Mit Augenzwinkern und großem Vergnügen haben wir die eine oder andere bekannte Bonner/ Endenicher Person auf eine Zeitreise geschickt. Wo das geschehen ist, ist das sofort und deutlich zu erkennen. Alle anderen Personen sind völlig fiktiv, und der geneigte Leser sollte nicht versuchen, etwas in sie hineinzugeheimnissen, was nicht da ist.
Selbstverständlich wünschen wir allen Personen in unserem Buch gute Gesundheit und ein langes Leben!
Die Verfasser
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© 2018 R.G.E. Koebinfeld
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783748194439
Josef schwitzte.
Seit Tagen hatte es nicht geregnet. Die Sonne schien an diesem Montag unbarmherzig von einem wolkenlosen Himmel. Das war gut für die Heumahd, aber schlecht für Mensch und Vieh, die nach Abkühlung lechzten. Zudem drückte die Trage mit Brennholz, die er auf seinem Buckel von Endenich nach Bonn trug. Einzelne kleine Zweige stachen in seine Haare, und mit jedem Schritt wurde ihm die Last schwerer, obwohl er ein kräftiger und gesunder Mann in seinen besten Jahren war - im Frühling hatte er seinen 18. Namenstag begangen.
Josef wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Am nächsten Baum würde er eine kleine Rast machen und einen guten Schluck kalten Wassers aus dem Endenicher Bach schlürfen. Dort wurde er bereits erwartet: Auch sein Freund Jakob hatte den Schatten der Eiche gesucht. Grinsend sah der Köbes seinem Freund entgegen.
»Sieh da, der Jupp, als Esel verkleidet. Wo geht‘s denn hin?«
Josef stellte seine Trage in das Gras, ließ sich selbst danebenfallen, schlüpfte aus seinen drückenden Holzpantinen und wischte sich mit der Hand ein weiteres Mal über die Stirn. »Ins Hospital. Die brauchen das Holz für den Herd. Als ob wir nicht genug zu tun hätten.« Da hatte Josef Recht. Auf dem Propsthof in Endenich, auf dem Josef in Stellung war, war kein Maulaffen feilhalten. Allerdings gehörte es zu den Pflichten des Propsthofes, das Aegidius-Hospital in Bonn mit Brennholz zu versorgen. Im Sommer mußte ja nur das Holz für die Küche geliefert werden. Im Winter, wenn alle drei Feuerstellen des Hospitals befeuert werden mußten, war wesentlich mehr Holz zu schleppen. Im letzten Winter war der alte Rupert beim Holzschleppen so elendiglich auf dem Eis ausgerutscht, daß er sich den Oberschenkel gebrochen hatte. Er war noch zum Propsthof zurückgetragen worden, aber dort kam er ans Liegen und war wenige Tage später unter hohem Fieber gestorben.
»Mit uns können sie‘s ja machen«, brummte der Köbes. »Immer dürfen wir schuften für die Herrschaft.«
»Na ja«, räumte Josef ein. »Es hat ja auch sein Gutes. Schließlich kann ich so vielleicht meine Helene sehen.«
»Helene? Kenn ich die? Erzähl mir alles.«
Und Josef erzählte.
Bei dem Gedanken an Helene lief ein Lächeln über sein Gesicht, bestand doch Aussicht auf eine kleine Mahlzeit und, besser noch, auf liebevolle Blicke und den einen oder anderen geraubten Kuß. Helene war im Aegidius-Hospital aufgewachsen, nachdem ihre Mutter in Limperich früh gestorben und die ganze übrige Familie im Winter davor vom Durchfall dahin gerafft worden war. Damit hatte das Waisenkind Helene Pfründe und war gegen die Tradition im Hospital aufgenommen worden.
Dort lebten dauerhaft sonst nur ältere Bürger, die über Pfründe abgesichert waren. Außerdem war das Hospital kurzfristig für Reisende und andere Bürger in Not zuständig.
»Ich will«, fuhr Josef in seinem Bericht fort, »dem Hospitalmeister ja keine bösen Absichten nachsagen. Aber ich glaube, die haben meine Helene nur aufgenommen, weil sie dachten, daß ein zweijähriges Mägdelein unter den ganzen Kranken bald stirbt, und man dann ihre Pfründe kassieren kann. Wäre ja auch gut möglich gewesen, bei den Zuständen dort. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es da stinkt, besonders im Winter. Da sind alle drei Kammern voll mit hustenden und fiebernden Siechen. Selbst für mein Riechorgan ist das eine Zumutung. Und ich habe schon eine Menge Unrat gerochen in meinem Leben.«
»Und das alles hat deine Helene überlebt?« fragte Jakob.
