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Für Renata

1. Auflage

Copyright © by Edition Weltenschreiber 2020

Edition Weltenschreiber Imprint vom Wiesengrund Verlag

www.edition-weltenschreiber.de

www.wiesengrund-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat: Sarah Bräunlich

Korrektorat: Alexandra Fauth-Nothdurft

Umschlaggestaltung: Sarah Skitschak

Autorenfoto: Cordula Kelle-Dingel von CoKeDi-Photographie

Printed in Germany

ISBN Print: 978-3-944879-81-9

ISBN E-Book: 978-3-944879-82-6

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Die Wolfschroniken

Band 1

Narla
Die Wurzellose

Anna Kimmel

Fantasyroman

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Inhalt

Prolog

1 | Flucht

2 | Moor

3 | Rettung

4 | Zuhause

5 | Der Entschluss

6 | Gefährten

7 | Zauberer

8 | Tir Lek

9 | Junggilde

10 | Abschied

11 | Mar Tirrin

12 | Wolf

13 | Ringgefährte

14 | Tirra

15 | Dieb

16 | Leben

17 | Raubtier

18 | Mensch

19 | Das Ziel

20 | Tanag

21 | Begegnungen

22 | Gemeinschaft

23 | Ok Wa

24 | Unglaublich

25 | Ok

26 | Die Königin

27 | Schwester

28 | Unterricht

29 | Julfest

30 | Freundin

31 | Antworten

32 | Kirsche

33 | Raunächte

34 | Vergangenheit

35 | Osso

36 | Warten

37 | Tagundnachtgleiche

38 | Ratte

Die Autorin

Danksagung

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Prolog

Seine Silhouette war die älteste der Menschengeschichte.

Jeder kannte sie.

Der weite Umhang, der Hut, ein bärtiges Gesicht, die Gestalt leicht nach vorne geneigt, auf den Stock gelehnt.

Ein Schäfer.

Den Blick auf der geruhsam fressenden Herde, den fleißig ihre Grenzen laufenden Hunde, alles unter Kontrolle, eins mit dem Sein und doch so weit weg, so schwerelos.

Die Dauer der Jahrhunderte schien an ihm vorüberzugleiten, ohne ihre Spuren zu hinterlassen. So viel Zeit, so viele Möglichkeiten. Und doch hatte er sich für diese entschieden.

All das bedeutete ihm Frieden und Freiheit, mehr konnte er nirgends finden.

Sein Blick ruhte aber nicht nur auf der Herde, auf dem weiten Grün, nur übertroffen von der Weite des Himmels. Nein, auch der Wolf war ihm sehr bewusst. Wie er nicht weit von ihm lag, groß, imposant und doch entspannt schlummernd.

Dies, in Verbindung mit einer Schafherde, war kein vertrautes Bild.

Nirgends sonst, nur in dieser Welt war es möglich. Eine Welt, deren Gottheit ein Wolf war.

Ja, in Oksidien war dieser Anblick akzeptabel. Wölfe waren die höchsten Diener ihres Gottes, waren Gefährten von Zauberern.

Zauberer und ihre Ringwölfe waren der stärkste Schutz, mächtiger als Menschen oder selbst Magier.

Frieden hatte sie in der Zeit verschwinden lassen.

Wann hatte man zuletzt einen wandern sehen?

Für den Schäfer auf seiner Weide war der Wolf so viel, so kraftvoll! Alte Wunden brachen auf und wurden versorgt.

Die Nähe des Wolfes tat ihm gut.

Ein Zauberer ohne Ringtier war nichts.

Nur Schmerz.

Und doch hatten ihn die Jahrhunderte Ertragen gelehrt, Ruhe gelehrt.

Den Wolf neben sich zu haben fühlte sich gut an, war ein sanftes Umschmeicheln seiner selbst.

Er wusste, dass es zu Veränderungen kommen würde. Der Welt standen Dinge bevor, die das jetzige Gleichgewicht stören würden.

Ob zum Guten oder Schlechten, das konnte er nicht sagen. Auch nicht, ob er seine selbst gewählte Einsamkeit aufgeben musste; er womöglich gezwungen sein würde, wieder aktiv in Geschehnisse eingreifen zu müssen.

Oh, der Gedanke ließ ihn fürchten, schmerzte.

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1 | Flucht

Narla war erschöpft.

Nicht nur ihr Körper war durchdrungen von einer bleiernen Müdigkeit.

Auch ihr Geist war wie in Watte gepackt. Sie saß auf dem Boden, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Nicht denken, nicht fühlen. Doch auch kein Schlaf.

In dem Gemeinschaftsraum war es schummrig. Nur ein paar Talgkerzen verbreiteten schwaches Licht. Es war die letzte Stunde vor dem Schlafen. Die Jüngeren waren längst in ihren Betten, während die Älteren in der Nähe des Kamins um den Hausmeister saßen und seinen Geschichten lauschten.

Auch wenn sie fast keine Kinder mehr waren, schaffte es dieser, sie immer in seinen Bann zu ziehen. Die einzige ruhige Zeit im Waisenhaus Moorloch, welche alle gleichermaßen genossen.

Nur Narla nicht. Sollten sie doch mit aufgerissenen Mündern um den Alten sitzen und die Wunder des Wächterlandes Ok in ihrer Vorstellung entstehen lassen.

Ok, das ihre Welt Oksidien vor der bösen Nachbarwelt Kartas beschützte – und dabei doch vollkommen gut und schön war, dessen Grenzen auch noch wanderten, immer am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Was für ein Blödsinn!

Nicht die wandernden Grenzen waren, was Narla störte. Ein gutes Land? Ein Land wurde aus seinen Bewohnern gemacht, und es gab keine vollkommen guten Menschen. Zumindest waren sie Narla nicht begegnet.

Und sie hatte Oksidien durchwandert! Nicht nur diese Insel Ok Tirri. Nein, auch das Großkönigreich Ok Marah und das Waldland Ok Wa. Gutes war ihr dabei wenig widerfahren. Von Ok, dem Wächterland, hatte es immer nur Geschichten und Gerüchte gegeben.

Nein, Narla glaubte nicht an das Gute.

War nicht Moorloch der beste Beweis? Ein Waisenheim, welches sich all der eltern- und heimatlosen Kinder annahm. Das klang gut. Darüber ließen sich herrlich kitschige Geschichten erzählen. Und Spenden einheimsen.

Doch wie war die Wirklichkeit? Ja, die kleinen Kinder wurden gefüttert und großgezogen. Bis sie arbeiten konnten. Das mussten sie dann, bis zu ihrer Mündigkeit mit einundzwanzig Jahren. Gefangene dieses Ortes. Und da die Kinderarbeit lukrativ war, wurden Heranwachsende ergriffen, wo man sie erwischte. Narla hatte auch dieses Gerücht gehört, ihm aber nicht genug Beachtung geschenkt.

Bis man sie festsetzte, hierher verfrachtete. Auch das war lukrativ, ihre Häscher hatten eine Belohnung bekommen. Nun war sie schon Monate hier. Einen ganzen Winter – und irgendwie nicht in der Lage, einen Ausweg zu finden.

Zu sehr war ein Tag wie der andere. Früh aufstehen, Kolonnen von Kindern, die mit Spaten ins Moor zogen, um Torf zu stechen. Nur die Jüngeren wurden auf den Feldern eingesetzt. Und im Moor wurde geschuftet, egal, wie gefroren der Boden war, egal, wie sehr es regnete. Abends war die Erschöpfung zu groß für vernünftige Gedanken. Einfach zu müde!

