Inhalt
Finnurs Suche
Impressum
Im 6038. Jahr nach dem Sieg Peadar Bhasas
Erwachen
Angriff eines Meisters
Der erste Tag
Niederlage
Ankunft in der Stadt
Neue Pläne
Sabotage
Treffen
Befehle
In der Unterwelt
Vergangenheit
Vor dem Aufbruch
Der Auftrag
Metallkunde
In der Wohnung
Bahnhof der Weltenschiffe
Der Anschlag
Veränderungen
Im Weltenschiff
Beratung
Über Pat’thara
Eskalation
Katastrophe
Folter
Kein Platz in der alten Heimat
Atemnot
Die Stadt Aran
Neue Fähigkeiten
Kampf im Lager
Die Türme von Aran
Hoffnung
Der Konsul der letzten Wächter
In der Zelle
Erkenntnisse
In der Wildnis
Finnurs Aufgabe
Zusammentreffen
Der Schatz der Erinnerungen
Ein neues Ziel
Flucht
Verbündete
An Bord
Eine lang erwartete Nachricht
Rettung
Der Tribun
Erkenntnis der Vergangenheit
Abschied
Vorwurf
Zuflucht beim Rat
In die Wüste
Ankunft auf Jahan
Der Rat
Im Dienst der Dynastie
Bei den Wächtern
Auf dem Weg
Die neunte Welt
Angriff auf Vel Teras
Auf dem Schlachtfeld
Ankunft der letzten Wächter
Ein neuer Widersacher
Tod
Ankunft der letzten Wächter
Aufstieg
Rückzug
Gäste
Die Beerdigung einer Freundin
Aufmarsch der letzten Wächter
Die Versammlung
Feuer vom Himmel
Zusammentreffen
Rückzug
Mehr Erinnerungen
Zweikampf
Rückkehr
Ein Roman aus dem Weltenkreis
von Ulf Fildebrandt
Ulf Fildebrandt
Finnurs Suche
ISBN Print: 978-3-946376-60-6
ISBN epub: 978-3-946376-61-3
© 2020 Lysandra Books Verlag (Inh. Nadine Reuter),
Overbeckstraße 39, 01139 Dresden
www.lysandrabooks.de
Coverdesign/Umschlaggestaltung/Weltenkreis-Logo: © Fabian Santner
Stock: depositphoto - 5265749 alekup, 303531584 grandfailure, 5516032 jordano, 53954719 macrovector, 149523952 TsuneoMP, 68792109 avevstaf
Lektorat/Layout/Satz: Lysandra Books Verlag
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Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Weitere Romane aus dem Weltenkreis von Ulf Fildebrandt:
Meister der Erinnerung – ISBN 978-3-946376-56-9 (Print)
Finnur, Pat’thara, Vel Satara
Wer bin ich?
Gedanken tauchten in seinem Kopf auf. Der tiefblaue Himmel schien endlos. Wind strömte unter ihm hinweg und vermittelte das Gefühl von Freiheit. Ein greller Lichtblitz erschien über ihm, tauchte alles in strahlendes Licht. Es erfüllte die Welt, veränderte sie. Doch dann verblassten die Bilder, und Dunkelheit kehrte zurück.
Wer bin ich?, fragte er sich noch einmal.
Finnur.
Mehr als der Name existierte nicht in seinem Geist. Sein Herz schlug schneller. Kalte Luft strich über seine Haut, und der Boden unter seinem Rücken fühlte sich hart an.
»Er sieht gesund aus«, flüsterte eine Stimme in der Ferne.
Finnur wurde unruhig. Um ihn herum gab es mehr. Verwirrt suchte er in seinen Erinnerungen, aber er fand nichts.
»Bist du wach?«, fragte jemand direkt neben ihm.
Erschrocken zuckte Finnur zusammen. Er schlug die Augen auf, und das Licht blendete ihn.
»Lass dir Zeit«, sprach der andere.
Finnurs Puls beschleunigte sich. Der Fremde schien ihn zu beobachten und jede seiner Regungen genau zu betrachten.
»Wer ...«, begann Finnur, doch sein Mund war trocken. »Wer bist du?«, wiederholte er seine Frage.
»Kallio«, flüsterte der andere sanft, »dein Bruder.«
Bruder?
»Du weißt nicht, was ein Bruder ist«, erriet Kallio die Gedanken. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, mir ging es vor drei Wochen genauso.«
Finnur entspannte sich. Zum einen beruhigte ihn die Stimme des Unbekannten. Sie flößte ihm Vertrauen ein. Kallio sprach davon, dass sie dasselbe Schicksal teilten.
»Wir haben denselben Vater. Sayid Deoch«, erklärte Kallio. »Er hat uns das Leben geschenkt.«
Die Gedanken in Finnurs Kopf kreisten immer schneller. Vater war dafür verantwortlich, dass er existierte und wahrnahm, was um ihn passierte. Er befand sich an diesem Ort, gemeinsam mit jemandem, der wie er war, der das Schicksal mit ihm teilte.
Trotz der blendenden Helligkeit öffnete er erneut die Augen. Über ihm befand sich eine graue Decke. In seinem Kopf bildete sich die Vorstellung einer harten, kalten Substanz, die sich nur sehr schwer formen ließ und meistens eingesetzt wurde, um Gebäude zu bauen.
Finnur erkannte, dass er doch nicht ganz unwissend war. Er wusste nicht, was sich in seinem Gedächtnis verbarg, aber vollkommene Leere herrschte nicht.
Jemand beugte sich über ihn. Blaue Augen unter schmalen Augenbrauen musterten ihn aus einem runden Gesicht. Die dunkelblonden Haare strebten wild in alle Richtungen. Ein breites Grinsen lag auf seinen Lippen.
»Kallio?«, fragte Finnur.
Das Grinsen verbreiterte sich. »Immerhin bist du nicht ganz dumm.«
Kallios Gesicht verschwand aus Finnurs Sichtfeld.
»Setz dich auf«, forderte Kallio.
Wieder überlegte Finnur, was sein Bruder meinen könnte, und die Vorstellung eines stehenden Menschen tauchte in ihm auf. Er musste seinem Körper befehlen, sich zu bewegen. Doch er wusste nicht, wie er es anstellen sollte.
»Einfach probieren«, riet ihm Kallio.
Finnur atmete tief durch und richtete sich auf. Gleich darauf spürte er, wie sein Kopf sich bewegte. Vor seinen Augen tauchte eine Wand auf, die sich nur durch eine hölzerne Tür von der Decke unterschied.
Ein Mann stand daneben, der ihn prüfend anschaute. Als er bemerkte, dass Finnur ihn ansah, nickte er anerkennend und verschwand durch die geöffnete Tür.
»Unser Vater«, meinte Kallio und deutete auf den Ausgang des Raums.
Das ist mein Vater?, überlegte Finnur. Seine Gedanken überschlugen sich. Dieser Fremde war für sein Leben verantwortlich. Dafür, dass er hier erwacht war.
»Wer ...«, begann Finnur, stockte jedoch. Er wollte fragen, wer er war, aber es schien ihm unpassend.
»Ah, Moment«, stieß Kallio hervor und wandte sich zur Seite. Er griff nach etwas und hob es hoch. In den Händen hielt er eine kreisrunde Fläche, die Finnur einen jungen Mann zeigte. Diese Person glich Kallio auf erstaunliche Art und Weise. Dunkelblonde, wirre Haare, helle Haut. Das Gesicht war schmaler.