»Jawohl. Die ist stramm und gesund. Obwohl sie hart arbeiten muß in der Küche und bei den Kranken im Hospital.«
»Dann ist sie doch bestimmt ganz abgearbeitet und selber siech?« wollte Jakob wissen.
»Oh nein! Überhaupt nicht! So ein frisches und schmuckes Liebchen ...« Der Josef kam richtig ins Schwärmen über seine 14jährige Angebetete. »Nie verliert sie ihre gute Laune. Und sie ist überhaupt nicht auf den Mund gefallen. Schlagfertige Antworten kann sie geben, aber sie kann auch ganz schön schnippische Bemerkungen machen. Trotzdem hat sie das Herz auf dem rechten Fleck. Und was sich über diesem Herzen wölbt ... ach!« Josef seufzte vor Begeisterung.
»Und bildschön ist sie wohl auch noch?« spottete Jakob. »Ich glaube, du übertreibst, mein Bester.«
»Und ob sie bildschön ist. Schwarze Locken hat sie wie eine Welsche, lustige dunkle Augen und einen Mund ach, Köbes! Rot und weich, gerade richtig zum Küssen.«
»Vorsicht, Josef! Ich glaube, du hast dich in eine Buhle vergafft!«
»Wo denkst du hin?« ereiferte Josef sich. »Meine Helene ist ein anständiges Mädchen! Ich kann ihr zwar den einen oder anderen Kuß rauben, aber mehr ist nicht drin. Vielleicht kann ich sie ja zu einer ehrbaren Ehefrau machen...«
»Du? Als Knecht heiraten? Ohne Geld? Dir deine Ehefrau selber aussuchen? Du bist ein Tagträumer!« warnte der Köbes.
»Vielleicht nicht«, beendete Josef seinen Bericht, »ich könnte doch die Stelle des alten Ruppert bekommen. Eigentlich wollte der Halfen die meinem Bruder Karl geben, aber den hat der Gaul des Halfen auf der Stirn getroffen, und seitdem hat er die heilige Krankheit. Unsere Mutter hat ihn zwar gepflegt; Tag und Nacht ist sie nicht von seinem Lager gewichen, wie er so bewußtlos lag. Aber jetzt ist der Karl streitsüchtig und fällt ab und zu mit Schaum vor dem Mund zu Boden und zuckt dann ganz erbärmlich. Der gibt keinen Pferdeknecht mehr ab. Und unsere Mutter ist auch schon 45 und nicht mehr die Jüngste, und dann hat sie noch Karls zwei kleine Halbwaisen am Hals ... Wär' schon gut, wenn ihr eine junge Frau helfen könnte. Und ich glaube, die Helene wär' genau die Richtige.«
»Na, viel Glück«, sagte der Köbes. »Vielleicht klappt es ja.«
»Das hoffe ich auch. Aber jetzt muß ich weiter. Mach‘s gut, Köbes.«
Mit diesen Worten stand Josef auf, schlüpfte in seine drückenden Pantinen, schulterte seine Trage und machte sich auf den Weg. Nach gut einer halben Stunde hatte er die Stadtmauer erreicht und trat durch das Mühlheimer Törchen. Der direkte Weg von Endenich wäre durch das Sterntor gegangen, aber dann hätte Josef über die Pisternenstraße noch am Marktplatz mit seinem Gedränge vorbeigemußt. So hatte er einen kleinen Umweg am Dörfchen Mühlheim vorbei gemacht, aber das ging zu Fuß immer noch schneller. Er lief hinter der Gangolfkirche nach rechts und versuchte, sich seine Füße am Ychpohl nicht zu schmutzig zu machen. Die Brühe des Ychpohls stank an diesem heißen Tag noch mehr als sonst. Auf der rechten Seite kam er jetzt zum Münster und bog nach links zum Aegidius-Hospital ein.
