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© Martin Cyprian Lenz (Hg.)
im Auftrag der Hochkirchlichen Vereinigung Augsburgischen Bekenntnisses e.V., München 2018
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
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ISBN: 978-3-7528-7516-4
Echt evangelischer Tradition treu waren es wieder 95 Thesen, die am Anfang standen und einer Initialzündung gleich die Bewegung in Gang setzten: Stimuli et clavi (Spieße und Nägel) nannte der renommierte lutherische Pastor und Praktische Theologe Heinrich Hansen seine zum 400. Reformationsjubiläum erschienenen Thesen, mit denen er auf Missstände innerhalb der evangelischen Kirche hinwies. Die hochkirchliche Bewegung ist somit seit frühester Stunde eine kirchenkritische Erneuerungsbewegung. Dies begründet in sich die natürliche Zurückhaltung, mit der die Landeskirchen dem hochkirchlichen Anliegen, das bis heute immer wieder neu aus ihnen heraus entsteht, begegnen.
Vor 100 Jahren suchten die Gründungsgestalten der Hochkirchlichen Vereinigung, begeistert von der Fülle der angelsächsischen High-Church-Movement, nach Wegen, die im landesherrlichen Kirchenregiment überkommene Verknüpfung von Staat und Kirche zu lösen und zu einer selbstbestimmten Form (im doppelten Sinne) evangelischer Kirchlichkeit in Deutschland zu finden. So sollte in gewissem Sinne nachgeholt werden, was Luther vorgedacht hatte und was der Unbill der Zeit wegen nicht umzusetzen war. Die HV ist damit der erste liturgische Interessenverband landeskirchlicher Pastoren in Deutschland, der nicht aufgrund einer kirchenamtlichen Anordnung entstanden ist und der bis heute besteht und floriert. Ihr folgten etwa die Berneuchener Konferenz (ab 1923) und die Kirchliche Arbeit Alpirsbach (ab 1933) nach. Sie ist also die Vorreiterin der jüngeren liturgischen Bewegung in Deutschland und eröffnete damit den Weg für die großen ökumenischen und liturgischen Entwicklungen im deutschen Protestantismus des 20. Jahrhunderts. Anlässlich dieses Jubiläums ist es für die HV ein großes Anliegen, in der dem geneigten Leser vorliegenden Festschrift zum einen gemeinsam Rückschau zu halten und zum anderen und wichtigeren frohen Mutes in die Zukunft zu blicken. Ihre Anliegen als hochkirchliche Theologie in den wissenschaftlichen Diskurs einzubringen, hat sich diese Schrift auf den Weg gemacht. Sie bildet dabei in ihrer jetzigen Gestalt die vielfältigen Perspektiven der Mitglieder der Hochkirchlichen Vereinigung ab.
Allen, die die Gestalt der Festschrift mit ihren Beiträgen bereichert haben, möchte ich von Herzen danken. Zu keiner Zeit stand in Frage, dass ein großer Segen auf der Zusammenarbeit lag. Gerade in der Phase der Konzeption habe ich die Erfahrung machen dürfen, wie virulent und zugleich polarisierend das hochkirchliche Anliegen nach wie vor ist.
Ich bin über die Maßen dankbar, dass das Endergebnis der Arbeit so einen vielschichtigen Umgang mit der Materie zeigt. Auf diese Weise wird deutlich, wie umfassend die hochkirchliche Bewegung die Kirche affiziert. Mein letzter Gedanke darf meinen Geschwistern im Herrn gelten. Denn diese Festschrift ist, wie die hochkirchliche Bewegung selbst, zu keinem Zeitpunkt die Arbeit eines Einzelnen gewesen. Der Vorstand der HV hat mir die Möglichkeit gegeben, eine freie Auswahl an Autoren zu treffen. Und so durfte die Festschrift neben einigen etablierten Stimmen auch zu einem Forum für den wissenschaftlichen Nachwuchs werden.