»Das bist du«, meinte Kallio und sah Finnur beruhigend an. »Im Spiegel.«
Finnur verstand es nicht wirklich. Anscheinend zeigte ihm dieser Gegenstand ein genaues Abbild seiner selbst. Doch es gab auch Unterschiede. Kallios Körper war bedeckt von einem grauen Stoff, nur Hände und Kopf ragten heraus. Finnur selbst trug keine Kleidung.
»Zieh dir das an«, forderte Kallio ihn auf, als hätte er seine Gedanken erraten, und deutete in Richtung von Finnurs Füßen. Dort, auf dem Boden, stand ein Hocker aus Holz. Auf der Sitzfläche lag ein Stoffballen.
Unsicher stieg Finnur vom Tisch herunter und griff nach der Kleidung. Die Begriffe tauchten in seinem Kopf auf, wann immer er sie benötigte. Diese Erkenntnis ließ ihn zumindest ein wenig entspannen. Erinnerungen kamen, wenn er sie benötigte.
Der Stoff fühlte sich rau an zwischen seinen Fingern, sodass er vorsichtig darüber hinwegstrich. Ein süßlicher Geruch stieg ihm in die Nase.
»Frisch gewaschen«, sagte Kallio.
Zufrieden breitete Finnur die Hose aus, und wie selbstverständlich tauchte die Erinnerung auf, wie man hineinstieg. Zuerst in das rechte Bein, dann in das linke. Anschließend zog er das Hemd an. Nach einem Augenblick stand er angekleidet vor seinem Bruder.
»Und ...«, flüsterte Finnur, bevor ihn ein Hustenanfall schüttelte. Seine Zunge fühlte sich trocken an.
»Hier«, sagte Kallio und hielt einen Becher hoch.
Fragend musterte Finnur sein Gegenüber. Er verstand nicht, welche Bewandtnis es mit diesem Gefäß auf sich hatte, aber er griff danach. Darin befand sich eine rötliche Flüssigkeit.
»Verdünnter Wein«, erklärte Kallio. »Probier mal.«
Finnur führte den Becher an die Lippen und nahm den ersten Schluck. Bitterkeit füllte seinen Mund, die es ihm unmöglich machte, den Wein zu trinken. Er spuckte ihn auf den Boden.
Kallio lachte laut auf. »Stell dich nicht so an.«
Verwirrt begutachtete Finnur den Becher und die Flüssigkeit darin. Seinem Bruder gefiel es anscheinend, dieses Gebräu zu trinken. Sein Geschmack war es jedoch nicht.
Kann ihm etwas schmecken, was mir nicht gefällt?, dachte Finnur. Die Reaktion zeigte, dass es so sein musste. Wein war nicht sein Getränk.
»Kommst du mit?«, fragte Kallio.
»Wohin?«
»Ich will dir den Palast unseres Vaters zeigen.«
Unsicherheit stieg in Finnur auf. »Was ist ein Palast?«
Erneut lachte Kallio auf. »Ich vergesse immer wieder, dass du keine Erinnerungen hast.«
Finnur dachte an den weiten Himmel, die Berge, über die er hinwegflog. »Ich habe Erinnerungen.«
Das Lächeln seines Bruders verschwand. »Woran erinnerst du dich?«
»An den Himmel, die Weite, die Freiheit in der Luft«, antwortete Finnur voller Leidenschaft. »Dann sehe ich Licht, eine Flut von Helligkeit, die alles verändert.«
Kallio schwieg, aber sein Gesicht zeigte seinen Ärger.
»Was hat es damit auf sich?«, fragte Finnur.
»Ich weiß es nicht«, hauchte Kallio. »Vater will es mir nicht verraten.«
»Hast du dieselben Erinnerungen?«
Kallio schüttelte den Kopf. »Ich träume von Feuer, von Flammen.«
»Wieso verrät es dir Vater nicht?«
Freudlos lachte Kallio auf. »Er ist der Meister der Dynastie.«
Fragend schaute Finnur ihn an. Er hatte die Worte noch niemals gehört.
»Unser Vater ist der Meister der Dynastie Deoch«, erklärte Kallio ruhig. »Seine Fähigkeiten sind grenzenlos. Er kann Feuer und Wasser, Luft und Erde erschaffen. Niemand ist mächtiger als er auf dieser Welt, Pat’thara.«
»Er herrscht über alles?«
»Über eine Welt«, verbesserte Kallio. »Es gibt noch sieben andere.«
»Er allein?«
Kallio nickte. »Komm mit, ich zeige dir den Palast.« Er drehte sich um, öffnete die Holztür und ging nach draußen.
Verwundert starrte Finnur hinter seinem Bruder her. Er hätte erwartet, dass Kallio auf ihn warten würde. Was passiert hier?, fragte sich Finnur. Warum bin ich hier?
Ihm wurde bewusst, dass er die Antworten nicht in diesem Raum erhalten würde. Sein Blick fiel auf ein Paar Stiefel, direkt neben dem Tisch. Anscheinend waren auch sie für ihn gedacht. Er zog sie über und machte sich daran, Kallio zu folgen.
Langsam hob er einen Fuß und verlor das Gleichgewicht. Ihn schwindelte. Nur ein schneller Schritt zur Seite verhinderte, dass er stürzte. Die Muskeln zitterten unter der neuen Anstrengung, aber er spürte, dass er sie nur belasten brauchte.
Er schlich durch einen Gang, den er niemals zuvor betreten hatte. Die Steinwände wirkten fremdartig auf ihn. Am liebsten hätte er nach seinem Bruder gerufen, aber er wusste nicht, ob er es durfte.
Langsam verließ er den Korridor und betrat eine Halle, die sich endlos zu beiden Seiten erstreckte. Durch hohe Fenster schien die Sonne herein, und ihr Schein tauchte den riesigen Raum in ein Wechselspiel von Licht und Schatten. Die Wände bestanden aus roten Ziegelsteinen, und Metallpfeiler verliefen bis zur Decke, wo sich die Streben zu Bögen vereinigten. Dort sammelte sich Rauch.
Auf vielen Oberflächen sah Finnur ein Zeichen, ein Auge in einer Pyramide, teilweise als Erhebung auf dem Metall oder aufgemalt auf die Wand.
»Es ist das Zeichen unseres Vaters«, erklärte Kallio. »Das alles sehende Auge.«
»Was soll es bedeuten?«
»Es bedeutet, dass für Vater Wissen das höchste Gut ist. Wissen ist Macht, die Worte seiner Dynastie.«
Männer in grünen Uniformen liefen geschäftig umher. Immer wieder rief jemand eine Anweisung. Sie trugen Geräte und Werkzeuge zu den Werkbänken, die überall aufgebaut waren. Der Geruch von Öl und Schmiermitteln erfüllte den Raum.
Gegenüber von Finnur befand sich eine Maschine, die einem Menschen glich, allerdings war sie mehr als doppelt so groß und sehr viel massiger. Rumpf und Gliedmaßen waren aus einem schwarzen Metall gefertigt, das von Blitzen erfüllt wurde. Dampfbetriebene Hydraulik unterstützte die Bewegungen und verstärkte die Kräfte des Lenkers. Finnur kannte all die Begriffe und in diesem Moment fragte er sich, woher das Wissen stammte. Ein Wort tauchte in seinem Innern auf. Titan.