Narla driftete in Schlaf, den Kopf gegen die Wand gelehnt, die Beine ausgestreckt. Plötzlich spürte sie, jemand stand vor ihr! Ohne weiterzudenken, zog sie die Beine an, rollte zur Seite.

Erst jetzt sah sie auf, spürte Energie durch ihren Körper pochen. Da stand Tiran. Mit seinen sechzehn Jahren war er zwei Jahre jünger und auch kleiner als sie. Und doch bereit, sie einfach zu treten. Sein erhobener Fuß zeugte noch von diesem Vorhaben. Er starrte sie erstaunt an.

Narla blickte nur zurück. Die Überraschung machte einer hochmütigen Miene Platz. »Schlafenszeit, Tier!«

Narla sprang auf die Füße, ihre Augen nicht von Tiran nehmend. Dieser wich einen Schritt zurück. Nun war sie es, die das Kinn reckte. »Danke!« Damit ging sie, festen Schrittes, ihm ohne Angst den Rücken zudrehend. War sie wach, würde er nicht wagen, körperlich zu werden. So hinterhältig die Attacken manchmal waren, keiner traute sich, wenn sie auf Habacht war. Auch wenn sie alle Schmähungen einsteckte, ohne Gegenangriff, hatte sie schon bewiesen, dass sie sich schützen konnte. So schritt sie mit erhobenem Haupt, doch innerlich krümmte sie sich.

Dies war schlimmer als alles andere. Die harte Arbeit, die Gefangenschaft, all das ließe sich ertragen, wenn sie es gemeinsam ertragen könnte. Nicht, dass sie je jemand gewesen wäre, der wirklich Gesellschaft brauchte. Aber verachtet zu werden, gegängelt, gerade von den anderen Kindern.

Das tat weh! Viel mehr weh, als Narla sich eingestehen wollte.

Sie verstand auch nicht wirklich, woran es lag, gab sie ihnen doch keinen Anlass, nahm jede Schmähung hin, wehrte sich nicht, war immer zurückhaltend und freundlich.

Es mochte an ihrem Aussehen liegen. Sie sah nicht wie ein Bewohner der Insel Ok Tirri aus. Tirribewohner waren groß, blond, blauäugig und im Sommer braungebrannt.

Narla war groß, ja, aber sonst hatte sie nichts von den Insulanern. Ihre Haare waren rabenschwarz, die Haut blass, ohne dass Sonne je Farbe auf sie bekäme, und sie hatte feine, klare Gesichtszüge. Doch am auffälligsten waren ihre Augen, die leuchteten in wildem Gelb. Tieraugen, wie die Moorlochkinder sagten.

Ja, sie stach heraus, aber reichte das wirklich, um so gemein zu sein?

Narla schüttelte den Kopf, ihre Gedanken drehten sich nur wieder im Kreis.

Der Schlafsaal der Mädchen war groß und kahl; links und rechts Betten aufgereiht, nackte Wände, jedes Husten oder Rascheln hallte laut wider. Dies war kein Ort zum Wohlfühlen, für Persönlichkeit.

Es lagen bereits alle in ihren Betten, und Narla beeilte sich, in ihres zu kommen. Die Letzte zu sein wurde gerne bestraft. Die Frau, die diese Nacht Aufsicht führte, kam klackenden Schrittes durch die Reihen, löschte die Kerzen. Mit einem »Schlaft gut!« verließ sie den Raum. Bis zur mitternächtlichen Ablösung würde sie Runden auf den Fluren drehen, vor abgeschlossenen Türen.

Narla lag auf ihrer harten Matte und wartete auf Schlaf. Der kam meist schnell, fiel über sie wie eine schwere Decke. Doch nicht heute, noch raste das Blut in ihren Adern von Tirans Attacke. Sie fand keine Ruhe.

Was machte sie hier? Warum war sie all die Monate geblieben? Sie hätte einen Weg finden können! Davon war sie überzeugt.

Und doch hatte sie nie auch nur einen Versuch unternommen. War geblieben, hatte geschehen lassen. Warum? Sie hatte keine Antwort darauf.

Jetzt! Mit völliger Klarheit wusste sie, es war so weit! Sie würde gehen! Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit!

Hatte sie überhaupt das Klicken des Schlosses gehört? Sie konnte sich nicht erinnern. Vielleicht war es das, was ihr Unterbewusstsein schon die ganze Zeit sagte.

Die Gelegenheit war da! Als sie sich erheben wollte, hörte sie ein Geräusch, leise Schritte. Narla blinzelte. Zwei Gestalten schlichen durch die Bettenreihen, öffneten lautlos die Tür, verschwanden.

Sie war starr vor Aufregung, nur in ihrem Kopf raste es. Die Tür! Sie war absichtlich offengelassen worden!

Die Aufseherin von heute Nacht galt als die zugänglichste von allen. Nicht für sie. Zu ihr war niemand entgegenkommend. Aber die anderen wussten nur zu oft Vergünstigungen auszuhandeln.

Schluss jetzt! Für Gedanken war später Zeit! Das jetzt war ihre Chance!

Narla sprang aus dem Bett, leichtfüßig lief sie zur Tür. Sie ließ sich öffnen – auf dem Flur war niemand. Was nun? Ob die Haupttür auch offen war? Nein, das Risiko würde sie nicht eingehen. Sie hatte eine bessere Idee.

Schnell lief sie zum Treppenhaus, aber nicht abwärts, immer aufwärts ging es. Über eine schmale Leiter erklomm sie den staubigen, mit Gerümpel vollgestellten Dachboden.

Trotz der alten Holzbretter und der Dunkelheit hatte sie keine Schwierigkeiten, sich lautlos zu dem kleinen unvergitterten Giebelfenster zu bewegen. Davor lagen ein paar alte Säcke und Kissen, ihr geheimes Refugium, in dem sie sich schon so manches Mal eine kurze Auszeit gegönnt hatte.

Sie öffnete das Fenster und sah hinaus. Unten im Hof brannte eine Laterne, sonst war nichts zu sehen. Das einzige Fenster ohne Gitter. Ja, springen wäre sicher tödlich.

Doch Narla wollte nicht springen. Sie kletterte auf den Sims, stand und angelte über sich ins Dunkel. Da! Die Dachrinne! Sie musste halten!

Ohne weiteres Zögern sprang sie und stemmte sich hoch. Mit dem Bauch auf der ächzenden Rinne hing sie einen Moment gefährlich schwankend in der Luft. Und doch nahm sie sich die Zeit, mit dem Fuß das Fenster wieder zuzuschieben. Ein weiterer Schwung und sie war auf dem Dach.

Kurz durchatmen! Und weiter ging es. Über das Dach zur Rückseite des Hauses. Der Garten war verwildert. Wer sollte ihn auch nutzen? Ihre Arbeitskraft war andernorts mehr wert.

Ein Fallrohr führte nach unten. An ihm kletterte Narla abwärts. Das alte Metall quietschte entsetzlich laut und sie tauschte Vorsicht gegen Geschwindigkeit. In rasender Fahrt rutschte sie das Rohr hinunter und hechtete in die Büsche. Dort lauschte sie mit angehaltenem Atem.

Die Tür zum Haus flog auf und die Nachtwache trat hinaus. Sie starrte eine Zeit lang ins Dunkle, brummte »Mistkatzen!«, und schlug die Tür wieder zu.

Narla atmete erleichtert auf. Bloß weg jetzt!

Lautlos schlich sie durch den dunklen Garten, schwang sich über die Mauer und landete in einer kleinen dunklen Gasse. Sich im Schatten haltend – was musste der Mond auch so hell leuchten – lief sie weiter.

