Philip Ursprung
DIE KUNST
DER GEGENWART
1960 bis heute
C.H.Beck
Die Kunst der Gegenwart, d.h. die Kunst der Industrienationen zwischen etwa 1960 und heute, ist untrennbar mit dem Prozess der Globalisierung verbunden. Philip Ursprung stellt in diesem Band die wichtigsten Veränderungen in der Kunst der letzten 60 Jahre dar. Er schildert die Expansion der Kunst, ihre zentralen Themen und inneren Widersprüche und präsentiert die bedeutendsten Künstler. Neben der Malerei und Skulptur, dem Happening, der Performance und der Land Art führt er auch in die Fotografie und Architektur der Gegenwart ein und beschreibt, wie sich die Kunstwelt – die Museen, die Märkte und die öffentliche Wahrnehmung von Kunst – in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat. Dabei zeigt er, wie wir mithilfe der Kunst eine sich rasch ändernde Welt, für die es noch keine Begriffe gibt, klarer sehen können und wie umgekehrt der Blick auf die Zeitgeschichte erlaubt, die Kunst und die Künstler der Gegenwart besser zu verstehen.
Philip Ursprung ist Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich.
I Einführung: Die «longue durée» der Gegenwartskunst
Globalisierung
Moderne und Postmoderne
Performative Kunstgeschichte
II Vom Objekt zum Prozess: Die 1960er und 1970er Jahre
Neo-Avantgarde?
Happening
Pop Art
Minimal Art
Conceptual Art
Land Art
Die Kunst und die Stadt
Kunst und Feminismus
III Kulturfabriken: Triumph des Museums
Documenta 5
Beaubourg und die Folgen für die Museumsarchitektur
Weiße Zelle und leeres Loft
IV Hunger nach Bildern: Die 1980er Jahre
Erzählung und Allegorie
Oberflächenspannung
Neo-Expressionismus
Erinnern und Vergessen
Abgründe der 1980er Jahre
Das fotografische Unbewusste
V Das lange Ende des Kalten Kriegs
VI Empire: Kunst seit den 1990er Jahren
Die Rohheit der Märkte
Das Erhabene
Architektur des Empire
Multitude: Die Ränder des Empire
Absorbiert das Design die Kunst?
VII Ausblick
Literaturhinweise
Personenregister
Bildnachweis
Für Paula und Moritz
Eines Abends Anfang der 1970er Jahre – ich war damals etwa zehn Jahre alt – brachte mein Vater das Buch Die Grenzen des Wachstums nach Hause. Es war 1972 erschienen und bald zu einem internationalen Bestseller geworden. Die im Auftrag des Club of Rome verfasste Studie prognostizierte katastrophale Folgen für die Menschheit, falls diese ihr mit der Industrialisierung begonnenes Wachstum nicht drosseln und einen Zustand des ökologischen Gleichgewichts erreichen würde. Mein Vater erzählte uns, dass der gesamte Planet gefährdet war, dass die Menschheit zu viel Energie konsumierte, die Weltbevölkerung unaufhaltsam wuchs und die natürlichen Rohstoffe zu versiegen drohten. Die Erde, erfuhren wir, war keine unerschöpfliche Quelle von Ressourcen, sondern ein in sich geschlossenes System, das zerbrechlich und verwundbar war. Die ersten Anzeichen der Krise waren bereits spürbar. Die Preise für Erdöl explodierten, die Löhne sanken, viele Menschen verloren ihre Arbeit, und die prosperierende Weltwirtschaft verwandelte sich in eine unglückliche Mischung aus Inflation und Stagnation, die sogenannte Stagflation. Im Herbst 1973 verboten Deutschland und die Schweiz an einigen Sonntagen das Autofahren. Wir gingen auf der neuen, leeren Autobahn spazieren. Uns Kindern gefiel das. Aber die Erwachsenen konnten es nicht genießen. Sie waren ebenso besorgt über die Verteuerung des Öls wie über den Watergate-Skandal, über den Krieg in Vietnam und über die drohende Rezession. Etwas war zerbrochen. Der scheinbar unerschütterliche Fortschrittsglaube meiner Elterngeneration, also jener Generation, die vor dem Zweiten Weltkrieg geboren war und die am beispiellosen Aufschwung der Nachkriegszeit teilgehabt hatte, verwandelte sich in Angst vor der Zukunft. Die europäische und amerikanische Mittelklasse, der es seit drei Jahrzehnten stetig besser gegangen war, geriet unter Druck. Die Euphorie der Goldenen Sechziger, die Aufbruchsstimmung von 1968, die Begeisterung für die Mondlandung waren verflogen. Der Geist des Open-Air-Festivals von Woodstock zog sich zurück in die Spiegelwelten der Discos. Steven Spielbergs Der Weiße Hai (1975) sollte zum erfolgreichsten Film des Jahrzehnts werden und «No Future» zum Leitspruch einer neuen Generation.