Es war ein beängstigendes Gefühl, einiges über die Welt zu wissen. Beschreibungen für Dinge, welche Aufgaben sie versahen, aber nicht zu wissen, wer er war.
Weitere Titanen warteten in Nischen, manchen fehlte ein Bein oder ein Arm, die an den Gelenken abgeschraubt worden waren. Der rechte Arm beherbergte normalerweise ein ersetzbares Maschinengewehr. Manchmal klafften ausgefranste Löcher in den Extremitäten. Finnur ahnte, dass die Titanen in Kämpfe geraten waren. Es mussten unglaubliche Gewalten gewirkt haben, als das Metall verformt worden war.
Vater ist der Herr dieser Maschinen, dachte Finnur ehrfürchtig.
Die Abdeckungen fehlten, sodass das Innenleben frei zugänglich war. Rauch strömte aus Röhren auf dem Rücken, und die Dampfmaschine gab einen knirschenden Laut von sich. Die Zahnräder begannen, sich zu drehen. Aus dem Kessel erklang ein Zischen. Finnur stand staunend an der Tür und bewunderte das Schauspiel.
»Geh ruhig näher.«
Zögernd tat Finnur den ersten Schritt auf den Titanen zu, als ein durchdringendes Quietschen durch die Halle klang. Der hohe Ton schmerzte in den Ohren. Kallio lachte auf und schlug Finnur auf die Schulter.
»Lass dir keine Angst machen«, flüsterte er ihm zu. »Vater braucht sie ...«
»Es sind Maschinen.«
»Aber das Feuer in der Maschine taucht in meinen Träumen auf. Das sind meine Erinnerungen.«
Finnur horchte auf. Sein Bruder hatte schon von seinen Träumen erzählt. »Weißt du, was sie bedeuten?«
Kallio blickte ihn an. »Vater verschweigt es mir genau wie dir.«
Ein seltsames Gefühl regte sich in Finnur. Zorn. Sayid Deoch verriet seinem Bruder und ihm nicht, was mit ihnen geschah. »Ich will wissen, was in meiner Vergangenheit war.«
Finnur, Pat’thara, Vel Satara
»Du bist gern hier?«, fragte Finnur.
Kallio nickte. »Ich mag das Feuer in den Titanen.«
Seine Gesichtszüge wirkten entspannt, als würde er sich hier zu Hause fühlen. Finnur verstand seinen Bruder, aber ihn selbst störten die Wände. Sie engten ihn ein. Er war viel lieber draußen, schaute zum Himmel, genoss die Weite des Horizonts und die endlosen Straßenzüge von Vel Satara. Er hatte die Stadt bisher nie betreten, aber die weißen Gebäude und die Gärten dazwischen sahen schön aus.
Die ersten Tage nach seinem Erwachen hatte er gedacht, sein Bruder wäre wie er, aber sie unterschieden sich.
Wer bin ich?, fragte er sich immer noch, doch er stellte diese Frage nicht mehr seinem Bruder. Kallio kannte die Antwort auch nicht, und ihr Vater hatte die ganze Woche nicht mit ihnen geredet.
Plötzlich schrillte eine Sirene durch den Raum. Zuerst starrte Finnur entsetzt auf die Dampfmaschine, aber Zahnräder und Wellen bewegten sich rhythmisch wie zuvor. Alles funktionierte, wie es sollte. Der Alarm musste einen anderen Grund haben.
Finnur bemerkte Kallios besorgten Blick zum Eingang. Kurzentschlossen ergriff sein Bruder ihn am Oberarm. »Komm mit!«, rief er ihm zu, bemüht den Lärm zu übertönen. »Vater hat befohlen, dass wir zu ihm kommen sollen, wenn Lete Russom angreift.«
Finnur hatte den Namen noch nie gehört. Sein Vater hatte offenbar Feinde. Die zerstörten Titanen in der Werkshalle kamen ihm in den Sinn, doch sein Bruder riss ihn mit sich. Er hatte keine Zeit mehr zum Nachdenken.
Gemeinsam rannten sie die endlosen Gänge des Palastes entlang. Ihre Füße flogen über den Marmorboden, und das Geräusch ihrer Schritte hallte von den weißen Wänden wider.
Drei Landsknechte stolperten aus einer Tür auf der rechten Seite. Der Erste in der grünen Uniform der Dynastie taumelte und fing sich gerade noch mit einer Hand ab. Mit der anderen umklammerte er sein Gewehr. Er warf den beiden Brüdern einen gehetzten Blick zu. In seinen Augen stand Panik.
Finnurs Puls pochte wie Hammerschläge durch die Adern. Die Angreifer waren sehr nah. Blut stieg in seinen Kopf und ließ ihn schwindeln.
»In Deckung!«, brüllte der Landsknecht.
Eine Explosion dröhnte hinter der Wand. Wildes Feuer rollte aus der Tür vor Finnur. Die heiße Luft schoss über ihn hinweg, sodass seine Haut sich verbrannt anfühlte. Er krümmte sich und suchte schwer atmend Schutz hinter einem Mauervorsprung. Aus dem Augenwinkel sah er die Landsknechte. Ihr Anführer schlug sich mit der bloßen Hand auf seine Schulter, um die Flammen zu löschen. Der grüne Stoff war verschmort. Ruß bedeckte sein Gesicht.
Einer seiner Begleiter stützte den Mann.
»Weg hier!«, rief er aufgeregt, voller Panik. »Zu den Titanen.«
Im nächsten Moment flüchteten sie gemeinsam zur Maschinenhalle, vorbei an einer Reihe Standbilder.
Finnur wollte ihnen folgen, Kallio zerrte ihn jedoch in die andere Richtung. »Wir müssen zu Vater«, erinnerte Kallio ihn energisch.
Zusammen stolperten sie durch den dichten Rauch, der den Gang eroberte. Verängstigt folgte Finnur Kallio bis zu einer wuchtigen Holztür, die mindestens fünf Mannslängen breit und vier hoch war. Mit seinem Bruder drängte er sich durch den Türspalt. Unmittelbar hinter ihnen fielen die Flügel krachend ins Schloss.
Ein brauner Mosaikboden reichte bis zu den Treppenstufen, die zu einer schmalen Bühne hinaufführten. Darauf stand ein in Gold gehaltener Stuhl unter einem roten Baldachin mit dem Zeichen der Dynastie Deoch, eine Pyramide mit einem allsehenden Auge. Zu beiden Seiten begannen die Reihen der weißen Säulen, die sich an den Wänden entlangzogen und den Balkon stützten, der die ganze Halle umlief. Zwischen den Säulen befanden sich Standbilder von Kriegern und Gelehrten, ihre Kleidung und Gesichtszüge so detailliert aus dem Stein gehauen, als lebten sie. Zwei prunkvolle Gaslampen hingen über Finnur.
Landsknechte rannten umher und bezogen Stellung, um den Meister der Dynastie zu verteidigen. Sie brüllten sich Anweisungen zu. In den Wandnischen befanden sich zwei einsatzbereite Titanen. Ihr schwarzes Alasit verlieh ihnen das Aussehen von Schatten. Eine der Maschinen trat vor, um die Reihe der Kämpfer zu verstärken. Das Auftreten seines metallenen Fußes erzeugte ein Dröhnen, das jedes andere Geräusch übertönte.
