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Christian Schacherreiter

IM HEIZHAUS DER SOZIALEN WÄRME

Das Wartungsprotokoll des Linksliberalismus

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Für Ulli,
im Rückblick auf unseren langen Marsch
durch viele Institutionen, auch die der Ehe
.

Die Drucklegung dieses Buches

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www.omvs.at

© 2020 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

INHALT

I

VORREDE

Geschichtliches über mich und meinen Linksliberalismus

Was ich meine, wenn ich Linksliberalismus sage

Frei sein wie ein Vogel auf einem Ast mit Zentralheizung

II

IM HEIZHAUS DER SOZIALEN WÄRME

Sozialpartnerschaft zwischen Seligsprechung und Verteufelung

Weder ethisch noch pragmatisch. Zur Erosion sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik

Her mit dem Zaster der Konzerne! Aber wie?

Utopie der grenzenlosen Staatsverschuldung

„Gemeinsamer Ast“ oder Klassenkampf für das 21. Jahrhundert?

III

DIE UTOPIE DER KLASSENLOSEN KLASSE

Wir größenwahnsinnigen Achtundsechziger

Spaßschule: Linke für die rechte Gehirnhälfte

Zeitlosigkeit „konservativer“ Tugenden

Gesamtschule oder: Die Utopie der klassenlosen Klasse

„Bildung wird vererbt“

Inklusionsdogma

PISA-Didaktik, der Sündenfall linksliberaler Bildungspolitik

IV

EDEL SEI DER MENSCH, HILFREICH UND GUT

Linksliberalismus als moralische Anstalt betrachtet

Dialektischer Materialismus ist kein Moralkodex

Mythen von gestern: Der Proletarier als Welterlöser

Humanismus und Homo novus

V

WIE HAST DU’S MIT DER RELIGION?

Die Linke zwischen Antiklerikalismus und Islamfreundlichkeit

Exkurs über die Frage: Wie sozial ist „christlich-sozial“?

Die neuen Kreuzritter und mein „Kulturchristentum“

Anerkennung für Kopftuch und Scharia?

Forderungen einer liberaldemokratischen Gesellschaft an ihre Religionen

VI

GRENZEN DER WILLKOMMENSKULTUR

Das verbindliche Bereicherungsnarrativ

Migrant*nnen aller Länder, vereinigt euch!

Beschönigung und Vertuschung rächen sich

Humanismus mit Augenmaß, Zuwanderung in Grenzen

Helfen ja, aber wie?

VII

EUROPA. NATION. HEIMAT

Die EU ist kein linkes Sozialprojekt. Soll sie es werden?

Gehört der demokratische Nationalstaat auf die „Sondermülldeponie der Geschichte“?

Alte Heimatgefühle im neuen Europa

VIII

DAS GUTE UND DAS BÖSE „WIR“

Politisch korrekte „Wir“-Konstrukte: Klasse, Masse, Minderheit

Das miese und das autoaggressive „Wir“

Sind wirklich „wir“ an allem schuld? Und wenn ja, wer gehört zu „uns“?

IX

WER IST DAS VOLK UND WELCHES RECHT GEHT VON IHM AUS?

Der Sozialismus und seine „Demokratie“

Der lange Schatten der Ersten Republik

Eingrenzung der antifaschistischen Kampfzone

Demokratischer Rechtsstaat und linksliberale Moral

X

VON DER SEXUELLEN REVOLUTION BIS ZU ME-TOO

Befrei dich gefälligst! Orgasmus ist GenossInnenpflicht

Der unaufhaltsame Aufstieg des „Nebenwiderspruchs“

Progressive Lustkritik. Zur Dialektik der sexuellen

Revolution

XI

NACHREDE

Dank

Zitate und Literaturhinweise

I

VORREDE

Geschichtliches über mich und meinen Linksliberalismus – Was ich meine, wenn ich Linksliberalismus sage – Frei sein wie ein Vogel auf einem Ast mit Zentralheizung

Diesen klein und schwach gewordenen Linksliberalismus, über den ich hier schreibe, habe ich schon gekannt, als er noch groß und stark war. Selbstbewusst trat er auf und oft auch selbstgerecht. Letzteres ist er immer noch, aber sein Selbstbewusstsein ist schwer beschädigt. Die Störfälle der letzten Jahre haben ihn gekränkt und verunsichert. Und so wie viele, die durch Machtverlust unsicher geworden sind, gebärdet auch er sich trotzig und macht ein beleidigtes, zorniges Gesicht. Psychologisch ist das verständlich, realpolitisch bringt es aber nichts.

