Über das Buch

Nachdem die tierischen Helden die magischen Steine gefunden haben und das Wunder in Wadi Rum geschehen ist, rätseln sie, wie es weitergehen soll. Was bedeutet die Botschaft des roten Schattendrachens Tamaruk? War das außergewöhnliche Ereignis in der Wüste tatsächlich nur der Anfang für eine bessere Welt? Und welche neuen Aufgaben warten auf sie? Durch die außergewöhnliche Kraft der magischen Steine soll diese Erde ein gerechterer Ort für alle Bewohner werden, doch gleichzeitig müssen die Steine wieder zurück an ihre ursprünglichen Plätze.

Schon bald zeigen sich Wege auf und wieder beginnt ein spannendes Abenteuer, das die Freunde vor große Herausforderungen stellt. Wunder geschehen, die nicht nur sie zum Staunen bringen ...

Aber dann geschieht etwas vollkommen Unerwartetes, das ihren ganzen Mut erfordert und sie in ein unbekanntes Land führt.

Was bisher geschah

Die Welt und all ihre Bewohner brauchen dringend Hilfe. Araun, der Adler erhält durch einen Traum die Botschaft, dass die magischen Steine gefunden und an einen bestimmten Ort gebracht werden müssen, damit ein Wunder zur Rettung der Erde geschieht.

Auf ihrer abenteuerlichen Reise müssen sich die Wölfe Shazan und Terik, die freche Ratte Tuf, Amankaya, das abenteuerlustige Wasserschwein und der weise Araun vielen Herausforderungen stellen und gegen einen mächtigen Feind kämpfen.

Die beiden weißen Eulen Lila und Kria stehen ihnen dabei mit ihren Zauberkräften zur Seite, denn die grauen Schattendrachen versuchen alles, um zu verhindern, dass die magischen Steine gefunden werden. Doch schließlich gelingt es den tierischen Helden, die Steine in die Wüste Wadi Rum zu bringen und die grauen Schattendrachen zu besiegen.

Ein magisches Wunder aus Licht und Farben entsteht, das den Freunden zeigt, dass ihre aufregende Reise noch nicht zu Ende ist.

‚Die sechs magischen Steine, Band 1

Das Licht der magischen Steine

Daniela Böhm

1. Auflage August 2019

Copyright © der Originalausgabe: Daniela Böhm

Copyright © Cover und Covergestaltung: Andy Steinbauer

Lektorat: Beate Kahn, Nico Pietschmann

Herstellung und Verlag

Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-749426539

Für die Träumer

Für die Erde

Für die Tiere

„Alle Dinge geschehen zu ihrer Zeit.“

Die Hauptdarsteller der Geschichte

Die Adler Araun und Alaya

Die Wölfe Shazan und Terik

Die beiden Ratten Tuf und Laru

Amankaya, das Wasserschwein

Die Eulen Lila und Kria

Dedée, ein Ureinwohner aus dem Amazonas

Der weiße Wolf, Hüter des Lichts

Tamaruk. der frühere Herrscher der roten Schattendrachen

Durwan, einstiger Herrscher der grauen Schattendrachen

Tundurkin, der Magier der grauen Schattendrachen

Kirigan, ein grauer Schattendrache

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

Träume und Visionen

Erwachen

Blind wollte er die Flucht ergreifen, als die bedrohlich klingenden Schritte näher kamen, doch eine unsichtbare Macht schien ihn festzuhalten. Sein Herz pochte vor Angst und er schämte sich, ein Feigling zu sein. Was bedeuteten seine Furcht oder sein Leben im Vergleich zu dem Elend und Schmerz der anderen Ratten? Warum war ihm nicht rechtzeitig eine Lösung eingefallen, um seine Brüder und Schwestern zu befreien?

‚Was soll ich nur tun?‘, dachte er voller Verzweiflung.

Plötzlich hörte Tuf eine wohlvertraute Stimme: „Verzage nicht, mein kleiner Freund. Es ist nicht leicht, ein Held zu sein und gegen all das Unrecht zu kämpfen. Die magischen Steine werden euch helfen.“

Erstaunt horchte er auf. „Tamaruk!“, rief er freudig. „Wo bist du? Wie meinst du das?“

Doch Tamaruk antwortete nicht. Suchend blickte Tuf um sich, als plötzlich ein kleiner Lichtfunke vor seinen Augen auftauchte. Unruhig tanzte er zunächst in der Luft und glitt dann langsam von ihm weg. Hoffnungsvoll lief Tuf dem Funken hinterher und landete von einem Moment zum nächsten auf einer großen Wiese.

Jemand stupste ihn sanft und er hörte eine andere Stimme. „Tuf! Wach auf!“

Vorsichtig rollte ihn Shazan mit seiner rechten Pfote auf die Seite.

„Das muss ein schlimmer Traum gewesen sein“, meinte Amankaya mitfühlend.

Verwundert rieb sich Tuf mit den Pfoten seine Augen.

„Es war also nur ein Traum“, murmelte er.

Doch er wusste, dass Teile davon der Wirklichkeit entsprachen und dieser Gedanke erfüllte ihn mit Schmerz.

„Was hast du geträumt?“, fragte Lila und sah ihn besorgt an.

Sie wusste, dass Tuf eine besondere Gabe für Träume besaß. Ihm allein war Tamaruk damals im Traum erschienen und hatte sein Kommen angekündigt – noch lange bevor sie sich alle in Wadi Rum eingefunden hatten, um den letzten der magischen Steine zu suchen.

Tuf begann sein Fell zu putzen, um richtig wach zu werden.

Obwohl er es nicht wollte, musste Shazan über seinen kleinen Freund schmunzeln. Tufs ausgiebige Fellpflege erinnerte ihn an die allererste Begegnung im Altaigebirge. Wie hatte er sich über diese kleine freche Ratte geärgert! Doch im Laufe der Reise und den vielen überstandenen Abenteuern hatte sich seine Ablehnung in Respekt und Freundschaft verwandelt.

„Nun …?“, fragte Araun, der wie Lila auf einer der Schatten spendenden Palmen etwas Mühe hatte, sein Gleichgewicht zu halten.

Tuf blickte zu Araun und Lila hinauf und dann zu seinen anderen Gefährten, die ihn erwartungsvoll ansahen.

Anstatt gleich zu antworten, fragte Tuf: „Bin ich der Einzige, der so lange geschlafen hat? Seid ihr schon lange wach?“

Terik blinzelte ihn aus seinen blauen Augen an.

„Nein. Als wir eingeschlafen sind, brach ja schon die Morgendämmerung an.“

„Die magischen Steine! Wo sind sie?“, rief Tuf erschrocken.

Shazan schmunzelte erneut. Tuf schien noch nicht ganz in der Wirklichkeit angekommen.

„Der Rosenquarz liegt direkt neben dir“, bemerkte er.