Noch war die Gefahr nicht vorbei. In Moorloch profitierten zu viele von der Kinderarbeit. Doch Narla hatte Glück. Um diese späte Nachtzeit war niemand mehr auf den Beinen. Schnell, immer in nordöstlicher Richtung. Da, das letzte Haus, die letzte Hofeinfahrt.

Plötzlich ertönte wildes, wütendes Hundegebell. Narla sprintete los. Ein spitzer Schrei erklang. Ihr Kopf fuhr herum, erhaschte einen Blick in den Hof.

Sie war schon vorbei, bis sie sich zusammenreimte, was sie eben gesehen hatte. Ein Hund, der auf etwas stand, hineinbiss. Sie verlangsamte und blieb stehen. Leise fluchend drehte sie um, rannte zu dem Hof.

Das unter dem Hund war eine Person, eine kleine Person, die sich nicht rührte. Nur der Hund zerrte knurrend an einem Arm. Auch Narla knurrte und sprang auf den Hund zu.

Der ließ erschrocken von seiner Beute ab und wich einen Schritt zurück, um dann mit einem noch wütenderen Röhren auf den neuen Feind loszuspringen. Narla erstarrte.

Mitten im Flug quietschte der Hund plötzlich schrill, wurde zurückgerissen. Er hing an einer Kette! Ohne weiteres Zögern sprang sie, packte die Gestalt und zog sie zurück. Schnell! Schnell!

Narla hob den schlaffen, schweren Körper hoch. War der schwer! Es musste gehen! Sie musste schnell sein! Und sie schaffte, ihn zu tragen, raus aus dem Hof.

Verschlafene, schimpfende Stimmen! Die machten sie nur schneller und stärker. Raus aus diesem Drecksloch! Runter vom Weg, hinter die Büsche und da den Körper fallen lassen, einfach selbst umfallen.

Sie lauschte auf ihren keuchenden Atem, wartete, dass er ruhiger wurde. Als sie wieder bei Kräften war, drehte sie sich um und robbte zu der Gestalt. Der Mond war hell genug, dass das blasse Gesicht zu erkennen war. Es war Kelv.

Eines der Heimkinder. Sie atmete tief durch. Alles richtig gemacht. Hatte sie? Was wollte sie mit ihm? Später.

Kelv war bewusstlos, doch sie konnte seinen Atem hören. Bis auf den Arm schien er unverletzt. Der aber sah übel aus. Dunkles Blut und eine Tunika, die in Fetzen hing. Das darunter?

Narla riss den Stoff vom Arm. Moorlochkleidung war nicht sonderlich stabil. Sie sah Löcher und Risse. Aber keine Fetzen. Doch auch mit Löchern und Rissen wusste sie nichts anzufangen. Was nun?

Sie zerrte sich die eigenen Ärmel vom Hemd und band sie fest um die Wunden. Mehr konnte sie nicht tun. Erschöpft setzte sie sich neben den immer noch Bewusstlosen. Zum Glück war es nicht kalt, eine ungewöhnlich milde Frühlingsnacht. Sie musste nachdenken! Sie musste weiter!

Bald würde Moorloch erwachen wie ein wütender Erdwespenschwarm. Aber sie konnte Kelv nicht einfach liegen lassen. Nicht, nachdem sie Verantwortung für ihn übernommen hatte.

Sie betrachtete ihn, seine für zwölf Jahre große, kräftige Statur, die weißblonden Haare. Kelv sah aus wie der klassische Tirribewohner und hatte sich darauf auch immer etwas eingebildet.

Aber wo waren seine Freunde? Wo war seine Schwester Mi? Sicher war sie eines der Mädchen gewesen, die vorhin den Schlafsaal verlassen hatten. Aber weshalb war sie nicht bei ihm?

Kelv gehörte noch zu den kleinen Kindern. Sie konnten nicht zusammen abhauen, sie mussten sich treffen. Am Ortsausgang treffen. So würde es sein.

Narla schauerte. Ja, Kelv und Mi würden nicht alleine gehen. Nicht ohne Mis Freund und dessen Verwandtschaft. Das … das bedeutete …

Narla wollte nicht mehr! Was hatte sie sich da eingebrockt? Aber half es? Konnte sie Kelv liegen lassen? Nein!

Und schon hörte sie Schritte, ein drängendes Flüstern: »Kelv?« Da musste sie jetzt durch. »Er ist hier!«

Darauf kamen vier Gestalten um die Büsche. Narla erkannte Mi, ihren Freund Arden und dessen Verwandte, die Zwillinge Tirra und Tiran. Ihr Herz machte einen nervösen Satz. Sie blieben stehen und sahen sie irritiert an.

»Was machst du hier?«, fragte Arden, der Älteste, barsch. Narla sprang auf und wich einen Schritt zurück. Dabei gab sie den Blick auf den bewusstlosen Kelv frei. Mi schrie auf, sprang vor und packte Narla: »Was hast du getan?« Sie wollte sich losreißen.

»Nichts …« Aber da traf sie ein Schlag am Kopf. Dunkelheit.

Narla kam langsam zu sich, spürte den feuchten Boden. Sie lag nicht im Bett! Es roch intensiv nach Torf, stehendem Wasser und würzigen Pflanzen. Sie war im Moor?

Mit immer noch geschlossenen Augen bewegte sie leicht den Kopf. Tausend Ameisen fingen an zu rennen. Lieber hielt sie still und hob die Lider, vorsichtig, denn die Sonne schien, blendete.

Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Der nächste Tag war schon da. Sie musste aufstehen, fliehen. Sie wollte sich aufrappeln, da berührte sie eine Hand an der Schulter, ganz sachte.

»Mach langsam, lass dir einen Moment Zeit!« Das Gesicht, das sich über sie beugte, kannte sie. Es war Tiran. Oder Tirra?

Die Zwillinge waren sich so ähnlich, dass sie nur schwer auseinanderzuhalten waren. Beide klein und zierlich für sechzehn Jahre, feingliedrig. Tiran mit fast femininen Zügen, Tirra hingegen ohne weibliche Rundungen, beide kurze blonde Haare.

»Tirra?«, flüsterte Narla. Diese nickte, ihre blauen Augen sahen besorgt aus. »Es tut mir leid!«

»Du hast nichts getan!« Narla schob sich langsam in sitzende Position.

»Wo sind wir?«

»Weiter im Moor. Wir haben gesehen, dass du Kelv geholfen hast. Mi wollte dich nicht da liegen lassen.«

»Danke«, sagte Narla trocken und schob sich in die Hocke, sah zu den anderen. Mi kniete mit dem Kopf ihres Bruders im Schoß, Tiran saß neben ihr und Arden stand mit dem Rücken zu allen. Kelv war wach, aber bleich und Schmerz zeigte sich in seinem Gesicht.

Narla betastete vorsichtig die Beule am Kopf. »Da habt ihr mich gut erwischt!« Arden drehte sich zu ihr und musterte sie mit kalten blauen Augen.

»Wer konnte ahnen, dass ausgerechnet du uns hilfst.« Hinter der Kälte spürte Narla in dem breitschultrigen Jungen, oder besser schon jungen Mann, Unsicherheit. Sie lächelte.

»Soll nicht wieder vorkommen!« Sie erhob sich, schwankte etwas, wartete, dass ihr Kopf sich beruhigte. Als ihr Gleichgewicht zurückkehrte, wandte sie sich zum Gehen.

»Narla!« Das war Mi. Sie drehte sich wieder um.

