© 2019 Hans Dieter Ludwig (Ausgabe 2)
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Autor: Hans Dieter Ludwig
Umschlaggestaltung und Fotos: Hans Dieter Ludwig
Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9 783746 0655 40
e-ISBN: 9 783746 0582 38
Danksagen möchte ich all den lieben Menschen, die mich in meinem Projekt unterstützt, aufgemuntert und immer wieder motiviert haben. An erster Stelle selbstverständlich meiner Frau, die in den beinahe sechs Jahren, in denen dieses Buch entstand, meine Launen und Selbstzweifel ertragen musste. Ich möchte mich für ihre Unterstützung und Hilfe, die sie mir in dieser Zeit zuteilwerden ließ, ganz herzlich bedanken.
Bedanken möchte ich mich aber auch bei den Menschen, die mir bei den Übersetzungen halfen. Namentlich erwähnen möchte ich Silvia Rönner, Marie Carmen Esser, Tomás Urbán Quintana und Marlene Vontz.
„Freundschaft, das ist eine Seele in zwei Körpern“
(Aristoteles)
Quod sumus, hoc eritis. Fuimos quandoque, quod estis
Was wir sind, werdet ihr sein. Was ihr seid, waren wir einst.
(Spruch auf einem römischen Grabstein)
Dieses Buch ist meinem Freund Manfred gewidmet, der am 13. November 2007 mit 59 Jahren, plötzlich und unerwartet verstarb. Für ihn - und mit ihm - ging ich diesen Weg.
Ich widme es aber auch meinen „Engeln“ auf dem Weg. Sie machten mir das Geschenk ihn so zu erleben, wie ich ihn in meinen Erinnerungen trage.
Da ist Sergio, mein erster Engel, der mir mit seinem bescheidenen Wesen, seiner Fürsorge und Freundschaft, in meiner Schwäche beistand und diesen Weg erst zu meinem Weg gemacht hat. Er gab mir meine innere Kraft zurück und öffnete für mich das Tor zum Mysterium des Camino de Santiago.
Mein zweiter Engel, Hildegard, hat tief in meine Seele geschaut und mich durch ihre Geduld und ihrem unerschütterlichen Glauben inspiriert, nach all den Dingen in mir zu suchen, die mein tägliches Leben sowohl negativ als auch positiv beeinflussen. Sie hat Fragen in mir geweckt, deren Beantwortung mein weiteres Leben sicher entscheidend verändern wird. Durch sie sehe ich heute viele Dinge anders.
Felizitas, mein dritter Engel, vermittelte mir, dass Freundlichkeit, Geduld, Hingabe, Toleranz und Nächstenliebe Grundlagen unserer Existenz sind. Durch sie erfuhr ich Geborgenheit, weil sie mich in meiner Hilflosigkeit wie selbstverständlich wahrnahm.
Mein vierter Engel war Ana. Sie hat mir am Ende des Weges gezeigt was es heißt, für andere da zu sein. Sie war die barmherzige Samariterin auf meinem Weg. Sie sah die Nöte und Qualen der Mitpilger und ließ jeden spüren, dass niemand alleine auf diesem Weg war, sondern jeder Zeit mit ihrer Hilfe, oder der Hilfe anderer, ohne Gegenleistung, rechnen durfte. Sie hat mich gelehrt, jedem Pilger Respekt zu zollen, egal welcher Intention und Anschauung er folgt.
Ich habe auf meinem Weg sehr viele liebe und nette Menschen kennengelernt. Viele davon waren mir nah, aber nur diese vier haben meine Seele tief berührt und sich unauslöschbar mit ihr verbunden. Ihnen verdanke ich ein neues Bewusstsein.
Laut – überlaut | Leise – zärtlich |
Tosend wie das Meer | Wind in reifem Korn |
Fels in einer Brandung | Nebel über Wiesen |
Zerbrechlich doch so sehr | Schnell verwehend wie dein Zorn |
Worte – Sätze | Lieder – Melodien |
Nie gestellte Fragen | Drehen sich im Reigen |
Nie gehörte Antwort | Träume die wie Walzer sind |
So vieles noch zu sagen | Verhaucht der Töne Treiben |
Stärke – Kraft | Leere – Weite |
Schultern um sich anzulehnen | Gedanken schweifen |
Sicherheit zu jeder Zeit | Über unser Leben fort |
Werd´ mich danach sehnen | Können nicht begreifen |
Stille – Trauer | Seufzen – schreien |
Dein Bild verweilt in mir | Tränen die nicht enden wollen |
Klar wie ein Wintermorgen | Füllen dir das bitt´re Glas |
Warum bist du nicht hier | Ehre wir dir zollen |
Mein Freund – mein Bruder
Ich trage dich in meinem Herzen
Und für alle Zeit
In meine Seele eingraviert
(Hans Dieter Ludwig 14. Nov. 2007)
Der ockerfarbene Sarg füllte fast die gesamte Apsis der kleinen Kapelle. Nur mit seinem Ende ragte er ein wenig in den Versammlungsraum hinein. Dem Betrachter präsentierte er sich diagonal zur
Fluchtlinie des Gebetshauses. Seine Füße standen in einer Art Seidenstoff, der, farblich abgestimmt mit der Farbe des Sarges, ihn gleichsam schweben ließ. Es wollte so scheinen, als ob diese Eigenschaft der Leichtigkeit, die Manfred zu Lebtagen nicht sein eigen nennen konnte, ihm nun zuletzt noch verliehen wurde, um diesen letzten irdischen Weg ohne Mühe gehen zu können. Auf dem Deckel des Sarges waren Steine so gelegt, dass sie einen Weg zeigten, der mäandernd durch eine imaginäre Landschaft führte. Auf diesem „Lebensweg“ standen Glasbecher, gefüllt mit je einer roten Rose, die sinnbildlich für die Menschen im Leben Manfreds standen, die ihm am Nächsten waren. Seine Mutter, seine Ehefrau, seine beiden Kinder und seine Enkel. Teelichte in kleinen Glasnäpfen säumten diesen Weg und standen stellvertretend für alle Bekannten und Freunde.
Manfreds Leben war bodenständig, realitätsnah und ohne große Kompromisse. Ich stand vor seiner Totenlade und konnte nicht glauben, dass er sich auf diese perfide Art einfach aus dem Staub gemacht hatte. Für mich vollkommen unerwartet, schlich er sich davon und gab mir keine Chance an die Gewöhnung des Gedankens, dass er uns in kurzer Zeit verlassen würde. Tränen der Trauer aber auch der Wut liefen über mein Gesicht. Meine Hand berührte das Holz der Kiste und ich spürte nur die glatte Oberfläche des Lackes, kalt und unpersönlich. Aber was hatte ich anders erwartet? Das unbeschreibliche Gefühl einer Umarmung? Mir fehlten die letzten Worte, das letzte Lebwohl, eine letzte Berührung mit diesem Menschen, der mein Freund war.