Viele Jahre war dieser Linksliberalismus auch mein Linksliberalismus, unser Linksliberalismus, denn er gehört zur kulturellen DNA meiner Generation. Ich war stolz auf ihn und vertraute ihm. Ich meinte, auf ihn könne ich mich blind verlassen, darum dachte ich mit seinem Hirn und redete mit seiner Zunge – bis dann die Krise kam. Sie kam nicht mit einem lauten Paukenschlag, nicht als plötzlicher Schock, als einmalige Katastrophe, sondern schleichend, in Etappen der Erosion.

1972 verließ ich mein politisch pränatales Innviertler Dasein und geriet als Student der Germanistik und Geschichte in Salzburg kulturgemäß unter die Linken. Bald schon wurde mir klar, dass sie die Wortführer in geisteswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen waren, junge Männer, vorwiegend Männer, die bei jedem Thema wortmächtig einfließen ließen, dass das Sein das Bewusstsein bestimme, dass Staat, Recht und Kultur nur der Überbau der ökonomischen Basis seien, dass Herrschende und Beherrschte einander in Klassenkämpfen gegenüberstünden und die Produktivkräfte an einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung in Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen gerieten. Große gesellschaftliche Umwälzungen seien die unausweichliche Folge, und die letzte Umwälzung dieser Art sei die proletarische Revolution. Sie werde zur klassenlosen Gesellschaft führen. Über den Zeitpunkt des großen Endkampfs gingen die Einschätzungen auseinander, aber ob so oder so, ob früher oder später: Die Zukunft wird dunkelrot sein. Dass die Wirklichkeit diese Gewissheit einfach ignorierte, war die erste große Kränkung.

Die Sprache der linken Studenten erreichte in meinem Fall ein politisch unschuldiges Kleinbürgergemüt, das sich danach sehnte, die Welt besser zu verstehen, zu den Klugen zu gehören und in der gelehrten Welt Anerkennung zu finden. Wollte ich diese Wünsche an das Leben erfüllt sehen, konnte ich an der Linken nicht vorbei – und vielleicht wollte ich es auch gar nicht. Ich weiß es nicht mehr. Die marxistische Geschichtsphilosophie erweckt beim unkritischen Menschen einen kräftigen Anschein von Plausibilität. Heilsgeschichtliche Erzählstrukturen wirken wahr und schön, und weil sie ein sittlich hochwertiges Ziel in Aussicht stellen, erscheinen sie auch als gut.

Mit Liberalismus hat das alles nichts zu tun. Im Gegenteil. Die Vokabel Scheißliberaler gehörte viele Jahre zum Repertoire linker Rhetorik. Scheißliberal waren nicht nur die Wirtschaftsliberalen, die ohnedies nichts anderes waren als Klassenfeinde. Scheißliberal waren vor allem jene Steigbügelhalter der Bourgeoisie, die den Klassencharakter der bürgerlichen Demokratie mit Phrasen von Freiheit, Toleranz und Parlamentarismus verschleierten. Nicht nur der wirtschaftliche Liberalismus war Teil des linken Feindbilds, der sowieso, sondern auch der gesellschaftspolitische Liberalismus.

Dass im Laufe der nächsten Jahrzehnte links und liberal begrifflich zusammenflossen, war erstens dem Umstand geschuldet, dass die Weltrevolution in Ermangelung einer aufstandsbereiten Arbeiterklasse vorerst einmal abgesagt wurde und erheblich kleinere sozialpolitische Brötchen gebacken werden mussten. Zweitens war die Jugendbewegung rund um 1968 von Anfang an ein ideologisch heterogenes Phänomen. Es gab nicht nur moskautreue Kommunisten, Maoisten, Trotzkisten sowie freikirchliche Sozialrevolutionäre ohne eindeutige Vaterbindung, sondern auch die individualistischen Antiautoritären, die fernab aller revolutionären Kader von Summerhill und Woodstock schwärmten, aus ihren Haschischwölkchen heraus John Lennon und Mick Jagger zujubelten, per Autostopp nach Indien reisten und die soziale Revolution erst dann für möglich hielten, wenn die Menschheit sexuell befreit und hinlänglich befriedigt wäre.

