen presste Leonie die Lippen aufeinander. Sie überlegte kurz, dann sah sie Jenny fragend an. »Was ist mit Timis und Flos Vater? Warum hilft der nicht aus?«

»Du weißt doch, dass Mama mit ihm und seiner Freundin Verena auf Kriegsfuß steht. Sie war der Grund für ihre Trennung vor drei Jahren. Alle zwei Wochenenden verbringen die Zwillinge bei Jens und reden bei ihrer Rückkehr zu Mama ganz begeistert von der Verena. Klar, dass Mama schwer mit sich ringen muss, damit sie nicht die Fassung verliert. Einen Urlaub mit den Kleinen würde sie Jens und Verena nicht zugestehen und ich glaube, dass Jens auch lieber seine Ruhe haben will. Sonst hätte er längst nachgefragt!«

»Du bringst die beiden doch ab und zu mal mit dem Zug nach Köln. Frag Jens einfach, ob er sich einen Urlaub mit den Twins vorstellen könnte. Und wenn ja, muss sich deine Mutter eben einen Ruck geben und über ihren Schatten springen. Schließlich kannst nicht immer du die Leidtragende sein!«

Leonie hatte zwar von vielen Dingen keine Ahnung, aber in diesem Punkt gab Jenny ihr Recht.

»Das wäre eine Lösung, aber ich weiß genau, dass Mama von diesem Vorschlag nicht begeistert sein wird. Ich bin selbst sauer auf Jens und Verena.«

»Aber Timi und Flo scheinen gut mit ihnen auszukommen. Das ist doch die Hauptsache.«

»Ja, die nehmen die Jungs sogar mit ins Stadion zu den Spielen vom Kölner FC.«

Jenny erinnerte sich an die gemeinsamen Ausflüge mit Jens zu den nahegelegenen Burgen und Schlössern, als er damals bei Mama eingezogen war. Sie und Gina hatte er »seine Prinzessinnen« genannt, doch nach der Geburt der Zwillinge hatte er sich nur noch um seine »Prinzen« gekümmert. Und mit vier Kindern, die sich nicht so artig wie bei Hofe benahmen, war es ihm zu viel geworden. Ständig hatten Jens und Mama gestritten, bis er Trost bei Verena gefunden hatte.

Leonies Augen glitten zur Uhranzeige: »Du, ich muss gleich Schluss machen, meine Mutter ruft mich. Schade, dass wir jetzt nicht länger darüber sprechen können. Ich sag dir: Lass dich nicht einschüchtern!«

Sie verabschiedeten sich. Für dieses Jahr war das jetzt eh zu spät. Das werden die ödesten Ferien werden, dachte Jenny frustriert. Aber im nächsten Jahr würde alles anders sein. Sie würde nicht mehr klein beigeben, ganz bestimmt nicht. Sie nahm sich vor, Jens vorsichtig für die Sommerferien im kommenden Jahr zufragen. Mit seinem Einverständnis zu einem gemeinsamen Urlaub mit den Jungs würde sie Mama vor vollendete Tatsachen stellen; entweder sie würde Jens den Urlaub zugestehen oder sie müsste sich einen anderen Babysitter suchen, denn sie selbst würde nicht mehr zur Verfügung stehen.

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2Zwischen den Fronten

Jenny, gehst du mit uns auf den Sportplatz?« Timi und Flo schauten sie erwartungsvoll an. Die Uhr zeigte kurz vor fünf. Sie konnte jetzt nicht weg, sie musste zu Hause bleiben: Ein Berg Hausaufgaben lag vor ihr und die Englischvokabeln mussten in ihren Kopf rein. Der Notenschluss stand kurz bevor. Aber war es möglich, zu arbeiten, wenn die beiden Jungs in der Wohnung lärmten? Da ergab es mehr Sinn, wenn die Zwillinge sich beim Fußball richtig auspowern konnten und abends schneller einschliefen. Dann war Gelegenheit für sie, in aller Ruhe ihren Schulkram zu erledigen. Also doch raus aus der Wohnung und auf zum Bolzplatz um die Ecke. Sie nickte den beiden zu.

