1. Auflage
Copyright © by Edition Weltenschreiber 2020
Edition Weltenschreiber Imprint vom Wiesengrund Verlag
www.edition-weltenschreiber.de
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Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat: Jörg F. Nowack
Korrektorat: Alexandra Fauth-Nothdurft
Illustrationen und Cover: Vera Sator
Umschlaggestaltung: Joachim Sator https://satorrotas.de
Printed in Germany
ISBN Print: 978-3-944879-77-2
ISBN E-Book: 978-3-944879-78-9
Das Geheimnis der Tannhain-Juwelen
Widmung
Ich widme dieses Buch meiner Mutter, Silvia, der es leider
nicht mehr möglich war, es selbst in den Händen zu halten.
- Vorab -
Eine Geschichte im Wirtshaus
I. Akt
Prolog: Der Rat der Feen
Der Sturm
Erz und Eisen
Dorf woanders
Acht Jahre später
Die Bibliothek der sieben Welten
Der Verschwundene
Zwischenspiel
In den Fängen der Rabenfrau
Minras Brief
Eine unerwartete Begegnung
Wut und Verzweiflung
Matos
Im Mor Beldji
Ein heimliches Treffen
Kora
Die Brücke der Trennung
Im Elfenwald
Zwischenspiel
In den Händen des Königs
Matos
Zwischenspiel
Die Nacht der Wölfin
In der Felswelt
Zwischenspiel
Windjäger
Die Stadt der Elfen
Macht und Spiel
Kora
Am Grunde des Sees
Schiffsratten und Seemannsgarn
Wut und Eifersucht
Matos
Der Zorn der Elche
In der Kammer des Königs
Kora
Zwischen den Zeiten
Der Rat der Elfen
Endspiel 1
Wasserpilze
Endspiel 2
- Danach -
Zurück im Wirtshaus
Die Autorin
Ja, ihr seht wohl, dass ich müde bin. Es war eine lange Reise bis hierher. Aber ich habe euch eine Geschichte versprochen und die sollt ihr bekommen. Gebt mir etwas von dem Met und ja, ein bisschen Kartoffelsuppe. Ich danke euch. Wie spät ist es? Oh, ich sehe, ich bin gerade rechtzeitig gekommen. Bevor die Geschichte beginnt, möchte ich euch nämlich noch etwas erklären. Ich muss euch von Wadra erzählen. Nein, nein, verdreht doch nicht die Augen. Es dauert nicht lange, doch es ist wichtig. Denn in Wadra spielt diese Geschichte. Nun müsst ihr wissen, dass Wadra aus sieben Welten besteht. Sieben Welten, die so unterschiedlich sind wie Eis und Feuer. Jede Welt hat ihre eigene Sonne, die früh am Morgen über den Horizont klettert und am Abend hinter dem Rand der Welt abtaucht. Aber in ganz Wadra gibt es nur einen Mond, wie wir nun wissen, nach allem, was passiert ist. Er kreist zwischen den Welten, ist mal hier, mal dort. Der Mond mag in einer Welt größer und in der anderen kleiner erscheinen, je nach dem Jahrtausend, in dem man sich dort befindet. Deshalb gibt es in allen sieben Welten eine Zeiteinteilung in Gezeitenwenden. In Wadra – wie in allen Gegenden des großen Universums – herrscht die Kraft der Natur. Das war so, das ist so und das wird immer so sein.
Aber in den sieben Welten von Wadra ist etwas anders, etwas ist mehr, mehr als nur das Zusammenspiel von Atomen, mehr als die Anziehung zwischen Molekülen und mehr als die Gesetze der Physik. Viele Tausend Gezeitenwenden vor dem Beginn dieser Geschichte, als die alte Kraft, die Urkraft der Natur, noch ungestört vom menschlichen Treiben durch die Welten geströmt ist, wurden die Feen geboren. Eine Fee ist das innere Wesen eines Elements oder einer Erscheinung. So steht es in ›Die Beschreibung einer Welt – die Urkraft Wadras‹, dem großen Hauptwerk des Mannes vom Mond. Nachprüfen kann das freilich niemand. Doch die Legende erzählt, dass an jenem Tag der Wind über die raue See und über kahle Felsen blies. Er war frei und wild. Sein Wesen war so stark, dass es nach außen strömte, sich verkörperte, worauf eine Gestalt erschien. Die Windfee war die erste aller Feen, die durch Wadras Welten wandelte. Nach und nach entstanden auch die anderen Feen. Die Gesteinsfee, die Mineralienfee, die Erdfee, die Waldfee, die Flussfee, die Fee der sieben Meere, die Mondfee, die Sonnenfee, die Dunkelfee. Es wurden immer mehr, bis eines Tages die letzte aller Feen zu ihnen stieß. Die Verkörperung dieser Fee hatte am längsten gedauert, weil sie die komplizierteste von allen war.
Es war ein sonniger Tag gewesen, ruhig, als hätte die Natur den Atem angehalten. Schließlich war sie hervorgetreten, nackt, wie sie erschaffen worden war, mit langen, hellbraunen Haaren, einer kleinen Nase, rosigen Wangen, langen Wimpern. Und mit einer Uhr in der Hand. Ihr Aussehen spielte natürlich keine Rolle, aber die Uhr, die war wichtig. Sie war das mächtigste Werkzeug der Zeitfee.