Diese lebensfrohen Leutchen konnten, im Gegensatz zu den tendenziell asketischen Revolutionspredigern, der gesellschaftlichen Liberalisierung sehr wohl einiges abgewinnen, auch dann, wenn diese unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen erfolgte. Und die Frauen aus dem linken Milieu setzten ohnedies neue, eigenständige Akzente, denn ihre Anliegen und Interessen wurden von den politischen Tempelwächtern der Revolte nur halbherzig berücksichtigt: Eins muss euch schon klar sein, Genossinnen, der Hauptwiderspruch ist der zwischen Kapital und Arbeit, nicht der zwischen Männern und Frauen! Solche Lehrsätze betrachteten viele Frauen als wenig hilfreich.

Unter dem Zeichen der Modernisierung fanden diese disparaten soziokulturellen Phänomene mehr oder weniger zueinander: Sozialpolitisches und Hedonistisches, Feminismus und Lebensreform, sexuelle Befreiung und pädagogische Erneuerung. Hand in Hand mit den Spielarten der Postmoderne, die in den Kulturwissenschaften diskursbestimmend wurden, formierten sich Gruppen, die auf gesellschaftliche Anerkennung pochten. Ethnische Zugehörigkeit und sexuelle Orientierung wurden zu maßgeblichen Kriterien der Selbstbehauptung in einer Gesellschaft, die nicht mehr als Klassengesellschaft kritisiert wurde, sondern als Herrschaftssystem, in dem ältere, weiße, heterosexuelle Männer zu viel Macht hatten.

In den Achtzigern überraschte uns die ökologische Wende, die Folge eines Wirtschaftswachstums, das unerwünschte Nebenwirkungen für die Umwelt hatte. Weil sich bei den Grünen in Deutschland und Österreich die sozialistischen Umweltschützer gegen die bürgerlichen durchsetzen konnten, fanden die alten Roten von 1968 und die neuen Grünen auch so einigermaßen zueinander. Die traditionellen Kernschichten der sozialistischen Parteien konnten mit biologischer Landwirtschaft, Wachstumskritik, Political Correctness und Gender Mainstreaming nicht viel anfangen. In Österreich zeigte sich der Riss zwischen junger ökologischer Bewegung auf der einen, klassischer Sozialdemokratie und Gewerkschaften auf der anderen Seite, als die Hainburger Au einem Kraftwerk weichen sollte. Dennoch setzte sich die neue ideologische und personelle Gemengelage aus Rot und Grün auf wichtigen Diskurs- und anderen Machtfeldern durch. Wenn sich vor Wahltagen zwei Linksliberale trafen, gab es auf die Frage Was wählst du? nur zwei mögliche Antworten: Rot oder Grün. Dass ich bei der oberösterreichischen Landtagswahl 2003 Josef Pühringers ÖVP wählte, bewahrte ich als frivoles Geheimnis in meinem Herzen. Ich hatte meine Gründe, aber keine Lust, mich dafür zu rechtfertigen.

Viele Arbeiter begannen aus ihrer sozialdemokratischen Heimat auszuwandern. Sie fühlten sich von Rechtspopulisten wie Jörg Haider und H.C. Strache besser verstanden. Das war ein gewaltiger Schock für die Linke, vor allem für jene, die im Anschluss an Marx die Arbeiter immer noch zur fortschrittlichsten Klasse hochstilisierten. Der österreichische Linksliberalismus, von dem ich rede, sieht sich zwar selbst als Anwalt der Schwachen – und zwar weltweit, stützt sich aber, im Unterschied zum klassischen Sozialismus, nur mehr zu einem schmalen Teil auf die sogenannten „kleinen Leute“, auf Arbeiter und Angestellte mit niedrigem Einkommen. Die meisten Rot- und Grün-Wähler, vor allem aber die Funktionsträger und Wortführer, kommen heute aus der urbanen Mittelschicht. Sie sind selbstbewusst und manche tragen ihr Weltbild mit einer gewissen Überlegenheitspose vor sich her, als müsse es jeder Mensch teilen, der nicht den Kategorien Volltrottel oder reaktionäres Arschloch angehört.