„Sind alle in Sicherheit?“

„Aber natürlich Tuf, es gibt nichts mehr zu befürchten“, sagte Lila. „Die Schattendrachen sind besiegt! Doch nun erzähle uns von deinem Traum.“

Tuf gab sich einen Ruck.

„Als ich damals in Kungur war, um die Königin der Ratten zu finden, fragte ich zwei andere Ratten nach dem Weg. Sie begleiteten mich zu der Höhle, in der sie lebt und die sich außerhalb der Stadt befindet. Auf dem Weg dorthin erzählten sie mir von schrecklichen Orten, an denen viele unserer Brüder und Schwestern gefangen gehalten werden und furchtbaren Qualen ausgesetzt sind.“

„Weshalb?“, unterbrach ihn Terik.

„Sie testen Gift an ihnen“, antwortete Tuf und blickte ihn verzagt an. „Sie leiden schrecklich …“

Hilflos brach er ab, denn plötzlich musste er auch an Karun denken, seinen treuen Gefährten, der ihn auf seiner abenteuerlichen Reise begleitet hatte. Bis zu jenem Tag, als er im Kampf durch die grauen Schattendrachen sein Leben verlor.

„Ich hoffe, Karun hatte einen schnellen Tod“, sagte Tuf leise.

„Es war ein tragisches Unglück“, meinte Amankaya mitfühlend. „Wir alle haben bei unserer Suche nach den magischen Steinen viel durchgemacht, doch du hast deinen besten Freund verloren.“

Tuf nickte und erzählte stockend weiter.

„In meinem Traum war ich an diesem Ort, von dem Laru und Radu gesprochen hatten. Es war furchtbar! Unzählige meinesgleichen, eingesperrt in winzige Käfige. Einige hatten kein Fell mehr, andere lagen apathisch auf der Seite und viele riefen verzweifelt um Hilfe oder rüttelten mit ihren Zähnen an den Gitterstangen ihrer Gefängnisse.“

Anteilnehmend blickten die Freunde zu Tuf und Terik stupste ihn tröstend mit seiner Schnauze.

„Plötzlich hörte ich Schritte und wollte loslaufen“, erzählte Tuf weiter.

„Doch irgendeine Kraft schien mich festzuhalten und ich konnte mich nicht von der Stelle rühren. Es war ein großes, düsteres Gebäude und ich wusste nicht mehr, wie ich hineingelangt war oder wie ich wieder herauskommen sollte. Und dann, auf einmal, hörte ich Tamaruks Stimme.“

Bei seinen letzten Worten wurde Tuf leichter ums Herz.

„Du hast erneut von Tamaruk geträumt?“, rief Lila erstaunt. „Das ist seltsam, denn er ist in Sphären zurückgekehrt, die weit weg sind und unsere Wirklichkeit nicht mehr berühren.“

„Nun ja“, meinte Shazan. „Es war ein Traum …“

„Vom großen Tamaruk träumt man nicht einfach so“, entgegnete Lila bestimmt. „Aber ich mag mich täuschen. Was hat er gesagt?“

„Dass ich nicht verzagen soll und uns die magischen Steine helfen werden.“

Nachdenklich blickte Lila zu Tuf und dann schweifte ihr Blick zu jedem einzelnen ihrer Freunde. „Wir alle haben heute Nacht das magische Bild am Himmel gesehen, das durch die sechs Steine entstanden ist. Tamaruk meinte, wir seien ein Teil des Wunders, damit diese Welt eine bessere werde und dass die Suche nach den Steinen erst der Beginn gewesen sei.“

Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und schloss für einen kurzen Augenblick ihre mondgelben Augen, denn das gleißende Licht blendete sie stark und die ungewohnte Hitze machte ihr zu schaffen. Ihr weißes Federkleid glitzerte wie Schnee im funkelnden Sonnenlicht. Sie sehnte sich nach den kühlen Wäldern ihrer Heimat, den luftigen Höhen des Altaigebirges und nach ihrer Schwester. Sie fehlte ihr. So verschieden sie auch waren – ihr schwesterliches Band war durch nichts zu entzweien.

Keiner der Freunde erwiderte etwas. Jeder schien seinen eigenen Gedanken nachzugehen; alle waren erschöpft von dem gestrigen Kampf mit den grauen Schattendrachen und einer langen Reise voller Gefahren und großer Herausforderungen.

Terik richtete sich auf und gesellte sich zu Shazan, der den Schatten unter den ausladenden Blättern der Palme gesucht hatte, auf der Araun und Lila saßen. Tuf hüpfte Terik hinterher und machte es sich dann neben seiner rechten Vorderpfote bequem.

Amankaya trottete, wie schon so oft an diesem Morgen, zu dem kleinen Teich in der Oase und rollte sich genüsslich in dem seichten Nass hin und her. Für ein Wasserschwein war die Wüste kein idealer Ort und genauso wie Lila empfand sie große Sehnsucht nach ihrer Heimat und ihrer Herde.

Die Vorstellung, weitere Abenteuer zu bestehen, erschien ihr wenig verlockend.

Arauns scharfer Blick glitt in weite Fernen, während er über Lilas Worte nachdachte.

Das Licht der sechs magischen Steine hatte gestern auf wundersame Weise eine Art Blaupause der Erde in den Himmel gezeichnet – eine ähnliche Vision hatte er im Himalaya gehabt, als er dem magischen Saphir das erste Mal ganz nahe gewesen war.

Schließlich waren nacheinander einzelne Bilder erschienen, in denen seine Freunde und auch er selbst vorgekommen waren. Araun hatte sich über eine weite Ebene fliegen sehen, in unendlicher Ferne lagen die schneebedeckten Höhen des Himalaya, und er hatte ein Gebäude erblickt, von dem er instinktiv wusste, dass es ein Ort des Grauens war.

Er dachte an Tufs Traum und überlegte weiter.

Musste jeder für sich selbst herausfinden, was zu tun war? Was geschah mit den magischen Steinen? Tamaruk hatte erneut zu Tuf gesagt, sie würden ihnen helfen. Doch eigentlich sollten sie auch wieder zurück, jeder an den Ort, der ihnen seit Anbeginn der Zeiten bestimmt war, um das Gleichgewicht der Erde zu halten.

Araun schüttelte unmerklich den Kopf. Er war der Älteste und auch ihm schien es nach den überstandenen Anstrengungen kaum vorstellbar, sich auf ein neues Abenteuer einzulassen, selbst wenn die Gefahr der Schattendrachen gebannt war.

Lilas Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen.

„Über was denkst du nach, Araun?“, unterbrach sie das Schweigen.

Er blickte zu ihr hin und streckte kurz seine mächtigen Schwingen.

