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Regula Portillo

Andersland

Roman

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Inhalt

Ein Glück gefunden 1986

Undenkbar 1986 – 1987

Nicht mehr rot, sondern grün 1987

Hinter den Wellen 1988 – 1992

Matilda zuliebe 1993

Auf eine sonderbare Art befreit 1994 – 1996

Aber die Jahre vergehen wie im Flug 2000 – 2007

Helle Nacht 2007

Ein paar Schritte zusammen gehen 2007 – 2009

Ein Glück gefunden

1986

»Die Welt ist verschwunden«, stellt Matilda fest.

In Wolldecken gewickelt und die Köpfe leicht vornübergebeugt, schauen Matilda und Pascal vom Sessellift aus durch das Schneegestöber auf die Schneelandschaft hinunter. Tatsächlich ist nur schwer zu erkennen, was sich unter den weißen Erhebungen verbirgt. Unter dem schmalen, hohen Schneehaufen rechts könnte sich ein Stromkasten oder Vogelhaus verstecken, die große, flache Erhebung weiter talwärts stammt vermutlich von einem Felsblock oder Stalldach. Seit zwei Tagen schneit es fast ununterbrochen in dicken, konturlosen Flocken. Pascal umklammert den Schlitten, hofft, dass der Weg ins Tal überhaupt befahrbar ist. Seine Fingerspitzen haben sich bläulich verfärbt und schmerzen, genau wie es der Angestellte unten in der Sesselliftstation prophezeit hat. Pascal steckt die eine Hand unter die Wolldecke. Der Stoff fühlt sich rau an. Auch die zweite Prophezeiung des Bahnarbeiters, dass Matilda und er keiner Menschenseele begegnen würden, da der Berg bei diesem Wetter wie ausgestorben sei, trifft bisher zu. Pascal kann sich nicht daran erinnern, den Sessellift je zuvor für sich allein gehabt zu haben. Auch schön, denkt er sich. Aber er hätte sich die Handschuhe anziehen müssen. Kurz zögert er. Doch jetzt ist es dafür zu spät, es wäre zu umständlich, den Rucksack aufzuschnüren, etwas könnte heraus- und dann hinunterfallen.

»Kannst du die Tannenspitzen mit deinen Füssen berühren?«, fragt Matilda. Obwohl zwischen den Tannenwipfeln und dem Sessel mindestens vier Meter liegen, streckt Pascal versuchsweise seinen Fuß aus, schüttelt bedauernd den Kopf. »Die Tannen sind nicht hoch genug.«

»Oder es liegt an deinen Beinen«, lächelt Matilda.

»Auch möglich.« Pascal schaut seine Tochter nachdenklich an. »Wenn du dich abends unter deiner Decke versteckst, damit ich dich nicht mehr sehen kann, bist du dann auch verschwunden? Wie die Welt unter dem Schnee?«

Matilda legt ihre Stirn in Falten, kräuselt die Nase, wie so oft, wenn sie nachdenkt. »Nein, ich bin noch da, aber du bist weg.«

»Warum? Du weißt doch, dass ich da bin, um dir einen Gutenachtkuss zu geben. Wenn du deinen Kopf wieder unter der Decke hervorstreckst, sitze ich neben dir auf der Bettkante.«

»Ja, aber es könnte auch sein, dass du ganz dringend aus dem Zimmer gehen musstest. So genau wissen wir das nicht«, beharrt Matilda. »Ich weiß immer nur, dass ich da bin.«

»Hm. Aber ist der Schnee nicht auch Teil der Welt?«

»Papa, mir ist kalt.«

Die Seile vibrieren, es rattert laut, sie passieren den Mast. »Wir sind gleich da«, sagt Pascal, als nur noch ein leichtes Surren zu hören ist. Oben angekommen, kann Matilda den Holzbügel nicht öffnen. »Hilf mir, Papa!« Mehrmals schlägt Pascal mit der offenen Hand von unten gegen den Bügel, die kalte Hand schmerzt, doch der Bügel geht nicht auf. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Sessel über ein großes Umlenkrad wieder nach unten geschickt wird, hebt er Matilda aus dem Sessel. »Wie früher, als ich dir nach dem Essen aus dem Hochstuhl helfen musste«, lacht er.

»Das ist nicht lustig«, sagt Matilda erschrocken.