Die Feen machten es sich zur Aufgabe, sich um die sieben Welten von Wadra zu kümmern. Sie wachten über die Drachen, Elfen, Menschen, Kobolde, über die Trolle, Zwerge, Zentauren und all die Wesen, deren Auflistung jetzt zu lange dauern würde. Damit sorgten die Feen für ein Gleichgewicht zwischen Natur, den Völkern und den Toren, die die Welten miteinander verbanden. Viele Gezeiten lang funktionierte das prächtig. Krieg und Frieden, Hungersnöte oder fruchtbare Wälder – alles lag in den Händen der Feen. Doch ihr müsst auch wissen, dass eine Fee nun mal ein Geschöpf der Natur ist. Sie ist wild und frei. Der Wind will fliegen, die Sonne will brennen und über den Himmel tanzen; der Wald will wachsen und erblühen. Sie wollten ihre Elemente ausleben und sich nicht immerzu um die Belange der Weltenbewohner kümmern. Deshalb ersannen sie einen Plan – und dieser Plan war es, der diese Geschichte erst möglich machte. Mit diesem Plan begann das Unheil. Aber ich greife voraus. Es liegt nicht in meiner Hand, eine solche Geschichte zu erzählen. Das wäre mehr Ehre, als mir zusteht. Daher habe ich euch dieses Buch hier mitgebracht. Es ist viele Generationen alt, wie ihr an dem abgegriffenen Einband selbst sehen könnt. Und ja – ihr ahnt es – ich habe euch das erste Buch seiner Memoiren mitgebracht: »Das große Himmelstheater«. Sein letztes Werk. Eben jenes Werk, das der Mann vom Mond geschrieben hat, um die Geschichte der Feen und auch seine eigene Geschichte für immer festzuhalten. Damit das Blut nicht in Vergessenheit gerät, das vergossen worden ist. Damit die Feen nicht aus den Köpfen jener verschwinden, die sie zu diesen Zeiten kaum noch zu Gesicht bekommen. Ich werde diese wundersamen Seiten nun aufschlagen und dann lauscht aufmerksam den Worten. Doch vorher schließt die Augen. Stellt euch eine Welt vor, die lange – sehr lange – vor euch existiert hat. In dieser Welt herrschen die Feen, die Kräfte der Natur. Seht ihr sie? Da sind sie schon. Schaut empor zum himmlischen Theater! Dort, ja, genau, seht noch etwas weiter nach Norden. Erblickt ihr es? Das Wolkenschloss! Dort sitzen sie. Jetzt spitzt die Ohren und lauscht. Es gibt eine Geschichte zu hören.«
Hoch im Himmel war es kalt und dunkel. Die sieben Welten von Wadra flogen durch Raum und Zeit. Das Wolkenschloss glitt zwischen den Welten hindurch. Heute standen seine Tore offen. Feuer, Wasser, Wiese, Erde, Wind. Eis und Gestein. Sand, Wald und Meer. Sonne, Mond und Dunkelheit. Sie alle waren hier versammelt – all die Kräfte der Natur vereint.
»Beruhigt euch, werte Damen. Nicht alle auf einmal! Wer hat die Sonnenfee eingeladen?«
Die Dunkelfee. Sie ist die ruhigste von allen und fürchtet nur das Licht.
Mit der Zeit verstummen die anderen. Nur ihr Pulsieren lässt das Wolkenschloss erbeben. Irgendwo in Merelien liegen zwei Geschwister auf einer Wiese, die hinauf in den Himmel blicken. Aufgeregt deuten sie auf die ungewöhnliche Wolkenformation. Doch davon bekommen die Feen auf ihrer Himmelsbühne nichts mit.
»Wir alle sind hier versammelt. So soll es sein.«
Die Flussfee. Sie sitzt neben der Erdfee, die ihr behutsam die langen, blauen Haare kämmt. Die Flussfee weiß nicht, ob sie die Erdfee liebt oder hasst. Das kommt darauf an, wie stark gerade das Wesen der Sonnenfee ist. Schon mancher Fluss oder Bach ist in den Tiefen der Erdkruste verschwunden.
»Aber die Fee der Zeit ist noch nicht da.«
Die Sonnenfee. Sie behält gerne den Überblick.
»Die Zeitfee wird schon da gewesen sein.«
Die Windfee ist ungeduldig. Ihr Wesen ist das unruhigste von allen.
»Wir warten nicht! Beginnt!«
Die Wolkenfee. Ihr gehört das Wolkenschloss.
»Wer beginnt?«
Die Erdfee. Sie mag Ordnung und geregelte Abläufe.
»Wir beginnen am Anfang der Geschichte. Nicht alle wissen, was passiert ist. Aber fängt die Geschichte in Arserien, der Felswelt, an? Hat dort das Schicksal seinen Lauf genommen?«
Wieder die Wolkenfee. Sie hat sich dazu entschlossen, die Sitzung zu leiten.
»Nein, nein. Es war in der Waldwelt! Dort beginnt die Geschichte. Die Waldfee soll erzählen! Das Schicksal des Mondes ist allen bekannt.«
Die Gesteinsfee. Sie kennt die Geschichte der Felswelt in- und auswendig. Sie will vorankommen, denn sie will wieder zurück in ihre Berge. Die Lüfte tun ihr nicht gut und die Wolken sind ihr zu weich.
»Oh der Mond!«
Die Mondfee. Sie stöhnt bei der Erinnerung und rückt vorsichtshalber ein Stück von der Fee der Seen weg.
»Niemand will jetzt dein Wehklagen hören! Erzählt die Geschichte!«
Die Feuerfee. Auch sie machen die Wolken nervös.
»Du willst mein Wehklagen nicht hören? Ich habe seine Anwesenheit gespürt. Immerzu. Weißt du, wie es war – dort auf den kahlen Felsen? Hört mich an!
Ach, der Mond! Hoch und rund stand er am Himmel. Seine Strahlen tauchten das felsige Land in ein kaltes, geisterhaftes Licht, das wie ein Feenschauer durch die Nadeln der Bäume tanzte. Der Wind trug kalte Luft aus Norden herbei, die zwischen den Felskanten Wirbel drehte und leise zischte. Ein Schwarm Raben erhob sich krächzend mit schnellen, flatternden Flügelschlägen in die Luft. Erschrocken sprangen Rehe von einer Felsnase zurück in den Schutz der Bäume. Für wenige Sekunden verdeckten die Raben den Mond wie eine schwarze Wolke am sonst beinahe wolkenlosen Himmel. Die kantige steinerne Welt unter ihnen – Berge und Täler, Seen und Wälder – wurde für einen kurzen Augenblick von der Dunkelheit verschluckt.«
Die Mondfee. Sie wird unterbrochen.
»Dafür hat doch niemand Zeit. Was ist denn nun passiert?«
Die Windfee. Ihr geht es nicht schnell genug.
Die Mondfee verdreht die Augen und fährt fort.
»Unsanft wurde er von der Dunkelheit aus seiner Konzentration gerissen. Er saß in seiner Kammer und hob missbilligend seinen Blick. Er wollte nicht gestört werden. Ach, wie sein gekrümmter Rücken schmerzte, doch beim Schreiben merkte er das nicht. Jetzt aber, da er aufblickte, stach ihn der Schmerz wieder in seine Lenden und er wünschte sich, er könne ihn herausziehen wie einen Glassplitter. Er saß vor einem großen hölzernen Schreibtisch, dessen dunkles Holz schon viele Jahrhunderte gesehen hatte und der beinahe so viele Geschichten kannte wie er selbst. Die Ellenbogen auf der hölzernen Tischplatte abgestützt, die von Tinte durchdrungene Feder in der Hand, wandte er sich wieder dem Buch zu, das vor ihm lag.