»Kannst du im Tor stehen?«, fragte Timi.

Nachdem sie das letzte Mal ein Ball mit voller Wucht an der linken Schulter getroffen hatte, hatte sie sich geschworen, nie wieder Torwart zu sein. Vor allem, weil sie sich eher wie eine lebende Zielscheibe vorgekommen war. Doch die Zwillinge riefen gleichzeitig »Bitte, bitte, bitte!«

Jenny entfuhr ein schwaches: »Na, gut« und ihre Brüder streckten die Arme in die Höhe und jubelten los, als wenn es um das Endspiel der Weltmeisterschaft ginge.

Kurze Zeit später standen sie auf dem Sportplatz und Jenny nahm ihren Platz im Tor ein. Als Mitspieler war sie gänzlich ungeeignet; auch im Sportunterricht sah sie meistens nur dem Ball hinterher und stellte eher ein Hindernis für ihre Mitschüler dar. Kein Wunder, dass sie immer als Letzte in eine Mannschaft gewählt wurde. Als Timi und Flo fast am anderen Ende des Spielfelds angelangt waren, verlor Jenny den Ball aus den Augen. Ihr Blick schweifte zum Himmel und sie fixierte die vorbeifliegenden Vögel. Sie verfolgte ihren Flug; frei sein wie ein Vogel, einfach abheben und alle Sorgen hinter sich lassen – diese Vorstellung rief die tiefe Sehnsucht in ihr hervor, es ihnen gleichzutun.

Die Schreie der Jungs rissen sie aus ihren Gedanken – in der Mitte des Spielfelds gingen die beiden gerade mit Fäusten aufeinander los.

Jenny rannte zu den Kampfhähnen und warf sich zwischen sie.

»Also, entweder ihr vertragt euch jetzt oder wir gehen sofort nach Hause«, befahl Jenny genervt und fügte hinzu: »Wenn ich schon meine Freizeit mit euch verbringe, dann verhaltet euch gefälligst anständig!«

Jenny atmete tief durch. Sie stellte fest, dass sie in letzter Zeit immer gereizter auf die Streitereien der beiden reagierte. Vielleicht brauch ich einfach mehr Zeit für mich, fuhr es ihr durch den Kopf; Zeit, die Mama und Gina ihr nicht zugestehen wollten.

Timi und Flo beäugten sich feindselig. Aber Jenny war es klar, dass die beiden weiterspielen wollten. In ihrer engen Wohnung wussten sie erst recht nicht, was sie miteinander anfangen sollten.

Jenny vernahm ein leises »Okay«. Die beiden gaben sich die Hand.

Daraufhin entfernte Jenny sich vom Spielfeld: »Ich steh als Torwart nicht mehr zur Verfügung!«

Nach einem kurzen Murren legten die Jungs los, als ob nichts passiert wäre.

Später hatte Jenny große Mühe, die beiden zum Abendessen vom Platz zu ziehen.

Gegen sieben Uhr erreichten sie ihre Wohnung. Kurz zuvor war Mama von der Arbeit gekommen und erwartete sie mit dem Abendessen. »Alles klar bei euch?« Die Augen auf die verschwitzten Jungs gerichtet fügte sie hinzu: »Habt ihr gut gespielt?« Die beiden nickten nur.

Jenny stöhnte: »Timi und Flo haben sich wieder geprügelt. Ich musste die beiden auseinanderreißen, damit sie zur Vernunft kommen.«

»Was? Wer von euch hat angefangen?« Mamas strafender Blick traf die beiden.

Flo wollte gerade loslegen, als Jenny ihn unterbrach: »Fangt jetzt ja nicht mehr damit an – ihr seid beide wild übereinander hergefallen.«

Mama nickte ihr zu. Als die Zwillinge ihr Brot verzehrt hatten, machten sie sich für das Bett fertig.

Jenny atmete tief durch.

»Sind Gina und ich als Kinder auch so aufeinander losgegangen?«

»Ihr habt euch gestritten, aber ich erinnere mich nicht daran, dass ihr euch geschlagen habt. Du hast Ginas Barbiepuppe die Haare gestutzt – dafür hat sie deine Barbiesachen aus dem Fenster geworfen.« Jenny lachte.