Kurz bevor ich die Kapelle betrat, hatte ich Gelegenheit, mit Renate, Manfreds Frau und seiner Mutter zu sprechen. Beide waren so gefasst, dass ich unwillkürlich darüber nachdenken musste, wie sehr die Konfrontation mit dem Tod und die daraus resultierenden Aufgaben von dem Ereignis selbst ablenkten. Aus der Trauer wurde für kurze Zeit eine Sache, die erledigt werden musste. Sicher war es gut, in dieser Beschäftigung eine Zerstreuung zu finden; ein gewisser Selbstschutz, der einen dazu befähigt, einfach nur zu funktionieren.
Während des Gespräches mit den beiden erfuhr ich, dass kein Priester, sondern ein Diakon, der ein guter Bekannter von Manfred war, die Gedenkfeier begleiten würde. Manfred hegte im Grunde seiner Seele schon immer eine gewisse Aversion gegenüber dem Klerus und doch bestimmte er zumindest diesen Diakon zu seinem Vertrauten. Ich erfuhr, dass er sogar die Musik, die während seiner Abschiedsfeier gespielt werden sollte, festgelegt hatte. Von all dem wusste ich nichts. Kannte ich diesen Menschen überhaupt?
In den vergangenen beiden Nächten waren mir immer wieder Verse durch den Kopf gegangen, die die Wesensart meines Freundes beschrieben. Ich hatte sie zu Papier gebracht, um sie als eine letzte Hommage an meinen Freund während der Trauerfreier vorzulesen. Doch in dem Zustand tiefer Trauer, in dem ich mich jetzt befand, musste jeder Versuch scheitern, die Worte über meine Lippen zu bringen. Fortgespült von Tränen würden die Worte ungehört verhallen. Ich bat den Diakon, die Verse statt meiner zu verlesen.
Nur die Familie, die engsten Freunde und Bekannte - so der Wunsch Manfreds - nahmen an der Trauerfeier teil. Musik von Dizzy Gillespie, Manfreds Lieblingsinterpreten, erklang. Der Klang der Trompete schien die Trauer in sich zu tragen – ja mehr noch, sie verstärkte sie in einer Art und Weise, wie sie kein gesprochenes Wort auszudrücken im Stande gewesen wäre. In seiner Rede ließ der Diakon das Leben meines Freundes wie in einem Film ablaufen. Er sprach von seiner Liebe, seinen Ängsten und Hoffnungen, von seinen Freuden und Bedenken, von der Zwiespältigkeit zwischen dem göttlichen und weltlichen, die in seinem Inneren tobte; über die Zerrissenheit seiner Seele, die nicht zur Ruhe kommen wollte. All dies zu hören, offenbarte einen neuen Menschen in mir und wieder fragte ich mich, wer war dieser Mann, der mein Freund war?
Er las meine Verse in einer Art und Weise, die ich so nicht zu Stande gebracht hätte und doch fühlte ich, dass ich mit meinen Worten dem Wesen meines Freundes nicht gerecht wurde. Vielleicht waren es die Empfindungen beim Schreiben der Verse, die nahe an das heranreichten, was ich eigentlich sagen wollte.
Das Entzünden eines der Teelichte auf seinem Sarkophag war für mich der letzte Dienst an diesem Menschen, dessen Licht in mir immer leuchten wird. Er war und ist mein Freund.
Eine Woche nach der Verabschiedung wurde der Leichnam meines Freundes eingeäschert - jedoch nicht bestattet. Seine letzte Ruhestätte, so der Wunsch der Familie, sollte er erst dann finden, wenn feststand, wohin der Weg des Lebens seine Hinterbliebenen letztendlich führen würde. Solange sollte er in seiner Urne an einem angemessenen Platz ruhen.
Diesem Umstand hatte ich eine Zeit lang keine Beachtung geschenkt bis ich merkte, dass ich meinen Freund gerne besucht hätte. Doch es gab keinen Ort, an dem ich mit ihm hätte sprechen können; keinen Platz, zu dem ich meine Trauer tragen konnte.
Seit Anfang der achtziger Jahre träumte ich davon, den Jakobsweg zu gehen. Dieser Traum hat sich in mein Denken eingegraben und mich nicht mehr losgelassen. Ich habe mit Begeisterung Bücher von Menschen gelesen, die diesen Weg gegangen sind. Alle haben ihre ganz persönliche Erfahrung auf ihrer Reise gemacht. Sie beschreiben den Jakobsweg, den Camino, wie er unter Jakobspilgern genannt wird, auf die unterschiedlichste Weise. Es gibt Berichterstatter, die den Weg durch all seine landschaftlichen Schönheiten und Besonderheiten aufregend finden; es gibt Schriftsteller, die ihre spirituelle Erfahrung auf diesem Weg verkünden und es gibt Geschichtsbesessene, die den Weg aus der Sicht des Historikers betrachten; dann gibt es noch Erzähler, die den Camino als sportliche Herausforderung ansehen. Alle haben eines gemein - die Begeisterung für diesen Weg, dem Camino de Santiago.
Dass mein Traum, den Camino zu gehen, Wirklichkeit wurde, verdanke ich einem der traurigsten Abschnitte meines Lebens. Dabei fing alles so hoffnungsvoll an; ein Urlaub zusammen mit meinem Freund Manfred, der uns auf den Spuren der Pilger nach Santiago de Compostela führen sollte. Wir beabsichtigten, den Jakobsweg mit dem Wohnmobil zu „erfahren“. Es war zwar nicht genau das, was ich mir immer vorgestellt hatte, versprach aber eine spannende Sache zu werden. Über den Camino via Colonensis bis nach Trier und weiter über Le Puy en Velay nach Saint-Jean-Pied-de-Port. Von dort aus über den Camino Francés nach Santiago de Compostela und weiter ans „Ende der Erde“, zum Kap Finisterre. Die Rückreise sollte über den Camino del Northe mit seinen Städten A-Coruña, Oviedo, Santander, Bilbao, San Sebastian, Irun und weiter durch Frankreich und Belgien über die „Niederstraße“ zurück in die Heimat führen. Aber wie das so ist im Leben – von einem Augenblick auf den anderen ist nichts mehr wie es war. Manfred verstarb noch im gleichen Jahr, am 13. Nov. 2007, mit 59 Jahren plötzlich und für mich vollkommen unerwartet, an einem Herzinfarkt. Sein Tod erschütterte mich so tief, dass in mir ein Trauma ausgelöst wurde, das mich lähmte und in eine Depression fallen ließ. Wie in einer Zwangsneurose fasste ich den Entschluss - für meinen Freund - im darauf folgenden Jahr den spanischen Jakobsweg, zusammen mit meiner Ehefrau, zu Fuß zu bewältigen. Die Credenciale besorgten wir uns bei der St. Jakobus-Gesellschaft e.V. Aachen und ließen von unserem Pfarrer den ersten Stempel auf das noch jungfräuliche Papier drücken. Dieser gab uns noch ein Empfehlungsschreiben der Pfarre Sankt Cäcila Niederzier mit, in dem der mutmaßliche Leser gebeten wurde, uns in jeder nur denkbaren Lage, im Namen von Jesus Christus, zu helfen und zu unterstützen.