Neben dem Thron wartete ein Mann ruhig in all der Hektik. Finnur hatte ihn schon im Raum gesehen, in dem er erwacht war, sein Vater. Kallio stürzte auf den Mann zu. »Was passiert hier?«
Sayid wandte sich um. Sein von Falten überzogenes Gesicht zeigte keine Reaktion. Dünnes, weißes Haar sammelte sich zu einem Kranz um den Kopf. Seine Haut war tiefbraun, als stamme er nicht aus Vel Satara. Er trug eine weiße, bis zum Kragen geschlossene Jacke.
»Komm zu mir, Finnur«, forderte Sayid.
Finnur blickte zuerst zu Kallio, dann zu seinem Vater. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Zögernd trat Finnur auf Sayid zu. Die Füße versagten ihm beinahe den Dienst, so sehr zitterten sie. Ehrfurcht beherrschte sein Denken.
»Ich habe einen Fehler gemacht«, erklärte Sayid Deoch. »Du und dein Bruder, ihr seid Wunder. Ihr müsst zur Dynastie Tiernan.«
Sayid verschränkte die Hände, sodass sie eine Schale formten. Zuerst passierte nichts, aber dann bildete sich Nebel. Er nahm immer festere Formen an, bis er sich zu einem Stein von der Größe eines Hühnereis materialisiert hatte. Sayid umfasste den Granit mit den Fingern und hielt ihn Finnur entgegen. »Gib das den Herrn der Dynastie. Sie werden wissen, was damit zu tun ist.«
Finnur griff nach dem Brocken. Es waren fremdartige Schriftzeichen eingraviert. Fragend sah er Sayid Deoch an, dann wanderte sein Blick zu seinem Bruder. »Was soll das?«
In Sayids Augen lag Mitleid. »Ich habe keine Zeit, es dir zu erklären!«
Finnur wusste nicht, was hier geschah, aber er wollte erfahren, warum er keine Erinnerung an seine Vergangenheit hatte. Was hatte es mit seinen Träumen auf sich?
Ein ohrenbetäubendes Krachen verschluckte alle weiteren Geräusche. Ein Orkan fegte durch die Halle und warf Finnur von den Beinen. Er blieb benommen auf dem Boden liegen. Nach einem Moment der Verwirrung erhob er sich. Er hielt den Stein immer noch in der Hand und steckte ihn in eine seiner Taschen. Ratlos starrte er Sayid an.
Er öffnete den Mund, um zu fragen, was hier geschah, als ein gewaltiger Schlag die Eingangstüren aus ihren Angeln riss und nach vorn wirbelte. Wie Geschosse flogen sie durch den Raum. Sie schlugen in die Mauern und lösten Steine heraus, die polternd auf den Boden stürzten. Schreie erklangen von den Anwesenden, die das Pech gehabt hatten, getroffen zu werden. Kurz darauf erstarben ihre Laute.
»Du musst jetzt verschwinden«, forderte Sayid und ging ruhig in die Mitte der Halle. Er blickte den größeren Bruder an. »Hilf ihm bei der Reise.«
Kallio nickte ergeben und näherte sich Finnur, der jedoch schon aufgesprungen war. Er wollte fort von diesen entfesselten Naturgewalten. Ein Sturm fegte jede Barriere aus dem Weg und tobte sich in der Mitte des Raumes aus. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Menschen durch die Luft wirbelten.
Hinter dem Thron entdeckte Finnur eine unscheinbare Holztür, der Ausgang aus der Halle. Als er den Thron erreichte, legte er eine Hand auf das Gold des Möbelstücks und schaute über seine Schulter.
Der Anblick ließ ihn vor Ehrfurcht erstarren. Der Wind hatte nachgelassen, und Sayid hob die Arme. Aus seinen Fingern ergoss sich Wasser, das sofort zu Eis gefror. Es bildete eine Mauer, hinter der die zwei Titanen in Stellung gingen. Mit viel Lärm waren sie von der Wand in die Mitte der Halle gegangen. Jeder ihrer Schritte wurde begleitet von einem dröhnenden Scheppern.
Ein anderer Mann, jünger, kam auf die Verteidigungsstellung zu. Sein schmales Gesicht und der schlanke Rücken der Nase verliehen ihm einen edlen Ausdruck. Er war in einen schwarzen Anzug gekleidet, dessen Schnitt elegant wirkte.
Hinter ihm wogte Wasser, das seinen Körper immer wieder mit durchsichtigen Armen umfloss. Ein Meer schien ihm zu folgen. Gewaltige Wassermassen türmten sich auf. Mit einem Schlag brandeten sie gegen die Mauer aus Eis und fegten sie davon. Eisbrocken wirbelten durch den Saal und wurden erst von den Wänden aufgehalten. Die beiden Titanen wankten jedoch nicht und trotzten den Kräften.
Die Wogen begruben Sayid Deoch unter sich. Aber als das Wasser abgeflossen war, befand er sich ohne die geringste Verletzung in der Mitte seines Saales.
Vater ist zu mächtig, dachte Finnur, genau wie Kallio gesagt hat.
»Lete Russom, der Meister einer toten Dynastie!«, rief Sayid höhnisch.
»Ihr seid stärker als vor zehn Jahren«, erklärte der Angreifer. Seine Stimme dröhnte durch den Thronsaal. »Ihr habt anscheinend wirklich recht mit Euren Worten: Wissen ist Macht.«
»Ich bin der Herr von Pat’thara«, erwiderte Sayid. »Schließt Euch mir an!«
»Damit ich genauso eine Marionette der Dynastie Tiernan werde wie Ihr? Ich habe eine andere Aufgabe.«
Der alte Mann, der hoch aufgerichtet im Raum stand, lachte laut auf. »Welche?«
»Der Weltenkreis wird bedroht. Die Schöpfer haben mir den Auftrag gegeben, das lange Vergessen zu verhindern. Und das werde ich tun. Unsere Ehre ist die Pflicht. Ich muss die Welt schützen.«
»Das ist eine Lüge.« Sayid hüllte sich in Feuerlohen, die bis zur Decke stiegen, und seine Gestalt flackerte dahinter wie Feuer. Mit einem Wink seines Arms bedeutete er den beiden Maschinen, voranzugehen. Ihr Gegner schloss die Augen, und Felsbrocken bildeten sich wie aus dem Nichts. Sie stürzten mit fürchterlicher Wucht auf die Metalloberflächen und verformten sie. Schreie klangen auf, die sich steigerten, umso mehr die Geräte ihre ursprüngliche Form verloren. Erst ging die eine, dann die andere zu Boden und blieb liegen.
Der Eindringling stieg über die beiden hinweg und kam auf Sayid zu. Finnurs Vater war umhüllt von weißen, sonnenhellen Flammen. Sein Gegenüber hatte sich wieder mit Wassermassen umgeben, die wie eine erstarrte Flut hinter ihm lauerten.
»Wir müssen weg hier«, raunte Kallio Finnur ins Ohr.
Finnur schüttelte die Hand seines Bruders ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf das Duell. Er wusste, dass Sayid ein Meister war. Er beherrschte alle Elemente und war allmächtig. Finnur wollte hierbleiben, bis Sayid die Fragen nach seiner Vergangenheit beantworten konnte.