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Ich gehöre nicht zu denen, die sich in generalisierendem Achtundsechziger-Bashing ausagieren, und keinesfalls möchte ich das tragikomische Bild eines übereifrigen Konvertiten abgeben, der seine politische Zivilbiografie in Stücke reißt, um zu beweisen, dass er tatsächlich jener neue „vernünftige“ Mensch ist, den Schuldeinsicht, Reue und Buße aus ihm gemacht haben. Angesichts der nicht zu leugnenden Krise, in die mein Linksliberalismus geraten ist, erachte ich es aber als sinnvoll, über mögliche Ursachen, Irrtümer und Fehler kritisch nachzudenken. Vernunftbasierte Kritik, wie ich sie verstehe, ist der Inbegriff der Aufklärung. Eine Kritik, die diesen Ehrennamen verdient, erfordert den Verzicht auf ideologisch begründete Denktabus, erfordert genaues Prüfen des Wahrnehmbaren, rationales Argumentieren, vorsichtiges Urteilen nach dem Falsifikationsprinzip, Selbstrelativierung und Fairness im Umgang mit Andersdenkenden. Diese Tugenden sind meiner Beobachtung zufolge vielen Linksliberalen abhandengekommen, obwohl sie die Aufklärung in ihren seltsam pathetischen Sonntagsreden gerne für sich in Anspruch nehmen. Ihre vermeintlich kritischen Sätze sind aber oft nur pseudokritische Glaubenssätze, ihre Urteile lieb gewordene Vorurteile, ihre Meinungen ungeprüfte Dogmen ohne empirisches Fundament.

Seit meiner Jugend war die linksliberale Weltdeutung sehr erfolgreich, sie drang in viele Medien ein, sie wurde in den soziokulturellen Räumen, in denen ich seit Jahrzehnten arbeite, nämlich Bildung und Kultur, zum dominanten Code, zum ideologischen Fundament, das kein Zentralkomitee brauchte, um lange Zeit die Diskurshoheit im öffentlichen Leben zu behaupten. Diese Erfolgsjahre sind vorbei. Die Krise des Linksliberalismus, deren Zeugen wir heute sind, ist das Schlamassel einer Weltdeutung, die Malaise von Zeichen, Symbolen, Sprachformeln, die kraftlos, von Interpretationen, die wirkungsarm geworden sind, weil die Wirklichkeit auf ihre Weise weitergemacht hat, ohne sich um ideologische Ge- und Verbote zu kümmern.

Der Begriff Linksliberalismus in der von mir verwendeten Bedeutung bezeichnet ein weites Feld mit fließenden Grenzen. Vieles ist im Laufe der Jahrzehnte auf diesem Feld gelandet, Brauchbares, aber auch Fragwürdiges. Einiges ist nach kurzer Konjunktur wieder versunken, anderes hat seine Gestalt verändert, manches Neue ist dazugekommen; und heute bietet das weite Feld des Linksliberalismus ein Bild, das eine erfolgreiche Vergangenheit, eine ernüchternde, verunsichernde Gegenwart und eine ungewisse Zukunft zu haben scheint. Dabei war doch die Zukunft ursprünglich der Zeitraum, den die Linksliberalen für ihre Weltdeutung am entschiedensten in Anspruch nahmen. Liberale bevorzugen zwar die Gegenwart, aber die Linke denkt allemal utopisch. Fortschrittlich ist eine ihrer Lieblingsvokabeln. Erfüllen sich ihre ehrgeizigen Träume nicht, schlägt die linke Utopie dialektisch um zur Dystopie. Wenn das famose linksliberale Köpfchen seine Pläne nicht durchsetzen kann in dieser dummen, bösen Welt, dann schwindet ihm schnell alle Hoffnung; der Blick verengt sich und sieht nur noch eines: bedrohlich heraufdämmernden Faschismus.

Ein anschauliches Beispiel für diesen mentalen Zustand gab Ex-Kommunist Kurt Palm in einem Interview. Palm ist unzufrieden mit der Welt, vor allem mit der österreichischen: Eine „Woge von Rechtspopulismus und Fremdenhass hat sich über das Land ergossen.“ Schuld daran sei nicht zuletzt „das absolute Versagen der Sozialdemokratie“. Sogar aus der KPÖ musste Palm austreten, weil auch dort unter 100 Leuten 20 Idioten seien. Überhaupt, wohin man schaut: Deppen über Deppen, weltweit, grob geschätzt, vier Milliarden! Kurt Palm hat das Experiment Menschheit so gut wie aufgegeben. „Ich hätte tendenziell nichts gegen einen Riesenkometen“. So räsoniert er vor sich hin. Ehrlich jetzt? Oder soll das lustig sein? Als Vater von drei Kindern und Großvater von drei Enkelkindern kann ich nicht wirklich lachen, auch wenn ich davon ausgehen muss, dass unter meinen sechs Nachkommen laut Palm’schem Deppenkoeffizienten ohnedies drei Vollkoffer sind. Kurt Palms Vision vom Riesenkometen, der Schluss macht mit der Schlechtigkeit dieser Welt, erinnert mich an den Gott des Alten Testaments, der eine Sintflut schickte, weil ihm seine eigenen Geschöpfe in ihrer Verdorbenheit herzlich zuwider waren. Gotteskrieger und politische Fundamentalisten aller Farben haben ähnliche Vorstellungen von heiliger Reinigungsarbeit.