Oh, die Tinte, unser heilig Blut! Die Phönixfeder!
Er schrieb – seit Stunden schon, weil das seine Aufgabe war, seit wir sie ihm gegeben hatten. Die kurzen weißen Haare klebten vom Schweiß an seiner Stirn und aus seinen abgetragenen ledernen Schuhen schauten vorne die Spitzen seiner großen Zehen heraus.
Fünf große Kerzen hatte er auf seinem Schreibtisch aufgestellt, die das Papier spärlich beleuchteten. Wachs tropfte von ihnen herunter, wurde auf dem dunklen Holz hart und bildete kleine, verknotete Wachslandschaften. Neben ihm türmten sich Regale auf, aus denen zerlesene Bücher hingen. Ein alter Globus, der sich schon seit vielen Jahren nicht mehr gedreht hatte, stand neben seinen Füßen. In der steinernen Mauer klaffte wie der Schlund eines Drachen ein Fenster, das dem Mondlicht erlaubte, einen Blick in sein kleines Reich zu werfen.
Die Windfee trug Wolken herbei, die sich langsam vermehrten und dem Schwarm Raben folgten, der ihm vor Kurzem seine Konzentration geraubt hatte.
Der Blick des Mannes glitt am Nachthimmel entlang, folgte den Bergspitzen am Horizont und blieb an der schwarzen Tiefe vor dem Fenster hängen. Tagsüber schimmerte das Wasser blau und klar. Oh, das Wasser! Es umgab seinen Turm wie Mauern ein Gefängnis. Doch nachts war es dunkel wie die Schatten der Tannen im Wald. Der Wind blies schwach durchs Gemäuer und ließ die Kerzenflammen sachte flackern.
Der Mann sah nicht mehr von seinem Text auf. Er arbeitete schnell und beharrlich. Die Feder kratzte übers Papier. Wieder und wieder tunkte er sie in die Tinte, ließ sie über einem Leinentuch abtropfen und fuhr fort. Das Buch, in das er seine Zeichen setzte, war groß. Irgendwann würde es noch viel größer sein, denn es wuchs mit der Geschichte, die es erzählte. Oh ja, die Geschichte! Mit einer hastigen Bewegung rückte der Mann seinen Hemdkragen zurecht. Sein altes Herz schlug vor Aufregung schneller, denn bald hatte er es geschafft. Die jahrelange Arbeit hatte sich gelohnt.
Seht ihr? Hier beginnt die Geschichte! Seine Hand verkrampfte sich um die Feder, doch er hörte nicht auf zu schreiben. Schweißperlen begannen von seiner Stirn zu laufen wie kleine Murmeln, die er mit dem Hemdsärmel seiner freien Hand wegwischte. Seine Augen brannten vom Rauch der Kerzen und von der Dunkelheit. Die Feder in seiner Hand vollführte einen letzten Bogen. Er hielt einen Moment inne und atmete dann in vollem Zuge aus. Ohne es zu merken hatte er die letzten Sätze geschrieben, ohne Luft zu holen. Er legte die Feder neben sich ab und schraubte das Tintenfass zu, lehnte sich in seinem hölzernen Stuhl zurück und seufzte erleichtert. Und während er seine Hand ausschüttelte, um sie von ihren Strapazen zu erlösen, breitete sich auf seinem Gesicht ein zufriedenes Lächeln aus. Er kratzte seinen langen, strubbeligen Bart und rückte seine Brille zurecht, die schief auf seiner Hakennase hing. Es war vollbracht! Er wartete noch lange, bis er ganz sicher sein konnte, dass die Tinte getrocknet war. Nun stand er auf, klappte das Buch zu, nahm es und verstaute es in einer eisernen Truhe, die er wie jeden Tag mit drei sicheren Schlössern versperrte. Doch jetzt schreckte ihn ein Geräusch aus seiner Konzentration. Ein sanftes Tappen, wie von zarten Füßen, und das leichte Schleifen von feinem Samt über steinernen Boden.«
Die Mondfee. Wieder wird sie unterbrochen.
»Oh, das war sie!«
Die Wiesenfee. Die Feen stöhnen auf und wiegen ihre Köpfe.
»Ja, das war sie. Er erzitterte. Sie war lange nicht mehr bei ihm gewesen. Vorsichtig zog er einen losen Stein aus der Mauer oberhalb der Truhe, hinter dem er die Schlüssel versteckte. Das hier war sein Reich, sein Ort, sein neues Zuhause. Ach, sein altes Zuhause! Doch daran wollte er nicht denken. Die Schritte kamen näher, während er dastand und mit klopfendem Herzen und kleinen, kalten Schweißperlen auf der Stirn auf die Frau wartete, die gleich durch die Tür kommen würde.«
Die Mondfee.
»So nimmt die Geschichte wahrlich ihren Lauf! Aber jetzt? Wie geht sie weiter?«
Die Eisfee. Sie tanzt vergnügt im Wolkenschaum, denn sie fühlt sich wohl hier.
Eine heisere, flüsternde Stimme unterbricht die Unterhaltung. Es wird still im Wolkenschloss.
»Lasst uns zu der Zeit beginnen, als das Blut der Völker noch nicht das Land ertränkt hatte, als der Tod noch nicht durch Wälder und über Wiesen geschritten und der Krieg noch nicht mehr als jeder andere Krieg war.«
Die Feuerfee. Die Wolkenfee hat ihr befohlen, in der Mitte des Raumes zu sitzen und sich ruhig zu verhalten. Ihr flammendes Haar hat schon einmal ein Loch in die Wolkenwand gebrannt.
Nun erhebt sich die Sandfee. Ihre Haut ist so schwarz wie die Nacht, ihr Haar kurz und lockig. Bis auf den Sand, der in spielerischem Muster an ihrem Körper klebt, ist sie nackt. Die anderen sehen sie neugierig an.
»Lasst die Waldfee beginnen. Die Geschichte entwickelt sich in ihrem Reich. Soll es so sein?«
Die Sandfee.
»So soll es sein. Tritt vor uns, Fee der Wälder! Erzähle, was sich in deiner Welt zugetragen hat.«
Die Wolkenfee.