»Sayid wird verlieren«, erklärte Kallio. »Er hat uns fortgeschickt. Und wenn wir nicht verschwinden, werden wir auch sterben.«
Finnur starrte Kallio entsetzt an. »Er ist unser Vater!«
»Aber er wird verlieren«, flüsterte Kallio eindringlich. »Wir müssen weg hier!«
Zögernd löste Finnur sich vom Thron. Kallio hatte die Tür geöffnet und winkte ihm zu. Er verschwand in der Finsternis des Tunnels. Finnur zögerte einen Moment, bevor er sich in die Dunkelheit traute. Er wollte die Gelegenheit, seine Vergangenheit zu erfahren, nicht aufgeben. Sayid Deoch sollte erzählen, wer er war.
Der anschwellende Lärm sagte ihm, dass die beiden Meister in die zweite Runde ihres Duells gingen. Finnur hastete weiter, bis er sie nicht mehr hören konnte.
Die Wände, Boden und Decke bestanden aus grob behauenem Stein, aus dem manchmal Vorsprünge herausragten. In unregelmäßigen Abständen steckten Fackeln in Halterungen. Im Vergleich zum Palast wirkte es primitiv, aber auf seltsame Weise vermittelte es das Gefühl, dass kein Feind ihn hier angreifen könnte. Die Erde selbst schenkte ihm Schutz. Einige Augenblicke lang genoss er die Stille im Gang. Die Kämpfe hatten sich nicht bis in dieses Labyrinth ausgebreitet.
Kallio stürmte vor, und Finnur hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Nach einigen Abzweigungen verlor er die Orientierung.
»Wohin gehen wir?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht«, rief Kallio zurück. »Erst einmal nach draußen.«
Finnur nickte, aber in seinem Innern regte sich Widerspruch. Es reichte nicht aus, nur zu fliehen. »Wir brauchen eine Zuflucht!«
Ihre Schritte kratzten über den steinernen Boden. Es roch modrig, und die Luft war feucht.
»Wir haben keine Zeit, um zu reden«, flüsterte Kallio gehetzt. »Wir müssen uns in Sicherheit bringen.«
Finnur ahnte, dass sein Bruder recht hatte, aber er musste mehr wissen. Jetzt, und nicht erst irgendwann in der Zukunft. »Wohin gehen wir?«
Genervt drehte Kallio den Kopf. »Nicht jetzt, wir haben keine Zeit.«
»Doch, gerade jetzt«, schrie Finnur.
»Vater wurde von einem Meister angegriffen, Lete Russom«, entgegnete Kallio schnell. »Anscheinend bekämpfen sich die Meister untereinander. Wir sollten zuerst an einen Ort, an dem er uns nicht erreichen kann.«
Ein wichtiger Gedanke keimte in Finnur auf. Ihr Vater hatte in der Halle von einer anderen Dynastie gesprochen. »Die Dynastie Tiernan?«
Kallio brummte zustimmend. »Sie sind Meister, die Herrscher der Welt Jahan. Ihr Wahlspruch passt. Zukunft und Hoffnung.«
»Aber wenn sie Meister sind, können sie gegen Lete Russom genauso verlieren wie Vater.«
»Wo sollen wir dann hingehen?« Kallio lachte freudlos. »Zu den letzten Wächtern vielleicht?«
»Die letzten Wächter?«
»Sie verabscheuen Magie und besitzen Technologie, die sie gegen die Meister schützt. Unweit von hier, in der Stadt Aran, leben einige von ihnen.«
Erleichterung erfüllte Finnur. Es gab einen Ort, an dem sie kein Meister erreichen würde. Sie mussten dazu nur dieses Labyrinth hinter sich lassen. »Dann sollten wir zu ihnen.«
»Mich bringt keiner zu den letzten Wächtern«, meinte Kallio bestimmt.
Warum?, dachte Finnur, schwieg jedoch. Es klang, als seien die Wächter mächtig genug, sie zu schützen.
Kallio ging weiter bis zu einer Wegkreuzung. Unschlüssig und nervös stand er vor einer Gangöffnung.
»Wohin?«, fragte Finnur.
Verunsichert blickte Kallio seinen Bruder an.
Er weiß es nicht, dachte Finnur. Er schaute die Gänge entlang. Wind strömte aus einem von ihnen, und Finnur spürte, dass dort viel mehr Raum auf ihn wartete. Er spürte die Freiheit der Luft.
»Dorthin«, schlug Finnur vor.
Sein Bruder musterte ihn, bevor er mit einem dumpfen Laut zustimmte. Er schlich durch die Finsternis. Nach dem Lärm des Duells wirkte die Ruhe unwirklich.
Dann rauschte es plötzlich von rechts. Aus einem schmalen Gang schossen Flammen hervor und trafen Kallio. Die Haut seines Bruders verfärbte sich rötlich. Selbst in einiger Entfernung glaubte Finnur, zu verbrennen. Kallios Schreie verstummten, und er blieb reglos auf dem Boden liegen.
Finnur zögerte. Leblos lag sein Bruder vor ihm, die Augen geschlossen. Seine Brust hob sich nicht mehr. Kallio atmete nicht. Er war tot.
Entsetzt starrte Finnur seinen Bruder an. Gerade eben hatte er noch mit ihm gesprochen. Er war überhaupt der Erste, der mit ihm gesprochen hatte. Jetzt war er allein. Wie angewurzelt stand er auf dem Felsboden und rührte sich nicht.
Stimmen klangen aus dem Gang und rissen ihn aus seiner Erstarrung. Er durfte seinen Bruder hier nicht liegen lassen, aber er erinnerte sich an ihr Gespräch vor einigen Augenblicken. Kallio hatte die letzten Wächter erwähnt. Sein Vater wollte, dass er zur Dynastie Tiernan ging. Nur dort würde er sicher sein. Nicht hier in diesem Tunnel.
Entschlossen sprang er über die Leiche hinweg. Sayid Deoch hatte alles getan, um ihm und seinem Bruder zur Flucht zu verhelfen, aber für Kallio war es zu spät. Finnur konnte sich nur noch selbst helfen. Er spürte, dass es falsch war, ihn zurückzulassen, doch er konnte nichts mehr tun.
Finnur rannte los. Ein glutheißer Schein umhüllte ihn, und er fragte sich, warum die Flammen ihn nicht verzehrten. Doch er verschwendete keine Zeit mehr auf solche unnützen Gedanken, sondern lief weiter. Kallios Gesicht stand vor ihm.
Nach einer Ewigkeit erschien ein gleißendes Licht am Ende des Tunnels. Endlich erreichte Finnur den Ausgang, der durch ein Metallgitter versperrt war. Voller Schrecken griff er nach den Metallstäben. Die Gittertür öffnete sich zu seiner Freude mit einem Quietschen. Dahinter lag ein winziger Hof. Eine Straße ging ab.
Er wollte den ersten Schritt hinausgehen, aber er zögerte. Er wusste nicht, was ihn draußen erwartete. Möglicherweise lauerten die Angreifer auch dort auf ihn. Er warf einen verängstigten Blick zurück. Kallio war in dem Gang auf der Flucht gestorben, und wenn er hierblieb, drohte ihm unter Garantie dasselbe Schicksal.
