Rolf Dieter Kaufmann

Logbuch für Venedig
oder
Bündnis Christine de Pizan
für freie Frauen in Venedig

Reiseberichte und Geschichten

 

Vorbemerkung: Venedig sollte man spontan und ohne Systematik erkunden. Die Stadt ist voller Überraschungen. 1157 wurde Venedig in 6 Stadtteile untergliedert: Alle sechs Stadtteile verführen Menschen in wahre Vielfalt. Sie sind architektonische Meisterwerke. Jeder Stadtteil bietet Außergewöhnliches.

 

Hinweise zur Erkundung von Venedig:

Calle, calletta: Calle sind die Straßen in Venedig.

Campo: Ein geräumiger Platz.

Salizada: Gepflasterte Straße.

Rio Terà: Wo jetzt eine Fußgängerzone als Rio Terá bezeichnet wird, gab es früher einen Kanal.

Ramo: Eine untergeordnete Seitenstraße, die nicht durchgängig ist und oft an einem Kanal oder an einer Hauswand endet.

Fondamente, Fondamenta: So heißen in Venedig die begehbaren Uferstraßen bei den Kanälen.

Fondamento: Besonderheit in Venedig. Der Begriff bezeichnet das Fundament eines Gebäudes, während Fondamenta ausschließlich eine begehbare Uferstraße bei den Kanälen bezeichnet.

Fondamento / Fondamenti: Bezeichnung im Sinne von Gebäudefundament. Die Bezeichnung (Plural) Fondamente für begehbare Wege gibt es nur im venezianischen Dialekt.

Fondamentina: Nur im Stadtteil Castello gibt es vier sehr kurze Uferwege, die Fondamentina genannt werden.

Sotoportego (Pl.: Sotoportegui, auch Sotoportegi): Ein Fußweg, der unter einem Gebäude, gelegentlich auch nur unter einem Bogen hindurchführt. Diese Form des Durchgangs oder der Unterführung stammt aus der Zeit der Republik Venedig und existiert mit dieser Bezeichnung auch nur in dieser Stadt. Sotoportego bedeutet ein unter (ital. soto oder sotto) dem Portego, dem Saal im ersten Geschoss eines Gebäudes hindurchführender Weg.

Corte: Innenhöfe.

 

Starke Frauen

 

01 Ich, Anna, bin Fremdenführerin guida turistica

Ich heiße Anna Palina, bin von Beruf eigentlich Psychologin psicologo. Mein Studium in Padua hat mich sehr bereichert. Die Universität Università degli Studi di Padova ist renommiert für Psychologie. Das Kursangebot ist groß, vielfältig und interessant. Ich habe es sehr genossen, nach meinen Interessen studieren zu dürfen und nicht einem vorgefertigten Stundenplan folgen zu müssen.

Derzeit arbeite ich als Fremdenführerin in meiner Heimatstadt Venedig.

Heute führe ich eine Gruppe mit 21 Personen. Alle sind Deutsche. 10 Paare und eine Einzelperson, ein älterer Herr, grauhaarig. Ich habe den Eindruck, dieser Mann weiß mehr als ich über die Region Venedig. Er ist wohlwollend, zurückhaltend, was mich betrifft. Er ermutigt mich, der Gruppe alles, was ich über die Stadt weiß, zu erzählen. Unter den 10 meist älteren Paaren ist ein junges Pärchen, offensichtlich ineinander verliebt. Ich frage mich, ob Verliebte überhaupt etwas mitkriegen von Venedig. In Venedig war ich noch nie verliebt, aber in Lucca, wo ich vor knapp einem Jahr den gebürtigen Venezianer Alessio kennenlernte. Ich war unsterblich in ihn verliebt. Eigentlich bin ich es auch heute noch. Allerdings nicht mehr unsterblich, aber eben verliebt.

Ich, Anna, mag deutsche Reisegruppen. Deutsche Gruppen führe ich gerne. Die Deutschen hören zu. Bei Franzosen hat man oft den Eindruck, es sei eigentlich egal, was ich erzähle. Während ich erkläre, plappern sie einfach in ihrer Muttersprache weiter, als gäbe es mich nicht. Ich bin dann für sie nur eine bezahlte Geräuschkulisse.

Dann gibt es noch Gruppen aus Amerika. Amerikanische Ehemänner haben die Angewohnheit, während einer Führung ihren Frauen ständig den für wahr empfundenen Beitrag von mir zu bestätigen. „As I say! That's my speech!” Quasi: „Ich bin dein Ehemann und weiß das alles schon, aber für dich muss es noch einmal gesagt werden!“ Das klingt so, als sei für Männer aus Amerika alles schon gesagt, bevor es ausgesprochen ist.