»Danke, Narla!«

»Dafür wirklich nicht! Hättest doch sicher nicht anders gehandelt!« Sie zwinkerte ihr zu und wollte sich abwenden.

»Halt, warte! Wo willst du hin?« Diesmal war es Arden.

Narla blieb stehen. »Nach Dünland.«

Erstaunte Blicke.

»Zum Moorschäfer.«

»Du weißt, wie man durchs Moor zu Bokana dem Schäfer kommt?« Arden war verblüfft.

»Ja.«

»Woher?«

Schweigen.

»Komm, sag schon!«

»Ich bin auf Dünland aufgewachsen.« Damit ging sie endgültig. Nach ein paar Metern atmete sie tief durch, blieb doch wieder stehen, drehte sich um. »Ihr wisst nicht, wohin ihr sollt?« Als keine Antwort kam, nickte sie langsam und straffte die Schultern. »Ihr könnt mit mir kommen.«

Warum schlug sie das vor? Die anderen stellten sich die gleiche Frage. »Entscheidet euch. Hier wird es bald vor Suchenden nur so wimmeln.« Sie sah das Zögern, stieß ihren Atem aus. »Ihr solltet es tun, Hundebisse entzünden sich leicht und Bokana kann helfen!«

Die Gruppe blickte zu Arden, der finster dreinsah.

Mi flehte leise: »Bitte!«

Arden sah zu seiner Freundin und nickte dann, half Kelv auf die Beine – dann folgten sie Narla.

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2 | Moor

Ok Tirri war eine große Insel, deren Inneres weites Moorland war. An den Rändern wurde das Moor von Menschen genutzt, zur Viehhaltung oder zum Torfstechen trockengelegt. Aber weiter mittig war es unberührt, wild, ohne Weg und Steg. Menschen kamen nicht hierher, wagten sich nicht hinein, zu gefährlich und unsicher.

Nur der Moorschäfer lebte dort in Einsamkeit und brachte seine Schafprodukte und Medizin zum Verkauf auf die großen Märkte. Auch ließ er seine Herde dort scheren.

Umso erstaunlicher war es, dass Narla auf seinem Hof gelebt haben sollte. Ihr vertrauend zu folgen war ein großer Schritt für Arden, der sich bei dieser Entscheidung nicht wohlfühlte.

Nur blieb ihm kaum etwas anderes übrig. Kelv brauchte Behandlung und jeder in Ok Tirri kannte den Schäfer als erfahrenen Heiler.

Dazu gab es keinen vor Menschen sichereren Ort als das Moor. Niemand betrat es, zu vielfältig waren die Gefahren. Es gab nicht nur Löcher, trügerischen Boden und Schlangen. Jeder kannte die Geschichten über Irrlichter oder Nebelgeister, die versuchten, einen in die Irre zu leiten, weg vom festen Grund. Keiner würde vermuten, dass ihr Weg hier hineinführte. Niemand würde sie verfolgen.

Sie waren sicher. Wenn sie sich nur auf Narla verlassen konnten.

Diese führte sie mit einer Entschlossenheit, die zeigte, dass sie den Weg kannte – oder wusste, wie man sich auf dem sumpfigen Untergrund verhielt.

Das Moor war eine einzige große leere Ebene. So weit das Auge reichte graugrün. Nur manchmal hoben seltsam skelettartige Birken ihre dürren Finger in den Himmel. Seltener hielten kleine Haine den Blick ins Endlose auf. Das Grau verlor sich am Horizont im diesigen Blau und Entfernungen ließen sich kaum abschätzen.

Das Frühjahr war noch nicht angekommen. Vegetation vom Vorjahr war braun und umgekippt, erst vereinzelt konnte man die ersten grünen Hälmchen sprießen sehen. Der Teppich aus totem Gras bedeckte alles, führte so zu dem Bild der glatten Fläche, der Boden war nicht zu erkennen. Nun wuchs Bentgras aber in Bulten, und jeder Tritt konnte auf solch einen Bult treffen, oder dazwischen, oder halb abrutschen. Das machte das Vorwärtskommen extrem schwierig und anstrengend.

Dazu gab es große schwarze Wasserflächen, unsichtbare Gräben und Wasserlöcher, die erst sichtbar wurden, wenn man beinahe hineintrat. Auch stand manchmal zwischen den Bulten Wasser, oder aus einer Wasserfläche ragten nur ab und an ein paar Buckel hervor und sie mussten von einem zum anderen springen.

Bei jedem schwereren Schritt schwankte der ganze Boden und zeigte, dass alles eine große schwimmende Masse war. Es gab echten Schwimmrasen, im ersten Moment kaum von festem Boden zu unterscheiden, den sie meiden mussten, denn dieser trug ihr Gewicht nicht.

Trotz alldem zeigte sich das Moor nicht als der erwartete sumpfige, stinkende, tödliche Ort, sondern zog sie in seinen Bann. Es gab die unglaublichsten Pflanzen. Sonnentau, der so schön war wie sein Name, aber von Insekten lebte; Wollgras, dessen Wolle weiß wie Schnee leuchtete und kleine Wolken ins Graugrün tupfte; wunderschöne, fast durchsichtige, trockene, kleine Heideblümlein und viele, viele Tiere. Sie sahen Rehe, Käfer, Frösche und eine Kreuzotter, die sich in der Morgensonne wärmte. Die Rehe sprangen eilig davon, die Kreuzotter hingegen blieb liegen, musterte sie leise zischend und veranlasste die Menschen, einen Bogen zu machen.

Es gab Unmengen von Vögeln. Reiher, Enten, Brachvögel, Kiebitze und ganz kleine Bodenbrüter, die laut singen konnten.

Die Gruppe folgte in diese fremde, faszinierende Welt mit Staunen im Blick.

Narla führte sie sicher und gut. Wobei sie manchmal auch ein Stück zurückgehen mussten, war ein Graben zu groß oder eine Schwimmrasenfläche zu weit. Aber sie kamen voran und bald war von Moorloch oder menschlichen Behausungen nichts mehr zu erahnen. Dies erfüllte sie mit Erleichterung. Keiner würde ihnen folgen. Sie waren sicher.

Als die Sonne gegen Mittag stieg, blieb die Zeit stehen. Die Hitze flimmerte wabernd, ihnen wurde warm und schwindelig. Narla, die die ganze Zeit vorangeschritten war, ohne sich groß umzusehen, sprach sie nun an: »Wir machen in dem Birkenwald Pause.«

Alle waren froh über die Aussicht auf Ruhe. Von einem nahe gelegenen Kolk drückten sie, Narlas Beispiel folgend, die Entengrütze beiseite und tranken das moorige Wasser. In Anbetracht ihres heftigen Durstes schmeckte es nicht einmal allzu übel.

Erleichtert ließen sie sich in den Schatten fallen, eine angenehme Kühle. Sie schwiegen sich weiterhin an, aber die Stille war nicht wirklich drückend, sie waren zu erschöpft, und so kam der Schlaf.

Narla erwachte ruckartig durch einen stechenden Schmerz im Arm. Ärgerlich schlug sie nach einer der ersten Bremsen im Jahr. Dass diese ausgerechnet sie als Opfer gewählt hatte!

Verschlafen richtete sie sich auf und lutschte an dem schnell anschwellenden Stich. Mistviecher!

Natürlich hatte die ruckartige Bewegung auch ihren Kopf wieder zum Dröhnen gebracht.

Au! Stimmt, da war eine deutlich spürbare Beule.

Und sie hatte die Verursacher mitgenommen!