Mit unsicheren Schritten verließ Finnur das Labyrinth und trat auf den Platz hinaus. Stille empfing ihn. Er hatte es geschafft, dem Angriff auf seinen Vater zu entkommen.
Ich muss weiter, dachte er.
Olmo, Aiterey, Vel Madurai
Der Kern des Weltenkreises strahlte schwach am Horizont. Das tiefe Blau leuchtete im Schein der Sonne und nahm einen großen Teil des Himmels ein. Wolken zogen über die Oberfläche des Himmelskörpers, um den Olmos Heimatwelt kreiste. Im Laufe des Tages würde der Kern vollständig von der Sonne angestrahlt werden und zu seiner vollen Leuchtkraft gelangen.
Olmo stieg den Abhang hinab. Möwen flogen über ihn hinweg und krächzten im Flug. Hinter ihm lag das weite Meer, und die Brandung schlug gegen das Ufer. Er hatte den Grat des Walls, der um die Insel lief, überschritten und befand sich auf direktem Weg zur Akademie. Die Insel bildete zusammen mit vielen anderen die Stadt Vel Madurai.
Seine Schuhe versanken im Gras, bis er zum Platz vor der Akademie gelangte. Die weiß gestrichenen Wände ragten vor ihm in schwindelerregende Höhe auf. Die mit roten Ziegeln gedeckten Dächer bauten sich in unterschiedlichen Stufen immer weiter auf und mündeten in einen Turm im Zentrum. Das riesige Tor zum ersten Abschnitt des Bauwerks stand offen. Die beiden Flügel aus schwarzem Holz luden die neuen Schüler ein, einzutreten.
Olmo hatte sich so lange auf diesen Augenblick gefreut, aber jetzt zögerte er, den entscheidenden Schritt zu tun. Er wollte Lenker eines Titanen werden und die Maschine steuern. Rigan, sein Vater, hatte ihm von seiner Ausbildung und den harten Übungskämpfen erzählt. Er hatte alles daran gesetzt, ihn gut vorzubereiten. Olmo lächelte bei der Erinnerung.
Er atmete tief durch und setzte sich entschlossen in Bewegung. Stufen aus Granit führten zum Tor. Voller Elan sprang er nach oben und trat ein. Die Eingangshalle war groß, und durch unzählige schmale Fenster in den weiß gestrichenen Seitenwänden flutete das Sonnenlicht hinein. Im hinteren Bereich gewährten weitere Tore den Blick in andere Hallen der Akademie.
Junge Männer in ihren besten Anzügen verloren sich in der Weite des Saales. Bei der Kleidung herrschten dunkle Farben wie Grau, Schwarz, Blau oder Braun vor, und meistens waren Hosen und Jacken einfarbig, nur ganz selten gab es Kombinationen von zwei Farben. Am entgegengesetzten Ende befand sich ein Tisch, und Bedienstete der Akademie saßen dahinter. Olmo hielt geradewegs darauf zu. Seine Schritte hallten vom grauen Steinboden wider, als er auf die Angestellten zuging.
»Du bist auch neu hier?«, fragte eine Stimme von der Seite.
Olmo wandte sich um. Ein schlanker, drahtig aussehender Junge ging neben ihm. Er trug einen elegant geschnittenen Anzug in einem dunklen Grauton. Olmos eigene Kleidung wirkte dagegen zweitklassig, denn der Stoff war viel rauer und schimmerte nicht in der gleichen Weise. Die braunen Haare des anderen standen wirr vom Kopf ab. Ein breites Grinsen zierte sein Gesicht, und die dunklen Augen schauten ihn freudig an, sodass Olmo beinahe mitlachte.
Als der Fremde Olmo betrachtete, wurde das Lächeln schmaler, setzte jedoch sofort wieder ein. »Das Symbol der Dynastie Aëdin?«
Auf Olmos Wange bis über die Stirn erstreckte sich das Zeichen der Dynastie Aëdin. Ein dünnes Band begann auf der Haut des Unterkiefers, wand sich über die Schläfe, bis das spitz zulaufende Ende an der Augenbraue das Werk vollendete. Acht Sterne befanden sich darauf, einer für jede Welt.
Olmo hatte es sich vor einigen Jahren stechen lassen. Dort lagen seine Wurzeln. Auch wenn die Dynastie Aëdin auf den Inseln von Aiterey nur noch verspottet wurde, hatte er es tun müssen. Er war dort geboren worden und wollte zeigen, woher er stammte. Rigan hatte ihn mit einer Woche Hausarrest bestraft, aber am Ende war er umso stolzer.
»Stört es dich?« Aggressivität lag in Olmos Stimme. Er kannte den Spott, der ihm normalerweise entgegenschlug. Die meisten Leute verhöhnten ihn.
Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, stehen zu bleiben und sein Gegenüber zur Rede zu stellen, doch er entschloss sich dagegen. Er durfte sich nicht durch Kleinigkeiten aufhalten lassen. Der größte Augenblick seines Lebens stand bevor. Er würde als Schüler in die Akademie aufgenommen werden.
»Mein Name ist Gardren Throloon«, stellte sich der Junge vor, aber Olmo verspürte nicht das Bedürfnis, mit ihm zu sprechen. Der Tisch mit den Mitarbeitern der Akademie rückte näher.
Gardren rannte zwei Schritte an Olmo vorbei und drehte sich zu ihm um. Rückwärtslaufend blickte er Olmo eindringlich an. »Hast du dir die anderen nicht angeschaut?«
Olmo hörte nur mit halbem Ohr zu.
»Niemand kommt allein hierher. Die Schüler haben immer ein paar Freunde im Schlepptau. Die Familien organisieren das, damit sie sich helfen können. Und die Dynastie Koranjar von Aiterey lässt sie gewähren.«
Verwirrt musterte Olmo Gardren, während er langsamer weiterging. Rigan hatte ihm von den Familien erzählt. Sie rissen alle gut bezahlten Posten in der Dynastie Koranjar an sich. Manche flüsterten sogar hinter vorgehaltener Hand, dass sie die Meister stellten, obwohl sie nicht die Gaben dafür besaßen. Sein Ziehvater hatte ihm jedoch auch geraten, sich aus diesen Intrigen herauszuhalten.
»Siehst du nicht die Farben der Familien?«, fragte Gardren und deutete auf die beiden Jungen, die neben ihnen liefen. Der Stoff ihrer Jacken schimmerte beim richtigen Lichteinfall in einem dunklen Blau. Anscheinend stammten sie aus derselben Familie. Olmo ärgerte sich, dass er nicht zuordnen konnte, welche Farbe zu welcher Familie gehörte.
Der lange Tisch tauchte vor Olmo auf, und er schüttelte den Kopf. Die Gedanken, die Gardren ihm aufdrängte, halfen ihm nicht. Er musste sich anmelden und dann in seiner Gruppe erscheinen.
»Name?«, sprach ihn ein älterer Mann an, der gelangweilt auf einem Stuhl saß. Er hatte kurze, schwarze Haare, und unzählige Falten gruben sich in seine Haut. Im Gegensatz zu den Jungen trug er nur ein weißes Hemd aus rauem Stoff und eine blaue Arbeitshose. Es war schwer vorstellbar, dass er in seinem Alter noch arbeiten musste. Erst als Olmo ihm in die Augen starrte, erkannte er, dass sein Gegenüber nichts von seiner Intelligenz eingebüßt hatte.