Meine Eindrücke als Kind waren Teil einer wirtschaftlichen Revolution, für die damals kein Begriff existierte. Erst Ende der 1990er Jahre wurde dafür die Bezeichnung «Globalisierung» gebräuchlich. Im Rückblick zeichnen sich die Zusammenhänge deutlich ab: Die Erhöhung der Ölpreise durch die OPEC stand am Beginn einer Umwälzung, deren Auswirkungen bis heute spürbar sind. Sie ging einher mit der Aufhebung der seit den Verträgen von Bretton Woods 1944 geltenden Vereinbarungen, welche das internationale Währungssystem stabilisiert und die Basis der westlichen Wohlfahrtsstaaten gebildet hatten. In kurzer Folge, zwischen 1971 und 1973, endeten die alten Spielregeln. Die westlichen Regierungen hoben die Fixierung der Wechselkurse und die Anbindung des Dollars an das Gold, den Goldstandard, auf und öffneten den Weg für die Finanzspekulation. Sie machten die staatlichen Grenzen durchlässig und deregulierten damit den Arbeitsmarkt. Die Industrieproduktion konnte in Länder mit billigeren Arbeitskräften verlagert werden, und Arbeitskräfte konnten je nach Bedarf eingeführt und wieder aus dem Lande geschafft werden. Mittels «Petrodollars» wurde in den Industrienationen die Automatisierung der Fabriken vorangetrieben, unter gleichzeitigem Abbau von Arbeitskräften. Computer beschleunigten die Finanztransaktionen. Normierte Schiffscontainer verbilligten den Frachtverkehr derart, dass Transportkosten kaum mehr ins Gewicht fielen und die Fabrikation irgendwo auf dem Globus stattfinden konnte. Der Kollaps der sozialistischen Regime 1989 verstärkte diese Tendenz.
Mit der Verkündung von Präsident George Bushs «Neuer Weltordnung» anlässlich des ersten Golfkriegs 1991 war eine neue Phase der Globalisierung erreicht. Die Expansion des Kapitalismus, den die Kritiker in den 1970er und 1980er Jahren als «Spätkapitalismus» bezeichnet hatten, erhielt nun den Namen «Empire», der von Theoretikern wie Michael Hardt und Antonio Negri geprägt wurde. In ihrem 2000 erschienenen Buch Empire skizzierten die Autoren das Bild eines weltumspannenden Reichs, in dem räumliche und zeitliche Grenzen aufgehoben waren, die Geschichte zu stagnieren und die Zeit stillzustehen schien. In ihren Augen bewegte sich der Trend der Globalisierung hin zu einer «geglätteten Welt» jenseits historischer und räumlicher Grenzen. Sie schlossen damit an Thesen an, die Francis Fukuyama in seinem Buch Das Ende der Geschichte (1992) formuliert hatte. Und sie bestätigten, was Thomas Pynchon in seinem Roman Die Enden der Parabel (Gravity’s Rainbow) (1973) als Frage formuliert hatte: «Wird die Nachkriegszeit nur noch aus Zufallsereignissen [‹events›] bestehen, isoliert, von einem Augenblick zum nächsten neu erschaffen? Ohne Verbindungsglieder? Ist dies das Ende von Geschichte?»
