1.png

o

Auszeit in die Liebe

Roman

Monika Arend

o

Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.herzsprung-verlag.de

www.papierfresserchen.de

info@papierfresserchen.de

© 2019 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Telefon: 08382/9090344

Alle Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2019

ISBN: 978-3-96074-049-0 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-86196-952-5 - E-Book

Cover gestaltet von germancreative

Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM: www.literaturredaktion.de

*

Inhalt

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

Nachwort

*

1

Sie schaute in seine dunklen Augen und spürte seine Hände auf ihrer Haut. Eine Welle der Erregung durchströmte ihren Körper. Dann wachte sie auf.

Aus und vorbei.

„Was ist denn hier passiert?“

Julia kauerte auf ihrem Sofa hinter einem von Papiertaschentüchern übersäten Wohnzimmertisch.

„Schneckchen, ich dachte, ich hätte mich in der Wohnung geirrt. Aber dein Name steht an der Tür und der Zweitschlüssel passt. Und eine gewisse Ähnlichkeit mit der wunderschönen Frau, die in diesen Räumen lebt, hast du ja.“ Romeo musterte Julia ausgiebig. „Dein Gesicht sieht … so fremd aus.“

Julia schluchzte auf.

Er kuschelte sich neben sie und nahm sie behutsam in den Arm. „Lass mich raten: Tom?“, fragte Romeo zaghaft, dem es vermutlich das Herz zerriss, seine Freundin so leiden zu sehen.

Diese nickte stumm.

„Heul dich erst einmal aus, und wenn dir danach ist, erzählst du mir, was los ist.“

Eine Weile saßen die beiden wortlos auf Julias Lieblingsmöbelstück. Plötzlich schlug sie mit der flachen Hand auf den Tisch. „Dieser Mistkerl“, platzte es aus ihr heraus.

„Ich bin ganz Ohr.“ Romeo schien erleichtert, dass das Schweigen ein Ende hatte.

„Lass uns einen Wein aufmachen! Das wird eine längere Story.“ Julia erwachte aus ihrer Agonie und schnellte in die Höhe. Zielstrebig ging sie Richtung Küche. „Irgendwo muss noch ein guter Tropfen sein, den ich bei einer Lesung geschenkt bekommen habe. Den gönnen wir uns jetzt.“

Romeo legte die Füße auf einen Sessel und drückte sich noch tiefer in die Kissen.

Seine Freundin kehrte mit der Flasche und einem Korkenzieher zurück und sank, offensichtlich von der kurzen Strecke bereits wieder maßlos erschöpft, neben ihn. „Die Story, die ich dir gleich erzähle, hätte ich meinen Lesern nie zugemutet.“ Julia spie die Worte förmlich aus, als sie den Korken mit einem lauten Plop aus der Flasche zog.

„Ich wollte dich gerade fragen, wie deine Woche war, aber irgendetwas scheint suboptimal gelaufen zu sein. Schieß los.“

„Volltreffer! Also, die Lesereise war nicht das Problem. Vier Tage Norddeutschland, Worpswede, Schortens, Bremerhaven. Am letzten Tag zwei Lesungen in Bremen.“

„Oh, das ist eine schöne Stadt. Kannst du dich an unseren Besuch auf dem Freimarkt erinnern?“

Julia ging nicht auf die Frage ein. „Von Bremen habe ich nur wenig mitbekommen. Ich kann dir nicht einmal sagen, ob die Sonne schien oder ob es geschüttet hat.“ Sie stierte geradeaus. „Meine letzte Lesung fand in einer wunderhübschen Buchhandlung im Schnoorviertel statt. Die Veranstaltung war gut besucht. Die Inhaberin musste sogar noch Stühle aus dem Café nebenan holen. Eine Operndiva, die ich aus der Presse kannte, sprach mich hinterher an. Sie sagte, sie sei ein großer Fan von mir.“ Julia dachte an die elegant gekleidete Frau, die sich durch ihre imposante Erscheinung und ihr selbstbewusstes Auftreten von den anderen Anwesenden unterschieden hatte. „Die nette Buchhändlerin Carina Sänger hatte mich zu einer Nachtwächter-Führung, die direkt im Anschluss an die Lesung stattfand, eingeladen. Die Frau ist nur ein paar Jahre älter als ich. So der Typ beste Freundin.“

„Das hört sich doch toll an!“ Romeo zog die Stirn kraus, da er sich offensichtlich nicht vorstellen konnte, wie Tom ihr den schönen Abend vermiest haben sollte.

„Danach wollten wir in der Schlachte unten an der Weser in einem schicken Restaurant essen gehen. Carina setzte alles daran, mir den Aufenthalt in ihrer Stadt so angenehm wie möglich zu gestalten.“

„Allerhand“, staunte Romeo. Er wusste von seiner Freundin, dass manche Lesungen eher anonym abliefen. Julia empfand Lesereisen als notwendiges Übel. In Bremen schien das Gegenteil der Fall gewesen zu sein.

„Dafür, dass ich den gestrigen Tag sehr lange in Erinnerung behalte, hat jemand anderes gesorgt. Den Namen habe ich ja eben schon erwähnt. Was sich am Abend ereignete, konnte Carina nicht voraussehen.“

„Na, was denn?“ Romeo rutschte aufgeregt auf dem Sofa hin und her.

„Die Führung sollte um 21 Uhr bei den Stadtmusikanten starten. Wir kamen ein bisschen zu spät. Ungefähr ein Dutzend Leute stand bereits um einen sympathischen jungen Mann mit Lederhut und brauner Kutte herum. In der einen Hand hielt er eine große Laterne und in der anderen einen Eisenstab.“

Romeo zog die Stirn kraus. Er versuchte offensichtlich, sich die Szene vorzustellen.

„Plötzlich drehte sich ein Mann aus der letzten Reihe um und schaute in unsere Richtung. Ich traute meinen Augen kaum.“

„Tom!“, riet Romeo, der ja schon mehrere Hinweise von seiner Freundin bekommen hatte.

„Ganz genau! Ich wollte gerade losjubeln, da sah ich, dass er ein kleines Mädchen an der rechten Hand hielt. Von links kam eine höchst attraktive Blondine angeschwebt, die unübersehbar schwanger war. Er lächelte mir zu und gab ihr gleichzeitig liebevoll einen Kuss auf die Wange.“

Romeo hielt den Atem an.

„Zu allem Überfluss kenne ich die besagte Dame. Sie hat mit mir an der Uni in Köln studiert. Wenn sie ihr Studium zu Ende gebracht hat, ist sie jetzt Lehrerin für Geschichte und Deutsch. Uli. Ja, Uli Dröger heißt sie. Na ja, egal. Sie drehte sich ebenfalls zu mir um. Und sie erkannte mich auch.“

„Nein, so ein Zufall. Wie ging es weiter?“

„Ich wollte mich schleunigst aus dem Staub machen, da winkte sie heftig und rief mit glockenheller Stimme: Julia, huhu. Die ganze Gruppe starrte in unsere Richtung.“

„Das war dir sicher mega-unangenehm.“

„Ich machte auf dem Absatz kehrt. Dummerweise kam von hinten ein Radfahrer, dem ich vors Rad lief. Er versuchte, noch rechtzeitig zu bremsen, aber zu spät.“

Romeo hielt den Atem an.