Die Erstellung einer solchen Schrift verlangt von Lektorat und Drucksatzerstellung besondere Opferbereitschaft. Darum sei die Aufmerksamkeit hier auf Heike Stöcklein und Malte Columbanus Taurat gelenkt, die beide die redaktionelle Realisierung dieser Festschrift mit Rat und Tat begleitet haben. Beide haben neben den Anforderungen des Alltags der vorliegenden Festschrift zu ihrem Erscheinungsbild verholfen. Dankbar und ob ihrer umfassenden Unterstützung beschämt, möchte ich beiden von Herzen und in aller Stille wünschen: Vergelt’s Gott.
Es ist die große Hoffnung der gesamten HV, dass die vorliegende Schrift mit ihrem Titel ut omnes unum nach einhundert Jahren der gemeinsamen hochkirchlichen Geschichte den Weg in die Zukunft weist und nicht einem Schwanengesang gleich verklingt. Gebe Gott Seinen Segen, dass das hochkirchliche Anliegen auch in den kommenden einhundert Jahren weiterhin die ökumenische Landschaft der Einen Heiligen Kirche bereichern wird. Am Ende wird wie am Anfang der eine Herr Jesus Christus stehen. Das Erste wird das Letzte Wort Gottes sprechen mit seiner hohepriesterlichen Bitte:
„Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, dass sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, auf dass die Welt glaube, dass du mich gesandt hast.“1
Martin Cyprian Lenz SJB
Herausgeber
Bonn, am Fest der Heimsuchung Marien A.D. 2018
1 Joh 17,20f.
1918 — ein Jahr des radikalen Umbruchs. Mit dem Verstummen der Waffen des Ersten Weltkrieges – der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts – kommt das sogenannte lange 19. Jahrhundert zum Ende. Eine Zäsur für die Welt und für Deutschland. Revolution im November, Ende der Monarchie und endlich die Etablierung der Demokratie.
Auch für die evangelischen Landeskirchen war 1918 eine Zäsur. Die heillose Verbindung von Thronen und Altären wurde gekappt und das Joch des landesherrlichen Kirchenregimentes von den Schultern der evangelischen Landeskirchen genommen.
Für die Landeskirchen eine Zeit der Befreiung, die zu einem neuen Nachdenken über das Wesen der Kirche führte. Inmitten dieser Zeit wurde durch Friedrich Heiler und seine Weggefährten die Hochkirchliche Vereinigung Augsburgischen Bekenntnisses e. V. gegründet. Als institutionalisierte Vereinigung konnte so die hochkirchliche Stimme in Deutschland vernehmlicher gehört werden. Inmitten einer Zeit der erstarkenden Nationalismen setzten hochkirchlich geprägte Christen Internationalität, Katholizität und Ökumenizität in den Mittelpunkt ihres Denkens, denn die christliche Welt sollte nicht mehr geteilt sein, sondern in der Einen Heiligen, Katholischen und Apostolischen Kirche existieren. Überzeugung der hochkirchlichen Bewegung war und ist es bis heute, dass Kirche nie provinziell und national gedacht werden kann. Als Mitglieder der Hochkirchlichen Vereinigung denken wir hoch von der Kirche. Zum einen hoch von ihren gewachsenen Traditionen, Diensten und Formen — dies zeigt sich in unserer Liebe zur Liturgie, in unserem Streben nach wechselseitiger Anerkennung der Dienste und Ämter und in der Suche nach der Einheit der Kirche. Zum anderen denken wir hoch von den Gliedern der Kirche — wir trauen jedem Getauften zu, mit der Kirche Zeugnis von der Liebe Gottes zu den Menschen zu geben. Dabei schöpfen wir nicht nur aus den Traditionen der Westkirche, auch wenn uns in Deutschland die Ökumene vor allem aus diesem Blickwinkel begegnet, sondern auch aus den Traditionen der Orthodoxie und vieler anderer Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften. Evangelische Katholizität wurde zum Wahlspruch der jungen hochkirchlichen Vereinigung und ist es bis heute geblieben, denn wir glauben, dass beides zusammengehört: die Treue zu den heiligen Schriften samt der Orientierung am Evangelium unseres Herrn Jesus Christus und das Suchen nach der Einheit in der Einen Heiligen, Katholischen und Apostolischen Kirche.