»Und du hast sie von den Gleisen geholt – das war nicht ganz ungefährlich! Ich finde es erstaunlich, wie heftig Timi und Flo sich zanken, und im nächsten Augenblick verhalten sie sich wieder friedlich.«

Mama pflichtete ihr bei: »Das wundert mich auch immer. Ihr wart viel nachtragender.«

»Aber insgesamt pflegeleichter, oder?« Mama runzelte die Stirn. »Vielleicht. Du warst als Baby mit Abstand am anstrengendsten, hast mir fast ein Jahr lang die Nacht zum Tag gemacht und die Bude zusammengeschrien. Gina stand dann kerzengerade im Bett und ich musste euch beide beruhigen.« Sie seufzte, als ob ihr Jennys Babygeschrei noch immer in den Ohren tönen würde. Und bei Jenny verfestigte sich einmal mehr der Eindruck, dass sie von Anfang an ein Problemkind gewesen war. Unbewusst hatte Mama Gina mal wieder als die bessere von ihnen beiden hervorgehoben. Ihre Mutter unterbrach ihre Überlegungen.

»Dein Vater befand sich in der Examensphase und hatte sich in der Uni verkrochen, weil er hier weder lernen noch zeichnen konnte.«

Jenny wusste aus den Erzählungen ihrer Mutter, dass die Beziehung ihrer Eltern nach ihrer Geburt immer schwieriger geworden ist und schließlich gescheitert war. Mama hatte immer Papas Verantwortungslosigkeit als Trennungsgrund vorgebracht, aber insgeheim hatte Jenny sich selbst eine Mitschuld gegeben. Und manchmal fragte sie sich, ob ihr Engagement für die Zwillinge eine Art Wiedergutmachung war.

»Was grübelst du?«, fragte ihre Mutter und wischte mit der Hand in die Luft: »Das ist Schnee von gestern! Denkst du an deinen Vater? Verschwende keinen Gedanken an diesen Kerl, der sitzt in einer Künstlerkolonie in Italien und malt das Meer.«

»Kann er inzwischen Unterhalt bezahlen?« Mutter prustete los.

»Im Leben nicht! Wäre er damals Lehrer geworden, würden wir heute in einem ordentlichen Haus wohnen und ich hätte mehr Zeit für euch!«

»Er fühlte sich in den Beruf hineingezwungen.« Obwohl ihr Papa sie im Stich gelassen hatte, brachte Jenny auch Verständnis für ihren Vater auf. Mama beugte sich zu Jenny und sagte mit eindringlicher Stimme: »Wenn du Vater geworden bist, musst du Verantwortung übernehmen und überlegen, wie du regelmäßig Geld verdienen kannst. Nicht wie dein Vater, der glaubte, er würde der nächste Picasso werden.« Jennys Mund umspielte ein Lächeln. »Ich erinnere mich, als Gina und ich uns in seinem Atelier einmal von oben bis unten mit Farbe angemalt haben. Wir fanden es total aufregend bei ihm.« Mama verdrehte die Augen.

»Klar, bei ihm durftet ihr machen, was ihr wolltet, er war der Freigeist, und ich musste euch zurechtweisen, sonst wärt ihr heute total verzogen!« Jenny nickte. Diese Rede hörte sie nicht zum ersten Mal. Sie stand auf, ging in die Küche und schenkte sich Wasser ein.