»Ach wo«, entgegnet Pascal, während er den Rucksack aufschnürt, »zur Not hätte ich mich einfach wieder hingesetzt und statt auf dem Schlitten wären wir mit dem Sessel hinuntergefahren. Magst du Tee?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, schraubt Pascal die Thermoskanne auf, gießt heißen Tee in den Deckel, reicht ihn Matilda. Die Thermoskanne ist angenehm warm, langsam kehrt das Gefühl in seine Fingerspitzen zurück. In der Bergstation riecht es nach Motorenöl, und der Lärm erinnert ihn an die Arbeit. »Komm, gehen wir.« Pascal lockert seinen Schal. Die Ferien sind fast zu Ende. Morgen um dieselbe Zeit wird er schon wieder an seiner Arbeitsstelle in der Maschinenbau Huber AG sein und Matilda bei Verena, ihrer Tagesmutter.

Der Schlitten sinkt knirschend ein. »So kommen wir nicht voran«, mahnt Pascal, »ein paar Schritte musst du noch gehen.« Matilda lässt sich vom Schlitten seitlich in den Schnee fallen, bleibt liegen und versucht, mit der Zunge Schneeflocken aufzufangen. Dann zieht sie ihre Handschuhe aus. »Was machst du?«, fragt Pascal.

»Ich hab da etwas in meiner Jackentasche«, antwortet sie.

»Matilda bitte, nicht jetzt, mir ist schon richtig kalt.« Matildas rote Mütze, die Verena für sie gestrickt hat, liegt im Schnee.

»Es ist aber wichtig«, sagt sie, »schau, was ich mitgebracht habe.« Sie hält ihm zwei leere Luftballone hin. Pascal weiß, dass es wenig Sinn macht, in irgendeiner Form zu protestieren. Matilda würde darauf beharren, dass er die Ballone aufbläst. Also stapft er zu ihr zurück, zieht seine Handschuhe ebenfalls aus und greift nach den Ballonen. »Setz dich so lange auf den Schlitten«, sagt er. »Und die Mütze ziehst du dir auch wieder an.« Mit seinen steifen Fingern fällt es ihm schwer, den aufgeblasenen Ballon zu verknoten. »Und jetzt?«, fragt er, einen gelben und einen blauen Luftballon in den Händen. »Jetzt binden wir sie an den Schlitten«, antwortet Matilda. Im Außenfach des Rucksacks finden sie ein Stück Schnur, mit der sie die Ballone am Ende des Schlittens befestigen. »Bereit?«

Matilda strahlt. »Bereit!«

Der Weg ins Tal ist gut präpariert, es liegt nur wenig Neuschnee auf der harten Unterlage, an einigen Stellen sind gleichmäßige Rillen sichtbar, wie sie Pistenfahrzeuge hinterlassen. »Bei klarem Wetter sieht man von hier aus bis zu den Alpen«, sagt Pascal. Matilda blickt in den Himmel. Sie setzen sich hintereinander auf den Schlitten, Pascal rückt Matildas Mütze zurecht, vergewissert sich, dass der Rucksack gut am Rücken sitzt, mahnt Matilda, ihre Füße nicht von der Metallstange zu nehmen. Dann stößt er mit den Füssen kräftig vom Boden ab, hebt sie schnell an und der Schlitten gewinnt an Fahrt. Es kostet Kraft, nicht vom Weg abzukommen, der Schlitten lässt sich im schweren, feuchten Schnee nicht leicht steuern. Matilda jauchzt, von unten und von oben fliegt ihnen der Schnee in die Gesichter, Pascals Augen tränen. Dumpf schlagen die Ballone hinter ihnen auf.

»Papa, wir fliegen!«, japst Matilda, der Gegenwind nimmt ihr den Atem. Pascal konzentriert sich angestrengt darauf, nicht die Kontrolle über den Schlitten zu verlieren. Mit ausgestrecktem Bein bremst er in der Kurve ab, Schnee stäubt hoch, die Ballone fliegen mit dem Schlitten gleichauf. Pascal sieht einen gelben Fleck neben sich, dann ertönt ein lauter Knall. »Der Ballon!«, ruft Matilda.