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Ihre historischen Wurzeln haben sowohl die Linke – fassen wir sie unter dem facettenreichen Begriff „Sozialisten“ zusammen – und der Liberalismus in der europäischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Ein Blick zurück auf die Anfänge macht die scharfen Gegensätze erkennbar. War der politische Liberalismus des 19. Jahrhunderts vor allem die Ideologie des unternehmerisch tätigen Bürgertums, das sich gesellschaftlich emanzipieren und seine ökonomischen Interessen geschützt wissen wollte, so war der Sozialismus die Emanzipationsideologie einer Arbeiterklasse, die sich im Klassenkampf mit eben diesem Besitzbürgertum sah. In seinen radikaleren Varianten, die sich auf Marx und Engels berufen konnten, forderte der Sozialismus die Enteignung der besitzenden Klasse, die Vergesellschaftung von Grund und Boden, Industrie, Handel und Gewerbe. In der Eigentumsfrage, die ja alles andere als ein Nebenschauplatz politischer Kämpfe ist, standen sich Liberalismus und radikaler Sozialismus absolut unversöhnlich gegenüber.

Dass Sozialismus und Liberalismus eines Tages in begrifflichen Synthesen wie linksliberal oder sozialliberal zueinanderfinden würden, war anfangs kaum vorstellbar. Möglich wurde es schlicht und einfach dadurch, dass Geschichte nicht immer, aber doch sehr oft unabhängig vom Willen und von der Vorstellung einzelner Hauptakteure ihren Lauf nimmt und alles Leben, vor allem das menschliche, einem Wandel ausliefert, der mit Überraschungen nicht geizt.

In Österreich hatten sowohl der wirtschaftliche als auch der gesellschaftspolitische Liberalismus von Anfang an einen schweren Stand. Mehrheitsfähig in Volksvertretungen wurde weder der eine noch der andere. Daran hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert. Die wenigen Ansätze zu liberaler Großzügigkeit im Denken und Handeln verdankten die Habsburger Monarchie und die Erste Republik hauptsächlich ihren jüdischen Großunternehmern, Wissenschaftlern und Künstlern. Wie ihnen die österreichische „Herrenrasse“ diesen Dank abgestattet hat, ist bekannt: durch Verfolgung, Enteignung, Vertreibung, Ermordung.

Da es in Österreich vor der Zweiten Republik keine größere bürgerliche Zentrumspartei gab, für die der Wertekanon des gesellschaftspolitischen Liberalismus handlungsleitend gewesen wäre, und die ÖVP erst so nach und nach ihre ständestaatlich-katholische Tradition durch ein moderneres, liberaleres und europäisch ausgerichtetes Politikverständnis ersetzte, entstand in den Sechziger- und Siebzigerjahren ein politisches Vakuum, das gefüllt werden musste. Wollte man sich von der gesellschaftlichen Entwicklung in Frankreich, Schweden, Holland und auch Deutschland (nach Konrad Adenauer) nicht abhängen, musste ein Modernisierungsprozess eingeleitet werden.

Es ist kein Zufall, dass dies ein Politiker am besten verstand, der aus dem altösterreichischen Großbürgertum stammte, Bruno Kreisky. Die Erfolgsgeschichte des Linksliberalismus ist auch mit seinem Namen verbunden. Abgesichert durch das sozialdemokratische Projekt eines paternalistischen Sozialstaats konnte man sich sogar in Österreich vorstellen, mehr Freiheit und Demokratie zu wagen. „Mindestens ein Vogel auf geheiztem Ast will er sein, ganz geschützt und frei.“ Martin Walsers Aphorismus glossiert recht gut unseren Linksliberalismus, der Freiheit und Sicherheit für alle fordert und auf die Frage, wer denn die Rechnungen für die vielen, auch ökologisch verantwortbaren Zentralheizungen bezahlen soll, eine allzu einfache Antwort gibt: Die Reichen!