„Wahrscheinlich über die gleichen Fragen wie du. Wie es weitergeht und was wir nun tun sollen. Eigentlich hatte ich vor ein paar Tagen noch geglaubt, dass unsere Reise bald zu Ende wäre und wir uns nur noch überlegen müssten, wie wir die magischen Steine zurückbringen und von dort aus auf dem schnellsten Wege in unsere Heimat gelangen. Aber es scheinen weitere Aufgaben auf uns zu warten.“

Lila blinzelte ihm zu. „So ist es.“

Amankaya, die sich in der Zwischenzeit zu Shazan, Terik und Tuf gesellt hatte, hob den Kopf.

„Ich bin müde und möchte nach Hause.“

„Das verstehe ich“, meinte Lila und lächelte sie verständnisvoll an. „Ich würde vorschlagen, dass wir auch heute Nacht hierbleiben, um wieder zu Kräften zu gelangen. Wenn es etwas kühler wird, können wir besser beratschlagen, wie es weitergehen soll und kann. Mir behagt diese Hitze gar nicht, ich habe das Gefühl, nicht mehr klar denken zu können.“

„Ich glaube, wir stimmen dir alle zu, oder?“, sagte Araun.

Die Freunde nickten einstimmig; Terik hingegen war schon wieder eingeschlafen.

„Allerdings wäre mein Vorschlag, dass du Kria bittest, zum Orakel vom Siebensilbensee zu fliegen“, fügte er hinzu. „Vielleicht kann es uns einen Hinweis geben.“

„Ich weiß nicht so recht“, erwiderte Lila zögerlich. „Dieses Orakel war nie wirklich hilfreich. Es hat uns nur noch mehr Rätsel aufgegeben!“

„Aber es hat mir geholfen, den Saphir zu finden und mit der Weissagung des schwarzen Diamanten und magischen Rubins recht behalten. Und wenn ich mich richtig erinnere, hat es auch prophezeit, dass du nach Wadi Rum kommen wirst.“

„Das stimmt! Nun gut, ich werde Kria fragen. Allerdings wird sie nicht begeistert sein.“ Unweigerlich musste Lila schmunzeln.

Araun sah es und blickte sie verschmitzt an.

„Erwähnte sie nicht, dass dieses Orakel ständig zu schlafen scheint und man ewig auf eine Antwort warten müsste?“

„Eben drum“, kicherte Lila und gesellte sich zu Amankaya, die erneut versuchte, etwas Abkühlung in dem kleinen Teich der Oase zu finden.

***

„Ich soll schon wieder zum Siebensilbensee fliegen und das Orakel befragen?“, meinte Kria entrüstet, als Lila ein wenig später durch das Zauberwort Samankara mit ihr Kontakt aufgenommen und erzählte hatte, was geschehen war, als die magischen Steine zu leuchten begonnen hatten.

„Und wir alle sollen uns weiterhin in Gefahr begeben? Also ich weiß nicht!“

„Das ist ja gar nicht gesagt“, entgegnete Lila. „Doch auf jeden von uns scheinen Aufgaben zu warten! Bevor Tamaruk in die unsichtbare Welt entschwand, sagte er, dass die Suche nach den magischen Steinen nur der Beginn eines Abenteuers gewesen sei und...“

„Der Beginn? Soll das ein Scherz sein?“, unterbrach sie Kria ungläubig.

„Hast du die vielen Kämpfe mit den Schattendrachen vergessen und all die anderen Gefahren und Aufregungen?“

„Natürlich nicht“, antwortete Lila beschwichtigend. „Aber wenn wir doch weiterhin etwas tun könnten? Es steht nicht gut um die Erde und all ihre Bewohner.“

Etwas hilflos und entmutigt brach sie ab, aber sie kannte ihre Schwester wie niemand anderen, um zu wissen, dass sie genauso wenig aufgeben würde, damit diese Welt ein glücklicherer Ort für alle werden konnte.

„Ich weiß“, sagte Kria ruhiger. „Und ich werde mich gleich auf den Weg machen, auch wenn ich mich eigentlich gerade in meine Baumhöhle zurückziehen wollte. Hier ist es früh am Morgen und vielleicht ist das Orakel ausnahmsweise mal ausgeschlafen.“

„Ich danke dir“, sagte Lila und lächelte.

***

Am Siebensilbensee

Kria war sofort losgeflogen, nachdem ihre Schwester sie gebeten hatte, das Orakel aufzusuchen.

Es war ein herrlicher Morgen im Hochsommer. Das Blau des Himmels strahlte satt in der aufgehenden Sonne und die Wiesen leuchteten in allen Schattierungen, unterbrochen von den bunten Tupfen der Wildblumen.

Üppige Wälder überzogen die Berghänge, in denen bereits reges Treiben herrschte. Die kleineren Tiere krochen vorsichtig aus ihren Verstecken, Rehe weideten in dem mit Morgentau benetzten Gras und die Stille der Nacht war dem freudigen Gesang der Vögel gewichen.

Kria kam ohne Gegenwind gut voran und erreichte den Siebensilbensee nach ungefähr einer Stunde. Glänzend lag er im Morgenlicht und seine unbewegte Oberfläche spiegelte den Himmel und einige wenige Wolken.

Obwohl Kria im Gegensatz zu ihrer Schwester Lila nicht zu überschwänglichen Gefühlen neigte und diejenige war, die meistens einen kühlen Kopf bewahrte, berührten sie die Schönheit und der Zauber dieses Ortes immer wieder aufs Neue.

Eingebettet zwischen gewaltigen Bergen und unberührt von menschlicher Hand lag dieser kleine See in einer Oase des Friedens, die von einem mystischen Zauber durchdrungen schien. Das Ufer war von glattpolierten Steinen umsäumt, deren wundersame Formen Kria jedes Mal in ihren Bann zogen.

Sie suchte sich einen Platz am Rande des Sees, denn hier gab es keine Bäume, auf deren Ästen sie sich hätte niederlassen können.

Nachdenklich betrachtete sie einen Stein in der Form eines Sternes, der wie weißer Marmor im Sonnenlicht glänzte.

Kria versank in die Stille des geheimnisvollen Ortes und dachte über das nach, was ihre Schwester erzählt hatte, um das Orakel richtig befragen zu können.

„Es nützt nichts, einem Orakel eine Frage zu stellen, die ungenau und schwer verständlich ist.“ Dieser Satz war ihr von ihrer Mutter gut in Erinnerung geblieben, als diese begonnen hatte, Kria und Lila die Künste der Zauberei und weißen Magie zu lehren.

Das Bild der magischen Steine, das Lila ihr so aufgeregt geschildert hatte, war also nicht das Wunder zur Rettung der Erde, sondern verhieß nur einen Beginn.

Kria überlegte weiter. Konnte es nicht sein, dass dieses Bild weit mehr als ein Anfang war? Lila hatte erzählt, dass es wie eine Blaupause der Erde erschien, und strahlend schön. Sollte ihr diese Magie aus Licht und Farben neue Kraft verleihen?