Die Waldfee tritt vor.
Der einsame Waldgeist singt:
Oh, wie ist das Leben lang,
dass wir’s kaum noch überblicken;
oh, wie ist das Leben alt,
dass wir’s nur noch vage kennen.
Oh, wie ist das Leben standhaft,
wie der Felsen unter uns;
Oh, wie’s vergeht, das Leben,
wie dickflüssig die Zeit durch ein Sieb zerrinnt.
Seht doch nur die fröhlich’ Blumen,
die vergeh’n, kaum dass sie die Welt geseh’n.
Kommt nur, Kinder, lasset uns die Plätze tauschen,
lasset auch uns die flücht’ge Zeit zerrinnen sehn.
Ja, oh ja.
Die Geschichte kennt so viele Zeiten,
Veränderung und Neuanfang.
Jeder wünscht sich all die Dinge –
Jugend, Spiel, Freud und niemals Leid.
Aber wisset nur Bescheid, ihr Kleinen,
die ihr glaubt, gar all die Ding’ der Welt zu kennen –
in der Ewigkeit – da gibt es keine Zeit.
Wenn die Ereignisse verschwimmen,
Gedanken sich im Kreise drehen,
während sie ins and’re Jahrtausend springen
und derselbe Ort doch immer derselbe bleibt;
träumt auch der Baum der Ewigkeit
vom Fliegen, Schwimmen und derlei.
Der Schmerz der Baumgeister – Strophe I
Von allen Seiten waren die großen, schwarzen Wolken herangezogen, um das Blau des Himmels zu verdecken und den Tag zur Nacht zu machen. Der Regen peitschte gegen die Reling. Selbst der Horizont war hinter einer Wand aus dicken Wolken und Regenschleiern verschwunden, so dunkel war es. Der Wind fuhr zwischen die Segel, welche die durchnässten Seemänner mit letzter Kraft einholten. Das Schiff schaukelte, wurde jäh nach vorn gerissen und schon wieder zurück. Es schnellte über die aufgewühlte See, stürzte in Wellentäler hinab und wurde im nächsten Moment von ihnen emporgehoben. Blitze zuckten über den Himmel und erhellten die See gerade lange genug, dass der Seemann, der ans Steuerrad geklammert an Deck stand, das ganze Ausmaß des Sturms in epischer Breite sehen konnte. Seine Kleidung war nass; sie klebte auf der Haut. Sein Hut war schon längst davongeflogen, während das Wasser aus seinen Stiefeln oben und unten herauslief. Der Rudergänger war konzentriert und blickte auf die schäumenden Wellen. Er ließ sein Steuer nicht los – nicht einmal, um sich die langen Haare aus dem Gesicht zu wischen, die an der Stirn klebten und sich immer wieder vor seine Augen schoben. Er wusste, seine Kameraden mühten sich auf dem Deck ab, doch er konnte sie kaum erkennen. Er schrie Befehle, die der Wind augenblicklich ergriff und weit wegtrug. Ein ohrenbetäubender Donner brach und im nächsten Augenblick flog ein leeres Fass haarscharf an seinem Kopf vorbei. Er hatte jedoch keine Zeit, seine Männer wütend zu beschimpfen, weil sie die Fracht nicht ausreichend gesichert hatten, denn Wind und Wasser spielten mit seinem Schiff wie Kinder in einer Pfütze mit einer Nussschale. Mit voller Kraft und so laut er konnte, brüllte der Seemann den Elementen einen Kampfesschrei entgegen. Der Sturm erwiderte diesen Schrei und ließ seine Winde fortan noch vehementer durch die Lüfte heulen.
Das Toben des Unwetters war auch vom Hafen aus zu sehen. Aria Isabella von Krotig saß auf dem Fenstersims des Hauses der Hafenwache und starrte durch die von Regentropfen verschleierte Scheibe hinaus aufs Meer. Immer wieder zuckten Blitze über den Himmel und erhellten die tosende See. Kurz darauf grollte der Donner.
Aria langweilte sich. Ihre Eltern verbrachten die regnerischsten Monate des Jahres hier in der Stadt und waren damit beschäftigt, sich in der Oberschicht der Gesellschaft auf Bällen, zum Tee oder zu anderen Aktivitäten, wie sie nur Reiche zum Zeitvertreib veranstalteten, zu präsentieren. Das Mädchen jedoch vermisste den heißen, trockenen Sommer und ihre Walnussplantage auf dem Land, wo sie immer Arbeiten zu erledigen hatte, Wälder zu erforschen, Baumhäuser zu bauen oder Frösche am kleinen Teich zu fangen. In der Stadt konnte sie nur in feinen Kleidern über die Märkte streifen, mit den Damen durch den Park spazieren oder sich in feinen Restaurants zum Essen treffen. Sie war sieben Jahre alt und konnte den Sinn von sauberen, schicken Kleidern, höflichen – aber unehrlichen – Konversationen beim Essen und dem stundenlangen Frisieren der Haare noch nicht verstehen. Wenn die Erwachsenen beisammensaßen, redeten die Frauen vornehmlich über Schmuck, ihre Haare und Männer. Die Männer ihrerseits diskutierten über den Krieg.
König Arl hatte albPortavinan, das Hafenland mit seinen Weinreben, längst eingenommen. Das war noch vor Arias Zeit. Jetzt zog er die jungen Männer ein, um die Grenzen seines Landes auszuweiten. Mit einem Seufzer presste sie die Stirn gegen die Scheibe und beobachtete die Regentropfen, die fest an das Glas schlugen und langsam daran nach unten kullerten. Sie stellte sich vor, dass etwas sie jagen und die kleinen Tropfen um ihr Leben rennen würden. Gebannt verfolgte sie, welche Tropfen ihre Flucht schafften und seufzte leise, wenn einer von ihnen zu langsam war. Vom Krieg verstand sie genauso wenig wie von schicken Kleidern. Noch einige Jahre würden vergehen, bevor sie sich für das Schicksal ihrer Welt interessieren würde.