Gerade im Leben des Evangelischen und des Katholischen glauben wir, ein Beispiel dafür zu sein, wie die Kirche der Zukunft aussehen kann, denn die Grenzen zwischen dem, was vermeintlich evangelisch und katholisch ist, werden immer mehr verschwimmen. Daraus kann eine Kirchengemeinschaft entstehen, die um ihre Geschichte weiß, aber einen gemeinsamen Weg geht. Einen Weg, der – so hoffen und beten wir – uns eines Tages Sonntag für Sonntag an den Tisch unseres gemeinsamen Herrn führen wird. Unsere Arbeit zusammen mit den vielen Geschwistern aus der ökumenischen und liturgischen Bewegung trägt bis heute Früchte. Die Liturgie der Kirche des Westens ist zur Normalform in den meisten evangelischen Landeskirchen geworden, die Feier des Heiligen Abendmahles – der Eucharistie – ist in vielen evangelischen Kirchengemeinden wiederentdeckt und zu einer Kraftquelle der Gläubigen geworden. Die Feier der Eucharistie ist unsere Kraftquelle. Hier erleben wir Einheit als Schwestern und Brüder und mit unserem auferstandenen Herrn. Und dieses Erleben wollen wir als Hochkirchliche Vereinigung Augsburgischen Bekenntnisses weitergeben, denn es ist die Sehnsucht unseres Herrn, eins zu sein — mit Ihm und untereinander2.
An dieser Stelle sei allen Autor/innen dieser Festschrift von Herzen gedankt und besonders dem Herausgeber Martin Cyprian Lenz, der die Erstellung dieser Festschrift überhaupt erst ermöglicht und dafür gesorgt hat, dass aus den unterschiedlichen Einsendungen ein Ganzes werden durfte. Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich eine segensreiche Lektüre verbunden mit der Hoffnung, dass uns der Dreieinige Gott gemeinsam auf den Weg zur una sancta führen werde. 100 Jahre nach dem ersten Umbruch in den evangelischen Landeskirchen wird es Zeit für den nächsten, diesmal friedlichen Umbruch und Aufbruch hin zur der Einen Heiligen, Allumfassenden und Apostolischen Kirche.
Sascha Joseph Barth SJB
Erster Vorsitzender der Hochkirchlichen Vereinigung AB e.V.
Munster (Örtze), am Osterfest A.D. 2018
2 Vgl. Joh 17,20f.
Vor genau 100 Jahren erschienen zum 400-jährigen Jubiläum der Reformation in Deutschland die Stimuli et clavi des norddeutschen Pfarrers Heinrich Hansen. Mit ihren 95 Thesen zur aktuellen Lage der Kirche sollten sie an den Thesenanschlag Martin Luthers erinnern.
Es war die Zeit des Ersten Weltkrieges, eine Zeit der Umbrüche, an deren Ende auch das Staatskirchentum zusammenbrechen sollte. Der Ruf nach Erneuerung der Kirche wurde immer lauter. Die Frage nach der Zukunft der Kirche stand im Vordergrund. Eine von Rationalismus und Verbürgerlichung befreite Kirche war das Ziel theologischer und liturgischer Bemühungen. Auch die neuere liturgische Bewegung, aus der das hochkirchliche Denken erwuchs, verstand sich als eine Reformbewegung. Geprägt durch das konfessionelle Luthertum, wollte man an den eigentlichen Wurzeln der Reformation anknüpfen: der Erneuerung der Einen, Heiligen, ungeteilten und Apostolischen Kirche. Die Wiederaufnahme des in apostolischer Sukzession stehenden kirchlichen Bischofsamtes sollte den landesherrlichen Summepiskopat ersetzen, der seinerzeit aus einer geschichtlichen Not heraus entstanden war.