Bei dem Gedanken, wie wenig sie ihren Vater kannte, wurde sie wehmütig, denn er war aus ihrem Leben verschwunden, als sie fünf Jahre alt war. Nach der Trennung hatte er zwar noch drei Jahre im Nachbardorf gewohnt, aber von dort aus zog es ihn auf mehrwöchige Reisen in die ganze Welt, bis er sich in Italien niedergelassen hatte. Ein paar Postkarten von ihm lagen in ihrer Schreibtischschublade. Zu Weihnachten und zum Geburtstag schickte er eine Zeichnung aus seiner neuen Heimat. Sonst blieb ihr nur der Karton mit Gegenständen von ihm, den sie vor zwei Jahren auf dem Speicher entdeckt hatte. In Jennys Augen ein wahrer Schatz, erzählte doch jedes Stück von ihm etwas über seine Jugend. Die schwarzen T-Shirts mit den Aufdrucken von Metall- und Punkbands, Mix-Tapes, Schallplatten und CDs, die Eintrittskarten von Musikkonzerten, alte Personalausweise sowie Münzen und Scheine aus den Ländern, die er bereist hatte. Gina würde diese Erinnerungsstücke nicht einmal mit spitzen Fingern anfassen – zum einen jagte sie nur den neusten modischen Trends hinterher und Vintage war gerade nicht in, und zum anderen hatte sie einen regelrechten Hass auf Papa entwickelt. Als Jenny ihren Fund allerdings vor Leonie ausgebreitet hatte, zeigte die sich auch begeistert. Was für ein cooles Zeug! Besser als der HipHop von heute! Und tatsächlich fand Jenny Gefallen an der Musik aus den 70er und 80er Jahren und downloadete sich die Stücke auf ihr Handy. Aber die T-Shirts ihres Vaters trug sie nicht – die waren viel zu groß für sie und es wäre mit Sicherheit ein Ärgernis für Mama und Gina, wenn sie wie Papa herumlief.

»Mama! Jenny! Wir sind fertig!«, tönte es aus dem Schlafzimmer der Zwillinge.

»Wir kommen!«, rief Mama. Beim Aufstehen tätschelte sie Jennys Kopf.

»Du machst das super mit den Jungs, du bist für mich eine echte Stütze.«

Jenny lächelte gequält. So sehr sie das Lob ihrer Mutter schätzte, sie hatte es satt, ihre Rolle im Haus einzunehmen. Sie kannte niemanden in ihrem Alter, der sich in diesem Umfang zu Hause einbinden ließ. Es musste auch für sie einen Weg geben, sich aus den häuslichen Verpflichtungen herauszuhalten. Vielleicht sollte sie einfach mal die Koffer packen und es Papa gleichtun. Einfach weglaufen und sich am Meer niederlassen. Aber das waren ja doch nur Hirngespinste.

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3Lennards Schau

Am liebsten hätte Jenny sich heute krankschreiben lassen. Der Projekttag im Fach Wirtschafts- und Sozialkunde zum Thema »Schüler für Schüler« in der Schule stand bevor. Die Geschäftsidee, die sie gemeinsam mit Leonie entwickelt hatte, sollte vor der Schulgemeinschaft präsentiert und bewertet werden. Leonie war ihre einzige Freundin, die konnte sie nicht im Stich lassen. Schlecht gelaunt stand sie auf und machte sich fertig. Zum Frühstück brachte sie keinen Bissen hinunter. Unausgeschlafen und mit leerem Magen trottete sie los. Es widerstrebte ihr zutiefst, gleich an einem Stand im Schulgebäude zu stehen und Fragen zu ihren selbsthergestellten Energiebällchen zu beantworten. Die sollten laut Leonies und ihrem Businessplan bei einem positiven Feedback durch die Schüler im Schülerkiosk verkauft werden. Immerhin lag die Power-Point-Präsentation zu ihrem Produkt in der Klasse schon zwei Wochen zurück. Wie so oft hatte sie zwar einen großen Anteil an der Entwicklung und Umsetzung der Idee gehabt, aber das Reden überließ sie lieber ihrer Freundin.