Kurz vor dem Start der Pilgerreise, machte meine Frau einen Rückzieher auf Grund eines Bestsellers über den Jakobsweg, den sie gelesen hatte, in dem die hygienischen Verhältnisse in den spanischen Herbergen als „unzumutbar“ beschrieben wurden. Nun stand ich alleine da. Irgendwie kam ich auch nicht mehr aus dieser Geschichte heraus, denn ich hatte allen möglichen Leuten erzählt, dass ich den Jakobsweg gehe. Ich wollte nicht als Aufschneider dastehen und somit ergab es sich von selbst, dass ich mich alleine auf den Weg machen musste.
Ohne große Vorbereitung darauf (die neuen Wanderschuhe hatte ich bei drei oder vier Testwanderungen von jeweils zwanzig bis fünfundzwanzig Kilometern ausprobiert und für gut befunden), machte ich mich am 04. Juni 2008 auf den Weg. Am Tag meiner Abreise kamen Michaela, meine Tochter und Jona, meine Enkelin, um mir eine gute Reise zu wünschen. Ich hatte Jona gebeten, mir einen Stein bunt anzumalen, den ich dann am Cruz de Ferro ablegen wollte. Etwas verlegen gestand sie mir, dass sie das leider vergessen habe und stattdessen ein kleines Plüschtier aus ihrem Fundus ausgesucht hätte, damit ich dieses, statt des Steines, dort ablegen könne. Ich fand den Gedanken nett und packte den kleinen Hasen, zusammen mit einigen Kabelbindern, in die Deckeltasche meines Rucksackes. Meine Tochter steckte mir noch einen Umschlag zu mit der Bitte, den Brief erst dann zu öffnen, wenn ich auf dem Camino wäre. Dann verabschiedete ich mich von meiner Familie.
Als ich im Zug zum Flughafen saß, wurde mir mit einem mal klar, dass ich eigentlich überhaupt keine Vorstellung hatte, was auf mich zukommen würde; hätte ich es gewusst, hätte ich wahrscheinlich meinen Entschluss, den Camino zu gehen, zurückgenommen.
Doch nun nahm das Abenteuer, so wie ich es auf den folgenden Seiten beschrieben habe, seinen Lauf.
Die Stadt liegt wie eine fremde Welt vor mir. Auf den Plätzen, auf denen ich noch vor wenigen Tagen mit mir bekannten Gesichtern gelacht und geweint habe; in den Gassen, in denen sich mir vertraute Menschen vor Freude in den Armen lagen, ist es leer geworden; nicht von Menschen, sondern von Nahestehendem, schon Gesehenem. Ich bin ein Fremdkörper in dieser Zeit. All die Menschen, die jetzt in dieser Stadt weilen, gehören nicht mehr zu meinem Weg. Sie bilden eine andere, mir nicht zugängliche Welt. Das Einzige, was uns noch eint, ist der Camino, dieser Weg, der uns alle an diesen Ort geführt hat; auf den wir uns eingelassen haben und der uns getragen hat, hin bis nach Santiago de Compostela, zum heiligen Apostel Jakobus. Ich gehe wehmütig durch die Straßen und erkenne all die Orte wieder, an denen Ana und ich noch vor wenigen Tagen saßen, Kaffee tranken, dem Treiben um uns herum zusahen und der Musik lauschten. Die Ausgelassenheit des ersten Tages, mit der wir durch die Stadt zogen, lässt sich nicht mehr zurück bringen. Der Wind, der durch die Straßen weht, hat den Zauber jenes Tages mit sich fort getragen, um ihn in der Weite des zurückliegenden Weges wie ein Füllhorn auf all die anderen Pilger auszugießen, die die Begegnung mit dieser Stadt und ihrem Heiligen noch vor sich haben. Ich gehöre schon nicht mehr hier hin!
Gut ausgerüstet mache ich mich spät nachmittags auf den Weg, das Abenteuer „Jakobsweg“ zu beginnen, ohne zu wissen, auf was ich mich da einlasse. Ich habe mich für den aragonesischen Weg entschieden, wobei ich bis heute nicht sagen kann, warum. Wahrscheinlich deshalb, weil ich gelesen hatte, dass nur wenige Pilger diesen Weg wählen.
Das Flugzeug, das mich nach Pau, einer französischen Stadt in der Nähe der spanischen Grenze bringen soll, startet in Brüssel Charleroi. Mit der Bahn erreiche ich den Flughafen in Brüssel gegen 23:00 Uhr des 4. Juni 2008. Das Flughafengebäude ist beinahe leer, nur wenige Reisende halten sich in der Abflughalle auf. Ich suche mir ein ruhiges Plätzchen, an dem ich die Nacht möglichst ungestört verbringen kann. Die Maschine startet erst am nächsten Morgen um 8:45 Uhr - ich habe also viel Zeit.
Nach einem unruhigen Dahindösen auf einer Bank, entschließe ich mich etwa gegen 4:30 Uhr, nach meinem Abflugschalter zu forschen. Ich durchsuche den gesamten Terminal systematisch und weiß jetzt, wie viele Getränkeautomaten in der Halle stehen, nicht aber, wo ich in wenigen Stunden einchecken soll, denn den Namen meiner Fluggesellschaft kann ich nirgendwo entdecken.
Gegen 5:30 Uhr erwacht der Airport zum Leben. Die ersten Angestellten der verschiedenen Fluggesellschaften, hauptsächlich Frauen, eilen vom Eingang her in die Halle und begeben sich zu ihren Arbeitsplätzen. Eine dieser netten Damen in Uniform spreche ich an und frage sie, wo ich den Abfertigungsschalter meiner Fluggesellschaft finde. Sie spricht erwartungsgemäß nur französisch, hat aber zumindest den Namen der Gesellschaft verstanden, mit der ich fliegen möchte. Das Einzige, was ich aus ihrer Antwort schließen kann ist, das die Maschine dieser Airline nicht von diesem Flugplatz aus startet, sondern vom Aéroport de Charleroi Bruxelles, auf dem ich mich wähne. Es fällt mir wie Schuppen von den Augen und es wird mir schlagartig klar, dass der Flugplatz, auf dem ich stehe, auf keinen Fall „Brüssel Charleroi“ ist. Mit einem Mal sehe ich überall die großen Aufschriften an den Wänden der Halle:
„Aéroport Bruxelles National“!
Die Erkenntnis, dass es zwei Flugplätze in Brüssel gibt, trifft mich wie eine Offenbarung!
Kurze Zeit später wird mir dies von einem netten Herrn, der relativ gut englisch spricht, noch einmal bestätigt. Er erklärt mir, dass der Airport Charleroi etwa 60 Km weit von Brüssel entfernt liegt, irgendwo im Nirwana des belgischen Hinterlandes.