Das Hospital stand auf der Ecke Münsterplatz und Remigiusstraße und stellte einen stattlichen dreistöckigen Bau mit einer kleinen Kapelle auf seiner linken Seite dar. Wie jedes Münster in der christlichen Welt mußte auch das Bonner Münster ein solches Hospital unterhalten. Wie sollten sonst die Christenmenschen genug Gelegenheit haben, Nächstenliebe zu zeigen und für die Armen, Kranken und Alten zu spenden? Der Endenicher Pfarrer, Pater Engelbertus, hatte ihnen in seinen vielen Predigten vor der anstehenden Feldarbeit immer wieder eingebläut, daß sie sich durch mildtätiges Verhalten einen Teil des Fegefeuers ersparen könnten. Die reichen Herren hatten es da etwas einfacher, die brauchten nur eine größere Geldmenge für die Armen zu spenden, und schon waren ihnen wieder ein paar Sünden erlassen.
Aber Josef hatte jetzt angenehmere Gedanken und überlegte, ob seine Helene ihn wohl in der Küche erwartete. Schon stand er vor dem Hospital; das Münster, die Gangolf und die Martinskirche lagen hinter ihm, und rechts in Richtung Markt konnte man die Remigiuskirche über den Häusern der Kanoniker sehen. Gerade läuteten die Glokken zur Non von der Martins-Kirche, die zwischen dem Münster und der Stadtmauer in ihrer rundlichen Form zu sehen war.
Als er sich vor dem Hospital nach dem heißen, beschwerlichen Gang mit der Trage auf dem Bukkel aufrichtete, entdeckte er Helene, die ihm aus einem Fenster aus dem ersten Stock zuwinkte:
»Josef wie gut, daß du da bist! Komm doch zu der kleinen Tür neben der Kapelle!«
»Tag, Leni! Aber gerne doch. Das Holz wird mir ganz schön schwer in der Hitze.« Freudig erregt machte sich Josef auf den Weg.
Wenig später wurde die kleine Tür aufgemacht und Helene, mit rosig überhauchten Wangen, ließ ihn ein.
»Schön, dich zu sehen, Josef«, begrüßte sie ihn. »Ich hab‘ schon auf dich gewartet«, fügte sie hinzu und errötete noch etwas mehr. Das Rot stand ihr ausnehmend gut, fand Josef, der vor Aufregung erst mal keinen Ton herausbrachte.
»Bring das Holz in die Vorratskammer und komm dann in die Küche«, sagte Helene. »Der Hospitalmeister ist zur Messe nach St. Martin, und die Pfründer haben schon gegessen und sind versorgt.«
Sie sah umwerfend aus, fand Josef und machte sich schnell daran, das Holz in die Kammer neben der Küche zu schaffen. In der Küche hantierte Helene an einem Kessel, den sie ins Feuer hinunterließ. Das Eisen, an dem der Topf hing, hatte Zähne, um den Abstand zum Feuer genauer einstellen zu können. »Ich leg` nach einen Zahn zu«, meinte Helene und blinzelte Josef an.
Kurze Zeit später hatte Josef einen duftenden warmen Hirsebrei vor sich stehen und wußte gar nicht, wohin er zuerst sehen sollte. Zu dem köstlichen Hirsebrei oder zu Helene, die, von der Seite betrachtet, ihre eindrucksvolle Statur darbot. »Hat es dem Herren die Sprache verschlagen oder schmeckt‘s nicht?« gickelte Helene nun, was Josef dazu brachte, den Brei gierig zu verspeisen.
»Gibt‘s bei euch immer so Köstliches?« fragte er, wieder errötend beim Anblick von Helenes ausladenden Konturen.
Das Gesicht von Helene verzog sich zu einer ernsten Miene. »Unser Essen ist deutlich sparsamer. Aber zur Zeit pflegen wir im Auftrag des Münsters eine edle Dame, die auf der Durchreise ist und unter Fieber litt. Sie hat sich gottlob gut erholt. Ich habe für dich etwas von ihrem Essen zur Seite gestellt. Und mein Essen wird bald wohl noch karger.«
»Was ist denn passiert, mein Liebchen?«
Helene seufzte. »Ich habe gestern gehört, was der Hospitalmeister zum Dechanten des Münsters gesagt hat. Die finden, mein Essen kommt sie zu teuer. Dabei arbeite ich hier doch für zwei.« Josef konnte das nur bestätigen.