»Macht nichts«, ruft Pascal zurück, »weiter geht’s!«

Heute lag eine tote Amsel auf dem Balkon. Auf Matildas Wunsch hin haben wir sie nach Einbrechen der Dunkelheit im Garten begraben. (17. 3. 1986)

Pascal und Tobias schreiten über das weitläufige Fabrikgelände, Pascal tastet seine Hosentaschen nach dem Autoschlüssel ab. Sein Bruder, der seit einigen Jahren als Krankenpfleger im Operationsbereich eines Krankenhauses tätig ist und wegen des Schichtbetriebs heute früh Feierabend gemacht hat, ist vorbeigekommen, um ihn von der Arbeit abzuholen. »Fahren wir in die Stadt und trinken ein Bier?«

»Und Matilda?«, fragt Tobias gähnend zurück.

»Verena hat mir erlaubt, sie etwas später abzuholen. Oder bist du zu müde?«

»Nein, alles gut. Es ist nur die Umstellung von Spät- auf Frühdienst, die mir zu schaffen macht. Ich brauche jeweils ein paar Tage, bis ich im Rhythmus drin bin. Zudem fallen die meisten Operationen auf die Vormittage. Am Abend kommen nur die Notfälle.«

Als sie vor Pascals rotem Peugeot stehen bleiben, rüttelt Tobias an der Beifahrertür. »Die klemmt.«

»Etwas mehr Feingefühl, bitte.«

Pascal geht um das Auto herum, hebelt zuerst am Griff, steckt dann den Schlüssel ins Schloss und bewegt diesen vorsichtig auf und ab. Endlich lässt sich die Autotür öffnen. »Siehst du?«

»Ich bete für dich, dass du dein Auto nicht bald zur Motorfahrzeugkontrolle bringen musst«, lacht Tobias. Dann beugt er sich vor, räumt den Sitz frei. »So ein Saustall hier drinnen.«

»Das habe ich gehört«, ruft Pascal ihm zu, setzt sich ans Steuer und wirft einen Blick auf den Beifahrersitz. Matildas Regenjacke. Die hat er ihr am Morgen mitgeben wollen und dann doch vergessen. Ein leerer Joghurtbecher, Brotkrümel und auf der Fußmatte eine Tüte mit Altglas – so schlimm ist es doch gar nicht.

»Bring Matilda zu Michael und mir, wenn du Ruhe brauchst«, sagt Tobias mit dem Joghurtbecher in der Hand und der Regenjacke auf dem Schoß, »du weißt ja, wir sind glücklich, wenn die Kleine da ist.«

Pascal nickt seinem Bruder zu und startet den Motor. Ohne Tobias wären er und seine Tochter verloren. Schon so weiß er nicht, wie er die letzten sechs Jahre, die rückblickend so schnell verflogen sind, geschafft hat. Die Stunden sind lang, aber die Jahre vergehen wie im Flug. Diesen Satz hat er neulich irgendwo gelesen und in seinen Kalender geschrieben. »Erinnerungsfetzen« nennt er diese Einträge, die in letzter Zeit meistens mit Matilda zusammenhängen – ihre Fortschritte oder besondere Dinge, die sie getan und gesagt hat, festhalten. Manchmal denkt er, dass Tobias der bessere Vater wäre als er oder in mancher Hinsicht zumindest viel souveräner. Tobias mag es nicht, wenn er darauf zu sprechen kommt, bestärkt ihn immer darin, dass er, wie Tobias sagt, großartige Arbeit leiste und sich Matilda keinen besseren Papa wünschen könne. Aber es ist nicht die Arbeit, die ihm zu schaffen macht, sondern die Tatsache, dass er so viele Entscheidungen alleine treffen muss. Was womöglich auch ein Vorteil ist. Andreas, sein Arbeitskollege und ebenfalls Vater einer Tochter, beneidet ihn jedenfalls darum, immer selber entscheiden zu dürfen. »Sei froh, dass dir die Diskussionen, ob das Kinderzimmer blau, gelb oder pink gestrichen, ein neues Fahrrad oder doch lieber ein gebrauchtes gekauft werden soll, erspart bleiben. Du hörst auch nie: ›Rauch nicht vor dem Kind‹ oder ›Du trinkst zu viel‹ und so weiter«, hält er ihm in den Pausen manchmal augenzwinkernd vor. Pascal mag Andreas’ Frau Rita, so schlimm ist es mit ihr bestimmt nicht.