„Die sechs magischen Steine sind die Hüter der Erde und vor allem der Rubin und der Diamant sind die Bewahrer ihres Gleichgewichts; ein Gleichgewicht, das schon lange nicht mehr existiert“, murmelte Kria. „Sie mussten zusammengeführt werden, damit dieses Wunder geschieht. Alles entsteht durch Schwingung und manifestiert sich dann zunächst im Licht.

Ja“, sagte sie jetzt laut und voller Zuversicht, „so wird es sein!“

Und vielleicht deuteten die Bilder am Himmel nur auf das hin, was ihnen bei der Rückkehr zu den Orten der magischen Steine begegnen könnte?

Andererseits hatte Tamaruk aber gesagt, dass Lila und die anderen ein Teil des Wunders seien und die Welt durch ihre Hilfe und die der magischen Steine eine bessere werden könne.

Kria grübelte lange darüber nach, wie sie ihre Frage stellen sollte. Sicher spielten die magischen Steine weiterhin eine Rolle, doch jeder von ihnen musste auch an einen bestimmten Punkt der Erde zurück.

Schließlich gab sie sich einen Ruck.

„Wir brauchen deine Hilfe“, sprach sie mit energischer Stimme und konzentrierte sich mit aller Kraft auf die spiegelglatte Oberfläche des Sees.

„Was soll mit den magischen Steinen geschehen und was genau sind unsere Aufgaben?“

Wie sie es kaum anders erwartet hatte, musste sie wieder einmal lange warten. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und Kria war in einen Halbschlaf versunken, als sie plötzlich einen Windzug spürte und die tiefe Stimme des Orakels vernahm. Sie öffnete die Augen und sah, wie sich das Wasser zu kräuseln begann.

„Ein wundersamer Anfang ist vollbracht,

und für ewig gebrochen scheint des Feindes Macht.

Doch nehmt euch in Acht und seid auf der Hut,

auch erfordern eure Taten viel Kraft und Mut.

Bringt die magischen Steine zurück

und versucht auf dem Weg dorthin euer Glück.

Das Licht der Wandlung bedarf immer der Handlung.“

Unbeweglich blieb Kria sitzen, nachdem die letzten Worte des Orakels verklungen waren und betrachtete den See, dessen Oberfläche bald wieder spiegelglatt wurde.

Sie wiederholte die Sätze einige Male, um sie nicht zu vergessen. Dabei beschlich sie ein beklemmendes Gefühl. Lila hatte ihr den Kampf mit den grauen Schattendrachen geschildert. Sie waren besiegt! Wieso warnte sie das Orakel? Wovor sollten sie sich in Acht nehmen? Meinte das Orakel vielleicht die Menschen, als es von der Macht des Feindes gesprochen hatte? Schließlich waren sie es, die diese Erde zerstörten und die Tiere ausbeuteten.

Beunruhigt machte sie sich schließlich auf den Weg, um geschwind zu ihrer Baumhöhle zu gelangen und Kria die Botschaft zu übermitteln.

***

„Was können wir tun?“

Friedlich lag die Oase im hellen Mondschein und mächtig spannte sich das Himmelszelt mit Myriaden von Sternen über die scheinbare Endlosigkeit der Sanddünen. Die Kühle der Nacht hatte Einzug in die Wüste gehalten und besonders Amankaya und Lila fühlten sich jetzt wohler. Am späten Nachmittag hatten sich alle auf die Suche nach Essbarem gemacht; jeder auf seine Art und Weise.

Shazan und Terik hatten in der Wüste gejagt und auch Araun war losgeflogen, um Nahrung zu suchen. Lila, Tuf und Amankaya hingegen waren in der Oase geblieben und hatten ihren Hunger mit süßen Feigen und Datteln gestillt.

Schon sehr bald hatte Lila die Nachricht ihrer Schwester Kria erhalten und sich die Weissagung eingeprägt, um sie ihren Freunden mitzuteilen.

Sie wartete, bis sich alle um den Feigenbaum versammelt hatten.

„Wir wollten darüber beratschlagen, wie es weitergeht und was wir tun sollen. Das Orakel vom Siebensilbensee hat zu Kria gesprochen.“

„Was hat es gesagt?“, fragte Tuf aufgeregt.

„Wieder einmal gibt es uns Rätsel auf und warnt uns“, antwortete Lila.

„Das klingt nicht gut“, meinte Amankaya.

„Auf keinen Fall“, pflichtete ihr Terik bei.

Lila plusterte ihr Gefieder und neigte den Kopf zur Seite. Satz für Satz wiederholte sie die Weissagung.

Als sie geendet hatte, redeten alle laut durcheinander.

„Was hat das zu bedeuten?“

„Von welcher Gefahr spricht das Orakel?“

„Die grauen Schattendrachen sind doch besiegt! Wir haben es mit eigenen Augen gesehen!“

„Und wie sollen wir die Steine zurückbringen und gleichzeitig handeln?“

Schließlich schlug Araun mehrmals hintereinander mit seinen mächtigen Schwingen.

„Ruhig! Seid still! Wenn wir alle so durcheinanderreden, kommen wir nicht weiter.“

Shazan nickte. „Du hast recht, mein Freund, wir sollten Ruhe bewahren und jeder die Gelegenheit haben, seine Meinung zu sagen. Darf ich beginnen?“

„Natürlich“, sagte Araun.

„Die Botschaft stimmt mit dem überein, was wir gestern Nacht am Himmel gesehen haben. ‚Das Licht der Wandlung bedarf immer der Handlung‘, sagt das Orakel. Wir müssen etwas tun, damit es auf dieser Erde besser wird. Es gleicht dem, was Tamaruk gesagt hat, bevor er uns verließ. Das Orakel spricht davon, dass wir die Steine zurückbringen, aber auf dem Weg dorthin mit ihrer Hilfe unser Glück versuchen sollen. Das bedeutet für mich, dass sie uns helfen können, etwas zu verändern. Zumindest verstehe ich das so.“

„Ja“, sagte Terik. „Doch was bedeuten die ersten Sätze der Weissagung?

Sie machen mir Angst.“

„Mir auch“, meinte Tuf und rückte dichter an Terik heran.

Araun nickte. „Können wir denn wirklich sicher sein, dass die Gefahr der grauen Schattendrachen vorüber ist? Auch wenn das Orakel nichts Genaueres gesagt hat, so warnt es uns vor etwas und spricht davon, dass ihre Macht nur gebrochen scheint.“

„Freunde“, rief Lila, und es war ihr anzusehen, dass sie sich nicht wohlfühlte. „Ich muss euch etwas erzählen. Als ich mich gestern Nacht mit Tamaruk auf den Weg machte, um den schwarzen Diamanten zu holen, fragte ich ihn, ob Tundurkin, der Magier, auch erlöst und in die Welt des Lichts zurückgekehrt sei. Tamaruk meinte, man könne es nicht mit Sicherheit wissen, denn nur der magische Rubin besitze die Kraft der Erlösung.“

„Aber Tundurkin ist doch im Licht des Kristalls, den er zuvor in der Oase geraubt hatte, verschwunden!“, rief Terik aufgebracht. „Du selbst hast uns erzählt, dass sich das Licht des Kristalls mithilfe des Saphirs gegen ihn wandte und seine Gestalt in Form des Falken auflöste.“

„Das ist richtig“, antwortete Lila ernst. „Dennoch wissen wir nicht mit Sicherheit, ob die Erde von seinem Schatten befreit wurde.“

Amankaya spürte einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen. „Dann könnte er noch hier sein, ganz in unserer Nähe …“, flüsterte sie entsetzt.