»Olmo Jasso. Ich soll mich in der Akademie melden.«
Der Mann schaute auf eine Liste vor ihm. Mit dem Finger fuhr er über die Zeilen, bis er an einer Stelle verharrte.
»Dein Leumund ist Rigan Haglet?«, wollte er wissen.
Olmo nickte knapp. Sein Ziehvater war ein gefeierter Held im Krieg gegen die Dynastie Aëdin gewesen. Die letzten Schlachten lagen zehn Jahre zurück, aber noch heute wusste jeder, wer die Dynastie Aëdin besiegt hatte. Damals hatte Rigan Olmo als kleines Kind von sieben Jahren gefunden und in die Stadt mitgebracht.
In den Augen des alten Mannes glaubte Olmo, Respekt zu erkennen. Die glorreichen Geschichten über seinen Vater hatten sich bis zur Akademie herumgesprochen. Er hatte nicht nur viele Kämpfe gewonnen, sondern hatte auch wehrlose Gegner verschont.
Der Blick des Akademiemitglieds wanderte zu Gardren. »Wer bist du?«
»Gardren Throloon.«
Wieder suchte der Finger des Mannes hinter dem Tisch den richtigen Eintrag in seiner Liste. Seine Augenbrauen gingen erstaunt nach oben.
»Dein Leumund ist Tekle Biniam?«
Gardren zuckte mit den Schultern. »Wenn es da steht ...«
Olmo starrte seinen Begleiter an. Tekle Biniam war ein Meister der Dynastie, nur das Oberhaupt der Bibliothek, aber immerhin ein Meister. Nach dem Krieg war er nach Vel Madurai gekommen.
Der Mann beugte sich zu seinem Kollegen und flüsterte mit ihm. Olmo verstand nicht, was sie sprachen, aber sie deuteten immer wieder auf Gardren.
Dann wandte sich ihr Gesprächspartner ihnen zu. Sein Arm zeigte zu einer Seite der riesigen Halle. »Geht nach da hinten, zu den anderen.«
Olmo blickte in die angegebene Richtung und entdeckte ein paar junge Männer in seinem Alter. Sie waren bisher in der Weite der Halle verloren gegangen. Als er genauer hinschaute, erkannte er, dass es eigentlich zwei Grüppchen waren. Eine hatte drei Mitglieder, die andere vier. Wieder erinnerte sich Olmo an Gardrens Behauptung über die Farben, denn beide Gruppen waren einheitlich gekleidet. Die eine trug Grau, viel heller als Gardren selbst, die andere Schwarz. Es war anscheinend wichtig, zu welcher Familie man gehörte.
»Du willst hier an die Akademie?«, rief eine laute Stimme in Olmos Rücken. Erst jetzt bemerkte er, dass er noch nicht weitergegangen war.
Vor der Anmeldung blickte sich ein schlaksiger Junge mit roten Haaren in alle Richtungen um. Er wirkte, als hätte man ihn bei einem Verbrechen erwischt.
»Dein Leumund stammt aus der Familie Terr«, stieß der Mann hinter dem Tisch hervor. »Sie haben die Dynastie betrogen. Es ist dir leider nicht gestattet, die Akademie zu besuchen.«
Der Rothaarige schüttelte wild den Kopf. »Nein, sie haben nichts getan. Das sind nur Lügen.«
Der alte Mann erhob sich und winkte. Erst jetzt bemerkte Olmo, wie drei Landsknechte aus einer Tür gerannt kamen, Gewehre im Anschlag.
Der Junge spurtete los, geradewegs auf den Ausgang zu. Die Männer rannten hinter ihm her.
»Er kommt sicher zur treibenden Insel«, flüsterte Gardren. »Armer Kerl! Seine Familie kann man sich nicht aussuchen. Da hätten sie sich einen besseren Leumund aussuchen müssen für ihn.«
Olmo hatte von diesem Gefängnis schon gehört. Es war eine Insel, deren Zellen unterhalb der Wasseroberfläche lagen. Nur eine kleine Insel mit dem Tor zum Zellentrakt ragte über das Wasser hinaus. Alle Personen, die sich nicht an die Regeln der Familien hielten, landeten an diesem Ort. Olmo betete, dass er niemals dort enden würde. Selbst wenn jemand seine Unschuld beweisen konnte, hieß das noch lange nicht, dass er auch wieder entlassen wurde.
Gardren ergriff seinen Gefährten am Arm und zog ihn mit sich. Olmo weigerte sich nicht, denn ihre Anmeldung hatten sie erfolgreich hinter sich gebracht. Er warf seinem neuen Begleiter einen Blick zu.
»Tekle Biniam?«, fragte Olmo.
Gardren wandte sein Gesicht zu ihm, und ein breites Grinsen erschien auf seinen Lippen. »Es ist keine Lüge. Der Meister kam in das Viertel, in dem ich wohne.«
Er verstummte und atmete durch. »Er hat auf dem Markt gesehen, wie ich mich wehren musste. Danach hat er mir angeboten, hierher zu kommen.«
Olmo riss erstaunt die Augen auf. Er war sein ganzes Leben lang von Rigan auf die Akademie vorbereitet worden. Es war zwar keine Voraussetzung, aber die Schüler sollten kämpfen können, wenn sie sich einschrieben.
»Du kannst hier nur verlieren«, sagte Olmo.
Gardren lachte laut auf. »Das dachte der andere auf dem Markt auch.«
Die drei Jungen der ersten Gruppe stellten ihr Gespräch ein und starrten die beiden Neuankömmlinge an. Der in der Mitte war fast so kräftig wie Olmo. Schwarze Haare reichten ihm bis in den Nacken, und seine Wangen zierten Bartstoppeln. Sein Anzug war schwarz, schimmerte aber an manchen Stellen Lila.
»Das ist Jezak Kerrik«, flüsterte Gardren. »Aus seiner Familie stammen normalerweise die Wandler der Dynastie. Sein Vater hat alles darangesetzt, Jezak an die Akademie zu bringen.«
Olmos Blick fiel auf Jezaks Begleiter. Zu seiner rechten stand ein fülliger Junge mit einem rundlichen Gesicht. Zur Linken befand sich ein hagerer Mann mit länglicher Kopfform. Er war eindeutig der Älteste von allen. Sie trugen auch schwarze Kleidung, aber beide besaßen noch dünn eingewebte, silberne Muster auf den Ärmeln. Es wirkte beinahe, als wollten sie ihre Verbundenheit mit Jezaks Familie zeigen, aber sich dennoch abgrenzen.
»Und die anderen?«
»Die kenn ich nicht«, erwiderte Gardren leise. »Sicher auch aus einflussreichen Familien.«
Olmo schaute zu Jezak hinüber, und ihre Blicke trafen sich für einen Moment. Jezak musterte seine neuen Mitschüler reserviert, aber nicht unfreundlich.
»Lass uns hierbleiben«, meinte Olmo. »Wir können uns später einer der Gruppen anschließen.«
Gardren nickte und blieb neben Olmo stehen. Er verschränkte die Arme über der Brust, als sein Blick an ihm vorbei in die Tiefe der Halle ging.