»Die wollen mich loswerden, weil ich meine Pfründe längst verzehrt habe. Behaupten sie jedenfalls. Einen Winter soll ich noch bleiben dürfen die hoffen wohl, daß ich den nicht überstehe! Denn sie wollen mich zu den Siechen mit Husten und Auswurf schicken. Das überlebt kaum eine Magd. Und wenn ich dann immer noch lebe, wollen sie mich verheiraten. Heilige Mutter Gottes!«
Helene bekreuzigte sich. »An wen die mich wohl verschachern wollen? An einen reichen alten Sack, der eine billige Dienstmagd sucht, die ihm außerdem noch die Bettstatt warm halten soll?« Bei diesem gräßlichen Gedanken kamen ihr die Tränen in die Augen, aber sie faßte sich gleich wieder. »Was erzähl ich dir das alles, gegen den Willen der hohen Herren kann unsereins vom gemeinen Volk ja doch nichts ausrichten.«
Wie sie so dasaß mit verweinten Augen aber aufrechtem Oberkörper und versuchte, gegen die Tränen zu kämpfen, wurde es Josef ganz warm ums Herz, und eine zarte Hoffnung regte sich in ihm.
»Ich hätte da eine andere Idee«, fing er an und wunderte sich über seinen Mut. Helene rückte auf der Küchenbank etwas näher an Josef heran und schaute ihn erwartungsvoll an.
Josef holte einmal tief Luft. »Helene, könntest du dir denn vorstellen, meine Frau zu werden? Ich glaube, ich könnte dich gut versorgen. Ist zwar viel Arbeit bei uns auf dem Propsthof, aber weißt du ...« Josef stotterte jetzt ein wenig. »Ich kann dich richtig gut leiden und hätte dich gerne als mein Weib.«
»Ja, Josef, das will ich gerne«, sagte Helene schlicht. Jetzt waren sie also Brautleute! Würden sie wohl eine Erlaubnis zum Heiraten bekommen? Mit übermütiger Freude nahm Josef seine Helene in die Arme und küsste sie ab; durfte jetzt auch wohl mal an Helenes verlockenden Busen greifen, und da Helene sich ihm freudig entgegenreckte, fanden sich beide bald in inniger Umarmung in der kleinen Holzkammer neben der Küche wieder, wo niemand sie stören konnte...
Als die Münsterglocken schlugen, schreckten beide plötzlich hoch. »Ich bin eingeschlafen«, stammelte Helene. »Die läuten schon zur Vesper. Du mußt los.« Sie richtete ihre Kleider, ging in die Küche und schaute dort aus dem engen Fenster. Die ersten Sterne leuchteten am Nachthimmel. Schreckensbleich trat sie wieder in die Vorratskammer. »Josef!« hauchte sie. »Es hat nicht zur Vesper geläutet, sondern zur Komplet! Wir müssen ewig lange geschlafen haben!« In diesem Augenblick hörte man in der Küche den Hospitalmeister, der ärgerlich nach Helene rief. »Versteck dich hier«, flüsterte sie zu Josef und huschte aus der Kammer.
Josef blieb verängstigt zurück. Wie sollte er wieder nach Endenich kommen? Die Stadttore schlossen zur Dunkelheit, und wenn er morgen früh nicht das Vieh versorgt hatte, würde es nichts mit der Stelle als Oberknecht! Und ohne diese Stelle könnte er weder Helene noch seine Familie in Endenich ernähren. So ein Elend, er mußte raus aus der Stadt!!!!
Während er die Stimmen von Helene und dem Hospitalmeister aus der Küche hörte, suchte Josef sich möglichst leise ein Versteck hinter dem Feuerholz. Wie er jetzt bemerken konnte, war immer noch genug da. Ob Helene etwa mit einer bestimmten Absicht Holz bestellt hatte? Die Freude über Helenes Mut und Einfallsreichtum brachten Josef nur kurzfristig auf andere Gedanken. Immer wieder kam er zu der Frage zurück: Wie zum Teufel sollte er aus der Stadt kommen? Die Tore waren geschlossen, und auf den Mauern liefen die Nachtwächter. »Heiliger Josef«, betete er still zu seinem Namenspatron, »laß mich ungeschoren aus der Stadt kommen.«
Da fielen Josef Gerüchte ein, die man sich unter den Knechten gerne erzählte. Die erste Stadtmauer um St. Cassius bestand schon viele Jahrhunderte, aber der neuere, wesentlich größere Teil der Mauer war erst nach der Stadtwerdung Bonns entstanden. Unter den Knechten kursierte das Gerede über einen Zwist zwischen den reichen Bonner Kaufleuten und dem Stift von St. Cassius. Die Bonner Bürger mußten die neueren Stadtmauern aufrechterhalten und Leute für die nächtlichen Kontrollgänge abstellen. Für den Bereich der alten Stadtmauer aber bestand die Immunität von St. Cassius; dort hatten die Bürger keine Rechte.