Es gab nichts Schlimmeres für Jenny, als vor der Klasse zu stehen und ein Referat oder ein Gruppenarbeitsergebnis vorzutragen. Da nützte es auch nichts, wenn sie sich ihren Part des Vortrags Wort für Wort auf einen Zettel aufgeschrieben und die wichtigsten Stichwörter mit Rot unterstrichen hatte. Im Angesicht von 30 Augenpaaren, die auf sie starrten, reagierte ihr Körper jedes Mal gleich: Ihr Magen wurde flau, ihre Hände schwitzten und ihr Hals trocknete so sehr aus, dass ihr das Reden schwerfiel. Im schlimmsten Fall breitete sich in ihrem Kopf eine Leere aus. Ein Blackout. Da half nur tief durchatmen, Leonie fixieren und weiteratmen. Diese Technik funktionierte, damit sie in das Thema einleiten konnte. Im Anschluss beschränkte sie sich darauf, durch die Präsentation zu klicken. Leonies und ihr Projekt wurde vor zwei Wochen klassenintern mit der Note »gut« bewertet, aber jetzt kam der wichtigere Praxistext.

In der Schule angekommen, gesellte sie sich zu Leonie in den Gang. Den kompletten Schulmorgen des Tages zuvor hatten sie ihre Bällchen zubereitet, Plakate mit Produktinformationen entwickelt und ihren Stand aufgebaut. Auf ihrem Tisch stand jetzt ein großes Tablett mit vier unterschiedlichen Sorten der Energiebällchen. Als Grundzutat enthielten sie alle Haferflocken, Honig und Milch, dazu kamen Nüsse oder Früchte. Ummantelt mit Kokosraspeln oder Schokolade sahen sie appetitlich aus. Jenny und Leonie hatten gerade die Schilder mit den Produktnamen angebracht, als Jenny ihre Freundin anstupste: »Oh nein, sieh mal, wer da kommt!«

Lennard Düren, ihr Klassenkamerad, steuerte mit einem Pulk von männlichen Mitschülern und Jungs aus der Parallelklasse auf sie zu. Groß, breitschultrig und mit der aktuellsten Kollektion von Tommy Hilfiger ausgestattet brachte er allen gegenüber zum Ausdruck: ›Ich bin hier der Boss‹. Als gut aussehend empfand Jenny ihn nicht – seine kleinen bläulich-grauen Schweinsaugen stachen aus seinem rundlichen Gesicht hervor. Er trug immer eine Kappe, bis der Lehrer ihn im Unterricht dazu aufforderte, sie abzunehmen. Darunter erschienen dann ein paar Haarstoppeln. Um diese Stoppeln ins rechte Licht zu rücken, bezahlte er sicherlich mehr als Gina für ihre Dauerwelle. Mit erhobenem Kopf und vorgeschobenem Kinn hielt Lennard mit seinen Freunden bei Leonie und Jenny an. Sein Blick schweifte über ihr Angebot. Erst seit einer halben Stunde hatten Jenny und ihre Freundin den Stand besetzt. Klar, dass sich bisher nur wenig Kundschaft gezeigt hatte. Lennards Augen fixierten Jenny. Jetzt würde er wieder einen dummen Spruch von sich geben.

»Na Mädels, wie läufts mit euren Mottenkugeln? Wie ich sehe, ist das Interesse der Allgemeinheit bisher gering. Aber ich nehme euch gerne welche ab, das macht einen besseren Eindruck bei der Kundschaft. Unter einer Bedingung: Ich muss sie nicht essen, doch eine positive Bewertung von mir ist euch sicher.« Lennards Freunde lachten. Wie immer, wenn ihr Vorbild sich auf Kosten von Jenny und ihrer Freundin lustig machte.

Luca aus der Parallelklasse schaute ihn mit großen Augen an. »Mozartkugeln wären besser gewesen, oder?« Jetzt warf er einen herablassenden Blick auf Jenny: »Schreibt das drauf und die anderen probieren wenigstens.« Doch Lennard schüttelte den Kopf. »Nee, Mottenkugeln passt besser. Die werden mitgenommen, nicht gegessen und später weggeworfen, wenn sie nichts nützen. Beiß da lieber nicht rein, Luca. Akute Gesundheitsgefahr!« Er blickte Jenny mit böse funkelnden Augen an. »Dafür hat Jenny die Küchenreste bei sich zu Hause zusammengekehrt und zu einer Masse vermixt.«

Jenny war baff. Lennard schaffte es immer wieder, ihr verbal mit der Faust in die Magengrube zu schlagen. Leonie fand als Erstes die Sprache wieder

