Zu Unrecht
Ein Kind der 80er berichtet von seinem gutbürgerlichen Leben
© 2019 Carlaria Silverlining
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44,
22359 Hamburg
ISBN |
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Paperback: |
978-3-7497-7546-0 |
Hardcover: |
978-3-7497-7547-7 |
e-Book: |
978-3-7497-7548-4 |
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Inhalt
Vorwort
Die Bilderbuchfamilie
Der Tag des Erwachens
Selbstbestrafung und Schuldbewusstsein
Freundschaft: Verlust und Gewinn
Beobachtungen und Schlüsselmomente
Ende mit Schrecken – Nein, ein Schrecken ohne Ende
Hoffnung keimt und vergeht
Erste Schritte der Freiheit
Zu Fall gebracht
Wahnsinn
Neuanfang
Die Büchse der Pandora
Resümee der Dokumentationsarbeit
Vorwort
Ein weiser Mann sagte mir einmal, dass viele Menschen versuchen, ihre Geschichte zu Ende zu erzählen, und wenn sie dabei scheitern würden oder keinen Anklang fänden, sie stets dazu verdammt seien, wie Sisyphus den Stein ihres Lebensschicksals einen Berg hinauf zu rollen und immer von Neuem anzusetzen mit dem Ziel, ihre Lebensgeschichte zu Ende zu erzählen. Sie seien dazu gewissermaßen verdammt, keine Heilung oder Erleichterung zu erfahren, denn solange die Geschichte nicht zu Ende erzählt ist, müssten sie stets an einer neuen Adresse von vorne beginnen.
Meine Geschichte handelt von Unrecht und Doppelmoral, wobei ich als Zeitzeugin der 80er Jahre trotz langer Therapie noch nie die Möglichkeit hatte, meine Geschichte zu Ende zu erzählen. Schon alleine das ist ein Unrecht! Doch diesem wird durch die bevorstehende Zeitreise Abhilfe geschaffen. Sicher fällt mir dies nicht leicht und ja, dem Leser wird auch einiges zugemutet, doch ich „oute“ mich und nutze diese Plattform als Befreiungsschlag aus einer Geschichte, die mich in den Wahnsinn trieb.
Wer oder was bin ich heute? Ich bin eine psychisch „kranke“, kunst- und literaturinteressierte EXIN-Genesungsbegleiterin und weiß durch meine Arbeit in der Psychiatrie, dass dieser Steckbrief – bis auf das EXIN-Genesungsbegleiterzertifikat, das ich mir erarbeitete habe – für viele Menschen, ob mit oder ohne eine psychiatrische Diagnose, zutrifft. EXIN Genesungsbegleiterin sein zu dürfen ist für mich eine große Ehre und auch wenn diese Tätigkeit leider noch nicht im Gesundheitswesen als Beruf mit entsprechender Bezahlung anerkannt ist, erfüllt sie mich. Ich gehe als meist stabile Person mit einer speziellen einjährigen Weiterbildung zu Menschen in Lebenskrisen und begleite sie mit meinem reflektierten Erfahrungswissen und einem ausgeprägten Interesse an ihrer Biographie. Meine Vorgehensweise zeichnet sich dabei durch professionelle Nähe aus, die – anders als die Distanz der Profis um mich herum – den Patienten am besten das Gefühl geben kann, nicht alleine zu sein.
Meine Diagnose besteht heute aus eine schizoaffektiven Störung und einer abklingenden posttraumatischen Belastungsstörung. Schizoaffektiv meint eine Mischung aus einer Störung aus dem schizophrenen Formenkreis und einer manisch-depressiven Erkrankung, die bedingt durch die Schizophrenie auch wahnhafte Züge annehmen kann. So höre ich gelegentlich Stimmen und in Akutphasen mischen sich bei mir eher typische schizophrene Phänomene wie Stimmenhören und das Wahrnehmen von Selenwanderung oder Ähnliches mit einer ausgeprägten Euphorie mit Größenphantasien. In dieser Geschichte werde ich mich – nachdem ich Einblicke in meine Biographie gewährt habe – auf die Dynamik meiner ersten Psychosen konzentrieren.