„Er rempelte mich an und ich ging zu Boden. Carina schimpfte wie ein Rohrspatz, denn er hätte dort nicht fahren dürfen. So einen heftigen Wutausbruch hätte ich dieser zarten Person gar nicht zugetraut. Na ja, meine dunkle Hose hatte einen Riss, ansonsten war ich unverletzt.“

„Und was ist mit deinem Bein?“ Romeo tätschelte Julias Oberschenkel.

„Wie gesagt, mir ist nichts passiert.“ Julia nahm einen großen Schluck Wein. Dann fuhr sie fort. „Die Gruppe um den Nachtwächter starrte uns wie gebannt an, als ob wir schon ein Programmpunkt der Führung wären.“

„Immer diese Gaffer!“

„Der Radfahrer, der anscheinend doch ein schlechtes Gewissen hatte, entschuldigte sich bei mir und Carina notierte sich vorsichtshalber seine Anschrift.“

„Sah er wenigstens gut aus? Vielleicht könnt ihr euch mal wiedersehen.“

Julia ignorierte diesen Vorschlag und fuhr fort. „Der Nachtwächter wollte offenbar endlich mit der Führung beginnen und stapfte in unsere Richtung. Die Gruppe folgte ihm. Nichts wie weg, dachte ich. Carina versuchte, Schritt mit mir zu halten. Sie zeterte dabei über das rücksichtslose Verhalten der Radfahrer in Bremen.“

„Das ist ja hier in Köln genauso. Und wer bezahlt die Hose?“

„Die Hose war alt, die wäre sowieso bald im Kleidercontainer gelandet. Körperlich habe ich also keine Blessuren. Aber wenn du aufgepasst hättest …“

„Okay, Tom ist verheiratet, Vater von anderthalb Kindern und du kennst seine Frau“, fasste Romeo zusammen. „Es könnte jedoch sein, dass …“

„Könnte, hätte … Ich habe gehört, wie das kleine Mädchen Papa zu Tom gesagt hat. Und wie stolz er Ulis Bauch betrachtet hat! Ich mache es kurz: Die Führung hat ohne uns stattgefunden. Am liebsten hätte ich diesem Mistkerl eine runtergehauen.“

„Hast du natürlich nicht“, vermutete Romeo.

„Nein, natürlich nicht. Nach dem Essen mit Carina, das ich überhaupt nicht angerührt habe, sind wir in eine gemütliche Retro-Kneipe am Ostertor gegangen. Du wärest begeistert gewesen. Die Speisekarten lagen in alten Bravo-Zeitschriften und es gab sogar einen Fotoautomaten. Aber ich konnte es überhaupt nicht genießen.“

„Ich liebe Fotoautomaten!“, kreischte Romeo und hielt sich die Hand vor den Mund. „Hat sich dieser Schmierfink denn noch einmal bei dir gemeldet?“

„Von Tom kam nichts. Keine Nachfrage, ob mir etwas passiert sei, und keine fadenscheinige Entschuldigung für sein Verhalten.“ Julia erinnerte sich, dass sie ihr Handy-Display nicht aus den Augen gelassen hatte. „Der Schnaps, den Carina für mich bestellte, hieß Kollateralschaden. Da reichten drei bis vier Gläschen, um mich auszuknocken. Der neben mir stehende Gast konnte mich soeben noch auffangen, als ich vom Barhocker kippte. Carina bestellte uns schleunigst ein Taxi und half mir hinaus. Sie begleitete mich zu meinem Hotel und brachte mich aufs Zimmer.“

„Meine arme Schnecke! Hattest du genügend Aspirin dabei?“

„Habe ich grundsätzlich. Als ich heute Morgen gegen neun Uhr aufwachte, war mein erster Gedanke: ganz böser Traum ... Leider kam meine Erinnerung bald zurück.“

Romeo hielt den Kopf schief. „Hammer!“

„Wenn er sich wenigstens verteidigt und gebeten und gebettelt hätte, dann hätte ich unserer Beziehung würdevoll ein Ende setzen können.“

„Soll ich dir was sagen?“ Romeo wartete die Antwort gar nicht erst ab. „Herzlichen Glückwunsch!“

Julia brach erneut in Tränen aus. „Ich habe ihn so geliebt. Den oder keinen, da war ich mir ganz sicher. Nicht nur, weil er attraktiv und intelligent ist. Wir haben beide den gleichen Humor. Wie kann er mir das antun?“

„Sprechen wir von derselben Person? Ich fand ihn immer ziemlich humorlos.“

„Vor zwei Wochen haben wir den Wohnungsmarkt in der Samstagszeitung studiert. Tom meinte, es wäre an der Zeit, uns ein gemeinsames Nest in Köln zu suchen. Meine Wohnung wäre schließlich viel zu klein für uns beide.“

„Das hast du gar nicht erzählt!“, schrie Romeo.

„Es war ja nicht konkret. Bei den Wohnungsanzeigen, die er angestrichen hatte, habe ich immer nur gestaunt, dass man so viel Geld für Miete ausgeben kann. Ich persönlich wollte mir noch Zeit lassen. Ich hänge an meiner Wohnung. Und natürlich an dir.“ Julia tätschelte liebevoll Romeos Arm. „Im Nachhinein setzt sich alles wie ein Puzzle zusammen. Tom hat immer nur Andeutungen gemacht, dass sein erster Wohnsitz in einem kleinen Ort irgendwo im Norddeutschen ist. Genaueres wusste ich nicht von ihm.“

„Wolltet ihr nicht übernächstes Wochenende gemeinsam nach Paris?“

Julia schaute Romeo entsetzt an. Anscheinend hatte sie daran gar nicht mehr gedacht. Ihr fehlten die Worte.

Ihr Kumpel fuhr fort: „Du mit diesem Kerl in der Stadt der Liebe …Na ja, das hat sich ja jetzt erledigt.“ Er versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken.