Mein Blutdruck erreicht langsam aber sicher beängstigende Werte.
„Wie komme ich jetzt zum richtigen Flugplatz?“ denke ich.
Ich begebe mich auf die Tiefebene, von der aus ich die Abflughalle betreten habe.
„Welche Bahn verlässt den Flugplatz denn in Richtung – ja in welche Richtung denn? Da sind die Bahnhöfe Brüssel Süd und Brüssel Nord! Welcher davon liegt zentraler? Von welchem Bahnhof geht ein Zubringer zum Aéroport de Charleroi Brussels South? Vor allen Dingen – Wann fährt der nächste Zug in eine dieser Richtungen?“
Nach dem Studium des Fahrplanes steht fest, der erste Zug, der überhaupt den Flugplatz verlässt, fährt nicht vor 7:00 Uhr nach Brüssel Süd! Die Fahrt vom Flugplatz Brüssel National zu diesem Bahnhof dauert nicht länger als 13 Minuten; das sind nur drei Stationen bis dorthin. Um 8:45 Uhr geht der Flieger in Richtung Pau – ich habe also ungefähr eineinhalb Stunden Zeit, den richtigen Flugplatz zeitgerecht zu erreichen.
Die Wartezeit bis zur Einfahrt des ersten Zuges kommt mir endlos vor, doch pünktlich um 7:00 Uhr bewegt sich der Triebwagen tatsächlich in Richtung Brüssel Süd.
Ich spreche einen, mir gegenübersitzenden, Mann an und frage ihn ob er weiß, wie ich nach Charleroi komme. Wieder einmal habe ich Glück, denn er antwortet in einem sehr guten Deutsch, dass auch er zu diesem Flugplatz unterwegs ist. Es fällt mir ein großer Stein vom Herzen und langsam beruhige ich mich ein wenig. In Brüssel Süd wechseln wir den Zug, der uns direkt in die Nähe des Flugplatzes bringt. Nach dem Verlassen des Bahnhofes in Charleroi fordert mich mein Retter aus der Not auf, ihm zur Bushaltestelle zu folgen, von der aus der Shuttlebus zum Flugplatz abfährt.
Während der Busfahrt unterhalten wir uns ein wenig. Dabei erfahre ich, dass er aus Italien kommt und schon auf dem Camino unterwegs war. In meinem Kopf formen sich tausend Fragen, aber bevor ich auch nur eine davon artikulieren kann, ist unser Ziel bereits erreicht. Nach einem letzten Dankeschön trennen sich unsere Wege.
Um 7:55 Uhr stehe ich vor dem Schalter der Fluggesellschaft, die mich nach Pau bringen wird. Das Einchecken ist nur eine Formsache und gestaltet sich problemlos.
„Wenn das so weitergeht!“ - ich will lieber nicht weiter darüber nachdenken.
Nach einem ruhigen Flug erreiche ich mein erstes Ziel ohne weitere Zwischenfälle.
In Pau nehme ich ein Taxi vom Flughafen zum Bahnhof, um von dort aus mit der SNCF, der „Société Nationale des Chemins de fer Français“, weiter nach Oloron Ste Marie zu fahren, meinem Ausgangspunkt zum Somport-Pass. Am Schalter verkauft mir eine freundliche Dame das Billette für diese Fahrt und macht mich darauf aufmerksam, dass der Zug in zwei Minuten den Bahnhof verlassen wird. Ich mache auf dem Absatz kehrt und renne in Panik mit meinem Rucksack los. Die Nummer des Bahnsteiges, die mir die Schalterbeamtin hinterher ruft, kann ich gottlob noch hören, bevor ich wieder die Bahnhofsvorhalle erreiche. Ich rase so schnell ich kann durch die Halle, stürme in halsbrecherischem Tempo eine Treppe hinunter, passiere eine Unterführung und spurte am anderen Ende die nächste Treppe wieder hinauf zur Plattform. Ich habe wieder Glück, denn der Zug steht noch auf dem Bahnsteig, so, - als hätte er auf mich gewartet. Noch im Laufen rufe ich fragend zwei Schaffnern zu:
„Treno di Oloron?“
Einer der Schaffner grinst, nickt mir zu und zeigt auf den wartenden Zug. Ich steige in den nächsten Wagon und setze mich auf die erstbeste Sitzbank. „Also italienischen Kauderwelsch sprechen die Schaffner auch!“ denke ich und ich bin etwas amüsiert, in Frankreich italienisch zu sprechen; eine Sprache, die ich genauso gut wie russisch spreche – nämlich gar nicht.
Der Zug setzt sich in Bewegung und verlässt Pau in Richtung Oloron Ste Marie. Ich schnaufe tief durch, aber meine Aufregung lässt sich dadurch nicht richtig abschütteln. Innerlich bin ich so aufgewühlt, dass ich nicht einmal die Landschaft wahrnehme, durch die der Zug fährt. Erst als ich Oloron erreiche, macht sich in mir so etwas wie Entspannung breit. Ich habe mein Ziel erreicht und verlasse den Bahnhof.
Ein älterer Herr mit Rucksack steht an der Bushaltestelle auf dem Bahnhofsvorplatz und wartet offensichtlich auf einen Bus. Der Mann ist nicht sonderlich groß, hat eine sportliche, ja ich würde schon fast behaupten, drahtige Figur und macht einen sehr durchtrainierten Eindruck auf mich. Er hat kurze, hellgraue Haare und als er sich mir zuwendet, schaue ich in wache, funkelnde Augen. Ich gehe auf ihn zu und frage knapp:
„Santiago de Compostela?“
Die Antwort kommt umgehend:
„Si -, Si Si!“
Aufgrund des Sprachklanges ist mir sofort klar – ich habe schon wieder einen Italiener vor mir. Leider sind meine nicht vorhandenen Sprachkenntnisse ein Hindernis, die begonnene Unterhaltung fortzusetzen. Wir warten also gemeinsam und schweigend auf den Bus zum Somport-Pass.
Nach etwa zehn oder fünfzehn Minuten fährt der Bus vor, wir steigen ein und nehmen nebeneinander Platz. Sergio, so stellt er sich vor, redet schon unmittelbar nach der Abfahrt des Busses munter drauf los und ich habe Mühe zu verstehen, was er mir sagen will. Nach einer kurzen Zeit beginne ich, dank seiner gestenreichen Sprache, langsam einige Dinge, die er mir zu erklären versucht, zu verstehen. Die Kommunikation kommt in Gang und schon nach kurzer Zeit der Eingewöhnung klappt sie sogar famos. Ich verstehe zum Beispiel, dass er 72 Jahre alt ist; dass er aus Mailand kommt; dass es sein achter Camino ist und dass er davon zweimal von Milano aus losgegangen ist. Nicht nur das! Nachdem er Santiago erreicht hatte, ging er den Weg auch wieder nach Hause zurück.