„Das wäre furchtbar“, murmelte Tuf. „War unser Kampf gegen die grauen Schattendrachen am Ende umsonst?“

„Beruhigt euch, Freunde“, sprach Shazan beschwichtigend. „Wir wissen weder das Eine noch das Andere mit Bestimmtheit. Der magische Kristall ist sehr mächtig. Als Terik damals in der Eiswüste schwer verletzt und ohne zu atmen vor mir lag, waren es die heilenden Strahlen des Kristalls, die ihn wieder zum Leben erweckten und seine Wunden heilten. Glaubt mir Freunde, seine Kraft ist gewaltig! Das Leben war bereits aus ihm entschwunden!“

Bei der Erinnerung an das schreckliche Unglück sträubte sich Teriks Fell.

Niemals würde er vergessen, wie ihn der Schattendrachen in Gestalt einer Eisbärin angegriffen hatte.

„Ich stimme Shazan zu“, sprach Lila. „Und vielleicht könnte Tundurkin auch ohne den schwarzen Diamanten noch sein Unwesen treiben, aber er wäre keine allzu große Gefahr mehr für das Gleichgewicht der Kräfte dieser Erde. Außerdem meinte Kria, dass sich die Macht des Feindes ebenso auf die Menschen beziehen könnte.“

„Das ist wahr“, sagte Araun.

„Was ist mit dem Palast der düsteren Schatten? Vielleicht sind nicht alle Schattendrachen in den Kampf gezogen?“, warf Amankaya nachdenklich ein.

Araun nickte. „Dann droht jedoch nicht viel Unheil von ihrer Seite, denn ohne ihre Anführer sind sie gewiss hilflos. Durwan ist vernichtet und auch seine mächtigsten Gefährten, denn bestimmt waren sie in diesem Kampf dabei. Und ich bin davon überzeugt, dass Tundurkin fort ist!“

„Nun gut“, meinte Shazan. „Glauben wir an das Beste! Doch wie geht es jetzt weiter? Was sollen, was können wir tun?“

Für einige Augenblicke sagte keiner der Freunde etwas.

„Die Bilder, die wir gestern Nacht am Himmel gesehen haben, hatten auch mit uns zu tun“, meinte Tuf schließlich. „Ich sah meine Freunde Laru und Radu wieder und das schreckliche Gebäude, von dem ich heute Morgen geträumt habe. Vielleicht muss jeder für sich herausfinden, welche Aufgaben auf ihn warten.“

„Mein weiser kleiner Freund“, sagte Araun und warf Tuf dabei einen anerkennenden Blick zu, „das ist ein guter Vorschlag, was meint ihr?“

Die anderen waren einverstanden.

„Ich hätte eine Idee, die hilfreich sein könnte“, sprach Lila und ihre Augen leuchteten wie zwei Sterne in der Nacht. „Jeder von uns bittet einen magischen Stein um seine Weisheit und Führung. Ihr wisst, wie kraftvoll sie sind. Es sind kristallisierte Wesenheiten, seit Anbeginn der Zeiten. Bestimmt werden sie uns helfen!“

„Ja“, rief Tuf freudestrahlend, „einverstanden! Doch wer nimmt welchen Stein?“

„Du, Amankaya, Shazan und Araun nehmt jeweils den magischen Stein, den ihr gefunden habt. Ich hingegen bitte den schwarzen Diamanten um Hilfe und Terik den Rubin.“

Terik war stolz, dass er den mächtigsten der magischen Steine um Rat fragen durfte.

Jedes der Tiere suchte sich jetzt mit seinem Stein einen Platz in der Oase.

Amankaya legte sich mit dem Smaragd in die Nähe des kleinen Teiches und Araun ließ sich, so gut es eben ging, mit dem Saphir auf einer Dattelpalme am südlichen Rand der Oase nieder, während Lila den Feigenbaum vorzog. Auch Tuf blieb am gleichen Platz, und nicht weit von ihm entfernt grub sich Terik eine kleine Vertiefung in den kühlen Wüstensand.

Nur Shazan hatte sich ein kleines Stück von der Oase entfernt und war mit dem magischen Kristall zu einer der Sanddünen gelaufen.

Es dauerte nicht lange, bis das verschiedenfarbige Licht der Steine sanft in der dunklen Nacht leuchtete und die kleine Oase in einen magischen Ort verwandelte.

***

Der Palast der düsteren Schatten

In vollkommener Dunkelheit lag die eisige Thronhalle, in der Durwan über Jahrtausende hinweg unbarmherzig geherrscht hatte.

Nur ab und zu huschte Kirigan, der mit drei namenlosen Schattendrachen zurückgeblieben war, durch die verlassene Halle, um nachzusehen, ob sein Herrscher wiedergekehrt war.

Er wusste, dass es unsinnig war, denn Durwans Kommen und das seines Volkes wären nicht unbemerkt geblieben. Außerdem hielten sie abwechselnd Wache auf den Mauern aus dunklem Eis, die den Palast umgaben.

„Wieso sind sie so lange fort? Wie viel Zeit mag vergangen sein?“, sagte er nachdenklich zu Lurak, als er sich neben ihm niederließ. Doch Lurak besaß keinerlei Erinnerung an seinen Namen oder die Vergangenheit.

„Wie soll ich das wissen?“, antwortete er niedergeschlagen. „Du weißt doch, dass ich ein Namenloser bin.“

„Natürlich“, schnaubte Kirigan mit Verachtung. „Ich habe die Frage nur laut gestellt. Ich weiß, dass deine Erinnerung nicht länger als einen Tag währt und du unwissend darüber bist, was du in deinem früheren Leben als grauer Drache getan hast oder wie dein Name lautet.“

Lurak sah ihn hasserfüllt an. Musste er ihm so wehtun?

Kirigan entging das nicht und stachelte ihn in seiner Niedertracht an.

„Willst du wissen, weshalb du ein Namenloser wurdest? Du hast versagt und Schmach über unser Volk gebracht!“

Luraks geringer Schatten schrumpfte bei diesen Worten noch mehr.

„Warum?“, fragte er kleinlaut.

„Du hast es nicht geschafft, diese kleine Ratte, die hinter dem magischen Rosenquarz her war, zu töten! Nur ihren Freund habt ihr erwischt!“

Kirigans Augen loderten feuerrot.