Ich, Anna, liebe den Stadtteil Cannaregio

Im Stadtteil sesstiere Cannaregio, wo ich wohne, habe ich eine kleine Eigentumswohnung. Im Cannaregio wurde ich geboren. Von meinem Onkel Lorenzo erbte ich nach seinem Tod eine Wohnung in einem alten Haus in der Rio Terà della Mandola, im Stadtteil San Marco, wohin ich mich manchmal zurückziehe, wenn mir alles zu viel wird und wo ich mich einmal im Monat mit allen Mitgliedern des Bündnisses Christine de Pizan für freie Frauen in Venedig Alleanza Christine de Pizan per donne libere a Venezia, ApDL treffe.

Von meiner Tante Chiara bekam ich ein Häuschen überschrieben. Es steht verlassen in einem kleinen, romantischen Ort in der Emilia-Romagna, im Apennin, am Fluss Panaro, dem Nebenfluss des Po. Das Dorf heißt Dorf der Fröhlichkeit Villaggio della felicità. Das Dorf hat ca. 500 Einwohner. Lauter alte Menschen.

Ich, Anna, bin Mitglied im Bündnis Christine de Pizan für freie Frauen in Venedig Alleanza Christine de Pizan per donne libere a Venezia, ApDL.

Das Bündnis Christine de Pizan für freie Frauen in Venedig ist eine international und interdisziplinär ausgerichtete, unabhängige Gesellschaft freier Venezianerinnen. Ihre Gründung erfolgte im Jahr 1987. Die Gesellschaft steht (Leitmotive) für Freiheit, Anmut, Ausgewogenheit, Geist und Kunstschaffen von Frauen. Aber auch für Engagement, humorvolle Gesinnung, urbane Lebenshaltung, Aufrichtigkeit und für Bildung in den schönen Künsten.

Ich, bzw. wir Frauen, die hier berichten, gehören dem Bündnis Christine de Pizan für freie Frauen in Venedig an.

In ihrer Ausrichtung greift das Bündnis auf Christine de Pizan zurück. Christine de Pizan war wohl die bedeutendste Schriftstellerin des 14. Jahrhunderts und die erste Frauenrechtlerin in der Geschichte der Menschheit überhaupt. Sie wurde am 11. September 1364 in Venedig geboren, lebte aber in Frankreich. In ihrem Werk „Das Buch von der Stadt der Frauen" La Cité des Dames setzte sie sich gegen die gehässigen Vorurteile der Männer betreffs des weiblichen Geschlechtes zur Wehr. Männer, die Frauen aus Missgunst verleumden, seien Kleingeister, welche Frauen in Ihrer Klugheit und Vornehmheit fürchten und deshalb den Frauen Übles nachsagen. Sie sagt, die Frau tauge nicht nur zum Gebären und für Hausarbeiten. Ebenso sei sie für Wissenschaft, Politik und Wirtschaft befähigt. Sie verfüge über dieselben Fähigkeiten wie ein Mann. Dem Mann wolle sie gleichberechtigt als Gefährtin und nicht als Sklavin zur Seite stehen.

Was ich über das Bündnis weiß, erzähle ich so ganz nebenbei meinem Bruder Umberto, mit dem ich rein zufällig heute auf der Brücke der Freiheit Ponte della Libertà, auch „Die neue Brücke“ Ponte Nuovo genannt, stehe.

Bündnis für freie Frauen

 

02 Alessia, Blumenverkäuferin fioraia: Wer sind die Mitglieder beim Bündnis Christine de Pizan für freie Frauen in Venedig?

Die Mitglieder (alphabetisch) sind - falls Sie das interessiert: Ich (Alessia, Blumenverkäuferin), Alice (Köchin), Alenia (Krankenschwester), Anna (Psychologin, Fremdenführerin), Arianne (Zahnärztin), Aurora (Buchhalterin), Beatrice (Schauspielerin), Bianca (Bäuerin), Brook (Richterin), Camilla (Krankenschwester), Chiara (Friseurin), Elena (Physiklaborantin), Elisa, (Friseurin), Emma (Soldatin), Fatima (Krankenschwesternhelferin), Francesca (Ingenieurin), Gaia (Malerin), Ginevra (Anwältin), Giorgia (Wissenschaftlerin), Giulia (Buchhändlerin), Greta (Restauratorin), Maria (Kellnerin), Martina (Hebamme), Matilde (Apothekerin), Mia (Kellnerin), Nadia (Sekretärin), Nicole (Modell), Noemi (Fotografin), Rebecca (Fischerin), Sara (Köchin), Sofia (Ärztin), Valeria (Fremdsprachenkorrespondentin), Viola (Musikerin), Vittoria (Pilotin), Zelinda (Diätassistentin).