Je länger er erzählt, umso kleiner und unscheinbarer fühle ich mich. Bisher war ich der Meinung, dass das, was ich vorhabe, eine große Sache sei. Angesichts solcher Leistungen, die Sergio mir in seiner faszinierenden Sprache darbietet, formt sich in meinem Kopf ein Bild, das ihn auf ein Postament hebt, zu dem ich, will ich in seine Augen schauen, plötzlich meinen Kopf heben muss. Schon seltsam, wie sich die Sicht der Dinge verkehrt.
Bereits nach kurzer Zeit macht sich eine große Sympathie zwischen uns breit, die mein Innerstes seltsam vertraut berührt. Es ist so, als würden wir uns schon lange kennen und hier und heute den gemeinsamen Weg wieder beginnen; würden dort anknüpfen, wo unsere Gedanken den letzten Dialog beendet haben, um ihn gleichsam wieder aufzunehmen und zu vertiefen.
Mein Blick hängt jetzt auch hin und wieder an dieser Landschaft fest, durch die unser Bus fährt. Grüne frische Wiesen, bunte Blumen, Wälder an Bergflanken, wunderschöne Dörfer auf dem Weg. Sie erinnern mich sehr an die Bergdörfer der Alpen, die ich mit meinen Freunden, bei unseren Bergtouren im Herbst eines jeden Jahres, durchwanderte. Leider schon lange Vergangenheit; vorbei die Ausflüge in eine andere Welt.
„Wie wird es auf dem Weg nach Santiago sein?“
„Was hält dieser Weg für mich bereit?“
Dass der Mann, der jetzt in diesem Bus neben mir sitzt, so oft schon den Camino de Santiago gegangen ist, lässt mich annehmen, dass dieser Weg etwas ganz Besonderes sein muss.
„Ich lasse mich überraschen“ denke ich und schaue hoffnungsvoll in die Landschaft, durch die wir uns bewegen.
Nach einer guten Stunde erreichen wir den Somport-Pass. Wolkenverhangen präsentiert er sich eher abweisend. Trotzdem ist es ein unbeschreibbares Gefühl, das mich in diesem Moment erfasst. Ich stehe wahrhaftig auf diesem Weg, von dem ich schon so lange fasziniert bin. Direkt auf dem Pass erhebt sich, zentral gelegen an einem Straßenknoten, die Albergue Aysa. Von der Haltestelle aus bedarf es nur weniger Schritte, das Gebäude zu erreichen. Wir betreten den Gastraum und begeben uns an den Tresen. Sergio ordert für uns zwei Betten. Die Übernachtung kostet inklusive Frühstück 17,00 €. Die Hospitalera zeigt uns den Raum im Keller, in dem wir übernachten werden. Drei doppelstöckige Stahlgestell-Betten drängen sich in einem engen Raum. Der Duschraum befindet sich auf dem Flur und ist ebenfalls winzig.
Wir bereiten unsere Betten für die Nacht vor und duschen. Frei vom Reisestaub betreten wir kurze Zeit später wieder die Gaststube und setzen uns ans Fenster. Der Blick nach draußen ist durch den Nebel stark eingeschränkt, nur ab und zu öffnet sich die Nebelwand und gibt den Blick auf die um uns herum liegenden Gipfel der Pyrenäen frei. Sie sind teilweise noch vom Schnee bedeckt. Eine futuristisch aussehende Pilgerfigur aus Stahl, wird auf einer Anhöhe sichtbar, verschwindet aber immer wieder im Dunst wie ein Schemen.
Nach einem guten Essen machen wir es uns im Gastraum bequem. Das ist jetzt genau der Moment, an dem ich einen Vorsatz verwirklichen will. Ich werfe meine fast volle Packung Zigaretten in den Mülleimer. Auf dem Camino will ich mir das Rauchen abgewöhnen und bis Santiago keinen Tropfen Alkohol trinken. Das Letztere wird mir leicht fallen, denn ich konsumiere, wenn überhaupt, vielleicht zwei- oder dreimal im Jahr ein alkoholisches Getränk.
Sergio redet mit einem Spanier namens Ramón. Er ist mit seinem Schwiegersohn Ernesto unterwegs. Es ist erstaunlich, wie gut Italiener und Spanier sich verständlich miteinander unterhalten können. Man merkt die gemeinsame Sprachfamilie. Leider kann ich mich nicht an dem Gespräch beteiligen, denn keiner der Beiden spricht englisch oder gar deutsch. Ab und zu fallen in der Unterhaltung Worte, die ich mit Hilfe meines Sprachführers übersetzen kann. Ramón wird der „Profesor“ genannt. Ich vermute mal, dass er Lehrer ist. Er ist mit seinen 74 Jahren sogar noch älter als Sergio und genauso drahtig.
Insgesamt sind jetzt in der Herberge sechs Peregrinos, so werden die Santiagopilger genannt. Drei Italiener, zwei Spanier und ich. Dass nur so wenige Pilger den Weg hier beginnen, erstaunt mich nun doch etwas. In meiner Vorstellung habe ich eine voll besetzte Herberge erwartet. Aber von welcher Vorstellung spreche ich eigentlich? Was weiß ich überhaupt über diesen Weg und seinen Pilgern? Fast nichts! Lesen ist eine Sache, das wirkliche Leben schreibt seine eigenen Geschichten.
Eine kleine, weiß getünchte Grotte, die etwas oberhalb der Straße auf einem Felsplateau steht, war mir bereits bei der Ankunft auf dem Pass aufgefallen. Ich nutze die Helligkeit des Tages noch aus, mir die Grotte ein wenig näher anzusehen. Sie besteht aus einem nach hinten halbrund geschlossenen Spitzbogen, der mit einem roten Santiagokreuz geschmückt ist. An der Rückseite des Innenraumes befindet sich eine halbhohe Stele, auf der eine Figur der Gottesmutter mit dem Kind steht. Ein kleiner Altar davor schafft Raum für einen gebührenden Abstand zur Stele.
Ich stehe vor der kleinen Kapelle und fröstele ein wenig. Der Nebel durchnässt meine Haare und hinterlässt auf meiner Regenjacke kleine Wassertropfen. Der Wind weht kalt von den Gipfeln der Pyrenäen her. Ich denke an Manfred und höre seine Stimme in mir. So vertraut und doch so weit weg. Meine Tränen vermischen sich mit der Feuchtigkeit des Nebels, der mich und meine Traurigkeit wie ein Mantel einhüllt.
Langsam wird es dunkel. Das Licht der Straßenlaternen wird vom Nebel fast verschluckt. Irgendwo dort draußen beginnt der Camino de Santiago. Ich kann es kaum erwarten, den ersten Schritt auf diesem Weg zu machen. Santiago ich komme!
Freitag 6. Juni 2008
Meine erste Nacht auf dem Camino ist lang; sie will nicht enden! Ich finde keinen Schlaf. Ständig muss ich an den kommenden Morgen denken. Ich bin aufgeregt wie ein Schuljunge, der zum ersten Mal in einem Zeltlager übernachten soll. Mitten in der Nacht wäre ich am liebsten aufgestanden, um endlich meinen Weg zu beginnen. Man nennt das wohl Übermotivation. Noch etwas erfahre ich in dieser ersten Nacht - quietschende Betten und schnarchende Pilger. Ein Vorgeschmack auf Kommendes.