Am 9. Oktober 1918 wurde in Berlin die Hochkirchliche Vereinigung Augsburgischen Bekenntnisses e. V. gegründet, in der der Marburger Religionswissenschaftler Friedrich Heiler bald prägendes Mitglied wurde. Unter Nathan Söderblom in Schweden faktisch zum Protestantismus konvertiert, wurde er durch Bischof Gaston +Petrus Vigué vom Schweizer Diakonieverein in die Sukzessionslinie der syrisch-antiochenischen Kirche eingegliedert und so zum ersten Bischof der 1929 gegründeten Evangelisch-Katholischen Eucharistischen Gemeinschaft, der späteren Hochkirchlichen St.-Johannes-Bruderschaft.
Damit entstand innerhalb der hochkirchlichen Bewegung eine geistliche Gemeinschaft, in der nicht nur die apostolische Sukzession weitergegeben wurde, sondern in der sich auch ein reichhaltiges geistliches und liturgisches Leben entwickelte.
Die hochkirchliche Idee wurde nie zu einer Massenbewegung. Sie hat sich aber immer als eine kirchliche Erneuerungsbewegung aus ihren drei Säulen heraus verstanden, dem Tagzeitengebet mitsamt der Feier der Eucharistie, dem altkirchlichen Amt in apostolischer Sukzession und der Wiederentdeckung der liturgischen Symbolsprache der Kirche. Damit hat sie Generationen von Geistlichen erreicht und segensreich in die Gemeinden hineingewirkt.
Die ökumenische Dimension dieses Ansatzes hat sich bislang nur ansatzweise erschlossen. Jenseits spezifischer Konfessionsgrenzen schöpft die hochkirchliche Bewegung aus dem theologischen und kirchlichen Reichtum der ganzen Kirche in Ost und West. Sie hat sich die neueren bi- und multilateralen Konsensdokumente zu eigen gemacht und möchte mit ihrer theologischen Arbeit und ihrem liturgischen Leben ein Brückenglied für die wachsende Einheit der Kirche und der Christenheit sein. Heilers Vision der evangelischen Katholizität im Dienst der Einen Heiligen Kirche ist Gabe und Aufgabe zugleich. Möge der Heilige Geist auch im zweiten Jahrhundert der Hochkirche immer wieder den Mut und die Kraft zur Erneuerung der Kirche wecken auf dem Weg zu ihrer sichtbaren Einheit, um die Jesus Christus, der Herr der Kirche, gebeten hat: „Ich bitte aber, dass sie alle eins seien“3.
Möge Gott allen Leserinnen und Lesern dieser Schrift Seinen reichen Segen zuteil werden lassen.
Konrad +Innocenz Schrieder SJB
Apostolischer Vorsteher der
Hochkirchlichen St.-Johannes-Bruderschaft
Hamm (Westfalen), am Pfingstfest A.D. 2018
3 Joh 17,20f.
Die in diesem Band gebrauchten bibliographischen Angaben wurden mit äußerster Sorgfalt geprüft und vereinheitlicht gemäß:
SCHWERTNER, S. M.: Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin / Boston 32014.