So saß sie an diesem stürmischen Tag in der Hafenwache, während sie drei walnussgroße Murmeln – eine blaue, eine grüne und eine gelbe – in der Hand hatte, die sie geschickt durch ihre Finger gleiten ließ. In Wirklichkeit waren die drei Murmeln durchsichtig. Die Farben zogen sich wie Tintenfäden in einem Wasserglas durch ihr Inneres. Manchmal änderte sich die Struktur der Fäden auf wundersame Weise. Die blaue, deren Farbe an manchen Stellen von dünnen, weißen Schlieren durchwoben war, fühlte sich kühl an. Die gelbe, die hier und dort von einem schwachen Grau durchbrochen wurde, erschien ihr rauer als die anderen beiden Kugeln. Und die grüne, deren Farbe vor allem in der Mitte der Kugel mit einem sanften Braun in enger Umarmung tanzte, war warm. Diese drei Murmeln waren ein Geschenk ihrer Großmutter gewesen, das vor einigen Tagen per Tamblingpost an ihrem Stadthaus ankam.
Tamblinge waren kleine, freche Wesen, deren grüne Haut die Farbe von Efeublättern hatte. Sie sahen aus wie winzige, dicke Elfen, nur dass ihre Flügel nicht denen von Schmetterlingen glichen, sondern eher jenen von Libellen, die sich jedoch wie Propeller drehten. Sie hatten spitze, nach oben gebogene Nasen, lange Ohren und große Kulleraugen. Tamblinge waren für ihre Größe extrem stark und schnell. Sie trugen dicke Beutel unter ihren Bäuchen, in denen sich die Post befand, die sie beförderten. Reiche Familien hatten meist ihren eigenen Tambling. In jeder Stadt gab es auch öffentliche Tamblingstationen, doch die waren eher unzuverlässig, da die kleinen Wesen dort nicht so gut bezahlt wurden. Sie mochten Gold. Genauer gesagt mochten sie alles, was glänzte, aber am liebsten nun einmal Gold. Mit ihrem Gezwitscher, das wie Vogelgesang klang, machten sie sich vor der Haustür bemerkbar oder verlangten ihre Bezahlung. Jeder von ihnen hatte seinen eigenen Ruf, den er dem Vogel nachahmte, der ihn großgezogen hatte. Tamblinge legten nämlich Eier. Und da sie ihre Kinder nicht selbst betreuten, legten sie ihre Eier in die Nester von Vögeln. Erst nachdem der junge Tambling fliegen gelernt hatte, kehrte er zu seinem Stamm zurück.
Der Tambling ihrer Großmutter, der Aria ihre Murmeln gebracht hatte, hatte den Ruf einer Nachtigall. Die Murmeln waren ein seltsames Geschenk, um es per Tamblingpost zu schicken, fand sie. Tamblinge eigneten sich gut für Briefe, die sie schnell zustellten. Für schwerere Dinge musste man sich meist doch auf Pferdekutschen verlassen. Weil die kleinen geflügelten Wesen sich so teuer bezahlen ließen, schickte man auch nur dringliche Nachrichten mit ihnen weg. Arias Mutter hatte dem unter der Last zitternden Tambling mit bösem Blick einen Goldgroschen gegeben und gleich darauf verlangt, dass Aria die Murmeln wegwarf oder verschenkte. Eine Kette um ihren Hals, ein Fächer in der Hand oder ein hübscher Armreif wären ihr an ihrer Tochter lieber gewesen. Mag sein, dass dem Mädchen die Murmeln genau deshalb so gut gefielen. Das Einzige, was sie nachdenklich stimmte, war, dass ihre Großmutter ihrem Geschenk weder eine Karte noch eine Erklärung oder einen Gruß beigelegt hatte. Ihre Oma war alt und an den meisten Tagen arg vergesslich. An den wenigen Tagen, an denen sie sich jedoch erinnerte, erzählte sie die schönsten Geschichten, die Aria jemals gehört hatte. Vielleicht würde sie die Geschichte der Murmeln hören, wenn sie wieder zum Landhaus zurückkehrte. Darauf freute sie sich schon. Sie hatte die Murmeln immer in ihrer Tasche, wo sie sicher waren. Wenn sie an Regentagen im Hafenhaus saß, lernte sie, die bunten Dinger geschickt durch ihre Finger sausen zu lassen und vertrieb sich damit ihre trüben Gedanken.
»Zieh nicht so ein langes Gesicht. Du weißt doch, im Winter regnet es hier immer«, brummte eine tiefe Männerstimme hinter ihr, die Aria aus ihren Gedanken schreckte. Hest war zurück ins Zimmer gekommen und ließ sich auf dem Schreibtischstuhl nieder, der neben ihrem Fenstersims stand. Der alte Mann sah aus wie ein Seemann aus einer der Geschichten, die man sich oft am Kaminfeuer erzählte. Er hatte einen langen, zerzausten Bart, in den sich die ersten grauen Strähnen schlichen, einen Ohrring am linken Ohr und eine Seemannsjacke, die seinen dicken Bauch etwas verbarg. Doch Hest war nie zur See gefahren. Als sie ihn einmal nach dem Grund dafür gefragt hatte, lächelte er sie nur an und strich ihr über den Kopf.
»Weil ich den Hafen zu sehr mag«, hatte er erwidert und sehnsüchtig hinaus aufs Meer geblickt. Sie hatte nicht verstanden, was er damit gemeint oder warum er dabei so traurig zum Horizont geschaut hatte. Sie sehnte sich nach nichts anderem, als hinaus in die Weite zu fahren und die stinkende Stadt sowie den einsamen Winter zurückzulassen. Als Hest sie durchdringend musterte, nahm sie widerwillig ihre Stirn vom Fenster und sah ihn an.
»Ich mag Regen«, flüsterte sie. Er nickte.