Was wir heute unter «Kunst der Gegenwart» verstehen, also die Kunst der Industrienationen zwischen etwa 1960 und heute, ist – so meine These – untrennbar mit der Globalisierung verbunden. Erst im Zusammenhang mit dem Phänomen der Globalisierung wird die paradoxe Situation besser verständlich, dass die Kunst der Gegenwart, die ja eigentlich ein flüchtiges Phänomen sein sollte – streng genommen ist «Gegenwart» ein Intervall von 1/18 Sekunde –, sich über eine Phase von ungefähr einem halben Jahrhundert erstreckt und sich von Jahr zu Jahr weiter ausdehnt. Die Rolling Stones sind noch immer als Verkörperung der «Jugendkultur» auf Tournee, die Minimal Art, eine Kunstströmung der 1960er Jahre, gilt als «aktuelle» Formensprache, und Andy Warhol fungiert noch immer als «heutiger» Künstler – obwohl er 1987 gestorben ist. Wir – das heißt die Menschen, die den Industrienationen angehören, die über Freizeit und Wohlstand verfügen, die Zugang haben zu den Produkten der kulturellen Industrie – befinden uns in einer Art von permanenter Gegenwart. Und wir – das heißt die Generationen, die nach dem Krieg geboren sind – scheinen noch immer im zeitlichen Regime der Generation davor befangen zu sein, als ob uns eine eigene Zukunft und eine eigene Vergangenheit abhandengekommen wären.
Ich will damit nicht behaupten, dass die Kunst der Gegenwart die Globalisierung «ausdrücke» oder «abbilde». Aber ich gehe davon aus, dass die Veränderung unserer Wahrnehmung, also die Tatsache, dass wir Raum und Zeit als etwas Diskontinuierliches erleben, historische und ökonomische Ursachen hat und kein natürlicher oder innerkünstlerischer Prozess ist. Ebenso gehe ich davon aus, dass die ökonomische Revolution der 1970er Jahre keine Folge der «natürlichen» Begrenzung von Ressourcen ist, sondern eine Folge von politischen und ökonomischen Entscheidungen. So soll Scheich Ahmed Zaki Yamani, der ehemalige Ölminister von Saudi-Arabien, gesagt haben: «Die Steinzeit endete nicht aus Mangel an Steinen, und das Ölzeitalter wird enden, lange bevor der Welt das Öl ausgeht.» Ich interessiere mich für das, was der Theoretiker David Harvey meint, wenn er sagt, dass mit der Aufhebung des Goldstandards, also mit dem Kollaps der traditionellen Darstellung von Wert, auch eine «grundsätzliche Krise der Repräsentation» einsetzte und wir mit einer «Raum-Zeit-Kompression» konfrontiert wurden. Und ich interessiere mich für die Frage, warum bestimmte Kunstwerke zu gewissen Zeiten als zeitgemäß empfunden werden und andere nicht.