Darüber hinaus bzw. in Ersetzung gelten folgende Abkürzungen:
Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz | EKBO |
Evangelische Kirche in Deutschland | EKD |
Formula Concordiae, in: BSLK, 735 – 1100. | FormConc |
Hochkirchliche St.-Johannes-Bruderschaft | SJB |
Hochkirchliche Vereinigung Augsburgischen Bekenntnisses e. V. | HV |
Sacrosanctum Concilium, in: HThKVatII 1, 3 – 56. | SSConc |
Eine ökumenische Entdeckungsreise
Als der orthodoxe Student zum evangelischen Theologieprofessor, der an der Philipps-Universität in Marburg lehrte, kam und zu ihm sagte: „Herr Professor, ich möchte bei Ihnen über ein patristisches Thema promovieren“, reagierte der Letztere skeptisch, ja sogar ein bisschen misstrauisch. Zunächst einmal kannte er den Kandidaten nicht und hatte keine Ahnung davon, inwiefern er methodisch geschult war. Brachte der orthodoxe junge Mann die nötigen Voraussetzungen mit, um in Deutschland eine Dissertation zu verfassen? Hierbei ging es nicht nur um die Sprachkenntnisse, sondern vor allem um die in den Augen des Professors unverzichtbare kritische Herangehensweise an das historische Material. Außerdem fragte er sich, ob sein orthodoxer Besucher mit der evangelischen Theologie vertraut sei und inwiefern von ihm verlangt werden dürfe, sich mit ihr zu beschäftigen. Die evangelisch-theologische Fakultät in Marburg ist nämlich die älteste in der Welt und eine Hochburg des Protestantismus. Wollte der orthodoxe Student also sein Doktorstudium in Marburg absolvieren, musste er begreiflicherweise die evangelische Theologie kennenlernen. Damit verband sich eine dritte, nicht irrelevante Frage: die Frage der Rezeption. Würde der orthodoxe junge Mann mit seinem Titel in evangelischer Theologie in der orthodoxen Welt etwas anfangen können? Würde dieser Titel anerkannt? Dabei handelte es sich selbstverständlich weniger um die formale als um die innere Anerkennung. Denn die Promotion eines orthodoxen Studierenden an einer evangelisch-theologischen Fakultät konnte auf Seiten der Orthodoxen allerlei Vorbehalte auslösen und alte missionarische Praktiken von Protestanten unter Orthodoxen in Erinnerung rufen, von Verschwörungstheorien und Häresievorwürfen ganz zu schweigen.
Diese Begegnung fand 1993 in Marburg an einem sonnigen Frühlingstag statt. Der Theologieprofessor hieß Wolfgang A. Bienert. Er war Kirchenhistoriker mit Schwerpunkt Alte Kirche, für die Orthodoxen nach wie vor ein bevorzugtes Forschungsgebiet. Darüber hinaus war er am offiziellen Dialog zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Ökumenischen Patriachat von Konstantinopel (Istanbul) beteiligt4 und gehörte zu einer Generation von Universitätsprofessoren, die heute vielen sicherlich als Überbleibsel einer längst vergangenen Zeit vorkämen. Denn sie waren unvergleichlich mehr damit beschäftigt, gute Wissenschaft zu produzieren, als Drittmittel einzuwerben und für sich dadurch Lorbeeren zu ernten. Es waren wohl Bienerts Liebe zu den Kirchenvätern und sein Respekt vor der Orthodoxie, die ihn dazu brachten, den orthodoxen Theologiestudenten in seinen ohnehin kleinen Doktorandenkreis aufzunehmen. Nicht von ungefähr nannte er sich „Patristiker“, ein Titel, der unter evangelischen Theologieprofessoren in Deutschland eine Mangelware war und ist.
Was darauf folgte, war für den orthodoxen Doktoranden in vielerlei Hinsicht eine spannende Entdeckungsreise. Auf der Tagesordnung standen zunächst einmal die kirchenväterlichen Texte selbst, die nun durch die Begleitung eines Kirchenhistorikers, der nicht zur selben Konfession gehörte und daher eine andere hermeneutische Brille trug, gelesen werden sollten. Das war natürlich nicht selbstverständlich und wurde des Öfteren als eine Herausforderung wahrgenommen. Der orthodoxe Student musste zeigen, dass er seinem Doktorvater und seinen Mitdoktoranden argumentativ ebenbürtig war und dass seine Art und Weise, die Kirchenväter zu deuten, eine solide Grundlage in den patristischen Texten selbst hatte und nicht einfach in sie hineinprojiziert wurde. Diese Konstellation war auch ein Aufruf zur Selbstkritik und zur konstruktiven Infragestellung bestimmter Aspekte der eigenen Tradition wie der Sakramentenlehre5 oder der Frage nach dem Frauenamt6. In diesem Sinne war die Marburger Zeit für den Doktoranden ein ökumenischer Lernprozess schlechthin. Rückblickend würde er heute behaupten, dass dieser Prozess keineswegs eine Einbahnstraße war. Denn auch sein Doktorvater und einige seiner Mitstudierenden wiesen eine beeindruckende Aufgeschlossenheit gegenüber der geheimnisvollen und schwer zu entschlüsselnden Welt der Orthodoxie auf. Dabei faszinierte ihn nicht nur das christologische Gespür seines Doktorvaters, sondern auch die Tatsache, dass der Letztere nie versuchte, ihm Gedanken aufzuzwingen. Das einzige Kriterium, an dem man sich orientierte, um die Plausibilität einer Interpretation zu prüfen, waren die patristischen Texte selbst.