„Es tut mir leid“, erwiderte Lurak ehrlich. „Ich erinnere mich nicht an den Kampf, doch bestimmt gibt es eine Erklärung ...“

„Ach was“, unterbrach ihn Kirigan wütend. „Du bist eben ein nichtsnutziger Versager!“

Immer größer wurde Luraks Hass auf Kirigan.

Es gehörte zur Strafe der Namenlosen, dass sie die Schmach, den Spott und die Verachtung der anderen Schattendrachen ertragen mussten. Wenn Durwan sein Urteil gefällt und Tundurkin den mächtigen Zauber ausgesprochen hatte, war ihr Schicksal eine Zeit lang besiegelt geblieben, bis sie durch besondere Verdienste oder wegen einer großzügigen Laune Durwans ihren Namen und damit ihre Erinnerung wiedererhielten.

Was würde mit ihm geschehen, falls Durwan niemals zurückkehrte und auch Tundurkin nicht?

Für einen Augenblick wurde Luraks Schatten so klein, dass ihn Kirigan kaum noch sehen konnte.

Voller Zufriedenheit über seine Bosheit verließ er Lurak und gesellte sich zu einem der drei Namenlosen, der auf der östlichen Seite des Palastes Wache hielt.

Angestrengt blickte er in die Weite des ewigen Eises und hielt nach seinem Herrscher und Volk Ausschau.

Wieso waren sie noch nicht zurück? Es war einige Zeit her, seit Durwan, Karanja, Tundurkin und die anderen zum großen Kampf nach Wadi Rum aufgebrochen waren. Da sie Schattenwesen waren, spielte die Entfernung keine Rolle, auch wenn der Palast der düsteren Schatten, der durch einen Zauber Tundurkins fast jedem sterblichen Wesen verborgen blieb, im äußersten Norden der Erdkugel lag.

Hatte Durwan den großen Kampf verloren? War sein Volk für immer fort? Und mit ihm der große Traum, diese Erde erneut zu beherrschen?

Kirigan stieß einen eisigen Hauch aus, der den Schattendrachen neben ihm erzittern ließ.

Wenn das stimmte, überlegte Kirigan weiter, wäre er dazu verdammt, mit diesen paar Namenlosen hierzubleiben. Und niemals, bis an das Ende aller Zeiten, würde es Erlösung für ihn geben.

Verzweiflung ergriff ihn und er schwang sich in die Höhe und zog unruhige Kreise über dem Palast.

Immer wieder hielt er in alle Himmelsrichtungen Ausschau, doch je mehr Zeit verstrich, desto mehr verwandelten sich die letzten Funken seiner Hoffnung in Hoffnungslosigkeit.

***

Morgendämmerung

Erstaunt rieb sich Tuf die Augen. War er eingeschlafen? Wo waren die anderen? Zu seiner Erleichterung sah er Terik in seiner Kuhle im Sand liegen. Er schien tief und fest zu schlafen.

Zaghaft fuhr er mit seiner rechten Vorderpfote über den magischen Rosenquarz und versuchte sich an die Bilder in seinem Traum zu erinnern.

Bis auf eine Kleinigkeit war er nicht überrascht.

Tuf fühlte sich dem Stein verbunden, seit er ihn nach dem Kampf mit Nivar, dem Wächter, aus der Eishöhle geholt hatte und mit seiner Zauberkraft nach Wadi Rum gelangt war. Seine Schönheit in Form einer sechsblättrigen Blüte berührte ihn jedes Mal, wenn er ihn betrachtete, und das Kribbeln, das er in seinen Pfoten spürte, wenn er den Rosenquarz berührte, breitete sich immer auf angenehme Weise in seinem Körper aus.

Die Oberfläche des Steines war rau und weich zugleich.

Tuf gähnte herzhaft, streckte sich, und beschloss, die anderen zu wecken.

„Geh weg“, murmelte Terik verschlafen und unwirsch, doch Tuf gab nicht nach und hopste übermütig auf ihm herum.

„Nicht doch, das kitzelt, lass mich!“, protestierte Terik grummelnd.

Aber so leicht war Tuf nicht abzubringen und machte munter weiter.

Schließlich sprang Terik mit einem Satz auf und warf ihn damit unsacht in den Sand.

Tuf prustete.

„Dieser Wüstensand! Er ist überall und fliegt einem in die Augen und in die Schnauze. Ach! Ich sehne mich nach den kühlen Wäldern und Wiesen unserer Heimat.“

„Hab ich dir wehgetan?“, fragte Terik scheinbar schuldbewusst, aber er grinste dabei verschmitzt. Sie waren die zwei Jüngsten unter den Freunden und hatten sich auf Anhieb gut verstanden, als sie sich in Wadi Rum das erste Mal begegneten.

„Ach was“, antwortete Tuf augenzwinkernd und putzte sich wieder einmal den Sand aus dem Fell. Stolz fügte er hinzu: „Ich bin mit einem Adler über das Gebirge geflogen und aus seinen Krallen hinab auf die Erde gefallen, da macht mir ein Sturz in den weichen Wüstensand nichts aus!“

„Seit wann bist du wach?“, fragte Terik.

„Erst kurz. Ich glaube, wir haben alle ziemlich lange geschlafen! Schau mal, dort!“

Am östlichen Horizont zeigte sich ein schmaler rötlicher Streifen, der den Himmel bereits in ein helleres Licht tauchte und die Sterne verblassen ließ. Doch über ihnen leuchtete der abnehmende Mond und im Norden herrschte noch tiefschwarze Nacht.

„Geh du Shazan suchen und ich werde die anderen wecken“, meinte Tuf.

Mit seinen kleinen Pfoten kitzelte Tuf Amankaya so lange an ihrer Schnauze, bis sie endlich ein Grunzen von sich gab. Verschlafen und verwundert blickte sie ihn an.

„Was ist denn? Wo bin ich?“

Tuf grinste.

„Du bist immer noch dort, wo du eigentlich nicht mehr sein möchtest: in der Wüste!“

Langsam kam Amankaya zu sich, aber ständig schoben sich die Bilder ihrer Vision und bunte Träume vor die Wirklichkeit der kühlen Wüstennacht.

„Ich glaube, ich war weit weg“, murmelte sie.

„Da bist du nicht die Einzige! Mir und Terik ging es genauso. Komm, lass uns Araun und Lila aufwecken. Du musst laut rufen, damit sie auf den Bäumen wach werden. Meine Stimme wird nicht ausreichen.“

Nach einigem Suchen hatte Terik Shazan auf einer Sanddüne gefunden.

Der Kristall lag zwischen seinen Vorderpfoten und wie seine Freunde war er in tiefen Schlaf versunken. Immer wieder stupste und winselte ihn Terik an, bis er schließlich die Augen öffnete.

Gemeinsam liefen sie zurück in die Oase und gesellten sich zu ihren Freunden unter dem Feigenbaum.