»Das sind Energy-Power-Balls. Und die Zutatenliste kannst du hier gerne einsehen. Wer lesen kann, ist klar im Vorteil.«

Lennard hob seine Augenbrauen und sagte belustigt: »Energy-Power-Balls? Nie im Leben, die hab ich nämlich in der Hose!« Dabei zeigte er sich zwischen die Beine, was bei seinen männlichen Begleitern ein Johlen hervorrief. Lennard drehte sich mit einem breiten Grinsen zu ihnen um. Jenny erschien es, als ob er jetzt richtig in Fahrt gekommen wäre. Als er sich wieder ihr und Leonie zuwandte, blickte er sie voller Häme und Spott an und sagte: »Kommt gleich in die Turnhalle und seht, wie man eine Idee wirklich erfolgreich durchzieht. Da ist um neun Uhr die erste Modenschau von meiner Marke »Style ’n’ Print.« Euren Stand könnt ihr ruhig unbeaufsichtigt lassen. Zum einen ist eh die ganze Schule bei uns und zum anderen klaut euch keiner eure Kugeln. Außer den Ratten. Garantiert.« Er schaute auf seine Uhr. »Oh, wir müssen die Schau vorbereiten. Mädels, wir sehen uns gleich!«

Lennard zog mit seinem Tross weiter. Jenny stöhnte: »So ein Blödmann! Wie der sich wieder aufgeblasen hat …«

»… wie ein Luftballon«, ergänzte Leonie »Pass auf. Ich wette, dass der bald platzt. Vielleicht schon gleich bei der Schau, die wir uns auf keinen Fall entgehen lassen sollten. Wenn sich das Großmaul auf der Bühne blamiert, haben wir allen guten Grund mitzulachen.« Jenny nickte. Zugegeben, während der Modeschau würde eh keiner an ihrem Stand vorbeikommen. Und nach der Vorstellung wollte sie über das Top-Event des Morgens mitreden können.

Auf dem Weg zum Sportgebäude hallten ihnen pumpende Bässe entgegen.

»Oh nein,« seufzte Leonie. »Hip-Hop!«

»War doch klar bei Lennard. Ohren zu und durch.«

Die Schüler strömten in die Halle, als ob dort gratis Eis verteilt werden würde. Die Turnhalle war abgedunkelt, stattdessen spendete die Deckenbeleuchtung Licht. Wie bei der Schulkarnevalsfeier gab es eine schmale Bühne, die aber nicht mit der Breitseite zum Publikum aufgebaut war, sondern als Laufsteg mit der langen Seite in den Raum hineinragte. Daneben die Soundanlage der Schule, an der Jennys technikbegabter Klassenkamerad Lars die Regler bediente. Lennard selbst erschien in der Mitte der Bühne und testete das Mikrofon.

»Hoffentlich fängt der nicht gleich an zu singen«, sagte Jenny.

»Da bleiben selbst seine treusten Anhänger nicht mehr lange hier.«

»Lass uns an die Tür stellen. Da sind wir schnell wieder draußen.« Die beiden Freundinnen positionierten sich. Viel Platz gab es ohnehin nicht mehr. In der Halle drängte sich geschätzt die komplette Schulgemeinschaft. Und bei Lennard war die Nähe zu einem Fluchtweg immer von Vorteil.

Auf einmal erloschen die Lichter. Die Musik verstummte und mit ihr die Gespräche der Schüler. Stille. Alle Blicke richteten sich gespannt auf die Bühne. Als nach einer Minute nichts passierte, fing das Publikum an zu tuscheln. Plötzlich ertönte ein wummernder Bass. Auf einer Leinwand am Bühnenaufgang richtete sich das Spotlight auf Lennards Firmenlogo »Style ’n’ Print.«

Und da stand er auf der Bühne, so lässig, als ob es für ihn keinen natürlicheren Ort auf der Welt gab.