Ein anderer Pfad dieser Entdeckungsreise war eine intensive Beschäftigung mit den Quellentexten des Protestantismus, vor allem den Texten Martin Luthers, sowohl in der Erprobungsphase, die der Abfassung der Dissertation vorausging, als auch während der Vorbereitung auf die Doktorprüfung. Es dauerte nicht lange, bis der orthodoxe Student feststellte, dass es sich hierbei um patristische Texte einer anderen Art handelte. Die Gründungsväter des Protestantismus waren nämlich insofern Kirchenväter, als sie entscheidend dazu beitrugen, dass sich die Kirche Jesu Christi erneuerte und wieder ihrer ursprünglichen Berufung, „herrlich“ zu sein und „keinen Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen“7 zu haben, entsprach. Durch diese orthodoxe Sicht auf die Reformatoren verschob sich die im westlich geprägten Begriff des Kirchenvaters enthaltene zeitliche Grenze und näherte sich einer orthodoxen Intuition, nämlich, dass die Zeit unserer Väter und Mütter im Glauben keineswegs mit dem 8. oder 9. Jahrhundert ende, sondern bis an die Schwelle der Neuzeit reiche.8
Die Entdeckungsreise ging aber über die Wissenschaft hinaus. Sie war nämlich im wahrsten Sinne des Wortes ökumenisch, also allgemein und umfassend.9 Dementsprechend gehörte zu ihr auch ein intensives Sich-Begegnen auf der menschlichen Ebene, das z. B. immer wieder im Rahmen einer beispielhaften Gastfreundschaft des Doktorvaters und seiner Ehefrau zum Ausdruck kam. Zu jener Zeit war die biblisch verankerte Idee der Gastfreundschaft auf ihrem Weg, sich als die ökumenische Metapher schlechthin durchzusetzen und die Welt des interreligiösen Dialogs langsam, aber mit festen Schritten zu betreten.10 Der Doktorvater pflegte ebenfalls, den Doktorsohn an seinem Geburtstag zu beschenken und ihm eine Postkarte zu Weihnachten zu schreiben, obwohl sie beide in derselben Stadt wohnten und zu ihren bewährten Ritualen ein Treffen kurz vor Weihnachten zählte, auf dem man sich gegenseitig beglückwünschte. Dass das Geburtstagsgeschenk meistens ein theologisches Buch war, verstand sich von selbst. Es zeigte auch, dass die Welt der Wissenschaft jene war, in der der Marburger Theologieprofessor am besten atmen konnte.
Das aus dieser Entdeckungsreise entstandene Opus war in vielerlei Hinsicht auch ein ökumenisches Produkt.11 Hierbei handelte es sich nicht nur um die Tatsache, dass es von einem Orthodoxen an einer evangelisch-theologischen Fakultät verfasst wurde, sondern vor allem um die erforschte Person, nämlich Maximus Confessor (ca. 580 – 662), den wichtigsten griechischsprachigen Theologen des 7. Jahrhunderts. Wie kein anderer gibt sich Maximus als ein Kirchenvater zu erkennen, der Ost und West verbindet.12 Von seinen Widersachern wurde dem Confessor vorgeworfen, er liebe die Lateiner mehr als die Griechen.13 In den Wirren des Streites um das adäquate Verständnis der Willensfrage in Christus betrachtete Maximus die westlichen Christen, vor allem die römischen Päpste, als Glaubensgenossen und Stütze, als homopistoi,14 und verteidigte sogar das westliche Filioque, indem er ihm eine orthodoxe Interpretation verlieh.15 Jüngere Forschungen zeigen, dass sich Maximus in Fragen wie dem Filioque oder dem römischen Primat in der Tat als Brückenbauer zwischen den Kirchen des Ostens und den Kirchen des Westens erweisen könnte.16 Seine ökumenische Aktualität kann daher auch heute nicht genug betont werden.