Julia fühlte sich, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen. „Unsere erste gemeinsame Reise, drei Tage am Stück. Dabei war es seine Idee. Ich habe mich seit Wochen darauf gefreut und wäre nie auf die Idee gekommen, dass er ein Doppelleben führt.“

„Ist schon erstaunlich, wie sich manche Kerle verstellen können. Seine Frau hätte nur aufs Smartphone schauen müssen.“

„Das hat er immer gehütet wie seinen Augapfel. Es lag nie herum. Im Netz hat er auch nur unverfängliche Spuren hinterlassen. Er benutzt bestimmt mehrere Handys.“

„Oh ja. Für jede Liebschaft ein anderes. Das stelle ich mir anstrengend vor. Das Schlimme ist, solche Typen versuchen es immer wieder, Schneckchen. Ich bin überzeugt, in zwei bis drei Wochen sucht er sich eine neue Nebenfrau.“

„Dabei sieht Uli hammermäßig aus, im Gegensatz zu mir grauen Maus.“

„Jetzt mach dich nicht so schlecht. Ich habe es dir bereits gefühlte tausend Mal gesagt: Wenn ich auf Frauen stehen würde, wären wir beide schon lange verheiratet und hätten einen ganzen Stall voll Kinderchen.“

Julia betrachtete Romeo. Seine blonden Haare, die geschmackvolle Brille, die Grübchen, die sich in seinen Wangen abzeichneten, wenn er lächelte, das kleine Ziegenbärtchen, das beim Sprechen auf und ab ging. Er war stets makellos gekleidet, selbst wenn er sich zu Hause aufhielt.

Die beiden Kölner kannten sich seit der Grundschulzeit und hatten vor zehn Jahren gemeinsam Abitur gemacht. Julia hatte danach ein Lehramtsstudium in ihrer Heimatstadt aufgenommen.

Romeo war ebenfalls in Köln geblieben, hatte eine Schneiderlehre absolviert und wollte im Anschluss daran Modedesign studieren. Da er chronisch pleite war, suchte er sich eine Stelle im Einzelhandel, um zunächst als Verkäufer Geld zu verdienen. Inzwischen hatte er sich zum Abteilungsleiter in der Schuhabteilung einer großen Kaufhauskette in der Kölner Innenstadt hochgearbeitet.

Julia spürte schon mit sechzehn, dass ihr Freund sich nicht für Frauen interessierte. Daher war eine Liebesbeziehung zwischen den beiden nie ein Thema. Mit Anfang zwanzig outete sich Romeo, der eigentlich Robert hieß. Julia, die zu dieser Zeit bereits einen ersten Liebesroman entworfen hatte, verpasste ihm seinen Kosenamen. Mit seiner attraktiven Erscheinung und seinem sympathischen Wesen war er schon einmal als Vorlage in Julias Romanwelt aufgetreten. Er war ihre Muse, ihr Kummerkasten, ihr Vertrauter, einfach ihr bester Freund.

Vor drei Jahren war sie in dasselbe Haus wie Romeo gezogen, nachdem dort eine Wohnung frei geworden war. Seitdem unternahmen sie noch mehr miteinander.

„Vergiss den Mistkerl, stürz dich in die Arbeit. Ich habe den Typen nie leiden können. Ein Aufschneider, wie er im Buche steht!“ Romeo war aufgesprungen und machte eine Geste, als wolle er mit einem Schwert einen imaginären Gegner niederstrecken. „Fahr zur Hölle, du Dummkopf!“ Julia kämpfte erneut mit den Tränen. Romeo plumpste wieder auf das Sofa, sodass das Polster nachgab. „Irgendwann wirst du es genauso sehen. Du bist jung, hübsch, intelligent und hast so einen Schaumschläger nicht nötig.“

„Uli tut mir leid.“ Julia ballte die Fäuste. „Entweder ist sie blind oder sie will es nicht wahrhaben“, fuhr Julia nun etwas gefasster fort.

„Am liebsten würde ich sie anrufen und ihr die Augen öffnen.“

„Bloß nicht! Vielleicht kommt sie ihrem Göttergatten eines Tages auf die Schliche und dann soll sie selbst entscheiden, was das Beste für sie und ihre Kinder ist.“

Romeo legte seinen Arm erneut um Julias Schultern. „Ich bin so froh, dass du wieder hier bist.“

„Zum Glück war die Lesereise gestern zu Ende und ich hatte den Zug für heute Mittag gebucht. Auf der Rückfahrt gingen mir so viele Dinge durch den Kopf. In Zukunft werde ich auf jeden Fall die Finger von den Männern lassen. Ich komme gut alleine klar.“

„Bei mir machst du doch eine Ausnahme?“, fragte Romeo und zwinkerte Julia zu.

„Ach, Romeo, wenn ich dich nicht hätte!“

Sie schauten einen Krimi, in dem es um eine betrogene Ehefrau ging, die sich auf perfide Weise an ihrem Ehemann rächte. Irgendwann schaltete Julia den Apparat aus. Romeo war auf der Couch eingenickt und sie verzog sich leise ins Schlafzimmer.

Julia schwor sich: Lieb war gestern. Sie würde ihr Leben gründlich umkrempeln. Koste es, was es wolle.

*

2

Köln, 10. Juli 1944

Geliebtes Tagebuch,

seit Wochen haben wir nicht mehr durchgeschlafen. Fast jede Nacht gibt es Fliegeralarm und kurz darauf nähert sich das Brummen der Bomber. Sobald die Sirene ertönt, schnappt sich Mama den kleinen Koffer mit den Papieren und Wertgegenständen. Ich nehme Gustel, die letzte Woche sieben Jahre alt geworden ist, an die Hand und wir steigen eilig die schmale Treppe in den dunklen Luftschutzkeller hinab. Wir haben dies schon etliche Male gemacht und es wird langsam zur Gewohnheit. Unten treffen wir auf verängstigte Frauen und Kinder, die dicht an dicht auf provisorischen Bänken und alten Stühlen hocken. Der Keller ist nur spärlich beleuchtet. Es ist staubig und riecht nach Lehm und fauler Erde.

Papa hat für Rosel und Gustel Bretter und Decken über eine riesige Kartoffelkiste gelegt, damit sie im Keller weiterschlafen können. Ich quetsche mich immer zwischen meine Eltern und würde am liebsten in Papa hineinkriechen. Gustel weigert sich neuerdings, sich auf das provisorische Bett zu legen, und drückt sich auch ganz eng an ihn. Papa legt dann seine großen Hände auf ihre Ohren, damit sie nichts hört. Gestern sagte ein Nachbar zu Mama: „Der Luftschutzkeller ist schlimmer als die Front. Mit den Gasangriffen können sie uns da unten alle ausräuchern.“

***

Julia wälzte sich in ihrem Bett und fand keinen Schlaf. Sie dachte an Tom und bekam eine Gänsehaut. Ihr Körper und ihr Geist befanden sich sofort wieder in Aufruhr. Sie war überzeugt, wenn er heute Nacht vor ihrer Tür stehen und Einlass begehren würde, würde sie ihn ohne zu Zögern am Hemdkragen in die Wohnung zerren.

Sie hörte, wie die Wohnungstür leise hinter Romeo ins Schloss fiel. Sie musste sich mit sinnvollen Aktivitäten von ihrem Liebeskummer ablenken. Julia stand seufzend auf und schleppte sich an ihren überdimensionalen Schreibtisch. Ein Blick auf ihren Kalender bestätigte ihr Empfinden: noch drei Tage bis Vollmond.