Der Himmel war blasser geworden und der rötliche Streif am Horizont wich allmählich den goldenen Strahlen der aufgehenden Morgensonne.

„Wie kann es sein, dass wir alle so tief und fest geschlafen haben?“, fragte Amankaya verwundert.

„Zum einen brauchten wir Stärkung und die magischen Steine haben dafür gesorgt“, antwortete Lila überzeugt. „Und wir hatten dabei unsere Träume und Visionen, nicht wahr?“, fügte sie hinzu, denn sie war davon überzeugt, dass es ihren Freunden ebenso ergangen war.

Shazan blinzelte sie aus seinen eisblauen Augen an.

„Ja“, meinte er und streckte sich ausgiebig. „Ich hatte einen klaren und deutlichen Traum.“

„Erzähle uns davon“, bat Araun.

„Es war wie in dem Bild, das die sechs magischen Steine an den Himmel gezeichnet hatten. Nur eindeutiger und im Traum habe ich den Sinn verstanden. Ich werde vom Altaigebirge aus mit Leilani gen Norden aufbrechen, um dem Hüter des Lichts den Kristall wiederzubringen. Auf unserem Weg dorthin werden wir uns mit dem Stein gegen das Unrecht der Jäger stellen und er soll den Tieren des Waldes neue Hoffnung geben.“

Shazan hielt einen Augenblick inne. Immer wenn er an Leilani, seine vergangene und große Liebe dachte, begann sein Herz höher zu schlagen.

Doch auch Zweifel befielen ihn – würde sie überhaupt mitkommen und sich diesem gefährlichen Abenteuer anschließen? Und hatte er selbst die Kraft dazu? Seit unzähligen Wochen war er unterwegs und fühlte sich geschwächt.

„Shazan …?“ Lilas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

„Entschuldige, ich habe nachgedacht.“

Lila schmunzelte, wurde jedoch gleich wieder ernst.

„Das ist tatsächlich ein klarer Hinweis. Aber wie solltet ihr euch den Jägern entgegenstellen? Sie kennen kaum Gnade – es ist ein gefährliches Unterfangen!“

„Lila hat recht“, bemerkte Araun. „Niemand von uns würde wollen, dass du dich allzu großer Gefahr aussetzt und dein Leben riskierst.“

Terik nickte. Shazans Vision machte ihm Angst; er hing so sehr an ihm.

Im Laufe ihrer gemeinsamen Reise war er ihm näher gekommen als Mimo, seinem Vater. Auch sein eigener Traum erfüllte ihn mit Unbehagen.

Tuf bemerkte, dass es Terik nicht gut ging und legte sich zwischen seine beiden Vorderpfoten.

Shazan begann mit fester Stimme zu sprechen und warf Terik dabei einen aufmunternden Blick zu.

„Freunde! Denkt an all das, was wir mit den magischen Steinen bisher erfahren haben! Ihre Macht ist gewaltig! Wir müssen an sie glauben und daran, dass sie uns beschützen werden, damit unser Vorhaben gelingt. Ich weiß“, sagte er, als er den Blick von Amankaya bemerkte, „wir sind deshalb nicht unverletzbar und müssen besonnen handeln und gut achtgeben auf unserer Reise. Die Botschaft der Steine ist, dass der Wandel begonnen hat und diese Welt eine bessere werden kann. So viele Tiere auf dieser Welt sind entmutigt und leben in Angst, denn der Mensch herrscht mit Schrecken über diese Erde. Doch es gibt Hoffnung! Und viele Menschen, die erkannt haben, dass es so nicht weitergehen kann, auch wenn es noch zu wenige sind. ‚Diese Erde soll ein glücklicher Ort für alle Wesen werden.‘ Erinnert ihr euch an die letzten Worte Tamaruks?“

Shazan blickte in den heller werdenden Himmel und dann zu seinen Freunden. „Wir müssen handeln und ein Zeichen setzen, auch wenn wir uns weiterhin in Gefahr begeben. Wir sind es der Erde schuldig und all unseren Brüdern und Schwestern.“

Araun neigte den Kopf als Zeichen des Respekts vor seinem alten Freund.

Lila tat es ihm gleich und Terik blickte bewundernd zu Shazan.

„Weise Worte hast du gesprochen, Shazan, doch dein Vorhaben erfüllt mich mit Sorge. Und ich würde gerne mit dir ziehen, wie im Frühling, als wir gemeinsam zu unserer Suche nach dem magischen Kristall aufgebrochen sind. Aber Leilani wird an deiner Seite sein, so sagt es die Vision voraus. Und mir …“ Terik geriet ins Stocken. „Mir scheint etwas anderes beschieden, denn ich muss Lila helfen, den schwarzen Diamanten zurückzubringen.“

Lila nickte stumm. Sie hatte ihn an ihrer Seite gesehen.

„Lila?“, fragte Shazan beunruhigt.

„Nun ja“, meinte sie zögerlich. „Es ist wahr – in meiner Vision sah ich auch Terik. Unsere Aufgabe wird es sein, den Diamanten an seinen ursprünglichen Platz im Norden zurückzubringen und dabei soll er mich mit dem Rubin begleiten, denn wie sollte ich allein und ohne die Magie der Steine wieder nach Hause gelangen? Ich bin schon älter, aber selbst für eine junge Eule wäre eine solche Reise sehr weit und kaum zu schaffen.

Daher muss Terik mitkommen, so will es die Vorsehung. Zwar bereitet mir der Gedanke an diesen Ort Kopfzerbrechen – wahrscheinlich deshalb, weil er im ewigen Eis liegt –, aber ich glaube fest daran, dass uns die Kraft des Rubins beschützen wird.“

Shazan blickte nachdenklich zu Terik. Was würde sein Bruder dazu sagen? Würde Mimo seinen Sohn zu dieser Mission aufbrechen lassen?

Dieser Teil der Welt war das Land der Schattendrachen gewesen!

„Ach Freunde“, sagte Amankaya, „der Gedanke, dass euch etwas zustoßen könnte, betrübt mich sehr. Wir kennen uns erst kurz, und doch …“ Dabei sah sie zu Lila, die ihr besonders ans Herz gewachsen war.

„Auch ich hatte eine Vision, die das Bild ergänzt, das die magischen Steine gestern Nacht am Himmel entstehen ließen. Ich lief mit dem Smaragd durch den Regenwald und begegnete Menschen, die seit jeher mit der Natur und uns Tieren verbunden sind. Unter ihnen gibt es einige, denen man Zauberkräfte nachsagt. Einmal wurde ein Tier meiner Herde sehr krank und einer von ihnen konnte es retten. Ich weiß nicht, wie er es getan hat.“ Sie machte eine kurze Pause. „Immer wieder sah ich das strahlende Licht des Smaragds vor mir und habe im Traum gespürt, dass es mir den Weg weisen würde.“

Lila blickte sie mit einem freundschaftlichen Lächeln an.