Alessia: Ich, Alessia, bin jüngstes Mitglied im Bündnis Christine de Pizan für freie Frauen in Venedig

Am 30.10.2018, 20.30 Uhr: Venedig wird von schweren Unwettern heimgesucht. Es herrscht Hochwasser acqua alta.

Acqua alta ist das winterliche, alljährlich wiederkehrende Hochwasser. Es entsteht, wenn bei starker Flut und niedrigem Luftdruck der Tiefenwind Scirocco das Wasser vom Meer landeinwärts in die Lagune hineindrückt. Venedig ist eben eine Welt aus Wasser, Stein, Luft, Licht und Dunkelheit. Geringe Teile der Stadt sind heute überschwemmt. Der Markusplatz steht unter Wasser.

Ich, Alessia, soll heute als jüngstes Mitglied in das Bündnis Christine de Pizan für freie Frauen in Venedig aufgenommen werden

Ich bin 18 Jahre jung, Blumenverkäuferin, also Blumenmädchen fioraia. Jetzt, im Augenblick, gehe ich auf Überwasserstegen beim Markusplatz in Richtung Garibaldistraße via garibaldi. Dort wollen meine neuen Lebensgefährtinnen vom Bündnis meine Aufnahme vollziehen und ein wenig feiern.

Als Mitglied des Bündnisses habe ich die Pflicht, ein Stichwort zum Logbuch Venedig (auch Venedig-Puzzle genannt) beizutragen. Das werde ich hiermit tun. Des Weiteren soll ich mich kundig machen, wer in Venedig das Sagen hat. Who is who? Wenn ich mir das genau überlege, sind mir Personen, die in Venedig das Sagen haben, völlig egal. Es sind alles Männer.

Hat eine Frau überhaupt eine Chance für ein öffentliches Amt in Venedig? Eifern Frauen, statt sich politisch zu engagieren, in Venedig nur der neuesten Mode aus Frankreich nach? Stelzen sie auf grotesk hohen Plateauschuhen über die Plätze und durch die Gassen? Hüllen sie sich in erlesene Stoffe, um bestaunt zu werden? Nichts dergleichen. Frauen in Venedig sind renitent.

Ich gehe also auf Überwasserstegen zur Garibaldistraße via garibaldi. Auf solchen Überwasserstegen versuchen die Einheimischen trotz des Hochwassers trockenen Fußes ihre angestrebten Ziele zu erreichen. Touristen sehen das Schauspiel Hochwasser acqua alta eher als eines der vielen Venedig-Abenteuer.

03 Sara, Küchenchefin la cuoca: Brücke der Freiheit und zum Glück

Die Brücke der Freiheit verbindet als Auto- und Bahn-Brücke die Innenstadt von Venedig mit den auf dem Festland gelegenen Stadtteilen Mestre und Marghera und mit der Welt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt die Brücke ihren Namen „Freiheitsbrücke“. Die Brücke gilt auch als die Brücke zum Glück.

Sara: Gespräche unter Frauen

Obwohl bis jetzt zum Thema Bündnis Christine de Pizan für freie Frauen in Venedig so gut wie nichts veröffentlicht worden ist, halte ich, Sara, es für nützlich, das Thema anzugehen.

Dabei gehe ich von folgender Feststellung aus: Dass für dieses Bündnis für freie Frauen eine auf Emanzipation gerichtete Argumentation benutzt wird, macht zugleich ihre größte Stärke und ihre größte Schwäche aus. Die Stärke liegt darin, dass sie ihre Botschaft mit den Mitteln einer sehr weit gespannten Bewegung von freien Frauen transportieren kann. Nicht weniger offenkundig ist jedoch ihre Schwäche. Läuft das Bündnis für freie Frauen doch zugleich Gefahr, in der Hitze des Meinungsstreites die Männer und deren Lebensalltag einfach aus dem Blickfeld zu verlieren.

Für die Gesamtgesellschaft ist jedenfalls offensichtlich, dass manche Frauen sich schwertun, folgende Tatsache wahrzunehmen: Die von freien Frauen geführten Gespräche über Selbstverwirklichung bzw. über Befreiung der Frau, sind von Grund auf nur Gespräche unter Frauen. Die Auseinandersetzungen in der Gesamtgesellschaft werden eher über Themen wie Kinder, Partner, Familie, Haushalt geführt.

Wann wird über Frauen endlich auf der Straße debattiert? Ich bin davon überzeugt: Die wahre Berufung der Frau ist die der Wirkung in der Öffentlichkeit, wo die großen Menschheitsprobleme diskutiert werden. In geschlossenen Räumen kann sie nicht gedeihen, denn die Berufung der Frau ist viel weiter gespannt; sie ist eine ausgesprochene Berufung für die Weltgesellschaft und deren Probleme.