»Und Leute, was geht ab bei euch?«, rief Lennard ins Mikro. »Ihr sucht etwas Cooles zum Anziehen für den Strand? Style ’n’ Print – der Trend für diesen Sommer. Entwerft euer eigenes Motiv und lasst es über unsere App auf die Bademode drucken!« Lennard zeigte auf der Leinwand den Bestellvorgang, der mit wenigen Klicks abgeschlossen war.

»Die Ware wird von einer englischen Firma produziert. Mit der hat mein Bruder in London exklusiv für euch einen Deal abgeschlossen. Designerware zum günstigen Preis. Wer bis heute Abend kauft, erhält ein Teil mit meinem Firmenlogo gratis. Pünktlich zum Ferienbeginn liegt die Ware bei euch im Briefkasten. Und jetzt: Vorhang auf! Genießt die Schau!«

Die Menge jubelte ihm zu. Erneut dröhnte der Hip-Hop-Beat aus den Boxen. Drei Klassenkameradinnen in unterschiedlichen Bikini-Variationen bestiegen die Bühne. Deren Gemeinsamkeit: das stilisierte Konterfei von Lennard mit Sonnenbrille und Kappe beid- oder einseitig auf dem Oberteil oder auf dem Unterteil und für ganz große Fans jeweils auf Ober- und Unterteil. Lennard nahm die Mädchen in Empfang und reichte der ersten die Hand.

Leonie verzog das Gesicht und rieb sich mit der Hand über ihren Arm.

»Ich bekomme jetzt schon einen Ausschlag am ganzen Körper, wenn ich mir nur vorstelle, wie sich der Stoff mit seiner Visage auf meiner Haut anfühlt.«

»Bevor es anfängt zu jucken, hat sich das gute Stück in seine einzelnen Bestandteile aufgelöst. Erinnerst du dich an das Teil, was er vor zwei Wochen während der Power-Point-Präsentation im Unterricht durch die Reihen gehen ließ? Da hing schon der erste Faden raus.«

»Vielleicht hat er genau das beabsichtigt.« Leonie zeigte mit ausgestrecktem Arm nach vorne.

»Schau dir mal die Bikini-Models an, die gerade an Lennards Seite über die Bühne stolzieren. Ich glaube, die Jungs würden die viel lieber ohne diese billigen Fummel sehen.«

Je mehr Schönheiten sich auf dem improvisierten Catwalk präsentierten, umso mehr steigerte sich die Stimmung in der Halle. Sie kochte. Als das letzte Model die Bühne verlassen hatte, hallte tosender Applaus durch den Raum. Lennard ließ sich inmitten seiner Models feiern. Dann ging er, umringt von einer Traube Anhänger, von der Bühne ab.

Jenny und Leonie verfolgten das Geschehen mit großen Augen. Respekt, dachte Jenny. Aus Sicht des Publikums ein überzeugender Auftritt von Lennard. Stellte sich nur die Frage, wie viele demnächst in der Schule mit seinem Logo auf der Kleidung erscheinen würden. Lennard allgegenwärtig – was für ein Horror!

Die Freundinnen bemerkten nicht, dass Lennard mit Gefolge bereits am Ausgang angelangt war. Erst als sie von seinen Leuten zur Seite gedrückt wurden, drehten sie sich erstaunt zu ihm um. Mit einem Grinsen, das bis zu den Ohren reichte, schaute er sie an.

»Na, habt ihr jetzt gelernt, wie man sein Produkt promotet?«

Leonie neigte anerkennend ihren Kopf nach vorne. Mit ironischem Unterton sagte sie:

»Herzlichen Glückwunsch! Wenn du deine Bademode so erfolgreich unter die Leute bringst, können wir ja hoffen, dass du schnell reich wirst und die Schule spätestens nächstes Jahr nach der Mittleren Reife verlässt.« Lennard grinste selbstsicher. »Ja, vielleicht kann ich auch nach Eaton gehen wie mein Bruder Sebastian, das würde mir auch mehr liegen als diese Provinzschule.«

Jenny fragte sich, ob er Leonie richtig verstanden hatte. Besonders clever war er nämlich nicht. Eigentlich konnte er froh sein, wenn er die Mittlere Reife bestehen würde. Aber Leute wie er würden ihr Abitur ohnehin bekommen, entweder durch einen teuren Nachhilfelehrer oder durch den Besuch der Oberstufe auf einem englischen Internat wie Sebastian.