»Ich auch. – Aber ich bin alt und gemütlich. Ich habe schon genügend Tage im Freien und mit schwerer Arbeit verbracht. Ich sitze gerne im Warmen und schaue dem Regen draußen zu. Ein junges Mädchen wie du hingegen hat hier drinnen nichts verloren.«
Aria senkte den Blick, als sie die heißen Tränen spürte, die ihr in die Augen stiegen. Ohne Hest müsste sie den ganzen Winter allein in dem großen, leeren Haus in der Meeresbuchtstraße 105 verbringen und würde vor Langeweile eingehen. Sie war zu jung, als dass ihre Eltern sie schon bei Bällen oder anderen Zusammenkünften vorzeigen konnten. Andererseits waren die Mädchen in ihrem Alter die schlimmste Gesellschaft, die sie sich nur vorstellen konnte. Die Erwachsenen hatten wenigstens ihre Arbeiten und Pflichten, aber die Mädchen und auch ein paar der Jungen hatten alle Möglichkeiten der Welt. – Doch sie spielten nichts, sie taten nichts anderes, als das Leben der Erwachsenen nachzuahmen. Sie unterhielten ihre eigenen Teerunden, Bälle und Golfspiele. Sie konnten es gar nicht erwarten, endlich groß zu sein, um zur Gesellschaft zu gehören. Aria teilte die Sehnsüchte der anderen Kinder nicht. Sie schüttelte ihren kleinen Lockenkopf heftig. Ihre Mutter wurde wütend, wenn sie erfuhr, dass sie nicht an den Treffen der anderen Kinder teilgenommen hatte. Doch sie interessierte sich zu wenig für sie und zu sehr für ihre eigenen Angelegenheiten, als dass es ernsthafte Konsequenzen für Arias Verhalten gab. Eine gelegentliche Standpredigt, gefolgt von einer Ohrfeige, waren ihre kleinen Abenteuer in der Stadt immer wert. Am liebsten verbrachte sie ihre Zeit am Hafen – ihrem Tor zum Meer, ihrer heimlichen Liebe. Nach den Wäldern ihres Heimatdorfs, verstand sich. An sonnigeren Tagen war in der Hafenwache immer viel los. Schiffe, die in den Hafen ein- und ausfuhren, mussten sich hier melden, ihre Waren aufzählen lassen oder Reparaturen beantragen. Hier wurden oft auch Streitereien geschlichtet oder jene vor der Tür ausgetragen, die nicht zu schlichten waren. Jetzt allerdings war der Himmel dunkel. Während die Schiffe verlassen im Hafen schaukelten, brannten in den Kneipen am Kai schon zu dieser frühen Stunde die Lichter.
Schweigend saßen Aria und Hest, diese ungleichen Freunde, nebeneinander, die in der Einsamkeit des Alltags sonst niemanden hatten. Jeder hing seinen eigenen düsteren Gedanken nach. Plötzlich schwang eine kleine Tür auf, die sich zur Küche der Hafenwache hin öffnete, während eine beleibte Frau mittleren Alters sich mit einem Tablett in der Hand zu ihnen hindurchschob. Sie trug ein einfaches blaues Kleid mit einer weißen Schürze darüber, die vor lauter Flecken eher gelb-bräunlich aussah. Die langen blonden Haare hatte sie mit einer Nadel hochgesteckt. Sie trug einen kräftigen roten Lippenstift. Aria hatte sie noch nie ohne diese bunte Farbe im Gesicht gesehen. Der beruhigende Geruch von Kräutertee strömte dem Mädchen entgegen, als die Frau das Tablett auf Hests großem Arbeitstisch abstellte.
»Lydia!«, rief der Alte erfreut und machte Anstalten, sich von seinem Platz zu erheben. Er ließ es aber, als die Frau zu ihm kam und ihm das Tablett direkt vor die Nase hielt, sodass er sich eine Tasse greifen konnte.
»Hab vielen Dank.«
Lydia winkte mit einer lässigen Handbewegung ab und durchquerte den Raum, um auch Aria, die auf der Fensterbank saß, ein Tässchen Tee zu bringen.
»Ich kann mir doch die paar Minuten nehmen, um euch zwei trüben Gesellen ein Lächeln auf die Gesichter zu zaubern. Heute gibt’s ohnehin nicht viel zu tun.«
»Heute nicht. Aber warte nur ab, morgen rennen sie uns wieder das Haus ein. Ladung verloren, Mast gebrochen, Seemänner verschollen …«, orakelte Hest.
Aria griff nach einer weißen Porzellantasse mit blauen, blumenartig geformten Verzierungen und verfolgte mit ihrem Blick, wie Lydia sie mit heißem Tee füllte. Der Dampf stieg in kleinen Spiralen nach oben, als das Mädchen die Tasse auf dem Fenstersims abstellte. Sie sah zu, wie die Scheibe vom heißen Dampf beschlug.
Aria hatte sich gerade neben ihrer Tasse niedergelassen und genüsslich die Augen geschlossen, als sie plötzlich ein lautes Poltern vor der Tür aufschreckte. Jemand stöhnte auf, etwas fiel zu Boden, jemand fluchte und bald klopfte es heftig an die Tür.
Hest erhob sich mühsam und öffnete die schwere Eingangstür nur einen Spaltbreit, um zu sehen, was los war. Draußen hatte der Sturm sich über die Küste gewälzt, der Wind pfiff um die Häuser, als wolle er sie davontragen. Er ließ die Wellen hoch gegen die Kaimauer brechen und presste jetzt die kalten, nassen Tropfen durch den Türspalt. Die Kerze auf Hests Schreibtisch flackerte in der hereinströmenden Luft.
Aria hörte laute, aufgeregte Stimmen, verstand aber die Sprache nicht. Hest antwortete ihnen in derselben eigenartig klingenden Sprache, griff nach seiner Jacke, die an einem Haken neben der Tür hing, und verschwand hinaus.
Das Mädchen presste seine Stirn wieder an die Scheibe, um zu sehen, wohin er ging. Doch in der Dunkelheit des Sturms konnte sie nicht mehr als ein paar verschwommene Schatten erkennen. Wenige Minuten später sprang die Tür wieder auf. Hest trug mit zwei weiteren Männern eine Person auf den Schultern herein, die sie vorsichtig auf dem hölzernen Boden der Hütte ablegten. Die Haut der Person war vom Salzwasser grau und aufgequollen, während die Klamotten in Fetzen hingen. Lange blonde Haare kringelten sich verfilzt auf dem Boden. Seetang hatte sich in ihnen verfangen. Hustend versuchte die Person, sich umzuwälzen, aber offensichtlich fehlte diesem Menschen die Kraft, auch nur den Arm zu heben. Er zuckte leicht und erschlaffte sogleich wieder. Aria erkannte an den Fingern seiner linken Hand, die in unnatürlicher Position vom Rest des Körpers abstand, drei große Ringe. Jeder der Ringe war groß und silbern. Jeder von ihnen trug eine runde Platte an seiner Oberseite, die jeweils mit einem anderen Zeichen verziert war.