Wenn ich „normal“ bin, klingen Wahnerleben und Größenphantasien ab, wobei eine sich anschließende Depression möglich ist, die Jahre dauern kann.
Ich war nie eine sogenannte „Drehtürpatientin“ gewesen, sondern eher eine der „Braven“, die nur manchmal „ausflippen“, aber immer nach Anweisung ihre Pillen schlucken und meist alles daransetzen, stabil zu sein. Trotz meiner vordergründigen Angepasstheit merke ich in meiner Arbeit, dass ich zu Recht behaupten kann, dass mir viele „Fahrwasser der Psyche“ bekannt sind. Dies liegt daran, dass ich nun – seitdem ich mich in die Hände von Psychiatern begeben habe – 20 Jahre mit verschiedensten Phänomenen und Diagnosen von unserem deutschen psychiatrischen System begleitet wurde, und auch daran, dass ich Pädagogik mit einem deutlich psychologischen Schwerpunkt studiert hatte, bevor ich Genesungsbegleiterin wurde. Auch im Wahn habe ich mich stets mit psychologischen Fragestellungen beschäftigt. Doch ich „oute“ mich erst seit 3 Jahren mit dem Thema, dass ich psychisch krank bin. Davor habe ich stets versucht, es zu verbergen, da man in unserer Gesellschaft deshalb meist stigmatisiert wird. Ich lebe in einem Haus mit Mann, Kind, Hund und Katze und genau genommen ist meine Erkrankung nur ein kleiner Teil von mir. Doch wie schnell wird man in unserer deutschen Gesellschaft aussortiert, wenn man die Realität manchmal anders als andere wahrnimmt. Genau vor diesem „Aussortiertwerden“ hatte ich früher eine riesige Angst. Ich riskiere hier wie anderswo mit meinem Outing, nach wie vor stigmatisiert zu werden. Sie könnten diese Geschichte unter dem Aspekt der Verrücktheit lesen und mich als unverständlich oder das Ganze als eine Sammlung von Lügenmärchen abtun, doch dass „I am what I am“ für mich wahr geworden ist, hängt nicht vom Urteil des Lesers ab. Zu Unrecht wurde und werde ich stigmatisiert und zu Unrecht durfte ich meine Geschichte noch nie zu einem Ende bringen und dem setze ich nun ein facettenreiches Zeitzeugnis entgegen.
Die Bilderbuchfamilie
Ich bin als einziges Mädchen und Nesthäkchen in meine Familie geboren worden. Alle spiegelten mir, dass nur ich etwas Besonderes sei (doch heute denke ich, dieser Status sollte jedem Menschen zukommen!) und dass ich ein Wunschkind sei. Im direkten Wiederspruch hierzu steht, wie dann doch im Rahmen meiner Therapie mein schlimmstes Trauma in Form eines stechenden Schmerzes, Tränen und Panik meinen ganzen Körper erfüllte: das reale Trauma, nicht geliebt worden zu sein. Dieses Trauma ist wahr und steht der Lüge des Geliebtwordenseins gegenüber. Klar, man könnte sagen, es kam mir nur so vor, nicht geliebt worden zu sein. Doch keiner sah meine Not! Ist das Liebe und Empathie?
Damals sah ich das nicht. Ich schützte mich als Kind mit der Illusion, die um mich gestrickt wurde, die Illusion der Liebe, die sich konkret durch nichts als Konkurrenz, Rollenverschiebungen und daraus resultierenden Missbrauch und Neid sowie daraus resultierende Aggressionen und nicht zuletzt durch Zwanghaftigkeit, die in sado-masochistischen Abhängigkeitsverhältnissen endete, zeigte. Doch ein Kind kann nicht anders: Es liebt die Familie, in die es hineingeboren wird, und so war es auch bei mir. Diese Liebe, die ich empfand, war bedingungslos. Sie war vergleichbar mit der Liebe einer Mutter. Denn meine Brüder und meine Eltern waren für mich stets orientierungslose Kinder, für die ich da zu sein hatte. Und nein, auch wenn alle Missstände aus meiner heutigen Perspektive Bestand gehabt hatten – nach außen wirkte unsere Familie wie eine glückliche Familie mit einem im Beruf erfolgreichen Vater und einer berufstätigen Mutter sowie einem Haus und einem Kindermädchen und einem Hund.