II

IM HEIZHAUS DER SOZIALEN WÄRME

Sozialpartnerschaft zwischen Seligsprechung und Verteufelung – Weder ethisch noch pragmatisch. Zur Erosion sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik – Her mit dem Zaster der Konzerne! Aber wie? – Utopie der grenzenlosen Staatsverschuldung – „Gemeinsamer Ast“ oder Klassenkampf für das 21. Jahrhundert?

Als der österreichische Bundespräsident Franz Jonas im Jahr 1971 den Heiligen Vater im Vatikan besuchte, soll Papst Paul VI. Österreich eine „Isola felice“ genannt haben. In Österreich wurde daraus die Insel der Seligen, eine Formel, die stabilen sozialen Frieden durch gewaltfreien Interessenausgleich am grünen Tisch bezeichnet. Das politische Instrument, das diesen Weg friedlicher Konfliktlösung ermöglichte, war die Sozialpartnerschaft, jenes mächtige Gremium, in dem sich Wirtschaftskammer, Arbeiterkammer, Landwirtschaftskammer und ÖGB darum bemühen, zu wirtschafts- und sozialpolitischen Themen Kompromisse auszuhandeln, mit denen alle Beteiligten einigermaßen leben können. Die Bereitschaft zur Sozialpartnerschaft als Konsequenz aus den sozialen und politischen Konflikten der Zwischenkriegszeit zu interpretieren, als Lehre aus den Jahren 1933/34, ist naheliegend. So überzogen ihre Seligsprechung zu Lebzeiten auch gewesen sein mag, es gibt starke Indizien dafür, dass die Sozialpartnerschaft Österreich Vorteile gebracht hat, Arbeitgebern wie Arbeitnehmern.

Ungeachtet dessen hatte die Sozialpartnerschaft links von Arbeiterkammer und Gewerkschaft immer ein schlechtes Image. Die Klassenkampfideologen betrachteten sie als raffinierte Strategie bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft, die bei den Werktätigen die Illusion erzeugt, sie würden in einer grundsätzlich fairen Gesellschaft leben und hätten in der Arbeitgebervertretung einen Partner auf Augenhöhe. Dadurch würde das proletarische Klassenbewusstsein geschwächt, vor allem die Bereitschaft, Arbeitskämpfe zu führen. Das mag schon sein, allerdings gibt es keinen Beweis dafür, dass die arbeitenden Menschen in Ländern, in denen oft gestreikt wird, zum Beispiel in Frankreich und Spanien, daraus erkennbare Vorteile gegenüber ihren streikfaulen Klassengenossen in Österreich, Schweden und der Schweiz gezogen hätten.

Einen durch Interessenausgleich und kluge Sozialgesetze domestizierten Kapitalismus halte ich für die Wirtschaftsform, die für viele Menschen bessere Lebensverhältnisse ermöglicht. Wer sich heute noch an die Sozialutopie einer klassenlosen Gesellschaft klammert und in der Enteignung der Produktionsmittel den politischen Hebel dazu sieht, ist aus meiner Sicht ein Realitätsverweigerer, der nichts aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts lernen will. Wo immer radikale Varianten des Sozialismus an die Macht gekommen sind – Russland, Maos China, Osteuropa, Venezuela, Kuba, Kambodscha, Nordkorea –, haben sie zu Diktaturen geführt, in denen Menschenrechte mit Füßen getreten wurden, ohne dass dadurch die materielle und soziale Situation der Menschen auf Dauer besser geworden wäre. In den meisten Fällen war eher das Gegenteil der Fall. Maos irre Experimente verursachten den Hungertod von Millionen Chinesen. Kuba ist ein Armenhaus geblieben. Und Venezuela, das Land mit den größten Ölreserven der Welt, wurde von Hugo Chávez und Nicolás Maduro zielsicher gegen die Wand gefahren.

Die ambivalente, letztlich rechtfertigende Haltung vieler Achtundsechziger zu Politikern wie Castro, Mao, Chávez und Maduro ist einer verklärenden Veteranennostalgie und politischem Starrsinn geschuldet, nicht einer vernünftigen politischen Einschätzung: Erinnerst du dich noch? 1978, die Reise der Sozialistischen Jugend nach Havanna? Fidel hat gelacht und uns zugewinkt!