Die durchnässte Person wendete ihren Kopf. Als dabei die Haare und die Fetzen der Kapuze herunterrutschten, erkannte Aria das Gesicht eines Mannes, das tiefe, aufgeweichte Schnitte quer über die rechte Wange sowie einen stoppeligen Dreitagebart zeigte. Neugierig beugte sie sich vor, doch Lydia hielt sie zurück. Der Mann hustete wieder. Er spuckte aus, doch die Spucke war blutrot. Sofort knieten die Männer nieder, stützten ihn und redeten leise auf ihn ein.
Indes packte Lydia Arias Hand und zog das protestierende Mädchen, das noch schnell nach seiner Teetasse griff, energisch aus dem Zimmer. Die Frau befahl ihr, sich auf einen Hocker in der Küche zu setzen, neben dem auch Frill, die Hauskatze, schlief.
»Du wartest hier«, sagte sie nachdrücklich, während sie begann, in den Schubladen einer Kommode zu kramen, die neben der Tür stand. Sie förderte einige Säfte, Verbände und Alkohol zum Reinigen von Wunden daraus zutage. Damit verschwand sie wieder ins Arbeitszimmer. Aria wartete ein paar Sekunden, stellte ihren Tee auf der hölzernen Arbeitsfläche der Küche ab, sprang vom Hocker und schlich zur Tür. Neugierig drückte sie ihr Auge gegen das Schlüsselloch, konnte aber nichts erkennen außer dem weiß-blauen Stoff von Lydias Kleid. Der Hintern der Frau versperrte ihr die Sicht auf den verletzten Mann, während sie sich herunterbeugte, um seine Wunden zu säubern. Enttäuscht wandte Aria sich ab und ging zum Hocker zurück. Frill hob ihren kleinen graugetigerten Kopf und sah sie mit ihren schmalen Augen neugierig an.
Das Mädchen ignorierte sie und begann, ungeduldig auf und ab zu laufen. Da ihr Haarband sich gelöst hatte, stoben ihre roten Locken auf ihrem Kopf in alle Richtungen. Es nervte sie, ein Kind zu sein! Wütend blieb sie vor der Katze stehen und steckte sich die Haare wieder hoch.
»Wenn einmal etwas Spannendes passiert, muss das Kind verschwinden, ist ja klar«, murmelte sie, setzte sich auf den Boden und begann, Frill gedankenverloren zu streicheln.
»Du hast es gut. Du kannst gehen, wohin du willst.«
Aria spitzte ihre feinen Kinderohren, als die aufgeregten Stimmen der Erwachsenen aus dem Nachbarzimmer wieder lauter wurden. Doch die Sprache, die sie sprachen, verstand sie immer noch nicht. Sie legte den Kopf schief und durchforstete ihre Erinnerungen an die Schriften im Haus ihres Vaters. Sie hatte immer viel gelesen, wenn sie alleine war und niemand sie dabei gesehen hatte. Mädchen sollten nicht lesen, jedenfalls nicht adlige Mädchen. Doch ihr Vater war unter anderem Händler und Buchsammler und auch wenn ihm mehr am Sammeln als am Lesen lag, hatte Aria in ihrem jungen Leben dennoch schon einiges aufschnappen können. Sie musste ihr Wissen nur gut verbergen. Vor einiger Zeit hatte sie sich heimlich in die Privatbibliothek ihres Vaters geschlichen. Dort empfing er gerne Kunden, die er beeindrucken wollte. Aria war mit seinem Schlüsselbund durch die mit Glas geschützten Regale geschlichen und hatte dabei Schriften mit seltsamen Zeichen und Sprachen entdeckt. Schnell hatte sich herausgestellt, dass es sich dabei um Elfenschriften handelte, doch sie hatte sie nie entziffern können. Ihr Vater mit Sicherheit auch nicht. Aria war überzeugt, dass er diese Schriften nur vom Schwarzmarkt haben konnte. Einmal hatte sie mit angehört, wie ihre Eltern gestritten hatten. Ihre Mutter hatte ihrem Vater immer wieder gesagt, dass sein Buchwahn ihr zu weit ginge und der Schwarzmarkt zu gefährlich sei. Ihr Vater hatte ihrer Mutter im ruhigen Ton erklärt, dass manche Raritäten solche Gefahren durchaus wert waren und dass sie das doch verstehen müsste. Aria hatte sich nie getraut, zu fragen, was der Schwarzmarkt war. Sie stellte ihn sich nicht nur als sehr dunkel vor, wie in einer Höhle, sondern auch als gefährlich. Vielleicht lauerten ja hinter den Ständen dieses Marktes, wie auch in kleinen Schlitzen im Fels, böse Kreaturen. Sie hatte beschlossen, niemals auf den Schwarzmarkt zu gehen. Jetzt fragte sie sich, ob die Männer im anderen Zimmer vielleicht auch Elfisch sprachen – vielleicht war der Mann, den sie gefunden hatten, ein Elf? Aufgeregt sprang sie wieder auf und hastete zurück zum Schlüsselloch. Doch ihre Aussicht hatte sich noch nicht gebessert. Lydia schien mittlerweile in ihrer Position festgewachsen zu sein. Wie spannend es wäre, einen Elf kennenzulernen! Woher Hest wohl Elfisch konnte?
Wieder fiel ihr Haarband zu Boden, aber diesmal kümmerte sie sich nicht darum. Stattdessen beugte sie sich noch weiter hinunter, um vielleicht einen Blick durch den Türschlitz werfen zu können. In diesem Moment sah sie Schatten, die sich der Tür näherten und ehe sie sich aufrichten und zur Seite springen konnte, schwang die Tür auf und knallte mit voller Wucht gegen ihren Kopf. Fluchend hielt das kleine Mädchen sich die Stirn. Sie lag am Boden, hob ihren Blick und sah, wie Lydia mit vorwurfsvollem Blick zu ihr hinabschaute.
»Bei der stürmischen Windfee! Warum wundert mich das jetzt nicht? Kleine Sünden …«, begann sie, winkte ab, stieg über das Mädchen hinüber und machte sich am Ofen zu schaffen. Aria wälzte sich herum und spitzte in das Zimmer, in dem sie den ganzen Vormittag verbracht hatte. Zu ihrer Enttäuschung war es leer. Nur ein großer nasser Fleck und einige dreckige Fußabdrücke verrieten, dass hier überhaupt etwas passiert war.
»Wo … wo habt ihr ihn hingebracht?«, fragte sie vorsichtig.
»Er ist in einem der Bedienstetenzimmer im Obergeschoss. Franka pflegt ihn«, antwortete die Frau kurz angebunden.