Jenny konnte sich einen Kommentar zum britischen Bildungssystem nicht verkneifen.

»Hat er dir auch geholfen, die Größen deiner Bademode in Inches richtig anzugeben?«

»Inches?« Lennard stutzte.

»Inches statt Zentimeter – so, wie sie in England rechnen. Ist ja schon was anderes, ob man ein Bikinihöschen mit einem Taillenumfang von 70 Zentimeter oder von 180 Zentimeter bestellt.«

»Sicher! Du hältst mich wohl für blöd? Ich hab alles unter Kontrolle.« Seine Miene sagte aber etwas anderes. Doch eine Sekunde später hatte er sich wieder im Griff. Abschätzig glitt sein Blick an ihnen herab. »Tut mir einen Gefallen: Tragt meine Klamotten bitte nicht, das wäre geschäftsschädigend.«

»Wir geben unser Geld lieber für Qualität aus«, erwiderte Leonie.

»Ach ja! Und ich dachte immer, eure Kleidung kommt aus dem Caritas-Container.«

»Wer weiß, wo deine Bademode bald landet …«, antwortete Leonie mit spöttischer Stimme.

»Kannst du bald überall auf Instagram sehen: Ibiza, Mallorca, Florida …«

»Wir verfolgen das gerne«, sagte Leonie mit spöttischer Stimme.

»Viel Erfolg noch mit euren Kugeln, falls das Gesundheitsamt sie nicht bereits beschlagnahmt hat.«

»Was du nicht sagst! Wir wollten eh gerade zu unserem Stand zurück.« Leonie zog Jenny mit. Als Lennard außer Sicht- und Hörweite war, sagte Jenny zu ihrer Freundin: »Unser neuer Star am Modehimmel kann sich glücklich schätzen, wenn seine Ware nicht selbst beschlagnahmt wird. Markenqualität Made in UK? Wohl eher Made in Bangladesch, billig produziert mit allerlei Chemikalien und minderwertigen Stoffen!« Leonie prustete vor Lachen. Jenny fuhr fort: »Ich sehe es schon genau vor mir: Hashtag #fashionvictim. Verzweifelte Schülerinnen mit rotem, brennendem Juckreiz und Bademode, die sich bei ihrer ersten Berührung mit Wasser auflöst. Das ist mir wahrscheinlicher als Models, die sich auf Instagram in seinen Höschen an weißen Traumständen räkeln.«

»Mensch, Jenny, du bist der Hit! Warum lässt du deine Kommentare erst jetzt ab? Damit hätten wir Lennard fertigmachen können. Versprich mir, dass du dich das nächste Mal nicht zurückhältst.«

Jenny zuckte mit den Schultern. Sollte sie sich jemals trauen, Lennard Kontra zu geben, hätte der bestimmt den nächsten dummen Spruch auf Lager. »Warten wir ab, wie sich sein Geschäft entwikkelt. Ich glaube nämlich nicht, dass er langfristig Erfolg hat.« Mit einer wegwerfenden Geste der Hand machte Leonie auf Jenny den Eindruck, als ob sie bereits eine »Style ’n’ Print«-Hose in den Abfall werfen würde.

»Der ist so von sich selbst eingenommen, dass er Zweifel an seinem Produkt nicht ernst nimmt.«

»Und wenn es mit der großen Karriere im Mode-Business nicht läuft, kann er immer noch den Bauernhof seines Onkels weiterführen oder bei seinen Eltern im Düngemittelgeschäft einsteigen. Da bekommt er wieder Bodenhaftung im wortwörtlichen Sinne.«

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4Schwarze Engel

Am nächsten Tag stritten die Zwillinge lautstark um die Sammelbilder in ihrem Fußballalbum. Nach einer wilden Verfolgungsjagd durch die Wohnung fielen sie im Wohnzimmer schließlich übereinander her und schlugen sich. Dasselbe Spiel wie gestern.