Die folgenden Überlegungen wurden aus diesem Blickwinkel abgefasst: Früher oder später musste das althergebrachte System der die Frauen umspannenden Hüllen zerreißen, damit die Gesellschaft erkennt, wie wichtig der Reflexionsprozess ist, der gegenwärtig bei vielen Frauen stattfindet.

Sara: Ein gutes, glückliches Leben besteht aus gelungenen Beziehungen

Wie soll ich als Frau ein glückliches Leben führen? Vielleicht bei bester Gesundheit? Ein Leben mit einem erfüllenden Beruf oder einfach nur Zeit haben? Was macht mich glücklich? Eine gesunde Lebensweise reicht längst nicht aus für Glück: Gute Beziehungen machen mich glücklich und halten gesund. Soziale Beziehungen sind wichtig. Einsamkeit tötet. Gute soziale Beziehungen sind wesentlicher Bestandteil für mein Wohlbefinden. Menschen, die mit Freunden, Familie und anderen Personen eng verbunden sind, leben glücklicher. Den Menschen, die unfreiwillig einsam sind, geht es in kurzer Zeit gesundheitlich schlechter. Allerdings ist es wichtig, dass es sich um positive Beziehungen handelt. Beziehungen, in der sich die Beteiligten ständig streiten, wie zum Beispiel in unglücklichen Ehen, sind ebenso schädlich für die Gesundheit, wie alleine gelassen sein.

Die Qualität der Beziehungen ist entscheidend. Es kommt nicht auf die Anzahl der Freunde an oder darauf, eine feste Beziehung zu haben, sondern: Es kommt auf die Qualität der Beziehungen an. Enge und gute Beziehungen sind das wahre Geheimnis eines gesunden und erfüllten Lebens. Bei Menschen, die sich auf andere Menschen verlassen können, funktioniert das Gehirn besser. Das Gedächtnis arbeitet zuverlässiger. Entscheidend ist das Gefühl: Ist der Andere für mich da, auch in schlechten Zeiten? Ein gutes, glückliches Leben besteht aus gelungenen Beziehungen. Es lohnt sich, in diese zu investieren.

Als besonders störende Untugenden, die ein glückliches Leben vereiteln können, sehe ich Geltungssucht, Gleichgültigkeit, Hinterlist, Selbstmitleid, Trägheit und Vulgarität.

Sara: Wenn Frauen simplen Erklärungsmustern feministischer Weltanschauungstheorien auf den Leim zu gehen

Welche Erfahrungen muss eine Frau wie Christina de Pizan gehabt haben, wenn sie sich als Opfer eines Systems und das System als Feind sieht? Welche Kompetenzen bestärken Frauen darin, nicht den simplen Erklärungsmustern feministischer Weltanschauungstheorien auf den Leim zu gehen? Das Gefühl fehlender Akzeptanz durch die Männergesellschaft und problematische Geschlechter-Dynamiken, die ein Abgleiten in die Gewalt und Radikalisierungskarrieren begünstigen, sind Anlass ihrer Überlegungen.

Sara: Auf dem Markusplatz wurde euphorisch aufgehängt, geköpft und gevierteilt

Frauenschicksale in Venedig? Die Stadt Venedig war in seiner Geschichte immer schon gewalttätig – und besonders gegenüber Frauen.

Delinquenz im 16., 17. und 18. Jahrhundert? Die Venezianer hatten im 16., 17. und 18. Jahrhundert Vergnügen an Grausamkeiten. Hinrichtungen gehörten zum Alltagsgeschehen.

Religiöse Gruppierungen begleiteten Todgeweihte fröhlich zum Henker. Grausame Tötungen wurden mit Musik und Gesang gefeiert. Auf dem Markusplatz wurde euphorisch aufgehängt, geköpft und gevierteilt. Selbst versehentliche Flüche konnten auf dem Hinrichtungsplatz enden. Im Jahr 1804 gab es letztmals vier zum Tode Verurteilte zu begaffen.

Sara: Boshaftigkeit sei Grundlage für das Christentum bzw. für den christlichen Glauben und für alle Religionen, meint Umberto

Umberto, der Bruder von Anna, meiner Freundin, behauptet in diesem Zusammenhang: Die Boshaftigkeit sei die Basis/Grundlage für das Christentum bzw. für den christlichen Glauben und für alle Religionen – und nicht die Liebe. Da kann schon etwas dran sein, betrachtet man die Entstehungsgeschichte und Geschichte des Christentums.