Liegt die Aktualität der Minimal Art beispielsweise daran, dass die serielle Struktur der Skulpturen von Donald Judd oder der Musik von Phil Glass eine zeitliche und räumliche Ordnung sinnlich erfahrbar macht, für die noch keine Begriffe existieren? Liegt die Brisanz der Selbstporträts von Warhol darin, dass er die veränderte Rolle des Subjekts, das sich fortwährend der Umgebung anpassen und zugleich permanent zur Verfügung stehen muss, exemplarisch vorführt? Hängt der Erfolg des Loop, also der ewigen Wiederkehr des Gleichen, beispielsweise in Videoinstallationen von Eija-Liisa Ahtila, von Teresa Hubbard und Alexander Birchler oder von Stan Douglas oder etwa im Möbius-Haus (1998) von Ben van Berkel und Caroline Bos, damit zusammen, dass diese Struktur genau unsere unentrinnbare Befangenheit in einem zeitlichen Regime artikuliert? Warum scheint aus heutiger Perspektive ein bestimmtes Œuvre, zum Beispiel dasjenige von Anselm Kiefer oder Richard Serra, rascher zu altern als ein anderes, zum Beispiel das von Maria Lassnig oder Dan Graham? Warum steht uns die feministische Kunst der 1970er Jahre, etwa Carolee Schneemann, Valie Export oder Adrian Piper, näher als die monumentale Installationskunst der 1990er Jahre? Kann die Kunst der Gegenwart uns helfen, unsere eigene Zeit besser zu verstehen – nicht, weil sie außerhalb der Gesellschaft stünde oder dieser voraus wäre, so wie die klassischen Avantgarden es für sich beanspruchten, sondern weil sie Veränderungen, die uns alle betreffen, plastischer spürbar macht, als theoretische Begriffe es vermögen? Halten uns Werke von Künstlern aus lange übersehenen Regionen, beispielsweise Hélio Oiticica aus Brasilien, Otobang Nkanda aus Nigeria oder Nairy Baghramian aus dem Iran, einen Spiegel vor, der die eurozentrische Perspektive revidiert? Rührt der scheinbar unstillbare Appetit der Öffentlichkeit nach immer neuen kulturellen Ereignissen, nach Museumsbauten und Großausstellungen daher, dass sie uns versprechen, Anteil an etwas Realem zu haben und «präsent» zu sein in einer Situation, in der wir die meisten Dinge medial vermittelt erfahren?
Die «longue durée», wie die neue französische Geschichtswissenschaft sagen würde, also diese auffällig lange Dauer der Kunst der Gegenwart, ist ein historisch neues Phänomen. Der Zeithorizont dessen, was zwischen dem mittleren 19. Jahrhundert und dem mittleren 20. Jahrhundert jeweils als gegenwärtig empfunden wurde, umfasste stets nur wenige Jahre. Mit «modern», einem Begriff, der seit Jahrhunderten geläufig war und im Grunde nichts anderes als das Gegenteil von «alt» meint, wurde das Flüchtige, Momentane bezeichnet und zugleich etwas, dessen Bedeutung aus der Überwindung des Vorherigen erwuchs. Die Avantgardebewegungen in Paris, Mailand, Moskau und Berlin, die aufeinander folgten, also Impressionismus, Pointillismus, Symbolismus, Expressionismus, Kubismus, Futurismus, Suprematismus, Dada und Surrealismus, bezogen sich immer aufeinander. Sie zeugten damit einerseits von der Vorstellung, dass die Kunst sich innerhalb eines Kontinuums entwickelt und sich in Perioden unterteilen lässt, andererseits von der Idee, dass für jede Kunst eigene Gesetze gelten. Sie bezeugten also, dass Historizität und Autonomie für die Kunst der Moderne grundlegend waren, eine Kunst, die laut dem amerikanischen Kunstkritiker Harold Rosenberg in der «Tradition des Neuen» stand. Und sie zeugten zugleich davon, dass das Jetzt gar nicht anders gedacht werden konnte denn als «unzeitgemäß» im Sinne von Nietzsche.