Dass für mich in der Pubertät Lieder wie „Run a way train, never coming back“ oder „I want to break free“ ziemlich genau das trafen, was mich beschäftigte, war neben einem großen, selbst gemalten „Nirvana“-Schriftzug und den unzähligen Lucky Strike-Werbungen, die ich sammelte, gemeinhin das, was man damals unter „Pubertät“ verstand. Und auch meine roten Dr. Martens, die ich mir auf einem Flohmarkt gekauft hatte, sowie mein Arafattuch, die bunten Haare und die Maus im Halstuch fielen natürlich unter die gleiche Kategorie. Dass meine vergleichsweise alten Eltern, die noch unter die Kategorie Kinder des Wirtschaftswunders fielen, und sich selbst – studiert, mit regelmäßigen Besuchen in Theater und Oper – als gehobene Bildungsbürger der Mittelschicht betrachteten, mit dieser Wendung ihres blonden lieben Mädchens nicht einverstanden sein konnten, ist streng genommen vollkommen ok, denn erst dann macht die Pubertät ja richtig Spaß: wenn die Eltern nicht noch pubertärer sind als man selbst. Nein, dieser Widerstand geschah nicht zu Unrecht und verlieh meinem Protest ein Ziel und einen Sinn, doch er nahm Ausmaße an, die mich überforderten. Meine Mutter wollte mich weiter einkleiden und verabscheute Jeans. Sie seien „Revoluzerhosen.“ Also die 68iger verabscheute meine Mutter offenbar auch, und die waren schon 20 Jahre her. Das führte dazu, dass ich mir heimlich auf dem Schulweg Jeans anzog, die mir eine Freundin geschenkt hatte. Da schienen es Mitschüler von mir, die mit ihren Eltern kifften oder deren Eltern sie regelmäßig alleine ließen, damit sie mit ihren Freunden Party feiern konnten, deutlich leichter zu haben. Doch ich frage mich heute mit einiger Distanz etwas anderes: Warum nahmen meine Eltern meine Kleidung, aber nicht die Hoffnungslosigkeit und Melancholie meiner Zimmergestaltung wahr? Warum sahen sie meine Not nicht und erkannten nicht, dass mein Schiff auf den Klippen des erlittenen Unrechts zu stranden drohte.
Um die Bedeutungsschwere dieses Missstands, den ich selbst aus Liebe lange, zum Teil bis heute, ausgehalten habe, zu erläutern, bedarf es einer weitaus weiteren Reise in die Vergangenheit, in die Zeit der Buntstifte und des Umweltpapiers, die verwendet wurden, da es in der Schule hieß, dass die Papierindustrie so viel Schaden anrichten würde. Es war die Zeit der Comics von Dagobert Duck, der, anders als Micky Maus, immer Geld hortete, sowie der Y- Hefte, durch die man zum Detektiv wurde. Die Zeit, in der man Pflaumen pflückte und auf Bäume kletterte. Kurzum: meine Grundschulzeit.
Dies war etwas, was mich bis in die Pubertät hinein begleitete und eigentlich bis heute nicht mehr loslässt. Wie war meine Grundschulzeit? Wenn man sagen wollte, Freud und Leid liegen eng beieinander, wurde dieser lapidare Spruch damals für mich zur unumstößlichen Wirklichkeit.
In den ersten Jahren der Grundschule flog mir alles zu: Freunde, gute Noten und freundliche Worte.