Narla verzog das Gesicht und blickte auf die Schlafenden. Die Zwillinge schliefen eng aneinandergekuschelt und erinnerten sie an junge Hunde. Arden lag lang hingestreckt, Mis Kopf war auf seine Brust gebettet. Die beiden gaben ein gutes Paar. Mi hatte lange blonde Zöpfe und sehr weibliche Formen. Sie war groß für eine Frau, das weibliche Pendant zu ihrem Bruder, ein klassisches Tirrimädchen. Arden hatte im Lager fast wie ein Kleinkönig geherrscht und wäre sicher mit seiner Volljährigkeit als Bürgerlicher in Moorloch aufgenommen worden. Dann hätte er Mi als seine Frau mitnehmen können. Was sie zur Flucht bewegt haben mochte, gab Narla Rätsel auf. Bis zu Ardens einundzwanzigstem Geburtstag war es kaum noch ein Jahr.

Vielleicht war ihm schon das zu viel.

Es war immer deutlich gewesen, dass Arden, trotz der doch bevorzugten Behandlung, das Leben als verurteiltes Rumtreiberkind als Beleidigung empfand und sich von den Mitinsassen distanzierte. Sie würde ihn sicherlich nicht nach seinen Beweggründen fragen!

Ihr Blick wanderte weiter zu Kelv. Der schlief unruhig, stöhnte im Schlaf und seine Haut hatte diesen klassischen fiebrigen Ton. Es wurde Zeit, dass sie weiterkamen! Aber noch zögerte sie.

Warum tat sie dies überhaupt? Warum nahm sie die fünf mit? Weil es das Richtige war?

Klar war es richtig, jemandem in Not zu helfen. Aber waren ihre Beweggründe tatsächlich so einfach? Sie war schrecklich schikaniert worden, gerade von denen, die dort schliefen. Und was hatte das mit ihr gemacht? Härter, hätte sie gesagt. Aber war es nicht doch so, dass sie sich nach der Anerkennung gerade dieser Gruppe sehnte?

Narla schüttelte sich. Das wollte sie nicht. Wollte das nicht eingestehen. Das hatte sie doch nicht nötig! Oder doch?

Während sie daran herumkaute, merkte sie, wie sie ärgerlich wurde, auf sich selbst, auf ihre Motive und auf die Schlafenden.

Als hätte er ihren durchdringenden Blick bemerkt, richtete Arden sich auf und sah sie an. Seine harten Gesichtszüge zeigten ihr keine Freundlichkeit. Im Gegenteil, seine Stirn war misstrauisch gerunzelt. Auch er traute ihrer Motivation nicht, kam aber zu einem ähnlichen Ergebnis wie sie selbst und dafür hatte er nur Verachtung.

Narla sah eisige Kälte in den blauen Augen, die er ihr unverhohlen entgegenschleuderte. Es traf sie tief, tiefer, als sie es für möglich gehalten hatte, ließ sie zurücksinken. Da kochte ihr unterschwelliger Zorn über, wallte zu flammender, schäumender Wut. Die kanalisierte sie gegen ihn, schmiss sie von sich, traf.

WUT.

Arden sprang auf die Beine, taumelte rückwärts, schrie angsterfüllt auf und sank in sich zusammen. Der Rest schreckte aus dem Schlaf, sah zu ihr, wie sie groß und zornig vor ihnen stand und dann zu Arden, der mit schreckgeweitetem Blick am Boden kauerte.

»Lass mich in Ruhe!«, knurrte Narla. Ihre Augen blitzten, sie trat noch einen Schritt auf Arden zu. »Nie wieder!« Aber nun zitterte ihre Stimme. Sie drehte sich um, wollte weggehen, sank, plötzlich erschöpft, in sich zusammen.

Was war mit ihr? Was war das eben gewesen? Arden hatte sie bedroht und sie hatte mit ihrem Geist zurückgeschlagen. Was dachte sie da? Geistiger Angriff? Was war das für ein Unsinn?

Und doch, irgendwo in ihr regte sich etwas. Etwas wollte sich erinnern. Sie kannte das.

Aber als ihre Gedanken danach greifen wollten, spürte sie nichts. Was auch immer gerade passiert war, de facto fühlte sie sich total erledigt. Auch Arden lag wie erschlagen in Mis Schoß. Egal! Sie mussten weiter!

Narla rappelte sich hoch. »Weiter geht’s!« Keiner rührte sich, es gab nur misstrauische Blicke.

»Was hast du getan?« Narla wandte den Blick von Mi ab.

»Ich weiß nicht!« Nur ein Flüstern.

»Du hast ihn verletzt! Du Ungeheuer!«, rief Mi. Narla schüttelte sich und schob ihr Kinn trotzig vor.

»Ich habe mich nur verteidigt!« Damit ging sie zu Arden, kniete nieder und flüsterte: »Ich wollte das nicht! Es tut mir leid!« Er sah sie ausdruckslos an und richtete sich dann auf.

»Es ist gar nichts!«

Sie sah, wie wackelig er war, merkte aber auch, dass der Rest der Gruppe Ardens Ansage akzeptierte. So machten sie sich schweigend auf den Weg.

Ihr Vorwärtskommen blieb mühselig, und Narla hatte keine Zeit zu grübeln. Sie musste nicht nur den richtigen Weg finden, sondern auch auf die anderen achten. Kelv hatte Fieber und wurde sowohl geführt als auch gestützt; Arden taumelte mehr hinterher, als wirklich mitzuhalten.

Als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, wusste Narla kaum, wie sie so lange hatten laufen können. Völlig erschlagen ließ sie sich im Schutz einiger Birken niedersinken. Sie war nicht mehr dazu in der Lage, nach den anderen zu sehen, geschweige denn zu bedauern, nichts zu essen zu haben. Sie schlief einfach ein.

Die Nacht war ungemütlich. Feuchtigkeit zog auf, hüllte das Moor in weiße Schwaden, kroch durch die Kleider, auf die Haut, versuchte auf die Knochen durchzudringen.

Narla hatte sich zu einem Ball zusammengerollt, die Knie zum Kinn gezogen, die Hände zwischen die Oberschenkel geklemmt. Die dünne Heimkleidung konnte die Kälte nicht abwehren, und sie ertappte sich verwundert, wie sie sich ein dichtes Fell und einen buschigen Schwanz wünschte.

Ihr Kopf summte, kleine Messer stachen, wenn sie sich bewegte. Immerhin wurde das gegen Morgen besser, doch war ihr Schlaf sehr unruhig, und als das erste Grau am Himmel erschien, erhob sie sich. Hier half doch nur, schnellstmöglich weiterzukommen.

Narla sah zu ihren Weggefährten, und was sie sah, beunruhigte sie. Die Zwillinge und Mi lagen dicht um Arden gekuschelt. Nur Kelv war abseits gerollt, warf sich hin und her. Ihm war nicht kalt, er glühte im Fieber, auch wenn manchmal ein fröstelndes Schütteln über ihn lief.

Doch noch mehr erschreckte sie Arden. Er lag nicht da wie jemand, der schlief. Nein, er lag da wie tot. Sein Gesicht aschweiß, keine Bewegung, kein Zucken, keine Atmung.

Narla sprang zu ihm hin, darauf achtend, die Schlafenden nicht zu stören, und beugte sich über das blasse Gesicht. Dann lehnte sie sich erleichtert zurück.

Arden atmete, sehr flach, aber er lebte. Sie entfernte sich wieder ein Stück, versuchte zu verstehen, was das bedeutete.