Der Begriff des Modernen war derart prägend, dass er im Allgemeinen bis heute für die Epoche verwendet wird, die mit der Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte und noch immer andauert. Als «moderne Kunst» allerdings bezeichnet man heute in der Regel die Kunst vom mittleren 19. bis zum mittleren 20. Jahrhundert. Die Zeit zwischen den 1880er und den 1950er Jahren wird gerne als «klassische Moderne» oder als Phase des «Modernismus» definiert, mit anderen Worten als Phase, in welcher die Kunst die Epoche der Moderne reflektierte und thematisierte. Ende der 1970er Jahre setzte die Diskussion um die Frage ein, ob und wann die Werte der modernen Kunst ihre Gültigkeit verloren haben, wann ein «Bruch» lokalisiert werden kann und wie das, was seither geschieht, mit der früheren Kunst zusammenhängt. Der Begriff der Postmoderne, der damals gebräuchlich wurde, ist deshalb eher ein Indiz für die Veränderung als ein Stilbegriff. Charles Jencks führte mit seinem Buch The Post-Modern Language of Architecture (1977) den Begriff in die Architekturdiskussion ein. In der Philosophie und Literaturwissenschaft gehörten Jean-François Lyotard mit seinem Buch Das postmoderne Wissen (1979) und Fredric Jameson mit Postmodernism, or, the Cultural Logic of Late Capitalism (1991) zu den Protagonisten der Diskussion. Im Feld der bildenden Kunst machte Craig Owens mit dem Aufsatz The Allegorical Impulse: Toward a Theory of Postmodernism (1980) den Begriff fruchtbar. Den Höhepunkt erreichte die Diskussion der Postmoderne in den 1980er Jahren, namentlich in der amerikanischen Kunstzeitschrift October.
Auch wenn sich keine einheitliche Definition durchgesetzt hat, sind sich doch viele, vor allem englischsprachige Theoretiker darin einig, dass unter «Kunst der Postmoderne» die Kunst seit 1960 zu verstehen ist, also dasselbe, was ich als «Kunst der Gegenwart» bezeichne. Interessanter, als der letztlich unlösbaren Frage nachzugehen, welches konkrete Ereignis den Bruch markiert und wann genau er stattgefunden hat, finde ich die Diskussion darüber, wie es überhaupt dazu gekommen ist, dass wir eine spezifische Art von Kunst als Kunst der Gegenwart definieren, und wann sich unsere Perspektive in diesem Sinne verändert hat. Erst von der Warte der frühen 1970er Jahre aus, so meine These, fügte sich die Veränderung, die Anfang der 1960er Jahre geschah, in ein Bild. Wenn wir uns auf den Dualismus zwischen Moderne und Postmoderne fixieren, verengen wir den Blickwinkel. Wir lenken damit von einem komplexeren Problem ab, nämlich den ökonomischen und politischen Veränderungen der frühen 1970er Jahre. Wir machen diese Veränderungen, für die uns lange die Begriffe fehlten, erträglicher, indem wir sie als Übergang zwischen zwei kulturellen Epochen darstellen und damit quasi als natürlichen Prozess interpretieren.
Ein zentraler Aspekt, in welchem sich die Kunst der Gegenwart von früheren Phasen der Kunst unterscheidet, ist die Rolle des Publikums. Bis in die 1950er Jahre war die jeweils neueste Kunst eine Angelegenheit für einen kleinen, elitären Kreis von Spezialisten, die «artist’s world». Ab den 1960er Jahren spricht man von der «art world», also der Kunstwelt oder Kunstszene. Gemeint ist damit eine wachsende Gemeinschaft von Künstlern, Händlern, Sammlern, Kritikern, Kuratoren sowie interessierten Betrachtern. Natürlich gibt es auch in der Kunstwelt Hierarchien, Konkurrenzkämpfe, Krisen und Komplotte, es gibt VIPs, die Aufsteiger und Absteiger, Insider und Outsider. Aber die Grenzen der Kunstwelt stehen keineswegs fest. Es handelt sich um ein Feld, welches auch für Laien zugänglich ist, offener als beispielsweise die Musik- oder gar die Filmindustrie. Es ist ein dynamisches Phänomen, innerhalb dessen wir uns befinden, sobald wir uns ernsthaft darauf einlassen, und das wir deshalb zwangsläufig als komplex erleben, ob wir Experten sind oder Laien. Das Publikum, genauer gesagt, das stetig wachsende Publikum ist ebenso ein unverzichtbarer Träger der heutigen Kunstwelt wie der Kunstmarkt und die Museen. Dies ist der Grund, warum so viele Künstler das Publikum thematisieren. Ob sich die Teilnahme darauf beschränkt, Kunstwerke dadurch zu vervollständigen, dass man sie betrachtet, diskutiert und interpretiert, oder ob die Betrachter zu Mitwirkenden, ja autonomen Akteuren geworden sind – das Stichwort lautet hier «relational aesthetics» –, ist umstritten. Fest steht, dass die Kunst der Gegenwart zu einem Bestandteil des alltäglichen Lebens der Industrienationen geworden ist. Wer genügend Geld hat, kann sie besitzen. Aber alle, die es möchten, können sie betrachten, diskutieren und interpretieren, vergleichbar dem Sport, der Musik, dem Kino. Kurz, die tiefe Kluft, die bis in die 1950er Jahre die jeweilige Kunst der Gegenwart von ihrem Publikum trennte, ist geschrumpft.