„Ich war übrigens zweimal in Kuba“, schrieb der 1952 geborene Peter Zakravsky, ehemaliger Mitarbeiter des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands und des Suhrkamp Verlags, im „Spectrum“, dem Feuilleton der bürgerlichen Tageszeitung „Die Presse“ und gestand offenherzig, dass er angesichts des für ihn unerträglichen Weltzustands „Sehnsucht nach ein bisschen Sozialismus“ habe. Naja, ich würde sagen, nicht nur „ein bisschen“, denn Peter Zakravsky vermisst das berauschende „Urerlebnis, auf dem Marktplatz zu stehen und mitzuerleben, wie der verhasste Herrscher enthauptet wird“. Eine „ordentliche Prise Anarchismus“ würde er seinem neuen Sozialismus beimengen, aber auch „ein Alzerl von Lenin, nicht viel mehr von Trotzki“ – und siehe da, sogar etwas von Stalin und Mao, von denen allerdings eh nur „ganz, ganz wenig“. Sehr beruhigend! Demokratische Strukturen wären zwar „nicht schlecht“, meint Zakravsky, aber „Garantien kann ich keine abgeben, denn die Konterrevolution schläft nie.“

Ich habe diese seltsame Selbstentblößung eines Achtundsechzigers dreimal gelesen, um ihn nicht falsch zu verstehen, aber ich fürchte, das ist keine selbstironische Satire, sondern genau so gemeint, wie es geschrieben worden ist. Solchen Weltverbesserern möchte ich die Zukunft nicht anvertrauen. Mich würde interessieren, wie Linksliberale reagieren würden, wenn ein rechter Nostalgiker von einer schöneren Zukunft mit einem Alzerl Mussolini, nicht viel mehr Franco und „ganz, ganz wenig“ Hitler schwärmen würde! Und sei es „nur so im Spaß“.

Die Sozialpartnerschaft erwähnt dieser unbeirrbare Sozialist mit Entzugserscheinungen zwar nicht, aber ich gehe davon aus, dass er ihr wenig abgewinnen kann, vermittelt doch die langweilige Verhandlung des Kollektivvertrags der Handelsangestellten allzu wenig von jenem „Urerlebnis“, das den echten Revolutionär durchzuckt, wenn er das blutige Haupt des verhassten Herrschers von der Guillotine purzeln sieht. „Revolution is the opium of the intellectuals“, sagte der Drehbuchautor David Sherwin. Den Handelsangestellten freilich – diese These riskiere ich – ist ein verantwortungsvoll und sachlich ausgehandelter Kollektivvertrag wichtiger als das revolutionäre Urerlebnis. Der eine oder andere Suhrkamp-Mitarbeiter sieht das offensichtlich anders.

Kritik an der Sozialpartnerschaft kam und kommt nicht nur vom linken Rand, sondern auch aus anderen politischen Lagern und aus Gründen, die überzeugender sind als die Klage der Linken über die listige Eindämmung des Klassenkampfs. Nicht zu Unrecht sahen liberale Kritiker in der Sozialpartnerschaft eine Art Nebenregierung, die maßgebliche politische Weichenstellungen vornahm, ohne dafür demokratisch legitimiert zu sein. SPÖ und ÖVP, die parteipolitischen Repräsentanten von Arbeit und Kapital, sicherten sich über das Instrument der Sozialpartnerschaft in der Republik allerlei Pfründe, teilten Posten und Einflusssphären einvernehmlich untereinander auf und installierten damit jenes Proporzsystem, das Menschen, die gewisse Funktionen in der Gesellschaft anstrebten, dazu nötigte, mehr oder weniger glückliche Inhaber eines roten oder schwarzen Parteibuchs zu werden. Aber nicht nur das, auch bei der Wohnungssuche tat man gut daran, sich für eine rote oder schwarze Wohnbaugenossenschaft zu entscheiden. Kritische Bürger bekamen den Eindruck, dass die Parteiapparate auf ihre Hegemonien deutlich mehr Energie verwendeten als auf politische Problemlösungen für eine sich rasant wandelnde Wirtschaftswelt.