Normalerweise nutzte sie diese Phasen, um stundenlang zu schreiben. Die Worte flutschten ihr dann wie von Zauberhand in die Tasten. Im Moment war ihr Schreibfluss jedoch versiegt. In ihrem Kopf herrschte gähnende Leere. Sie fühlte sich nicht einmal mehr in der Lage, Mails oder Fanpost zu beantworten, und machte sich Sorgen um ihr kreatives Schreibtalent. Wie sollte sie in einer derart negativen Stimmung in Zukunft Geschichten über glückliche Menschen zu Papier bringen?

Lustlos blätterte sie in ihrem neuesten Roman und las:

Bianca lag entspannt auf dem weichen Bett der Safari-Lodge. Lediglich ein Seidenschal bedeckte ihre Haut. Schweigend kuschelte Mario sich neben sie und streichelte sanft ihre Brüste. Draußen brüllte ein Löwe.

Julia fragte sich zum wiederholten Male, wie sie es schaffte, dem Leser solche erotischen Szenen authentisch zu vermitteln. Tom hatte sie gewiss nicht dazu inspiriert. Besonders in letzter Zeit war der Sex mit ihm nur noch ein kurzes Aufbegehren gewesen. Wenn er sie besucht hatte, rissen sie sich schon nach wenigen Augenblicken die Kleider vom Leib. Julia hatte es darauf zurückgeführt, dass sie sich oft wochenlang nicht gesehen hatten. Sie saugten sich regelrecht aneinander fest. Jetzt wusste sie, für ihn ging es dabei nur noch um Befriedigung seines sexuellen Verlangens. Wahrscheinlich hatte Romeo recht und Tom tobte sich auch in den Betten anderer Frauen aus.

In düsterer Stimmung beschloss sie, eine Mail an diesen Mistkerl zu formulieren. Wie von Sinnen suchte sie nach den richtigen Worten, um dann alles wieder zu löschen. Sie wollte sich ihren Frust von der Seele schreiben, aber vermutlich würde er die Mail niemals lesen. Warum sollte sie sich also die Blöße geben?

Ihr Blick glitt auf die Poster aus dem Film Herr der Ringe, die neben schönen Landschaftsaufnahmen von Neuseeland die Wände ihres Arbeitszimmers schmückten. Ihr großer Traum bestand darin, eines Tages eine ausgedehnte Reise ins Land der Kiwis zu unternehmen. Am liebsten würde sie sofort die Koffer packen, ans andere Ende der Welt fliegen und alle Probleme hinter sich lassen. Aber so einfach war das nicht.

Grundsätzlich fühlte sie sich in ihrer Parterre-Wohnung, ihrem Nest, ihrem Rückzugsort, ihrer Schreiboase in der ruhigen Seitenstraße in Köln-Lindenthal sehr wohl. Romeo wohnte über ihr im ersten Stock. Abends hockten die beiden meist in Julias gemütlichem Wohnzimmer und tauschten sich über die Erlebnisse des Tages aus. Aber Tom hatte dieses Nest beschmutzt. Er war hier ein- und ausgegangen, wie es ihm beliebte.

Sie pfefferte seine Geschenke in einen großen Karton, der noch vom letzten Einkauf achtlos in der Küche stand: einen Glasdelfin, einen edlen Brieföffner, ein Moleskine-Notizbuch, eine goldene Kette, die sie bis gestern Tag und Nacht um den Hals getragen hatte, ein wertvolles Buch. All diese Dinge waren von jetzt auf gleich Giftmüll in ihrer Wohnung, den sie schnellstens entsorgen musste. Sie würde den Karton am nächsten Morgen auf die Straße stellen und mit einem Schild zu verschenken versehen.

Das Ausrangieren wirkte wie ein Befreiungsschlag. Ihr wurde bewusst, dass Tom keine persönlichen Gegenstände in ihrer Wohnung gelagert hatte, sonst hätte sie diese ebenfalls fortgeschafft.

Als Nächstes nahm sie sich ihren Schreibtisch vor. Zuerst schredderte sie die wenigen Briefe, die Tom ihr geschrieben hatte. Seine Mails und die SMS hatte sie bereits ausnahmslos gelöscht. Vertieft in das Ausmisten hielt sie ein verblichenes Büchlein, das in einem schlichten Umschlag steckte und bis auf einen kleinen Wasserfleck unversehrt war, in den Händen. Das Tagebuch ihrer Oma Marie. Es übte eine magische Anziehungskraft auf Julia aus. Allmählich ließ der Schmerz über den Tod ihrer geliebten Oma nach. Diese hatte im letzten Jahr ihren 87. Geburtstag gefeiert und sich zu diesem Zeitpunkt offensichtlich noch bester Gesundheit erfreut.

Julia erinnerte sich gut an den Samstag zwei Wochen später, der überaus positiv begonnen hatte. Morgens bekam sie die Zusage für die Veröffentlichung ihres vierten Romans vom Verlag. Nachmittags öffnete sie aus diesem Anlass eine Flasche Champagner mit Romeo. Plötzlich spielte ihr Handy Breathless von den Corrs und sie sah im Display die Nummer ihrer Mutter Gerlinde. Julia fiel ein, dass sie ihr noch nicht von ihrem Erfolg erzählt hatte.

„Oma ist tot!“ Die Stimme ihrer Mutter klang tieftraurig.

Julias Oma war für ein paar Tage zu ihrer Tochter an den Chiemsee gereist. Nach einem ausgiebigen Spaziergang hatte sich die Seniorin am frühen Abend hingelegt. Als Gerlinde noch einmal nach ihr schaute, war sie für immer friedlich eingeschlafen.

Nachdem die Worte ihrer Mutter sich wie Giftpfeile in ihr Gehirn gebohrt hatten, sank Julia auf den Boden und vergoss bittere Tränen. Romeo teilte ihren Kummer, da er ebenfalls an der agilen Dame gehangen hatte. Das gute Verhältnis beruhte auf Gegenseitigkeit. Romeo war für Julias Oma fast wie ein zweiter Enkel.

Besonders nach dem Umzug von Julias Mutter vor sechs Jahren nach Bayern zu ihrem Freund, Herbert, waren Oma und Enkelin noch enger zusammengerückt.

In die Phase der tiefen Trauer fiel Julias Besuch eines klassischen Konzertes in der Kölner Philharmonie mit einer Nachbarin. Neben Julia saß ein attraktiver Mann, Anfang 30, im maßgeschneiderten Anzug mit edlen Schuhen. Seine akkurat frisierten Haare passten perfekt zu seinem makellosen Outfit. In der Pause sprach er Julia an und stellte sich als Tom Bitzer vor. Er arbeitete als freier Journalist und reiste daher viel durch die Republik. Er fragte, ob sie ihm und seinem Kollegen ein gutes Restaurant in der Nähe empfehlen könnte, und erzählte, dass er ursprünglich aus Norddeutschland stamme, aber sehr viel auf Reisen sei. Daher habe er sich auch mit der Suche nach einer Partnerin und der Gründung einer Familie bis jetzt Zeit gelassen.