„Wir alle werden dich vermissen. Aber durch das Zauberwort sind wir jederzeit in Verbindung und ich bin gespannt, was die Kraft des Steines in deiner Heimat bewirken kann.“

Lila betrachtete den Smaragd einen Moment lang aufmerksam. Er war wunderschön und hatte die Form eines Blattes. ‚Welch besonderer Zauber umgibt die sechs magischen Steine und jeder von ihnen ist außergewöhnlich‘, dachte sie.

„Etwas verstehe ich nicht“, sprach Araun. „Weshalb soll der Diamant wieder zurück an seinen ursprünglichen Platz, ohne dir auf dem Weg dorthin bei einer Aufgabe zu helfen?“ „Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt“, antwortete Lila. „Erinnert ihr euch daran, als Tamaruk sagte, dass vor allem der Diamant und der Rubin die Bewahrer des Gleichgewichts der Erde seien? Ein Gleichgewicht, das außer Rand und Band geriet, als die grauen Drachen in den Kampf gegen die roten Drachen zogen und Tundurkin den schwarzen Diamanten verhexte, damit sie sich seine Kraft zu ihren niederen Zwecken untertan machen konnten.“

Araun nickte.

„Vorhin versuchte ich, mich genau an die magischen Bilder von gestern Nacht zu erinnern. In keinem von ihnen kamen diese beiden Steine vor, damit sie uns bei bestimmten Aufgaben helfen. Wobei der Rubin natürlich eine Hilfe wäre, damit Terik und ich gemeinsam nach Hause gelangen.“

Lila zuckte plötzlich zusammen.

„Was ist?“, fragte Araun, dem das nicht entgangen war. „Fühlst du dich nicht wohl?“

„Ich glaube, ich habe zu viele Feigen gegessen – bei uns zu Hause gibt es die nicht. Anscheinend vertrage ich sie nicht.“

Beruhigt wandte sich Araun an seine Freunde.

„Nun, ich denke, Lila hat wahrscheinlich recht. Es sind vor allem die anderen vier Steine, die hilfreich sein werden. Und es erinnert mich daran, wie alles begann: Mit dem Traum, den mir mein Vorfahre sandte, und in dem er mich bat, die vier magischen Steine zu suchen, die der Erde ihre Kraft geben. Tuf! Du hast uns noch gar nichts erzählt.“

„Auch du nicht“, entgegnete er, „aber ich kann gerne beginnen, denn es dauert nicht lange. Meine Vision war fast die gleiche wie der Traum, den ich heute Morgen hatte. Nur mit dem Unterschied, dass ich mich nicht ganz so verzweifelt fühlte und auch ein Mensch darin vorkam.“

„Tatsächlich?“, unterbrach ihn Amankaya aufgeregt.

„Ja“, meinte Tuf lächelnd. „Doch es war kein klares Bild und ich kann mir das kaum vorstellen, denn ich fürchte mich vor ihnen! Ich weiß noch, wie mir Karun damals einen Menschen beschrieb und wie sehr ich mich erschrocken hatte, als ich das erste Mal einen sah, bevor wir in die Kanalisation einer Stadt hinabgeglitten sind. Es sind furchterregende große Wesen!“

„Das stimmt“, sagte Araun, „wenn man noch nie einen gesehen hat, ist das ein Schreck. Doch umgekehrt ist es genauso für die Menschen, wenn sie zum ersten Mal einen Wolf sehen.“

„Was ist mit Adlern?“, fragte Shazan und grinste verschmitzt.

„Wir sind hoch oben in den Lüften, da machen wir ihnen keine Angst“, antwortete er augenzwinkernd.

„Jetzt erzähle uns von deinem Traum“, bat Tuf ungeduldig.

„Natürlich mein kleiner Freund! Auch er entsprach dem Bild von gestern Nacht. Ich flog mit dem magischen Saphir über weite Landschaften und folgte den Strahlen seines Lichts, so wie Amankaya in ihrer Vision, nur konnte ich diesmal genau erkennen, wohin sie mich führten.“

Einen Augenblick lang schwieg Araun und das Sprechen fiel ihm sichtlich schwer, als er fortfuhr. „Es waren die Orte des Grauens und ich empfand die gleiche Trauer und Abscheu wie an jenem Tag, als ich einen von ihnen das erste Mal entdeckt hatte.“

„Zeigte sich, was du tun sollst?“, fragte Lila.

„Nein. Aber ich wusste, dass mich das Licht des Saphirs leiten würde.“

Shazan blickte bewundernd zu Araun. Er war der Älteste unter ihnen und wie es schien, wartete eine besonders schwierige Aufgabe auf ihn, die große Kraft und innere Stärke erforderte.

Die Strahlen der Morgensonne erreichten jetzt die Oase und vertrieben die letzten Schimmer der Nacht. Von Westen kam Wind auf und bewegte die Palmenblätter unruhig hin und her.

Lila räusperte sich.

„Ich glaube, es wird Zeit, Abschied zu nehmen.“

Amankayas Augen wurden feucht. So sehr sie sich nach ihrer Heimat sehnte, so schwer fiel ihr die Trennung von ihren Gefährten.

„Wer weiß, ob wir uns wiedersehen?“, fragte sie traurig.

Lila hätte gerne etwas Tröstendes erwidert. Auch sie würde Amankaya vermissen, aber tatsächlich war es unwahrscheinlich, dass sie sich wieder begegnen würden. Sie war die Einzige, die von einem anderen Kontinent kam, wohingegen sie selbst und die anderen in der gleichen Gegend im Altaigebirge zu Hause waren.

„Machen wir es uns nicht so schwer“, meinte Tuf aufmunternd. „Und wir können doch über das Zauberwort miteinander in Verbindung bleiben, nicht wahr, Lila? Bisher habe ich es nur mit dir genutzt, aber wenn man sich konzentriert und das Wort kennt, funktioniert es doch sicher auch unter uns Freunden?“

Lila staunte nicht schlecht über den kleinen Tuf. Wie selbstbewusst und klug er seit ihrer ersten Begegnung geworden war!

„Das stimmt und sollte uns ein Trost sein!“, sagte sie und blickte lächelnd zu Amankaya.

„Seht mal dort, am Horizont!“, rief Terik.

„Was ist das?“, fragte Shazan verwundert. „Es sieht wie eine Wolkenwand aus, die sich auf uns zubewegt.“

„Freunde“, sagte Araun besorgt, „mein Blick ist scharf und reicht weit.

Das ist ein Sandsturm! Wir sollten so schnell wie möglich aufbrechen!“

Hastig und schweren Herzens nahmen die Freunde voneinander Abschied, während der Wind von Minute zu Minute stärker aufbrauste und den Sand durch das flirrende Sonnenlicht wirbelte.

„Wenigstens wir müssen noch nicht Lebewohl sagen“, meinte Lila zu Terik und Shazan. „Zunächst kehren wir zurück in unsere Heimat, oder?“