»Ist er ein Elf?«, ließ Aria nicht locker. Lydia lachte auf.
»Oh Aria, hast du etwa zu viele Märchen gehört? Ein Elf würde niemals so weit in den Süden kommen. Du weißt doch, dass sie nur in den Nordreichen hausen.«
Das Mädchen schaute verlegen und etwas traurig auf seine Füße.
»Komm, du kleine Göre, hilf mir beim Suppekochen. Wir wollen unseren Gast doch nicht hungern lassen«, fuhr Lydia fort, als sie Arias enttäuschtes Gesicht sah.
Vor Lydia und Hest hatte Aria ihre genaue Herkunft nie erwähnt – auch wenn ihre Kleidung mit Sicherheit für sich sprach. Wenn Lydia auch nur geahnt hätte, wer sie war, hätte sie es sicher nicht gewagt, den Ausdruck ›Göre‹ in den Mund zu nehmen. Aria genoss den lockeren Umgangston, der in der Hafenwache üblich war. Sie verkniff sich weitere Fragen, stellte sich geduldig schweigend neben die Bedienstete und schnitt Gemüse klein. Das war ebenfalls eine Tätigkeit, der sie zu Hause noch nie nachgegangen war.
Vorsichtig kam Lydias Kruffi aus seiner Behausung. Er wohnte in einer kleinen umgedrehten Tonschale gleich neben der Feuerstelle. Das kleine, flauschige Feuerwesen sah aus wie ein Ball mit langen Haaren und großen Kulleraugen. Die Beinchen waren unter dem dichten braun-orange gefleckten Fell verborgen, auch Mund und Nase sah man kaum. Kruffis waren die Feuerhüter, die als kleine Haustiere in jeder Wohnung wohnten. Sie konnten mit ihrem Atem Feuer machen, vermochten aber auch, es zu löschen. Die heißen Flammen gehorchten ihnen aufs Wort. Wild zischend machte sich der Kleine an die Arbeit. Als Aria ihm im Vorbeilaufen zu nah kam, fauchte er sie wütend und empört an. Kruffis hatten einen ausgeprägten Beschützerinstinkt, wenn es um ihr Feuer ging.
»Selber Zschhhhhhhh«, erwiderte das Mädchen und bleckte ihre kleinen Zähne.
»Lass den Kruffi in Ruhe und mach dich weiter an die Arbeit! Du hast noch ganz viele Pilze hier!«, ermahnte Lydia sie, ohne sich die Mühe zu machen, von ihren Kräutern aufzuschauen.
Aria stellte sich wieder neben die Frau und begann, die Pilze in kleine Würfel zu schneiden, die sie in eine Schüssel warf, die Lydia für sie bereitgestellt hatte. Doch immer wieder spitzte das Mädchen die Ohren und warf hin und wieder einen verstohlenen Blick in Richtung der kleineren Tür, hinter der ein Gang lag, an dessen Ende eine kleine Wendeltreppe in das obere Stockwerk führte. Irgendwo dort lag der geheimnisvolle Mann, der sich von seinem unfreiwilligen Bad im Meer erholte.
Der Nachmittag ging gerade in den Abend über, als Aria sich etwas enttäuscht und des Wartens leid von ihrem Stammplatz am Fenstersims erhob. Der Regen hatte sich gelegt und die Winde sich beruhigt. Die ersten Seemänner sammelten sich an der Hafenmauer, um ihre Schiffe zu begutachten. Die Zeiger der großen Standuhr in Hests Büro zeigten sechs Uhr. Es war höchste Zeit, dass sie nach Hause lief und sich bei ihren Eltern blicken ließ, bevor die heute Abend in die Oper wollten. Aria warf sich ihre Jacke über, verabschiedete sich von Hest und Lydia und ging ins Freie. Den Geruch nach Fisch und Hafenabfällen hatte der stürmische Wind davongeweht. Jetzt roch die Luft salzig und feucht. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, sie stünde an der Reling eines Schiffs, das gerade aus dem Hafen auslief. Verträumt lächelte sie.
»Auf Seite, du Göre! Ich muss da rein«, rief eine tiefe Stimme, während eine starke Hand grob ihre Schulter packte. Erschrocken riss sie die Augen wieder auf und erblickte eine riesige bärtige Gestalt über sich, die grimmig zu ihr hinabblickte. Sie duckte sich unter der Hand des Mannes weg, stolperte die Stufen vor der Eingangstür hinunter und verdrückte sich schnell zwischen einigen hohen Kisten. Auf dem Weg nach Hause durch die Gassen gab sie sich Mühe, ihre Schuhe nicht dreckig zu machen. Wehmütig blickte sie zu den nassen, schlammigen Pfützen, die bestimmt sehr laut geplatscht hätten, wenn sie hineingesprungen wäre. Der Wind hatte gute Arbeit geleistet. Auf den Straßen lagen Holzbretter, Fischgräten, Stofffetzen und anderer Müll, der nicht gut befestigt gewesen war. Nachdem Aria über einen losen Stein im Straßenpflaster gestolpert war, fluchte sie leise, denn sie sah, dass ihr Kleid nass geworden war. Wie eine feine Dame hob sie den Saum leicht an, um es vor dem herumliegenden Müll zu schützen.
Ein kleines Kind beobachtete sie von einem Balkon aus. Überall um sie herum schauten jetzt die ersten Köpfe vorsichtig aus den Fenstern. Die Menschen warfen zuerst einen Blick auf den Schaden ihrer Nachbarn.
Aria befand sich in der Hafenstadt Portvina. Damit Kutschen einander ungehindert passieren konnten und viele Menschen eine Wohnung fanden, waren die Straßen hier breit und flach, die hölzernen Häuser schmal und hoch. Die Gebäude drängten sich aneinander, als müssten sie um jeden Zentimeter wetteifern. Viele Balken waren bunt angemalt, die Stadtflaggen mit dem roten Hummer wehten über den Türen und die spitzen Dächer hingen schief und ziegelbeladen über ihnen. Aria ging nach Möglichkeit immer in der Mitte der Straßen. Die Wahrscheinlichkeit, von einem heruntergefallenen Ziegel getroffen zu werden, war nicht gering. Der Stand eines Händlers, der seine Ware nicht schnell genug vor dem Sturm gerettet hatte, lag zusammengeklappt und zerfetzt am Rand der breiten Straße.