Josef hatte gehört, daß einige Stiftsherren, deren Häuser an der alten Stadtmauer lagen, sich dort regelrechte Gärten angelegt hatten. Angeblich hatten sie ihre Gärten sogar gegen die übrige Stadtmauer durch Tore abgesperrt, und man flüsterte sich zu, daß einige sogar Treppen vom eigenen Haus hoch zur Stadtmauer hätten bauen lassen.
Josef konnte sich nur wundern. Wie sollte denn die Stadtwache hier Wache halten, und was nützte eine Stadtmauer, wenn von überall Treppen über die Mauer in die Stadt gingen?
Dieser Streit zwischen Bürgern und Stiftsherren war sogar bis nach Rom gemeldet worden. Der Papst war erzürnt gewesen über die unbotmäßige Bonner Bürgerschaft, hatte die Stadt mit einem Kirchenbann belegt und die Priester aus der Stadt abberufen. Für den frommen Josef war das eine unfaßbare Vorstellung. Ein Leben ohne Priester, ohne Gottesdienste, ohne Beichte?
Aber was, wenn an den Gerüchten etwas dran wäre? Dann könnte er auf die Stadtmauer gelangen und mit einem Seil hinabklettern. Mit dem Seil war Josef immer schon gut gewesen, das wäre zu schaffen. Ob es irgendwo so eine Stelle gäbe? Josef blieb hinter seinen Hölzern hocken und zermarterte sich das Hirn.
Da huschte eine verzweifelte Helene in die Kammer und hielt ihm sofort den Mund zu. »Psst, der Hospitalmeister schläft noch nicht«, flüsterte sie und drückte sich an ihn. Normalerweise und insbesondere nach diesem Abend hätte Josef sofort lustvolle Gedanken gehabt, aber jetzt hatten beide andere Sorgen. Helene lockerte ihren Griff und langsam bekam Josef wieder Luft. Einige Zeit lagen sie nebeneinander. »Hast du eine Idee, wie ich bis morgen früh nach Endenich komme?« flüsterte Josef. Helene schwieg.
»Gibt es da nicht diese Gärten auf der Stadtmauer?« flüsterte Josef erneut.
»Stimmt!« antwortete Helene leise. »Meine Freundin Anna arbeitet beim Kanonikus Georg von Buschhoven, und die hat so etwas erzählt. Der hat einen Garten auf die Stadtmauer gesetzt und sogar eine Treppe von seinem Haus zur Stadtmauer bauen lassen!!!«
»Weißt du, wo das Haus ist und wie man da hinkommt?« flüsterte Josef mit neu erwachender Zuversicht.
Helene wußte genau zu berichten, daß das Haus an der alten Stadtmauer rechts neben dem Palast des Erzbischofs gelegen war. Über ein niedriges Holztor könne man auf das Grundstück steigen, und dann käme im Hof eine Treppe, die auf die Stadtmauer führte.
Beide überlegten nach anderen Möglichkeiten, aber sie fanden keine. »Woher bekomme ich ein langes Seil?« flüsterte Josef, aber Helene drückte zuversichtlich seine Hand und verschwand geräuschlos aus der Kammer. Nach einigen Minuten kehrte sie zurück und drückte ihm ein langes, schweres Seil in die Hand.
»Das ist aus der Hinterlassenschaft eines Seilmachers, der hier gestorben ist. Es hat keiner vermißt, und da habe ich es erst mal beiseite geräumt. Es müßte reichen.« Helene beschrieb ihm noch genau den Weg zum Haus des Kanonikus Georg, und dann brachte sie ihn heimlich an die kleine Tür neben der Küche. Aufgeregt drückten die beiden sich noch mal aneinander und tauschten verzweifelte Küsse aus.
Dann löste Josef sich von seinem Liebchen und machte sich in der Dunkelheit auf seinen Weg nach St. Martin. Zuvor bekreuzigte er sich und schickte ein weiteres Stoßgebet zu seinem Namenspatron; dann zog er seine Holzpantinen aus und nahm sie in die Hand, um in der Stille der nächtlichen Stadt jedes überflüssige Geräusch zu vermeiden. Der Mond half ihm mit seinem Licht, und Josef hoffte, nicht dem Nachtwächter über den Weg zu laufen.