Arden war krank, kränker, als sie ahnen wollte. Und sie war daran schuld! Die Rechtfertigung, er hätte sie bedroht, schmeckte nun, nachdem jeder Zorn Sorge gewichen war, schal.

Sie hatte die Kontrolle verloren. Sie war zu wütend geworden. Sie hatte allen angestauten Zorn freigesetzt. Und was genau getan?

Irgendetwas Schreckliches. Etwas, das nun doch all das Misstrauen der anderen rechtfertigte! Ja, aber was?

Kelv wimmerte im Schlaf und Narla schüttelte sich. Es tat nichts zur Sache. Nicht jetzt! Jetzt zählte nur, schnellstmöglich zu Bokana zu kommen.

Sie erhob sich und rüttelte einen nach dem anderen wach. Leise, um die Verschlafenen nicht zu erschrecken, sagte sie: »Kommt! Wir müssen weiter! Kelv braucht Hilfe!«

Wie zur Bestätigung schwankte Kelv in seiner nun sitzenden Position, flüsterte mit heiserer Stimme: »Wo bin ich? Mi, ich habe Durst.«

Seine Schwester sprang auf, half ihm hoch und stützte ihn auf dem Weg zum nächsten Tümpel. Narla sah sie schwanken und blickte zu den Zwillingen. »Mi braucht einen von euch.« Tiran ging, um Kelv auf der anderen Seite zu halten.

»Arden. Was ist mit dir?« Arden sah sie nur mit erschöpften, leeren Augen an.

»Ich weiß nicht.« Ein Flüstern, und dann noch leiser: »Du hast dafür keine Antwort?«

Sie schluckte, schüttelte den Kopf und sagte genauso leise: »Es tut mir leid.«

Er zeigte keine Reaktion, aber Tirra sah Narla mit verwundertem Blick an. Sie richtete sich auf, griff Arden unter einem Arm und zog ihn auf die Beine. »Komm Vetter, stütz dich auf mich. Wir werden dich schon ans Ziel bringen!«

Und so machten sie sich auf den Weg, langsam, aber doch entschlossen.

Eigentlich war das Vorwärtskommen nicht mehr ganz so schwer. Das Moor war trockener, zeigte deutliche Spuren von Schafsbeweidung, der tote Filzteppich war weg. Sie sahen den Boden, die Gräben, konnten ihre Füße an den Bulten vorbei setzen. Es machte sie hoffnungsvoll, und doch wurden sie immer langsamer. Kelv litt starke Schmerzen und war durch Fieber und Erschöpfung so weit weggetreten, dass man nur seinen rasselnden Atem hörte, dazu ab und an ein Jammern. Seine Füße bewegten sich, auf Mi und Tiran gelehnt.

Noch schwieriger wurde es mit Arden. Auch er war nicht mehr anwesend und dies lastete stark auf allen, war er doch die treibende Kraft der beiden Geschwisterpaare, ihr Anführer. Sein Fehlen drückte tief. Dazu war er wesentlich schwerer und größer als Kelv, Tirra und Narla mussten hart kämpfen, um ihn weiterzubringen.

Dann kam der Moment, an dem Ardens Beine nachgaben. Er sackte einfach nieder, zog Tirra mit. Narla wandte sich zur Seite, versuchte seinen Aufprall abzufangen und kniete sich neben ihn. Besorgt suchte sie seine Atmung, fühlte den Puls. Als sie seinen schwachen Herzschlag spürte, blickte sie erleichtert auf, sah die besorgten Gesichter.

»Wir werden es nicht schaffen, Arden bis zum Schäfer zu bringen.«

Keiner sprach.

»Wir müssen uns aufteilen. Es ist nicht mehr weit. Dort das Birkenwäldchen und dahinter kann man Dünland in der Ferne sehen. Geht ihr mit Kelv, ich bleibe. Schickt Bokana zu mir, er wird helfen.«

Ein erstickter Ausruf erklang von Mi und auch Tiran runzelte die Stirn. »Wir sollen Arden hierlassen? Bei dir? Wo du schuld bist?«

Narla zuckte zusammen, Schmerz leuchtete in ihren Augen.

»Ich weiß. Ich bin schuld. Ich kann ihn jetzt nicht verlassen, ich bin für ihn verantwortlich.«

Und dann, so leise, dass es nur ein Flüstern war, aber doch fest: »Ich sorge dafür, dass er lebt!«

Tiran und Mi waren nicht überzeugt, doch Kelv stöhnte tief und quälend, zog Mis ganze Aufmerksamkeit auf sich. Tiran nickte. »Ich denke, wir machen es.« Und dann entschlossen: »Auf, Tirra! Mi! Lasst uns Kelv zum Hof bringen!«

Tatsächlich erhoben sich die zwei, packten Kelv und bewegten sich langsam in die gewiesene Richtung. Nur Tiran warf noch einen finsteren Blick zurück.

Narla sah ihnen nicht nach, ihr Blick haftete auf Ardens Gesicht. Es war so blass. Selbst der auf Mittag zugehenden Sonne gelang es nicht, Farbe zu bringen.

Was hatte sie getan? Und wie?

Wenn sie das gewesen war, konnte sie es vielleicht auch wieder rückgängig machen?

Sehr vorsichtig streckte sie ihre Hand aus und legte sie auf Ardens Brust über sein Herz, bereit, sie bei der fremden Wärme schnell wieder zurückzuziehen. Aber die Haut unter dem Hemd war kalt, der Herzschlag langsam, unregelmäßig. Arden war krank, nichts Unangenehmes bei dieser grenzüberschreitenden Berührung, nur das Gefühl, ihm helfen zu wollen.

Auch Arden zuckte nicht, merkte sie nicht. Er war reglos, apathisch. Narla konzentrierte sich.

Was war es, was sie getan hatte? Sie erinnerte sich nur noch, wie wütend sie gewesen war. So wütend, dass sie Aggression aus sich rausgeschleudert hatte, nach Arden geworfen hatte. Als könne man jemanden mit Zorn und Willenskraft verletzen.

Was, wenn sie das umdrehte? Was war das Gegenteil von Wut?

Hm.

Was brauchte Arden jetzt? Kraft? Heilung? Was, verdammt, hatte er?

Narla versuchte, sich zu konzentrieren, versuchte, Stärke in sich zu finden. Sie schob den Schmerz, der an ihr zehrte, beiseite.

Arden stöhnte auf, jammerte, keuchte. »Nicht!«

Narla wimmerte. Was tat sie?! Schrecken überrollte sie. Sie hatte ihr Leid verdrängt, um Arden von ihrer Kraft zu geben. Und nun hatte sie den Schmerz auf ihn geschoben? Nein! Wie konnte sie?!

Entsetzt sprang sie von dem nun wieder leblosen Körper weg. Verzweiflung überrollte sie, übernahm sie. Sie legte den Kopf in den Nacken und heulte. Ein lang gezogenes, klagendes Heulen.

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3 | Rettung

Arden begriff nicht, was mit ihm geschah. Interessierte es ihn überhaupt?

Narla hatte etwas getan. War sie wütend gewesen? Ja, das war es. Irgendwie hatte er ihre Wut in sich spüren können. Etwas war kaputtgegangen. Was?

Arden verspürte nicht das Interesse, darüber nachzudenken. Wut war das Letzte, was er empfunden hatte, und nun fühlte er nichts mehr. Nicht mehr das Verlangen, sich um seine Leute zu kümmern, nicht mehr, sich zu bewegen, selbst Atmen oder sein Herzschlag waren ohne Belang.