Sie gab ihm bereitwillig ihre Handy-Nummer, falls er weitere Tipps für seinen Aufenthalt in Köln benötigte. Zwei Tage später lud er sie zum Abendessen in ein edles Restaurant in der Altstadt ein. Seine dunklen Augen, seine pechschwarzen Haare und die gepflegten Hände zogen Julia magisch an. Sein männlicher Geruch, der noch durch das Benutzen eines exklusiven Aftershaves verstärkt wurde, brachte sie fast um den Verstand. Wie selbstverständlich nahm sie ihn mit zu sich nach Hause. Sie liebten sich überall. In der Badewanne, auf dem Sofa und in ihrem Schlafzimmer.

Im vergangenen Jahr hatten sie sich alle paar Wochen gesehen, immer in Köln. Wie hatte sie so sicher sein können, den Mann fürs Leben gefunden zu haben, dachte sie. Wie überzeugend hatte er ihr seine Liebe vorgespielt und von einer gemeinsamen Zukunft gesprochen!

Als sie das kleine Tagebuch ihrer Oma aufschlug, hatte sie Tom nach wenigen Zeilen erst einmal vergessen und war tief in die Zeit des Zweiten Weltkrieges eingetaucht. Ihre Oma hatte ihr das Büchlein einige Wochen vor ihrem Tod mit den Worten gegeben: „Damit du immer weißt, wie gut es euch heute geht.“

Julia musste ihrer Oma recht geben. Der heutigen Generation fehlte es an nichts. Köln war schon lange wieder aufgebaut, man musste nicht befürchten, über Nacht seine Wohnung oder sogar sein Leben zu verlieren. Kinder konnten zur Schule gehen und einigermaßen gefahrlos im Freien spielen. Viele Eltern überhäuften ihre Kinder mit Freizeitangeboten und materiellen Gütern, dass diese den Wohlstand kaum noch zu schätzen wussten. Julia erinnerte sich, dass sie das Tagebuch schon oft in den Händen gehalten hatte, aber nach ein paar Sätzen wieder hatte weglegen müssen, weil ihr die Tränen übers Gesicht strömten. Die Lektüre passte allerdings zu der Weltuntergangsstimmung, in der sie sich im Moment befand.

1944 hatte ihre Oma mit ihrer Mutter und ihren drei Geschwistern unter größten Anstrengungen Köln verlassen und Schutz in Fritzlar bei Verwandten suchen müssen.

Sofort hatte sie ein Bild vor Augen, das bei ihrer Oma in der Küche hing. Die Schwarz-Weiß-Aufnahme des Rolandbrunnens auf dem Marktplatz von Fritzlar. Davor stand eine junge Frau. In ihrer Kindheit hatte Julia das Bild sehr häufig betrachtet und sich vorgestellt, selbst vor den hübschen Häusern zu stehen, einen Korb mit Gemüse im Arm, und dann nach Hause zu gehen, um ihrem Liebsten ein schönes Essen zu kochen.

Neben dem Tagebuch hatte Julia noch ein Kuvert aus der Schublade gezogen, das ebenfalls fast in Vergessenheit geraten war. In dem Umschlag steckten alte Aufnahmen von Fritzlar und auch von Familienangehörigen, die dort lebten. Jede Bildrückseite trug einen Vermerk mit dem Aufnahmedatum und den Namen der Personen auf den Fotos. Auf einem stand in großen Lettern: Tante Lucie und Onkel August. Sie betrachtete die zierliche Frau mit dem dunklen, gelockten Haar, die ein knielanges Kleid mit einem weißen Einsatz in der Mitte trug und scheu in die Kamera schaute. Der schlanke Mann im Anzug, vermutlich ihr Ehemann, der dicht neben ihr stand, überragte seine Frau mindestens um einen Kopf. Sein Gesicht zierte ein gewaltiger Schnauzbart. Julia konnte ihr Alter schlecht schätzen. Vermutlich hatten sie die dreißig noch nicht erreicht.

Bereits nach wenigen Seiten wurde Julia bewusst, dass sie die Liebe zum Schreiben offensichtlich von ihrer Oma geerbt hatte, auch wenn diese im Gegensatz zu Julia nie öffentlich geschrieben hatte. Langsam tauchte sie wieder aus den furchtbaren Schilderungen des Tagebuches auf und starrte in die Dunkelheit. Dann fasste sie einen Entschluss.

*

3

Köln, 28. Juli 1944

Geliebtes Tagebuch,

die Zeit ist knapp, daher kann ich nur ein paar Zeilen schreiben, aber das Herz ist mir so schwer. Heute riefen Papa und Mama meinen Bruder Heinrich und mich zu sich und sagten uns, dass wir aus Köln wegmüssen, da es hier viel zu gefährlich geworden ist. Unser Haus kann jederzeit von Bomben getroffen werden. Wir werden die nächsten Monate oder sogar Jahre, bis der Krieg vorüber ist, bei Tante Lucie in Fritzlar wohnen. Sie zieht zu ihrem Vater, Onkel Erwin, der einen großen Bauernhof besitzt. In Fritzlar ist es sicherer, da dort keine Luftangriffe geflogen werden, und wir können zur Schule gehen. Papa darf Köln nicht verlassen. Als Bäcker muss er dafür sorgen, dass der Hunger in unserer Stadt nicht noch größer wird. Wir dürfen aber mit niemandem darüber sprechen, da viele Leute aus Köln wegwollen und es nur wenige Möglichkeiten gibt, die Stadt zu verlassen.

***

„Fritzlar, wo ist das denn?“ Romeo stand vor Julias Küchentisch und streute geriebenen Käse über eine bereits üppig belegte Pizza. Er liebte italienisches Essen und kochte leidenschaftlich gerne. Auf seinen Hüften zeigten sich schon die ersten Anzeichen der abendlichen Schlemmerorgien. Da Julia ihm nicht sofort antwortete, versuchte er, sie aus der Reserve zu locken. „Du lässt dich gehen, Schneckchen. Habe ich dir das bereits gesagt? Die Augenringe und das strähnige Haar stehen dir überhaupt nicht. Bitte sag mir nicht, dass dir die Sache mit diesem Vollpfosten dermaßen nachläuft!“

„Danke, Romeo, du baust mich auf. Natürlich läuft mir die Sache nach.“

„Am besten gehen wir am Wochenende mal wieder aus.“

„Vergiss es!“ Julia stand nicht der Sinn danach, um die Häuser zu ziehen.