Die Kirchenväter als ökumenischer locus
Der obige autobiographische Auftakt veranschaulicht, wie bedeutend die Kirchenväter innerhalb einer Ökumene sein können, in der das wissenschaftliche Interesse im Vordergrund steht. Damit ist aber noch nicht gesagt, ob sich diese Bedeutung auch auf den christlichen Alltag in seiner Ganzheit erstreckt. Denn Ökumene beschränkt sich nicht auf den Kompetenzbereich der wissenschaftlichen Theologie, sondern lebt auch vom Engagement vieler Menschen in den Kirchengemeinden und im Alltagsleben überhaupt.
Die Behauptung, die Väter der Alten Kirche würden eine beachtliche Rolle im orthodoxen Leben spielen, dürfte wohl keine Übertreibung sein. Kirchlich engagierte orthodoxe Christenmenschen lassen sich in der Regel fleißig auf die Schriften der Kirchenväter ein, vor allem auf die, die einen asketischen Charakter besitzen oder von einer tiefen Spiritualität beseelt sind. Hierzu gehören, um nur einige Beispiele zu nennen, das Traktat des Johannes Chrysostomos (gest. 407) über das Priestertum17, Gregor von Nyssas (gest. um 394) Buch über das Leben des Moses18 oder die 400 Kapitel des Maximus Confessor (ca. 580 – 662) über die Liebe19. Ebenso gehören die Väter und Mütter der Alten Kirche unauflöslich zum orthodoxen gottesdienstlichen Geschehen; dies nicht zuletzt durch ihre starke Präsenz in den liturgischen Texten und durch die heiligen Bilder, die Ikonen, die den orthodoxen Kirchenraum schmücken und ihm eine besondere Note verleihen. Theologisch gesehen, hängt das Traditionsprinzip, wie es heutzutage viele Orthodoxe vertreten und verteidigen, insofern eng mit den Kirchenvätern zusammen, als es dabei um das Bewusstsein geht, dass gegenwärtiges kirchliches Leben sozusagen nicht in der Luft schwebt, sondern in einem Kontinuitätsverhältnis steht zu dem, wie frühere Glaubenszeugen gelebt und gelehrt haben.20
Zweifelsohne gibt es sowohl im Katholizismus als auch im Protestantismus Menschen, die eine solche Herangehensweise an die Kirchenväter teilen bzw. immer wieder betonen, wie wichtig es ist, vom orthodoxen Umgang mit den Kirchenvätern zu lernen und ihn für eine breite Ökumene fruchtbar zu machen. Eigentlich bildete die orthodoxe Fokussierung auf die Kirchenväter im 20. Jahrhundert21 keine isolierte Erscheinung, sondern war in den größeren Zusammenhang der Wiederentdeckung des patristischen Erbes in der Ökumene im Allgemeinen und in der katholischen Theologie22 im Besonderen eingebettet.
Insofern verdanken die Orthodoxen einen beträchtlichen Teil ihres patristischen Wiedererwachens23 ökumenischen Impulsen. Dennoch kann man nicht behaupten, dass die Kirchenväter für katholische und evangelische Christinnen und Christen eine vergleichbare Präsenz wie bei den Orthodoxen genießen. Diese Intuition lässt sich am Stärksten auf der Kirchengemeindeebene bestätigen. Denn dort geschieht es – auch nach der patristischen Wende in der Theologie – äußerst selten, dass Kirchenväter erwähnt werden bzw. als Thema einer Predigt oder einer Meditation fungieren. Passiert dies ausnahmsweise, so geht es in der Regel um den Heiligen Augustinus von Hippo (354 – 430), dessen Zugehörigkeit zur Schar 2425