Er versank im Nichts und es störte ihn nicht. Plötzlich durchbrach etwas die Leere, blendend und hell, Schmerz. Arden keuchte auf, wand sich. Rief entsetzt: »Nicht!«

Dann fühlte er mehr. Ja, es war Schmerz. Aber irgendwie war das auch gut. Schmerz war besser als dieses Nichts!

Leid war etwas, das er spüren konnte, was ihn zu Arden machte. Es bewegte sein Herz, trieb ihn zur Gegenwehr.

Arden kehrte zu sich zurück, fühlte wieder. Es war kein körperlicher Schmerz, nicht seine Verletzung. Ein Leid, das aus dem Geist kam, mehr eine umfassende Verzweiflung. Es war nicht sein Körper! Nicht sein Geist! Es war Narlas.

Und als ihm das klar wurde, wurde es nur schlimmer. Er fühlte immer noch nichts, war immer noch leer. Als der Schmerz nachließ, griff er verzweifelt danach, versuchte ihn festzuhalten, sich am Leben zu halten. Er wollte seinen Willen finden, wieder etwas wahrnehmen.

Arden hörte ein schauerliches Heulen. Was war das? Er riss die Augen auf. Wo war er?

Im Moor. Aber seine Gefährten! Er konnte sie nicht sehen. Nur dieses fremde, schwarzhaarige Mädchen kauerte nicht weit von ihm. Ihr Blick war zu Boden gerichtet, Verzweiflung im Gesicht. Nun hob sie den Kopf und starrte suchend in die Ferne.

Arden drehte sich, versuchte zu erspähen, was Narla sah. Diese Neugierde bereute er direkt wieder. Nicht nur, dass es ihm mehr Kraft abverlangte, als er eigentlich noch hatte. Was da kam, wollte er nicht sehen.

Es war ein großes Tier. Sein Geist wand sich um das Wort. Wolf. Es war ein Wolf! Riesig, grau-braun, gelbe stechende Augen. Der Wolf kam mit großer Geschwindigkeit. Arden keuchte.

Aber das Untier lief an ihm vorbei, stürzte sich auf Narla. Er hörte den dumpfen Aufprall, hörte sie japsen, schluchzen und dann ein hohes Jammern. Er versank in Bewusstlosigkeit.

Nur, um gleich dagegen anzukämpfen. Das leblose Gefühl, ins Nichts driften, das wollte er nicht. Nein! Dann doch lieber den Wolf!

Er hob die Lider und blickte direkt in die glühenden Augen des Monsters. Entsetzen zuckte durch ihn.

Diese Augen! Sie fraßen schon an ihm, auch ohne Zähne. Er versuchte, den Blick abzuwenden, aber es gelang nicht. Zurück in die Taubheit fliehen. Doch der Wolf hielt ihn gefangen, drang in ihn ein. Und plötzlich verspürte Arden Kraft. Als … Als hätte der Wolf in ihn gegriffen, ihm Kraft gegeben, das von Narla Zerstörte wieder zusammengeflickt.

Arden dachte nicht weiter nach, raffte diese Kraft zusammen, richtete sich auf und rutschte keuchend weg von dem Untier.

Das beobachtete ihn nur, hatte etwas wie Zufriedenheit im Blick. Dann machte es einen Schritt nach vorne und, bevor Arden irgendwie reagieren konnte, fuhr ihm die dicke, nasse Wolfszunge durchs Gesicht. Entsetzt riss er die Hand hoch, aber der Wolf war schon wieder zurückgewichen. Die Zunge hing nun aus dem großen Maul und er schien zu grinsen.

Zu seinem Erstaunen hörte er eine tiefe Stimme im Kopf: »Das wird schon wieder!« Damit drehte der Wolf um und lief davon.

Arden richtete sich auf, zu verwirrt, um zu denken, sah sich um. Er saß zwischen grünen Bulten, sein Blick reichte weit über das Moor. Unendlich und weit, nichts.

Er wandte den Kopf und zuckte zusammen. Neben ihm war jemand. Narla saß da, die Knie angezogen, mit den Armen diese umschlingend, den Kopf darauf gebettet. Ihre goldenen Augen sahen zu ihm, entspannt, aber er konnte auch Neugierde lesen.

Arden erwiderte ihren Blick, unbewusst die gleiche Haltung einnehmend. Wollte er Fragen stellen? Wollte er sein Denken einschalten? Oder einfach schweigen.

Narla setzte einige Male zum Sprechen an, aber es dauerte, bis sie tatsächlich etwas sagte: »Warum bist du aus Moorloch abgehauen?«

Arden riss die Augen auf: »Was? Das willst du hören? Du erklärst nichts. Warum sollte ich?«

Narla runzelte die Stirn. »Was möchtest du wissen?«

»Ich? Mm. Alles! Was hast du mit mir gemacht? Was sollte das? Was war mit dem Wolf? Wieso hat er uns nicht gefressen? War er überhaupt da? Was ist mit den anderen? Wieso geht es mir wieder besser …« Die Worte blubberten nur so aus ihm heraus, konfus und unzusammenhängend die Fragen, genauso wirr, wie er sich im Kopf fühlte.

Narlas Gesicht wurde finster und sie senkte den Blick. Als er das sah, verstummte er.

Sie sprach nun zögernd, leise: »Ich habe dich mit meiner Wut getroffen. Ich! Ich weiß nicht, wie … Ich habe dich schwer verletzt. Und noch schlimmer, ich konnte dir nicht helfen. Im Gegenteil, ich habe noch mehr Schmerz verursacht.«

Arden sah die unterschiedlichsten Emotionen über Narlas Gesicht huschen, sah etwas von ihrer Qual. Ein Schmerz, den er nun kannte, nun nachfühlen konnte.

»Hör auf damit!«, rief er mit erstickter Stimme.

Narla riss den Kopf zu ihm, Schreck im Blick.

»Lass es! Es geht mir gut! Du brauchst dir das nicht antun!« Begreifen zeigte sich in ihrem Gesicht, dann Erstaunen und plötzlich hörte Arden, dass sie lachte.

»Was jetzt? Was, bitte, ist lustig?«

»Du machst dir Sorgen, dass ich mir selbst Schmerzen zufüge?«

Wieder Staunen. Bei beiden.

Er lächelte. »Ich weiß ja nun, wie es sich anfühlt!«

Wie oft hatte er diesen leiderfüllten Blick bei dem Mädchen gesehen. Nie hatte er ihn gedeutet, war nur abgestoßen von dem fremden Äußeren, der arroganten Haltung. »Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich mich entschuldige …« Narlas Gesicht wurde steinern.

Arden verstummte. »Dann erzähl mir von dem Wolf!«

Ihr Blick wurde weicher. »Das war Tetra. Er gehört zu mir.«

»Du hast einen Wolf?«

Sie zuckte vor dieser Frage zurück, ihre Stimme war fast böse: »Wir leben in Oksidien! Der Welt des Wolfsgottes Oksidian! Keiner hat einen Wolf!«

Arden wendete dies hin und her. »Stimmt wohl. Aber in Ok Tirri gibt es keine Wölfe mehr. Wie ist er zu dir gekommen?«

Narla schien nicht beruhigt. »Schau ich aus, als käme ich aus Ok Tirri?«

Arden erkannte die Rhetorik der Frage und beschloss, das Thema zu wechseln.

»Was hat Tetra mit mir gemacht?« Narla schwieg.