„Oder wir laden Freunde ein.“

„Ich habe keine Freunde. Außer dir. Ich bin eine einsame, langweilige, unnahbare Schriftstellerin.“

„Papperlapapp. Du übertreibst maßlos.“ Er naschte am Käse und überlegte. „Dann laden wir halt meine Freunde ein. Die meisten kennst du ja. Wir machen Fondue oder Raclette, spielen Gesellschaftsspiele oder schauen Videos aus den 80ern.“

Julia schauderte bei dem Gedanken an Romeos extrovertierte Freunde. Wenn sie in Stimmung war, konnte sie mit ihnen viel Spaß haben. Aber im Moment würde ein Abend in ihrer Gesellschaft das Gegenteil bewirken. „Also, du willst wissen, wo Fritzlar ist. Schau, hier.“ Sie zeigte auf den Bildschirm ihres Laptops. „Die Stadt liegt nicht weit von Kassel entfernt. Die Edertalsperre ist um die Ecke, falls dir diese etwas sagt.“

Romeo wischte sich die Finger an seiner Schürze ab und öffnete die Internetsuchmaschine auf seinem Smartphone, um sich Bilder des fraglichen Ortes anzeigen zu lassen. „Wie sieht es denn da aus? Ist das die Kulisse von einem Heimatfilm? Oder nein, das ist so ein Freilichtmuseum, nicht wahr? Die Häuschen sehen aus, als müssten sie sich gegenseitig stützen, damit sie nicht umfallen.“

„Nein, das ist alles echt. Die Stadt wurde im Krieg kaum zerstört.“

„Wohin man schaut, nur Fachwerk. Wie putzen die denn die Fenster? Da ist ja überall Holz eingearbeitet.“ Romeos Interesse war geweckt. Er scrollte weiter nach unten. „Nee, dat jit et doch jar nit! Guck dir mal den Dom an. Der ist ja erstaunlich groß für so einen kleinen Ort. Da ist sogar ein Fachwerkturm eingebaut. Wie viele Einwohner hat Fritzlar eigentlich?“ Romeo, der Köln grundsätzlich nie für länger als eine Woche verließ, war sichtlich beeindruckt.

„Hier steht es“, Julia hatte die entsprechende Seite in einem Nachschlagewerk geöffnet. „So um die 14.000.“

„Also, warum willst du nach Fritzlar, Schneckchen?“

„Früher habe ich in der Küche meiner Oma oft das Bild mit dem hübschen Brunnen auf dem Marktplatz betrachtet, das jetzt in meinem Arbeitszimmer hängt, und mir so oft gewünscht, ich könnte dort sein.“

„Da warst du noch klein.“

„Im Tagebuch meiner Oma ist ihre Flucht von Köln nach Fritzlar beschrieben. Mein Uropa stammte von dort. Er war im Alter von zwanzig Jahren nach Köln gekommen. Seine Verwandten haben meine Uroma mit ihren vier Kindern für mehr als ein Jahr bei sich aufgenommen, bis der Krieg vorbei war.“

„Wie selbstlos von ihnen.“

„Das finde ich auch. Der Familie blieb damals nicht viel Zeit, die Reise zu planen. Es ging ums nackte Überleben. Wenn meine Oma in Köln beim Bombenangriff ums Leben gekommen wäre, dann gäbe es mich nicht.“

„Gruselig. Mit wem sollte ich dann jetzt meine Pizza teilen?“ Romeo betrachtete zufrieden sein Werk.

Julia war wieder in die Informationen über Fritzlar vertieft.

„Und du willst übers Wochenende dorthin und schauen, ob das Haus, in dem sie gewohnt haben, noch steht?“

„Nein, du hast mich falsch verstanden. Ich werde mir eine Auszeit nehmen“, wurde Julia deutlich. „Ich gehe für mindestens drei Monate nach Fritzlar.“

„Drei Monate?“ Romeo ließ die Worte sacken und schaute Julia ungläubig an.

„Ganz genau. Ich will nachdenken. Über mein bisheriges Leben, die Männer, die Schreiberei.“

„Du weißt schon, dass die Midlife-Crisis normalerweise ab 40 beginnt. Ich habe jedoch einmal gelesen, dass es eine Krise mit 30 gibt. Das ist nicht selten, aber meistens geht es gut aus.“

„Darüber mache ich mir jetzt keine Gedanken. Für mich steht fest, dass ich keine Liebesromane mehr schreiben werde.“

„Was?“ Romeo, der soeben die Pizza in den Ofen schieben wollte, wäre beinahe das Blech aus den Händen gerutscht. Er schaute seine Freundin fassungslos an. „Das ist nicht dein Ernst! Ich bin schließlich dein treuester Fan. Du weißt doch, wie ich jedes deiner Bücher verschlinge. Und immer laufen mir am Schluss die Tränen übers Gesicht. Das kannst du mir nicht antun.“ Romeo sah aus, als hätte man ihn geschlagen.

„Lass mich erst einmal die Auszeit nehmen. Vielleicht überlege ich es mir noch. Oder ich schreibe in Zukunft ausschließlich über Homos.“

Romeo strahlte über das ganze Gesicht. „Dann werde ich dein Co-Autor.“

Die beiden grinsten sich an. Romeo war Julias Muse. Sie erinnerte sich, wie sie vor zwei Jahren eine Schreibblockade hatte. Eines Abends hockten sie in ihrem Wohnzimmer und feierten Romeos Beförderung zum Abteilungsleiter. In der ausgelassenen Stimmung dachten sie sich die wildesten Geschichten aus.

„Sonst schreib doch über eine Frau, die zahlreiche Verehrer hat, aber zur Bedingung macht, dass ihr Freund beim Sex nagelneue Turnschuhe trägt. Mit diesem Fetisch schreckt sie alle Männer ab, bis einer kommt, der einverstanden ist. Aber nur, wenn sie auch Turnschuhe im Bett anzieht. Und so lieben sie sich jeden Tag, splitterfasernackt und nur mit nagelneuen Turnschuhen bekleidet.“

„Romeo, das kurbelt vielleicht den Umsatz in eurem Laden an, aber nicht den Verkauf meiner Bücher.“ Julia hatte sich auf die Schenkel geklopft vor Lachen. Zwei Tage später war ihre Schreibkrise überwunden.