Ein übergroßer Stein fällt mir vom Herzen, als Sergio die Nacht für beendet erklärt. Der Rucksack ist schnell gepackt. Nach einem kargen, aber ausreichendem Frühstück, bestehend aus Tostados (getoastetes, eher geröstetes Roggenmischbrot) und Marmelade, verlassen wir, das heißt Ramón, Ernesto, Sergio und ich die Herberge.
Es ist kalt an diesem Morgen. Der Nebel hängt immer noch an den Flanken der Berge wie eine weiche Daunendecke. Es nieselt leicht. Nach Anraten der Hospitalera sollen wir nicht dem Originalweg folgen, weil dieser durch die Regenfälle der letzten Tage stellenweise knöcheltief unter Wasser steht. Wir benutzen also die Straße und machen uns auf den Weg nach Canfranc-Estación, dem ersten Ort auf meiner Pilgerfahrt. Ich bin ein wenig enttäuscht, freue mich aber trotzdem über die ersten Schritte auf dem Camino. Mir wird bewusst dass mein sehnlichster Wunsch, einmal diese Pilgerfahrt anzutreten, nun Wirklichkeit geworden ist. Bei dem Gedanken läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken und ich habe Tränen in den Augen. Es ist ein starkes Gefühl, auf meinem Weg zu sein.
Die Freude währt nicht lange. Schon nach 500 Metern reißt der Gürtel, an dem mein Fotoapparat und meine Trinkflasche befestigt sind. Die Schnalle des Gürtels zerlegt sich in ihre Einzelteile und ist nicht mehr zu gebrauchen. Durch meinen erzwungenen Aufenthalt verliere ich natürlich Sergio, Ramón und Ernesto schnell aus den Augen. Hecktisch packe ich meine Habseligkeiten zuerst einmal in meinen Rucksack und folge ihnen auf der N330 beinahe im Laufschritt.
Die drei vor mir schlagen ein Tempo an, als warte irgendwo ein Pokal auf den Sieger. Nach etwa ein oder zwei Kilometern beginnen meine Füße zu brennen. Das Gewicht des Rucksacks (immerhin satte 17 Kg) und das schnelle Gehen auf dem harten, abschüssigen Asphalt, behagt meinen Füssen überhaupt nicht. Ich bin schon jetzt leicht genervt. Endlich habe ich die drei eingeholt.
Doch es dauert gar nicht lange, da beschleunigen Ramón und Ernesto das Tempo noch mehr und sie setzen sich langsam, aber sicher von uns ab. Sergio macht keine Anstalten, den beiden zu folgen. Im Gegenteil, er verlangsamt sogar seinen Schritt ein wenig. Das gemäßigte Tempo kommt mir entgegen, denn meine Füße stehen kurz vor der Kapitulation.
Wir erreichen Canfranc-Estación. Der dort im Reiseführer angekündigte, gigantische Bahnhof aus dem Jahr 1928, der im klassizistischen Stil errichtet sein soll, bleibt uns beiden verborgen. Er ist vollkommen in ein Gerüst gepackt, welches zusätzlich mit einem undurchsichtigen Netz abgedeckt ist. Mein Frust wächst, meine Schmerzen an den Füßen auch. So habe ich mir den Weg nicht vorgestellt. Ich erinnere mich daran, in Brüssel bereits tief in meinem Inneren bedauert zu haben, Hildegard, meine Frau, mit all den Auswirkungen der durch ein Unwetter hervorgerufenen Überflutung unseres Kellers, alleingelassen zu haben. Am liebsten wäre ich nach Hause gefahren. Das war gestern. Heute ist ein neuer Tag. Ich verdränge das Vergangene und schaue weit nach vorn.
Hinter Canfranc-Estación verlassen wir die Straße und folgen einem Naturpfad, der von Buchsbaumhecken gesäumt ist. Über uns schließt das dichte Laub von Erlen den Raum, so dass der Eindruck eines grünen Tunnels entsteht, durch den wir wandern. Rechts des Weges höre ich das Glucksen und Gurgeln des Rio Aragón, der hier oben in den Pyrenäen eher noch ein Bach, als ein Fluss ist. Von ihm leitet sich der Name der spanischen Provinz ab, durch die wir jetzt gehen.
In glorreichen Zeiten des Mittelalters, erbte der Sohn Sanchos III., Ramiro I., Aragón. Damit wurde ab 1035 Aragón zum selbstständigen Königreich. Von hier aus wurden schon zu dieser Zeit erbitterte Kämpfe mit den Mauren ausgefochten, die fast ganz Spanien besetzt hielten. Im Jahr 1118 eroberte Alfons I. Saragossa und erhob es zur Hauptstadt Aragóns. Noch heute ist diese Stadt Verwaltungssitz der Provinz.
Nach etwa eineinhalb Kilometern öffnet sich der Laubtunnel, und gibt den Blick auf den Fluss und die dahinter liegenden Berge frei. Auf halber Höhe einer Bergflanke, taucht ein wuchtiger Befestigungsturm auf, der Torre de Fusileros, Turm der Gewehre. Er wurde im Jahr 1876 erbaut und sollte bei einer hypothetischen Invasion Frankreichs über den Somport-Pass, der Verteidigung des Tales dienen. Misstrauen war immer schon ein guter Baumeister.
Dann nimmt uns wieder das Grün der Bäume auf. Dank des mittlerweile besser gewordenen Wetters und des Naturweges, auf dem wir gehen, komme ich in Gehlaune. Ich steigere meine Geschwindigkeit so, dass ich schon nach kurzer Zeit einen beachtlichen Vorsprung zu Sergio habe.
Eine Holzbrücke überspannt einen kleinen Bach, der linksseitig von einer Felsflanke als Wasserfall in ein flaches Becken fällt. Es ist ein lauschiger Platz. Das Rauschen des Wassers; das Singen der Vögel im Geäst der Bäume; die Luft durchwürzt von Wohlgerüschen - ich nehme meinen Rucksack ab und warte auf Sergio. Wie gerne würde ich in dem kühlen Nass des Wasserfalls ein Bad nehmen, denn mittlerweile ist es richtig warm geworden. Die Sonne scheint von einem fast wolkenlosen Himmel. Kein Vergleich mehr mit dem nass-kalten Morgen auf dem Pass.
In Canfranc möchte Sergio eine kurze Pause einlegen. Wir treffen in der Bar neben der Herberge Ramón und Ernesto wieder. Sie haben sich entschlossen hier zu übernachten. Ernesto hat dieselben Probleme wie ich. Auch seine Fußsohlen brennen bei jedem Schritt den er macht und seine Achillessehnen bereiten ihm Sorgen. Das schnelle Tempo der beiden hat bei ihm seinen Tribut eingefordert. Ramón scheint die Zwangspause nicht recht zu sein. Ich habe den Eindruck, dass er lieber mit uns zusammen weitergehen würde. Für mich ist es tröstlich zu wissen, dass nicht nur ich, sondern auch andere Probleme haben.
Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Sergio noch weiter nach Jaca will. Immerhin noch 20,3 Km! Meine armen Füße!!
Nach einem köstlichen Kaffee, in dieser kurzen Pause, machen wir uns wieder auf den Weg. Die Verabschiedung von Ramón und Ernesto ist herzlich.
Zum ersten Mal nehme ich jetzt auf dem Camino wahr, dass fremde Menschen uns wie selbstverständlich grüßen. Wir werden als Pilger gegrüßt mit zwei Worten, die mich über den gesamten Weg begleiten werden:
„¡Buen camino!“ oder auch „¡Bon camino!“- Guten Weg!
Die meisten Menschen, am Rande des Camino de Santiago, begegnen dem Pilger mit Achtung und sehen in seiner Pilgerfahrt etwas ganz Besonderes - jedenfalls ist das mein Eindruck. Mein Bild des christlichen, ja des katholischen Spaniens, scheint sich zu bewahrheiten. Sicherlich sind nicht alle Spanier auf diesem Weg pro Camino. Ich kann auch verstehen, dass einige den Rummel um den Jakobsweg nicht gutheißen. Jedoch sind diese ganz bestimmt in der Minderheit.
Was ich ganz bemerkenswert finde ist die Tatsache, dass wir uns kaum verlaufen können. Der „flecha amarilla“, der gelbe Pfeil oder die „Concha“, die stilisierte Muschel, ist allgegenwärtig. Sergio erzählt, dass er trotz alledem schon ein paar Mal die Orientierung verloren habe. Die Menschen am Weg hätten ihn dann mit den Worten,
„¡No, este no es el Camino, el Camino está alli!"
„Nein, das ist hier nicht der Camino, der Camino ist dort!“, wieder zurück auf den richtigen Weg gebracht. Dabei hätten sie ihre Arme immer als Richtungsweiser eingesetzt. Er demonstriert mir, wie dass ungefähr aussah, und schwenkt dabei seine Arme in einer so grotesken und übertriebenen Art und Weise, dass ich lachen muss.
Er erzählt weiter, dass er von Pilgern, die sich verlaufen hatten hörte, dass sie sogar von Einheimischen mit dem Auto auf den richtigen Weg zurückgebracht wurden.
Dieses „bemerkt werden“ lässt mein Selbstwertgefühl wachsen und wirkt sich sogar auf meine Schmerzen aus, die plötzlich weit weniger stark erscheinen. Wenn ich es nicht besser wissen würde, würde ich jetzt an ein kleines Wunder glauben.
Ein Nebenfluss des Aragóns versperrt uns den Weg. Statt einer Brücke, sind quer durch den Fluss große Steinquader in Abständen von knapp einem halben Meter aufgestellt. Dieses „Flüsschen“ hat die stattliche Breite von 12-15 Metern. Das Wasser ist zwar nur etwa dreißig bis vierzig Zentimeter tief, fließt aber recht schnell. Wir zögern nicht lange, ziehen Schuhe und Strümpfe aus und hangeln uns von Steinquader zu Steinquader. Das Wasser ist kalt und der Untergrund glitschig. Wir kommen auf der anderen Seite wohlbehalten an, ziehen Strümpfe und Schuhe wieder an und schultern unsere Rucksäcke. Ich suche vergeblich meine Teleskopstöcke und muss nach kurzer Suche feststellen, dass diese noch auf der anderen Seite des Flusses liegen, an der Stelle, wo ich meine Schuhe ausgezogen hatte. Ich muss herzhaft lachen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Flussüberquerung, zur Erheiterung von Sergio, noch einmal zu wiederholen.
Hinter Villanúa teilt sich der Weg. In meinem Handbuch wird davon nicht berichtet. Sergio folgt ohne zu zögern dem Weg, der nach links führt. Ich mache mir keine Gedanken darüber, ob seine Entscheidung richtig oder falsch ist. Ich vertraue ihm blind.
Wir folgen jetzt weiter dem Rio Aragón, der in einer Höhe von 2050 m in den Zentralen Pyrenäen entspringt. Er ist 195 km lang und wird auf seinem weiteren Weg, von der Yesa-Talsperre aufgestaut. Dahinter fließt er weiter durch die Provinz Navarra und mündet bei Alfaro in den Ebro.
Ein Haus, direkt am Aragón gelegen, fasziniert mich. Es ist aus dem hier üblichen Bruchstein gebaut und mit Efeu fast zugewachsen. Signalrote Fensterrahmen und Fensterläden; ein ebenfalls rotes, hölzernes Garagentor, welches mit Jakobsmuscheln verziert ist, stechen aus diesem Grün und Braun deutlich hervor. An der Eingangstür hängen eine Kalebasse und ein typischer Pilgerhut. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht eine, aus einem Blech geschnittene, lebensgroße Pilgerfigur mit Stab und Muschel. Der Besitzer muss jemand sein, der eng mit dem Camino verbunden ist, anders kann ich mir die spektakuläre Dekoration des Anwesens nicht erklären.
Ich denke darüber nach, welche Bedeutung der Satz „Der Weg ist das Ziel“ hat. Ist der Weg zum Ziel wirklich wichtiger, als das Ziel selbst? Vielleicht wird mir diese Redewendung ihre immens tiefe Wahrheit später preisgeben; vielleicht anders, als ich mir das im Augenblick vorstelle. Wer weiß!
Bei einer kleinen Kirche kurz vor Jaca, machen wir eine kurze Pause. Die Iglesia de San Miquel ist ein bescheidener Bau mit einem romanischen Glockengiebel. Der Platz, an dem sonst die Glocke hängt, ist leer. Das Obergeschoss wird nur von einem kleinen Rundbogenfenster geschmückt, welches sich mittig über dem Eingangsportal befindet. Rechts und links neben der Tür, wird die Front von je einem kleinen, vergitterten, rechteckigen Fenster durchbrochen. Die marode Oberfläche des Gemäuers verleiht dem Gotteshaus eine Ausstrahlung, als würde ich, wenn ich es betreten würde, umgehend ins Mittelalter versetzt. Links neben der Kirche wächst wilder Wein über ein geschwungenes, schmiedeeisernes Tor bis hinauf aufs Kirchendach. Dahinter liegt ein kleiner Friedhof. Als ich die Begräbnisstätte betreten will muss ich feststellen, dass das Tor mit einer Eisenkette verschlossen ist.