»Dann sag mir wenigstens, wo die anderen sind!« Sie ließ ihre Schultern sinken. »Sie sind beim Schäfer. Bokana kommt uns holen, sobald er Kelv versorgt hat.«

»Kelv! Wie geht es ihm?«

»Ich weiß nicht. Tetra wusste noch nichts.« Narla klang besorgt und Arden rappelte sich mühsam auf. »Ich muss zu ihnen!«

Aber kaum, dass er stand, merkte er, wie wackelig er noch war. Da hatte Narla ihn auch schon am Arm, sanft zog sie ihn wieder nach unten. »Nein! So gut geht es dir noch nicht! Warte auf Bokana!«

Tatsächlich, kaum hatte sie das gesagt, fühlte Arden, wie erschöpft er war. Es war nicht die Leere, das Gefühllose. Nein, dies war echt und irgendwie richtig.

»Ist gut. Ich warte.« Er drehte sich auf die Seite und war eingeschlafen.

Narla saß neben dem Schlafenden. Der Tag schritt voran, die Sonne war endlich warm genug, um die Kälte und Feuchtigkeit der Nacht zu vertreiben. Dafür stieß ihr Magen dumpfe Beschwerden aus.

Ja, hungrig war sie und erschöpft. Aber Schlaf wollte sie meiden, zu voll war ihr Kopf, zu viel hatte sich in so kurzer Zeit ereignet. Doch konnte sie auch nicht denken.

So starrte sie ins Nichts, nicht denken, nicht fühlen, jetzt sein. Die endlose Weite des Horizonts und die endlose Weite des Himmels, so grenzenlos, gaben ihr ein unglaublich schmerzvolles und doch schönes Gefühl von Einsamkeit.

Endlich machte Narla zwei Gestalten aus, die durch das Moor auf sie zukamen. Beide gleich groß, nein, nach dem nächsten Zwinkern waren es eine große Männergestalt und ein Tier. Da hielt sie nichts mehr, Narla sprang auf und lief lachend den Ankömmlingen entgegen.

Bokana war gekommen. Ihr Bokana! Wenn jemand ihr Vater war, dann er.

Sie warf sich in die Arme des Schäfers, drückte ihr Gesicht in den langen Bart, hielt sich mit aller Kraft fest, sog gierig den so vertrauten Geruch von Schaf, Hund, Natur in sich ein.

Auch sie wurde gehalten, umarmt, ein Kuss auf ihr Haar gedrückt, eine Nase, die ihren Kopf rieb, ihren Geruch aufnahm.

»Na? Meine kleine Rumtreiberin! Ein Besuch beim Alten?« Diese vertraute, rumpelige und doch so weiche Stimme, die Liebe darin.

Narla schüttelte den Kopf. »Kein Besuch! Ich komme heim!«

Bokanas Körper wackelte in unterdrücktem Gelächter.

Sie löste ihren Kopf, lehnte sich etwas zurück, um ihm in die Augen zu sehen.

Das Gesicht des Schäfers war fast vollständig hinter einem braunen Wald versteckt. Nur die lange große Nase war zu sehen, dazu intensive himmelblaue Augen, die Narla nun anstrahlten.

Bevor sie etwas sagen konnte, sprach er wieder: »Du hast mir ja einiges mitgebracht!«

Narla löste sich von ihm, drehte sich um. »Ich konnte sie nicht zurücklassen. Und auch nicht verhindern, dass mir dies passiert.« Sie nickte zu Arden.

Gerade rechtzeitig sah sie zu Bokana zurück, um etwas Seltsames in seinem Blick zu sehen. Es sah aus wie … Schuldbewusstsein. Aber das konnte doch nicht passen?

Bevor sie sich sicher war, war der Ausdruck wieder weg und zeigte Entschlossenheit.

Bokana hockte sich neben den Schlafenden. Mit seiner großen schwieligen Hand berührte er ganz zart Ardens Stirn und dann seine Brust über dem Herzen.

Sein Blick glitt kurz zu Narla, dann zu Tetra, der neben ihr stand. Er lächelte anerkennend.

»Hier ist für mich nichts mehr tun. Alles, was dieser junge Mann noch braucht, ist Ruhe und Erholung. Lasst uns nach Hause gehen.«

Bokana hob Arden mit einer Leichtigkeit, als würde er ein Baby in die Arme schließen. Mit festem Schritt wanderte er los, Narla und Tetra folgten.

Narla, die ihre Hand in das Fell des Wolfes wühlte.

Tetra, dessen feuchte Schnauze zärtlich in die Seite des Mädchens stieß.

Narla war müde und doch zufrieden. Alles würde gut werden, Bokana würde sich darum kümmern. Jetzt ging es endlich nach Hause.

Da hörte sie eine vertraute tiefe Stimme in ihrem Kopf: Du siehst ganz schön fertig aus!

Sie lächelte zu dem Wolf. Es waren anstrengende Tage.

Ihre Gedanken zu Tetra zu schicken war leicht und vertraut.

Das meine ich nicht!

Narla sah sich in Tetras Gedanken gespiegelt. Oh, sie sah tatsächlich nicht gut aus, blasse, hohle Wangen, tiefe Schatten unter den Augen. Verhärmt würde wohl passen.

Sie senkte den Blick. Es war nicht leicht. Moorloch hat mir mehr zugesetzt, als ich wahrhaben wollte.

Bilder kamen zu dem Wolf, Bilder von Kolonnen Torf stechender Kinder. Kalte, hallende Räume, Enge, die auf alles Empfinden drückte, sich dauernd beobachtet fühlen und Erniedrigungen durch Wächter und Mitinsassen. Diese Eindrücke rollten über Tetra und er stieß ein leises Grollen aus. Narla erstickte die Bilderflut.

Der Wolf knurrte. Sie haben das getan? Zorn züngelte mit den Gedanken. Warum hast du sie mitgebracht?

Narla zuckte mit den Schultern. Es schien richtig. In einer kurzen Bilderfolge erzählte sie von den letzten Tagen.

Tetra schüttelte den Kopf, immer noch ärgerlich. Und ich dachte, wie konnte es so mit dir durchgehen. Aber nun frage ich mich eher, wie konntest du so beherrscht sein und ihn nicht töten! Er funkelte einen Blick zu Arden in den Armen des Schäfers, um dann noch wütender zu senden: Hätte ich das gewusst, ich hätte ihm nicht geholfen!

Narla zuckte abermals. Ich wollte aber, dass er lebt! Es gibt keine Rechtfertigung für das, was ich getan habe!

Tetra knurrte, gab ihr aber auch einen verwunderten Blick.

Da hörten sie eine fremde und doch vertraute Stimme: Kinder, ihr schreit zu laut! Nicht nur, dass jeder euch hören kann. Dieser Junge war krank und ihr stört seine Heilung.

Wie zur Bestätigung stöhnte Arden leise in den Armen des Schäfers.

Narla sah Bokana erstaunt an. »Du kannst das auch? Du hörst uns?«

Natürlich, sich mit Gedanken auszutauschen ist nichts Ungewöhnliches. Aber ihr müsst euch mehr konzentrieren. Schmeißt sie nicht nur in den Raum. Gebt die Gedanken gezielt demjenigen, dem ihr sie senden wollt, verschließt sie vor allen anderen.

Narla konzentrierte sich auf Bokana: Meinst du so?

Ja, genau. Siehst du, es ist nicht schwer. Tetra hört uns nun nicht.

Wie zur Bestätigung stieß der Wolf sie mit der Schnauze an. Was sagst du?

Narla lächelte, sagte aber nichts.

Nach einer Weile nahm Tetra ihr Gespräch, nun verschlossen, wieder auf. Was hast du nun vor? Was soll mit deinenpassieren?