Romeo holte sie mit seinen Fragen zurück in die Gegenwart. „Und wo willst du wohnen? Du kennst doch da niemanden.“

„Ich suche mir eine Pension. Ich habe etwas gespart.“

„Okay, ich komme mit. Ich habe noch Resturlaub.“

„Romeo, drei Monate.“

„Na und. Ich packe Überstunden mit rein.“

„Ich fliege nicht um die halbe Welt, ich bin nur ungefähr 250 Kilometer von Köln entfernt. Wir können mailen, skypen, telefonieren. Du kannst mich natürlich gerne besuchen kommen.“

„Trotzdem lasse ich dich nicht gerne fahren. Du wirkst so niedergeschlagen, fast schon depressiv.“

„Diese Reise soll Abhilfe schaffen. Ich brauche räumlichen Abstand.“

Romeo verteilte die Pizza auf zwei Teller. „Na ja, tu, was du nicht lassen kannst. Du weißt, wenn etwas ist, bin ich jederzeit für dich da.“ Er schob sich ein großes Stück Pizza in den Mund und sagte: „Und dass du mir nicht vom Fleisch fällst. Ich mache mir ernsthafte Sorgen um dich.“

Nachdem Romeo sich wieder in seine Wohnung verzogen hatte, erstellte Julia eine Liste, was sie die nächsten Tage alles erledigen musste. Ganz oben auf die Liste schrieb sie:

Tom für immer aus dem Gedächtnis streichen.

*

4

Köln, 30. Juli 1944

Geliebtes Tagebuch,

morgen ist es soweit. Ich werde gemeinsam mit meinen Geschwistern und Mama aus Köln abreisen. Jedes Kind darf einen Schulranzen mitnehmen. Rosel und Gustel werden außerdem ihre Lieblingspuppen im Arm halten. Meine Schwestern sind noch so klein und ohne ihre Puppen können sie nachts nicht schlafen.

Ausgerechnet jetzt, wo ich zum ersten Mal verliebt bin, muss ich aus Köln weg. Paul, der bei uns in der Lechenicher Straße wohnt, und ich kennen uns schon lange. Aber letzte Woche hat er mir seine Liebe gestanden und ich bin in seine Arme gesunken. Eben bin ich zu ihm gelaufen und habe ihm die traurige Nachricht überbracht, dass ich Köln verlassen werde. Wir haben uns geküsst und bittere Tränen vergossen. Uns blieben nur noch wenige Minuten. Aus Draht haben wir uns provisorische Ringe gebastelt. Ob wir uns jemals wiedersehen werden? Es bricht mir das Herz.

***

„Mia. Schön, dass du Zeit für mich hast.“ Julia setzte sich zu der eleganten Frau an einen Fenstertisch im ältesten Studentencafé auf der Zülpicher Straße in Köln-Sülz und bestellte sogleich einen Latte Macchiato.

Ihr Gegenüber lächelte mitfühlend. „Du klangst so niedergeschlagen am Telefon. Da habe ich mir direkt einen Termin für dich freigeschaufelt. Du weißt, wenn du Probleme hast, kannst du jederzeit mit mir reden, nicht nur beruflich.“ Mia wohnte nicht weit vom Café entfernt in einem kleinen Einfamilienhaus, eine Rarität in dieser Wohngegend. Das Haus gehörte ihren verstorbenen Eltern. Nach deren Tod war die Agentin dort mit ihren Rassekatzen eingezogen.

Julia betrachtete Mia, die wie immer modisch gekleidet und perfekt gestylt war. Die 45-Jährige trug das kastanienbraune Haar zu einem akkuraten Bob geschnitten. Auf ihrer Nase saß eine Designerbrille. Ihre Fingernägel waren manikürt und die Hände lagen im gleichen Abstand rechts und links neben der Tasse. Eigentlich passte sie nicht in die lockere Atmosphäre dieses Cafés. Sie schien jedoch ein regelmäßiger Gast zu sein, denn die Bedienung sprach sie mit ihrem Vornamen an.

Obwohl Julia seit fünf Jahren mit ihrer Agentin fest zusammenarbeitete, war sie in ihrer Gegenwart immer ein wenig befangen. Es lag ihr fern, in Mias Anwesenheit in Tränen auszubrechen und zu jammern.

„Ich will dir Details ersparen“, fuhr Julia tapfer fort. „Du hast Tom ja nur einmal kurz bei mir zu Hause kennengelernt. Auf jeden Fall hat dieser Schuft ein Doppelleben geführt. Weder seine Frau noch ich ahnten etwas. Hätte ich ihn nicht in Bremen gemeinsam mit seiner Familie gesehen, würde er dieses Spiel wahrscheinlich noch lange fortsetzen. Auf jeden Fall ist es aus und vorbei, was dir ja auch egal sein kann.“

Mia legte ihre Hände auf Julias. „Es tut mir trotzdem sehr leid für dich. Du bist so reizend und hast einen Besseren verdient.“

Julias Gedanken gingen zurück in die Vergangenheit. Die beiden Frauen hatten sich vor sechs Jahren auf einer Geburtstagsfeier kennengelernt. Julia studierte zu dieser Zeit Geschichte und Deutsch auf Lehramt in Köln und hatte nebenbei ihren ersten Liebesroman geschrieben. Aus einem Impuls heraus hatte sie dies Mia gegenüber erwähnt. Deren Interesse war geweckt und sie war sofort Feuer und Flamme von dem Schreibstil und der Art, mit der Julia den Leser fesseln konnte.

„Der Plot ist ziemlich einfach, aber daran kann man arbeiten“, sagte sie, nachdem sie das Exposé und einige Kapitel gelesen hatte. „Du hörst von mir.“ Die Agentin fand einen Verlag für Julias Erstlingswerk und das Buch wurde ein Jahr später veröffentlicht. Julia beschloss, ihr Studium aufzugeben, um sich ganz dem Schreiben widmen zu können. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Es folgten vier weitere Liebesromane, die allesamt Bestseller wurden.

„Julia, du siehst blass und müde aus, wenn ich dir das so sagen darf. Lass dich bloß nicht von einem Kerl fertigmachen.“ Die heftige Reaktion der Agentin überraschte Julia keineswegs. Sie kannte sie als selbstbewusste unnahbare Singlefrau.

„Am Telefon hast du angedeutet, etwas in deinem Leben ändern zu wollen.“ Mia fokussierte Julias Augen.

Diese fühlte sich unwohl in ihrer Haut, auch wenn sie für sich bereits eine Entscheidung getroffen hatte. „Ich werde vorerst keine Liebesromane mehr schreiben.“ Das Wort vorerst hatte Julia nur gewählt, damit die Reaktion ihrer Agentin nicht zu heftig ausfallen würde.

Mia sah aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Nun ja, dein letzter Roman ist gerade erst auf dem Markt erschienen und du hast dir ein paar Wochen Schreibpause verdient. Danach sehen wir weiter“, versuchte sie, das Gespräch wieder in die richtigen Bahnen zu lenken.

„Mia, ich möchte auf den Spuren meiner Oma nach Fritzlar reisen. Sie musste im Zweiten Weltkrieg mit ihrer Mutter und ihren drei jüngeren Geschwistern von Köln in die Kleinstadt fliehen.“

„Fritzlar, ist das nicht dieser malerische Ort in der Nähe von Kassel?“ Mia schaute Julia interessiert an, aber wahrscheinlich gingen ihre Gedanken schon weiter.