Gegen 17:30 Uhr erreichen wir Jaca. Wir folgen dem Panoramaweg „Paseo de la cantera“ vorbei an der wunderschön erhaltenen, alten Zitadelle. Der Bau dieser Zitadelle wurde 1562, während der Regierung Philipps II. von Spanien, begonnen, aber erst 1670 vollendet. Sie wurde als pentagonale Anlage mit einem umlaufenden Festungsgraben errichtet. Grund für den Bau dieser Befestigungsanlage waren die europäischen Religionskriege des
16. Jahrhunderts. Auch im Erbfolgekrieg 1707 zwischen Österreich und Spanien und im Unabhängigkeitskrieg 1809, war diese Festung Mittelpunkt von Kämpfen. Noch heute ist sie teilweise militärisch genutzt.
Unsere Schritte führen uns weiter zur Gemeindeherberge in einer Nebenstraße am Rande des Zentrums. Auf den Gehwegen dorthin sind, zur besseren Orientierung der Pilger, Messingmuscheln ins Pflaster eingearbeitet. Eine schöne Idee!
Wir betreten die Herberge über einen kleinen, nüchternen Innenhof und bezahlen an der Rezeption 8,00 € für die Übernachtung. Der Schlafbereich besteht aus Einzelbetten, die immer zu zweit in einer halbhohen Koje eingebaut sind. Jedes Bett ist nummeriert. Mit der Nummer auf unseren Anmeldungen finden wir rasch unsere Schlafstatt.
Nach dem Duschen begeben wir uns auf die Suche nach einem netten Restaurant in die Stadt, stellen aber fest, dass keines vor 20:00 Uhr ein Abendessen anbietet. Sergio schlägt vor, in einem Supermarkt die Zutaten für ein Essen einzukaufen, welches er in der Küche der Herberge zubereiten will. Bananen (Plátanos), Brot (Pan), Käse (Queso), Tomaten, Zwiebel (Cebolla), Paprika, Salat (Lechuga) und ein Fertiggericht, Reis mit Spinat (Arroz con espinacas), wandern in den Einkaufswagen und wechseln den Besitzer. In der Herberge angekommen, kocht Sergio daraus ein schmackhaftes Essen.
Bei der Gelegenheit lerne ich Hildegard kennen. Ich erfahre von ihr, dass sie diesen Weg schon mehrfach alleine gewandert ist. Jetzt ist sie unterwegs, um einige besonders schöne Teilstrecken des Caminos noch einmal zu erleben - tiefer zu spüren. Sie scheint mir sehr religiös zu sein. Während unserer Unterhaltung redet sie, fast schon philosophisch, über den Frieden, den inneren wie den äußeren, und dass der Camino das Forum sei, diese Philosophie zu verbreiten.
Ich möchte sie nicht abstempeln als religiöse Fanatikerin, aber sie schwebt schon irgendwie auf Wolke sieben. In ihren Ausführungen fehlt mir der Bezug zur Realität. Ich mag sie trotzdem, sie ist ein Mensch, der mir direkt sehr nahe ist. Sie erzeugt mit ihren Ansichten eine Tiefsinnigkeit, die mein Denken anregt.
Ein weiterer Pilger nimmt an unserem Tisch Platz. Sein Name ist Peter. Auch er hat sich sein Essen selbst zubereitet. Er scheint ein sehr introvertierter Mensch zu sein. Jedenfalls gelingt es uns nicht, ihn in unser Gespräch mit einzubeziehen. Jeder so, wie er möchte.
Vor dem Schlafengehen behandele ich meine Blasen. Es sind kleine, gemeine Dinger, die sich genau vorne auf den äußeren beiden Zehen breitmachen. Mit Sicherheit sind meine Schuhe an dieser Stelle zu eng. Das zu schwere Gepäck tut sein Übriges dazu. Nach dem Öffnen und Desinfizieren der Blasen, geht es mir ein wenig besser und ich sinke zum ersten Mal in einen tiefen Schlaf.
Meinen Füßen geht es heute Morgen wider Erwarten recht gut. Nach einem kleinen Frühstück, stehen wir gegen 7.00 Uhr wieder auf dem Camino. In der Stadt ist es noch ruhig, sie ist zu dieser
Tageszeit noch verschlafen. Die wenigen Menschen, die auf der Straße unterwegs sind, haben es nicht sehr eilig. Hier in Spanien scheint eine andere Zeit zu gelten.
Zügig, aber ohne Hast, durchqueren wir Jaca und folgen den Messingmuscheln bis vor die Tore dieser Stadt. Kurz bevor wir sie endgültig verlassen, passieren wir die Einfahrt einer Kaserne. Vor dem Wachgebäude steht ein junger Soldat, der, als er uns sieht, Haltung annimmt und seine Hand nach Militärart, grüßend an die Kopfbedeckung legt. Wieder macht sich in mir das Gefühl breit, dass wir als Pilger von den Menschen in diesem Land, auch der jungen Menschen, ganz besonders wahrgenommen werden. Allein der Gedanke verursacht mir eine Gänsehaut. Ich habe auch den Eindruck, als würde sich mein Körper vor Stolz strecken und mein Schritt leichter werden. Mir schießen Tränen in die Augen.
Wir durchqueren ein Wohngebiet und erreichen eine Landstraße. Kurz bevor wir die Landstraße verlassen, überholt uns eine große Anzahl von Rennradfahrern. Es sind sicherlich weit mehr als 100 Biker in bunten Trikots, unterwegs auf einer „Vuelta ciclista“ - einer Radrundfahrt, die winkend und grüßend an uns vorbeifahren. Sie rufen uns ein vielstimmiges „¡Buen camino! – ¡Buen camino!“ zu. Und wieder überkommt mich dieses wahrhaft tolle Gefühl, als Pilger gewürdigt zu werden.
Sergio hatte mich schon darauf vorbereitet, dass wir wieder einen kleinen Fluss, den Rio Gas, durchwaten müssen Als wir den Fluss erreichen, bin ich ein wenig enttäuscht. Statt der erwarteten Herausforderung, ein größeres Hindernis überwinden zu müssen, stehe ich zwar vor einem breiten, aber flachen Rinnsal. Um den Bach zu überqueren, müssen wir zwar die Schuhe ausziehen, aber so richtig spannend ist das nicht.
Ich denke an meine Kinderzeit zurück. An schönen Sommertagen stauten wir den Bach, in der Nähe des Hauses meiner Großeltern, mit Grassoden, um dann in dieser Brühe braunen Wassers in unseren Unterhosen zu schwimmen. Wenn wir nach einem ausgelassenen Bad dann das Wasser verließen, mussten wir uns gegenseitig oft von Egeln befreien, die sich an unserer Haut festgesaugt hatten. Lange ist es her und in meinen Gedanken liegt so etwas wie Wehmut.
Der folgende Weg ist nicht sehr schön und zieht sich etwa 15 Km über einen Schafsteig, der an vielen Stellen ausgewaschen und matschig ist. Zusätzlich ist der Boden über und über mit kleinen schwarzen Kugeln übersät - den Exkrementen dieser possierlichen Duft- und Wollespender. In dieser Gegend ist die Schafwirtschaft Lebensgrundlage vieler landwirtschaftlicher Betriebe.