Søren Kierkegaard
Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel
Søren Aabye Kierkegaard wurde 1813 als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns und dessen zweiter Frau in Kopenhagen geboren. Nach dem Tod seinen Vaters im Jahre 1838 erbte Kierkegaard ein großes Vermögen, das es ihm ermöglichte, als freier Schriftsteller zu arbeiten.
In seinen theologisch-philosophischen Schriften konfrontiert er den Geist des Christentums mit der zeitgenössischen Wirklichkeit der Christenheit. Philosophiegeschichtlich wird Kierkegaard häufig als Wegbereiter der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts angesehen. Seine Ideen beeinflussten unter anderem das Denken von Martin Heidegger, Karl Jaspers, Karl Barth und Rudolf Bultmann.
Kierkegaard schloss sein Studium der Philosophie an der Universität Kopenhagen 1840 mit der theologischen Staatsprüfung ab. 1841 erlangte er zudem den Magistergrad mit einer Arbeit über den Begriff der Ironie bei Sokrates.
Ein bestimmendes Moment seines Lebens war die Verlobung mit Regine Olsen (1822–1904) im Jahr 1840, die er allerdings ein Jahr später wieder löste. Neben seiner Schwermut und tiefen inneren Unsicherheit spielte hierfür auch sein Glauben eine wichtige Rolle, die ihn seiner Meinung nach hinderte, seine Verlobte auf einem gemeinsamen Lebensweg glücklich zu machen.
Nach zwei Studienaufenthalten in Berlin veröffentlichte Kierkegaard 1843 drei seiner Hauptwerke: „Entweder – Oder“, „Furcht und Zittern“ sowie „Die Wiederholung“. In „Entweder – Oder“ definiert Kierkegaard zwei Stadien des menschlichen Lebens: das Ästhetische und das Ethische, die den Menschen jeweils unbefriedigt lassen. In „Furcht und Zittern“ ergänzt er diese Entwicklungsstadien um die religiöse Sphäre, in der der einzelne Mensch nur noch Gott Gehorsam schuldig ist.
Für Kierkegaard lässt sich der Einbruch des Transzendenten in die Immanenz, die Gleichzeitigkeit von Mensch- und Gott-Sein in der Person Jesu, nur als irrationales Paradoxon annehmen. Wer Christ sein will, muss dafür in den Glauben „springen“. Da der Mensch jedoch immer wieder in seine profane Existenz zurückfällt, gilt es, diesen Sprung immer wieder neu zu unternehmen, also diesen zu „wiederholen“. In diesen Augenblicken des Glaubens lebt das menschliche Selbst im richtigen Verhältnis mit sich selbst und kann der Verzweiflung entkommen.
1855 erlitt Kierkegaard einen Schlaganfall und starb im Alter von 42 Jahren in Kopenhagen.
„Die Sache indessen ist diese: Zweifel und Aberglauben haben es dahin gebracht, dass auch die noch Glaubenden sich genieren, sich in schlichtem Gehorsam der Autorität zu unterwerfen. Diese aufrührerische Gesinnung hat sich auch in das Denken der Besseren eingeschlichen (vielleicht ihnen unbewusst) – und so geht es los mit diesem verschrobenen Gerede, das im Grunde Verräterei ist, von dem Tiefen und dem Wunderbar-Schönen, das man von der Ferne ahnen kann, usf., usf. Die Behandlung des Christlich-Religiösen, wie sie sich jetzt in Wort und Schrift breit macht, ist mit einem Wort affektiert.“
In Zeiten einer zunehmenden Verweltlichung der Kirchen steht die Frage, die Kierkegaard in seiner Abhandlung „Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel“ aufwirft, wieder auf der Tagesordnung: Gewinnt die christliche Botschaft eigentlich an Attraktivität und Überzeugungskraft, wenn sie sich ästhetischen, moralischen oder politischen Maßstäben unterwirft? Oder begibt sie sich damit nicht auf ein Spielfeld, auf dem sie eigentlich – gleichsam wie die sprichwörtliche Kuh auf dem Eis – nichts zu suchen und zu gewinnen hat? Anders als seine zeitgenössischen und unsere gegenwärtigen Kirchenvertreter, die ihr Heil in der Anlehnung an den Zeitgeist suchen, argumentiert Kierkegaard für eine scharfe Trennung zwischen dem Religiösen und dem Weltlichen, zwischen Transzendenz und Immanenz. Für ihn sind die Kernwahrheiten des christlichen Glaubens – auch auf den öffentlichen Podien von Kirchentagen oder TV-Talkshows – nicht argumentativ begründ- und verhandelbar. Ihre Berechtigung und Autorität erhalten sie einzig durch die gläubige Aufnahme.
Kierkegaard begreift Religion und Ästhetik als ein Verhältnis radikaler Divergenz. Diesen Unterschied exemplifiziert und analysiert er an zwei kommunikativen Grundfiguren: dem Genie und dem Apostel. Deren prinzipiellen Unterschied begründet er durch die Kategorien des „Neuen“, der „Vollmacht“ und der „Teleologie“. So verschwindet das „Neue“ oder Originelle, das das Genie auszeichnet, im zeitlichen Verlauf der Generationen und wird damit quasi zum Allgemeingut. Das „Paradox-Neue“, das der Apostel mitteilt, bleibt dagegen auf Dauer bestehen. Gleichzeitig sorgt die göttliche Vollmacht, die die Botschaft des Apostels beansprucht, dafür, dass sie komplett indifferent gegenüber ästhetischen Kategorien ist. Sie lässt sich nicht nach ihrer Schönheit oder Tiefsinnigkeit beurteilen. Außerdem bezieht sich die Teleologie, also die Zweckgerichtetheit der genialen Botschaft, immer nur auf sich selbst. Das Genie bleibt in seinen Äußerungen immanent, während der Apostel ein „um zu“ immer außerhalb seiner selbst, nämlich durch den Auftrag seines Herrn, besitzt. Wer diese kategorialen Unterschiede vermischt oder negiert, verkennt beziehungsweise verleugnet die Qualität des Religiösen. Oder er tut es, um die irrationalen Bedingungen seiner Haltung und Botschaft im rationalen Diskurs zu verdecken.