Erstaunt drehte sich Olmo um, um herauszufinden, was sein Begleiter entdeckt hatte. Zwei Männer in schwarzen Anzügen kamen auf sie zu. Ihre Jacken reichten ihnen bis zu den Knien und unterschieden sich von gewöhnlicher Kleidung. Nur Meister oder Wandler durften diese Art Kleidung tragen. Beide waren nicht so alt wie derjenige, der sie begrüßt hatte, aber trotzdem hatten sie ihre besten Jahre schon hinter sich. Der größere der beiden schritt voran.
»Mein Name ist Tunglat Daosch«, erklärte er. »Ich werde euer Lehrer sein in der nächsten Zeit.«
Er machte eine einladende Geste zum Mann an seiner rechten Seite. »Denago Kar, Meister des Feuers. Er wird uns bei einer kleinen Demonstration helfen.«
Der Meister hob die Hände, und über seinen Fingern erschienen Flammen. Sie züngelten so hoch, wie er selbst war, und schossen immer wieder nach oben. Olmo betrachtete den Mann bei der Vorführung seiner Gabe. Er hatte oft Wandler gesehen, wie sie die Elemente beherrschten und unter ihren Willen zwangen. Rigan hatte ihn schon als Jungen mitgenommen, sodass er noch Respekt empfand, aber nicht vor Ehrfurcht erstarrte. Wenn er den Worten des Lehrers Glauben schenken durfte, dann war Denago Kar sogar ein Meister. Er war in der Lage, die Kraft für seine Gabe aus den Erinnerungen zu ziehen. Die Blicke nach rechts und links zeigten Olmo, dass auch die anderen Schüler mehr interessiert als ergriffen auf den Meister schauten. Sie waren an den Anblick gewöhnt.
Tunglat lächelte anerkennend. Anscheinend war es ein erster Test, wie sie auf die Fähigkeiten reagierten. Mit einem Wink gab er Denago zu verstehen, dass er aufhören konnte. Von einem Augenblick zum anderen erlosch das Feuer.
Dröhnen erklang von der anderen Seite des Saales. Die lauten Geräusche einer Maschine unter Volllast wurden von rhythmischen Schlägen unterbrochen, als würde ein Metallhammer auf Stein treffen. Olmo musste lächeln. Er wusste, welche Maschine diese Töne erzeugte.
Durch ein geöffnetes Tor schritt eine menschenähnliche Gestalt auf sie zu. Trotz der Entfernung waren die Arme und Beine eindeutig zu erkennen. Der Titan war allerdings doppelt so groß und sehr viel breiter als ein Mensch. Er war komplett aus Metall gefertigt. Die schwarze Oberfläche schimmerte ab und zu in seltsamen Farben, und Blitze jagten darüber hinweg. Der rechte Arm trug einen überdimensionierten Gewehrlauf.
Das metallische Scheppern bei jedem Schritt begleitete Tunglats Worte. »In dieser Maschine werdet ihr bald stecken. Ihr werdet lernen, sie zu bedienen. Aber als kleinen Anreiz werden wir euch zeigen, zu was ihr in der Lage seid, wenn ihr sie beherrscht.«
Tunglat trat zur Seite und ließ den Meister allein zwischen der Gruppe der Schüler und dem heranrückenden Titanen. Denago drehte sich um und hob die Arme. Dieses Mal schossen die Flammen nicht nach oben, sondern hielten direkt auf die Maschine zu. Das Feuer traf auf das Metall und floss zur Seite ab.
Olmo hörte das Aufstöhnen der Umstehenden. Olmo wusste, dass die Hitze nicht in das Innere gelangen konnte. Aber es war schwer zu begreifen, dass die Maschine mitten in den Gluten stand, ohne Schaden zu nehmen.
Denago konzentrierte seine Angriffe auf die Beine der heranstürmenden Gestalt, diese zeigte jedoch keine Reaktion. Ohne zu verlangsamen, stürmte sie weiter. Erst einen Schritt vor Denago blieb sie stehen und holte mit einem mächtigen Arm aus. Die Faust fuhr auf den Meister hinab, der wie ein Zwerg wirkte im Vergleich zu dem Wunderwerk der Technik.
Olmo traute seinen Augen nicht, denn Denago machte keine Anstalten, dem Schlag auszuweichen. Der metallene Arm schoss auf ihn herab und hätte ihn fast zerquetscht, doch unmittelbar vor seinem Gesicht stoppte er. Es war ein groteskes Bild, wie die Maschine mitten im Stoß erstarrt war und Denago ruhig zu der Faust hinaufblickte.
»Der Titan hätte ihn mit dem ersten Schlag erwischt«, erklärte Tunglat. »Trotz all der Macht, die Wandler und Meister besitzen, könnt ihr mit diesen Wunderwerken gegen sie bestehen. Vergesst das nie!«
Lete, Pat’thara, Vel Satara
Lete trat durch die Eingangstür in die riesige Halle voller Maschinen. Gegenüber fielen Schüsse, und einer der Titanen brannte. Die Flammen schlugen bis zur Decke. Der Geruch von verbrannter Kohle stieg in seine Nase. Schwaden schwarzen Rauches waberten durch die Luft. Das Licht einer Explosion erreichte ihn, und Augenblicke später warf ihn die Druckwelle zur Seite. Der gewaltige Knall dröhnte in seinen Ohren.
Er erschuf eine Wand aus massivem Metall, hinter der er in Deckung ging. Nach ein paar Atemzügen horchte er, aus welcher Richtung der Kampfeslärm kam. Gebückt spähte er um das Hindernis herum, das er erschaffen hatte. Die Landsknechte der Dynastie Deoch verbargen sich hinter zwei umgestürzten Titanen und wehrten sich mit ihren Gewehren.
In diesem Moment schoss ein Feuerstrahl hinter den zerstörten Maschinen hervor und erreichte die Männer, die für Lete Russom kämpften. Sie trugen sein Zeichen, das Band mit den acht Sternen, auf ihrer Kleidung.
Feuer ergoss sich wie Wasser über die Landsknechte und verbrannte sie. Lete Russom hatte nicht den geringsten Zweifel, dass es das Werk eines Meisters war. Einer der Anführer der Dynastie Deoch musste sich zusammen mit den Landsknechten hinter der Deckung verborgen haben.
»Du solltest ihnen helfen«, hörte er eine krächzende Stimme.
»Aijelo«, flüsterte Lete und drehte sich um. Direkt hinter ihm stand ein verschrumpelt aussehender Mann, dem bereits alle Haare ausgegangen waren. Sein kahler Kopf glänzte vor Schweiß. Seit sie den Thronsaal verlassen hatten, in dem Sayid Deoch sein Leben verloren hatte, kämpften sie gemeinsam gegen die letzten Anhänger der Dynastie Deoch. Eine große Hilfe war der alte Mann bei der Säuberungsaktion nicht. Aijelo Taughoo besaß zwar die Fähigkeit, Erinnerungen eines Menschen in sich aufzunehmen, aber er vermochte nur ein Element zu wandeln. Er konnte Feuer erschaffen. Trotz seiner schwachen Begabung duldete ihn Lete Russom in seiner Nähe.
»Greif an«, forderte Aijelo ihn auf.
»Will das mein Vater?«, fragte Lete Russom belustigt.
Aijelo schüttelte den Kopf. »Die Erinnerungen deines Vaters lassen mich zur Abwechslung mal in Ruhe. Er schweigt.«