„Genau. Meine Oma hatte Glück, dass sie dort Verwandtschaft hatte. Ihr blieb überhaupt keine Wahl. Sie war gerade frisch verliebt und musste sich für lange Zeit von ihrem Freund trennen. Ihr Vater blieb ebenfalls im zerbombten Köln. Die Menschen mussten damals sehr stark sein.“

„Ja, das waren schlechte Zeiten.“

Julia war sich nicht sicher, ob Mia sich in diese Zeit so hineinversetzen konnte oder wollte. „Ich kann dagegen freiwillig etwas in meinem Leben ändern. Dieses Wochenende werde ich dorthin reisen und mich auf die Spuren meiner Verwandten begeben.“

„Okay, das ist kein Problem. Du fährst nach Fritzlar, schaust dir die Stadt an, kommst zurück und fängst mit deinem neuen Roman an.“

„Ich werde drei Monate dortbleiben.“ Julia nestelte nervös an ihrem Halstuch. Sie hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

„Gut, dann nimmst du den Laptop mit, schreibst dort schon mal das Exposé und schickst es mir.“

„Das ist der springende Punkt. Es wird keinen nächsten Roman geben, zumindest keinen Liebesroman.“

Mias Gesichtszüge verhärteten sich. „Das meinst du jetzt nicht ernst!“, zischte sie.

Die Bedienung erschien am Tisch, verzog sich jedoch eilig wieder, da sie die angespannte Stimmung zwischen den beiden Frauen wahrnahm.

„Doch. Ich muss mit mir ins Reine kommen.“

„Und wie stellst du dir das konkret vor?“

„Ich will in die Vergangenheit reisen. Vielleicht leben ja noch Verwandte von mir in Fritzlar. Hier in Köln habe ich kaum jemanden, nur eine Tante. Meine Mutter wohnt schon lange in Bayern und zu meinem Vater habe ich so gut wie keinen Kontakt mehr. Das Verhältnis zu meiner Oma war, wie du ja weißt, sehr innig.“

„Aber erklär mir bitte, was die Reise an deiner Schreiberei ändern soll.“

„Ich will das Genre wechseln. Einmal etwas komplett Neues ausprobieren. Ich denke an einen historischen Roman. Vielleicht sogar einen Krimi.“

„Historischer Krimi und womöglich mit Lokalkolorit“, schnaubte die Agentin. „Den bekommen wir nie auf dem Markt unter. Damit machst du dir deinen Namen als Liebesromanautorin höchstens kaputt.“

„Dann schreibe ich unter einem Pseudonym.“

„Du schreibst bereits unter einem Pseudonym.“ Mia machte eine kurze Pause, bevor sie weitersprach. „Oder willst du unsere Zusammenarbeit beenden?“

Julia sprang auf. „Auf keinen Fall. Du hast mir immer sehr geholfen und bist ein wichtiger Mensch in meinem Leben! Aber versuche bitte, mich zu verstehen. Ich muss neue Dinge ausprobieren. Sonst gehe ich hier zugrunde.“

Mia machte eine beschwichtigende Handbewegung und deutete Julia an, sich wieder zu setzen. Sie dachte kurz nach. „Okay, wir verbleiben so: drei Monate Pause. Du machst dir Gedanken, recherchierst von mir aus ein bisschen und danach reden wir. Ich bin überzeugt, wir finden einen Weg. Egal, was du in Zukunft schreiben willst, du kannst auf mich zählen.“ Die Agentin hatte offensichtlich begriffen, dass es sinnlos war, die Autorin an der Auszeit zu hindern.

„Ach, und noch etwas.“ Julia zögerte, denn sie hatte ein weiteres Anliegen und hoffte inständig, Mia würde dafür eine Lösung finden. „Was meine Dienstleistung angeht, wollte ich dich bitten, in der Zeit meiner Abwesenheit die Anfragen zu beantworten und vielleicht den einen oder anderen Auftrag für mich zu erledigen. Du bist doch schon ein paar Mal für mich eingesprungen.“ Julia dachte daran, wie ihr Mia vor vier Jahren bei einem gemeinsamen Abendessen einen Vorschlag unterbreitet hatte: „Ich bin schon so oft gebeten worden, vernünftige Reden für Geschäftspartner zu verfassen. Auch der Bedarf an anspruchsvoller Korrespondenz ist enorm groß. Du könntest dir eine Seite im Netz einrichten und ein Gewerbe dafür anmelden. Zu Beginn, und wenn du zeitliche Engpässe hast, helfe ich dir gerne.“

Mia hatte sich gefreut, dass Julia auf den Zug aufsprang. So hatte diese noch ein zweites Standbein, wenn es einmal mit ihren Büchern nicht so gut liefe.

In letzter Zeit gingen vermehrt Anfragen von verzweifelten Männern auf dem Portal ein, die einen herzergreifenden Liebesbrief schreiben wollten und nicht die richtigen Worte fanden. Julia hatte jedoch jedes Mal abgelehnt, diese Briefe zu entwerfen, und angeboten, lediglich Korrektur zu lesen. Einen gekauften Liebesbrief fand sie persönlich absolut inakzeptabel.

„Okay, das bekomme ich hin. Im Sommer kommen sicher nicht so viele Anfragen rein“, holte Mia Julia aus ihren Gedanken zurück.

Die atmete erleichtert auf.

Zurück in ihrer Wohnung erinnerte Julia sich an ihre To-do-Liste. Sie griff zum Hörer. „Hallo Mama! Wie geht es dir?“

„Hallo, Kind, bei uns ist alles klar. Stimmt etwas nicht?“

Wohnung für den Zeitraum von drei Monaten zu vermieten

Ein Angebot sagte ihr sofort zu: Das Appartement besteht aus einem großen Wohn-/Schlafraum, einer separaten Küche und einer Terrasse. Sie sind umgeben von einem großen Garten, las sie. Sie buchte die Wohnung für zwei Wochen. Julia blätterte zurück zu dem Tagebucheintrag ihrer Oma. Diese hatte mit ihren beiden Schwestern und der Mutter in einem großen Schlafraum gelebt, der tagsüber zum Wohnraum umfunktioniert wurde. Zum Schlafen hatten sich die vier Frauen ein Doppelbett geteilt. Also exakt so viel Platz, wie ihr nun ganz alleine zur Verfügung stünde.

„Was muss ich wohl für drei Monate mitnehmen?“, fragte Julia sich. Sie beschloss, mit leichtem Gepäck zu reisen, denn sie gehörte zu den Menschen, die sich auf das Nötigste beschränken konnten. Im Gegensatz zu Romeo. Es war unglaublich, was er alles mitschleppte, wenn er einmal sein geliebtes Köln verließ. Julia spürte einen Tatendrang, wie lange nicht mehr. Sie konnte es kaum noch erwarten, aufzubrechen.