Jörg Haider verdankte seinen politischen Erfolg nicht nur populistischen Hetzreden gegen alles „Fremde“, nicht nur der moralischen Entlastung alter Nazis, sondern auch seiner Kritik am österreichischen Proporzsystem. Das war für die linken Kritiker der Sozialpartnerschaft irritierend, denn die intelligenteren unter ihnen erkannten natürlich die Ähnlichkeiten ihrer „Systemkritik“ mit der von Jörg Haider. „Das Ärgerliche am Haider ist, dass er in manchem auch Recht hat“, sagte mein Freund Walter Wippersberg († 2016), ein linksliberaler Autor, der wahrlich keine Sympathien für den Rechtspopulisten aus dem Bärental hatte, der aber trotz seiner politischen Positionierung Realitäten zur Kenntnis nahm und den Aufstieg des rechten Lagers auch den Schwächen und Fehlern der Linken anlastete. Wippersbergs immer noch lesenswerter Roman „Geschichte eines lächerlichen Mannes“ hätte in der SPÖ Pflichtlektüre werden sollen, ebenso wie Josef Haslingers Roman „Das Vaterspiel“.

Bei Robert Menasse hat die Kritik an Sozialpartnerschaft und Proporz eine lange Geschichte, die sich anfangs aus der Nähe des Studenten zur trotzkistischen GRM erklären lässt, in ihrer späteren Phase aber eher liberaldemokratisch inspiriert ist. In seinem 1990 erschienenen Essay „Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik“ stellte Menasse – noch klassisch marxistisch – die Sozialpartnerschaft als moderne „kapitalistische Organisationsform“ dar, die darauf abzielt, das „dem Klassencharakter der Gesellschaft innewohnende Konfliktpotential zum ‚Klassenkampf am grünen Tisch‘ zu sublimieren und auf dem Verhandlungsweg beizulegen.“

Die Harmonisierung der Klassengegensätze durch die institutionalisierte Sozialpartnerschaft sei in Österreich zum „staatstragenden System“ geworden und durchflute die Gesellschaft. Dem marxistischen Basis-Überbau-Konstrukt folgend, interpretierte Robert Menasse auch das Überbau-Phänomen Literatur aus der Struktur der ökonomischen Basis. Er ging dabei so weit, die angeblich misslungenen frühen Romane von Gerhard Roth der Sozialpartnerschaft anzulasten: In den „Widersprüchen der sozialpartnerschaftlichen Ästhetik gefangen und sich darin verstrickend“, sei Gerhard Roth „künstlerisch“ gescheitert.

Keine zehn Jahre später, im Oktober 1999, scheiterte wirklich etwas, nämlich die Neuauflage der Großen Koalition. Der Wahlerfolg der FPÖ hatte andere Regierungsbildungen ermöglicht, und Wolfgang Schüssel hatte die Gunst der Stunde genützt. Auf die neue ÖVP-FPÖ-Regierung reagierte Robert Menasse nicht so empört wie viele andere Schriftsteller und Intellektuelle, die auch im Elitenrang der Zeitgeschichtsdeuter stehen, sondern mit der irritierenden These, dieser 3. Oktober 1999 sei ein „Glückstag für Österreich“. Ein Glückstag deshalb, weil der sozialpartnerschaftliche Proporz-Komplex endlich zerbrochen sei und Österreich zu einer „normalen“ parlamentarischen Demokratie werden könne. Man sieht, dass sich Menasses Kritik der Sozialpartnerschaft seit den Achtzigern gehalten hat. Während aber dem Essay „Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik“ noch eine marxistische Analyse zugrunde liegt, argumentierte Menasse ein Jahrzehnt später von einem liberaldemokratischen Standpunkt aus.

Alles in allem kann man resümieren, dass sich die Sozialpartnerschaft innerhalb des linken Spektrums lange Zeit keiner besonderen Wertschätzung erfreute. Umso erstaunlicher fand ich, dass sich deklarierte Linke geradezu weinerlich darüber beklagten, dass die türkis-blaue Bundesregierung (2018/19) ein neues Arbeitszeitgesetz beschloss, ohne vorher die Sozialpartner zu kontaktieren. Ich finde das zwar auch falsch, aber bei mir hat es eine gewisse Logik, denn ich bin in Fragen des Klassenkampfs eher friedfertig, bis zu einem gewissen Grad ein Kapitalversteher und folglich ein Freund fairer Konfliktlösung. Liberale Kritiker der Sozialpartnerschaft hingegen müssten, wenn sie die Denkfigur von Robert Menasse teilen, die Umgehung der Sozialpartnerschaft als Aufwertung des Parlaments würdigen, und die stramme Linke müsste sowieso aufatmen: Endlich zeigt sich die Fratze des Kapitalismus wieder mit ungeschminkter Offenheit!

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