Wie soll man sich in diesem weiten Feld orientieren? Es gibt ebenso viele Versionen der jüngsten Kunstgeschichte, wie es Historiografen dieser Kunst gibt. Gerade angesichts eines Phänomens, das sich vor unseren Augen in fortwährender Veränderung befindet, ist es nicht sinnvoll, eine objektive, distanzierte Position zu beanspruchen, von der aus diese Geschichte überblickt und dargestellt werden kann. Ich ersetze in diesem Buch ganz bewusst das vertraute «wir» gelegentlich durch das «ich». Ich tue das nicht, um einer Subjektivität das Wort zu reden oder um meine persönlichen Empfindungen, meinen Geschmack als Kriterium der Geschichtsschreibung ins Zentrum zu rücken. Ich will vielmehr als Kunsthistoriker und Erzähler lokalisierbar sein und betonen, wie kontingent und konstruiert jede Geschichte ist. Mich interessiert eine performative Kunstgeschichte, welche die Bedingungen und Motive der Historiografen ins Spiel bringt, sich aktiv ins Geschehen einmischt und ihre eigene Lebensdauer reflektiert.
Meine Geschichte der Kunst der Gegenwart ist deshalb auch eine Geschichte, die aus der Perspektive meiner Generation und meiner Biografie geschrieben ist. Sie hängt damit zusammen, dass ich als Kind in den USA lebte, in der Schweiz aufwuchs und in den 1980er Jahren in Genf, Wien und Berlin studierte und mit den dortigen Kunstszenen konfrontiert war. Sie hängt mir meiner Affinität zur amerikanischen Diskussion und meiner Vorliebe für experimentelle und performative Kunst zusammen. Sie hängt mit Lehrern wie Maurice Besset zusammen, der mir in den 1980er Jahren die Türen zur Kunst der Gegenwart öffnete, mit Kuratoren wie Ulrich Loock und Harm Lux, die in mir die Begeisterung dafür weckten, nicht nur den Text, sondern auch die Ausstellung als Medium der Kunstvermittlung zu benützen. Sie hängt damit zusammen, dass ich den 1990er Jahren die Gelegenheit hatte, gemeinsam mit Hedy Graber in der Kunsthalle Palazzo in Liestal bei Basel eine Reihe von Künstlerinnen und Künstlern wie Pipilotti Rist und Sylvie Fleury zu zeigen, die damals am Beginn ihrer Karrieren standen. Und sie hängt damit zusammen, dass ich an der Architekturabteilung der ETH Zürich das Glück hatte, am Boom der Architektur in der Schweiz teilzuhaben, und dass ich im Canadian Centre for Architecture in Montreal eine Ausstellung mit Herzog & de Meuron in einer entscheidenden Phase ihres Werkes kuratieren durfte.