Bald würde seine Kleine mit der Schule beginnen und zur Abwechslung mal die Lehrerin mit Fragen löchern können. Pascal schmunzelt. Die Fragerei beginnt mit Matildas erstem morgendlichen Blinzeln und hört erst auf, wenn sie am Abend wieder eingeschlafen ist. Zudem erfindet sie zu allem eine Geschichte, vermischt großzügig Fakten und Fantasie. Manchmal plagt ihn das schlechte Gewissen, dass er abends oft zu müde ist, um ihr richtig zuzuhören, dass er, kaum hat er sie bei Verena abgeholt, still den Moment herbeisehnt, in dem sie schlafen geht, und er sich für einen Moment zu ihr aufs Bett legen kann. Nur fünf Minuten – und Stunden später wacht er wieder auf, schleppt sich in sein eigenes Bett.

Pascal beobachtet aus dem Augenwinkel, wie Tobias das Fenster herunterkurbelt und den Arm in den kühlen Fahrtwind streckt. Das hat er schon als Kind immer gemacht und jedes Mal in Kauf genommen, dass ihn der Vater deswegen verärgert zurechtwies. Sie verlassen Riehenbach, das Dorf, das neben demjenigen liegt, in dem sie aufgewachsen sind, fahren vorbei an abgeernteten, kargen Feldern. Im Herbst hatten ein paar längst vergessene Sonnenblumen noch ein paar Wochen ihre ausgetrockneten Köpfe hängen lassen und wehmütig an die Sommertage erinnert.

»Hast du etwas von unseren Eltern gehört?«, fragt Pascal, schaltet einen Gang herunter und bremst langsam ab. Vor ihnen liegt die nächstgrößere Stadt, die mit ihren knapp 20‘000 Einwohnern eigentlich auch nur ein Dorf ist.

»Die Nachbarn sind zu laut, die chronischen Magenschmerzen sind stärker geworden, der Arzt ist komplett unfähig – ach, was erzähle ich dir hier überhaupt, du kennst das ja.«

»Nicht einmal ihr Enkelkind kann sie mit dem Leben versöhnen. Wahrscheinlich fehlt eben die Schwiegertochter «

»An der sie sowieso nur herumnörgeln würden«, unterbricht ihn Tobias.

»Es ist vier Monate her, seit sie Matilda zuletzt gesehen haben.«

»Du wirst sie nicht mehr ändern. Michael wollen sie auch im siebten Jahr unserer Beziehung nicht kennenlernen. Sie glauben wohl immer noch, dass ich mich besinnen und in eine Frau verlieben werde.«

»Dich besinnen?«

»Ja, so hat es Vater mir einmal ins Gesicht gesagt: ›Wenn du dich nicht besinnst, wirfst du dein Leben weg‹. So ein Schwachsinn. Aber weißt du was? Es ist mir egal. Ich habe mit ihnen abgeschlossen.«

»Und weißt du etwas Neues von deinem Arbeitskollegen, dem Physiotherapeuten?«, wechselt Pascal das Thema. Er hat keine Lust, noch länger über ihre Eltern zu reden. Denn anders als sein Bruder hat er nicht mit ihnen abgeschlossen, ihre Zurückweisungen und ihr Desinteresse an seiner Tochter verletzen ihn.

»Meinst du Frank?«

»Der, der erkrankt ist?«

»Ja. Michael und ich waren letzte Woche bei ihm. Seit bei ihm Aids ausgebrochen ist, geht es rasant bergab. Ich hoffe, dass er nicht mehr lange leiden muss. Sein Partner Reto, der ihn zu Hause pflegt, hat sich ja auch angesteckt. Der sieht nun genau, was auf ihn zukommen wird.«

»Ich an seiner Stelle würde den Ausbruch der Krankheit nicht abwarten«, sagt Pascal.

»Das sagt sich so leicht«, entgegnet Tobias. »Aber weißt du, was auch krass ist?«

»Was?«

»Als ich in der Abteilung Geld gesammelt habe, um Frank ein Geschenk kaufen zu können – so wie wir es immer tun, wenn jemand krankheitshalber für längere Zeit ausfällt – hat sich nur etwa die Hälfte der Kollegen an der Aktion beteiligt.«

»Weil er schwul ist?«

»Ja, klar. Und sich darüber hinaus noch diese in ihren Augen schmutzige Krankheit aufgelesen hat. Sie sehen in ihm einen Menschen zweiter Klasse. Und so etwas in einem Krankenhaus. Manchmal macht es mir ganz schön Angst, wenn ich sehe, wie dumm viele Leute sind.«

»Offenbar ist es nicht nur die Generation unserer Eltern, die diesbezüglich ein Brett vor dem Kopf hat, sondern auch die Jüngeren. Aber mach dich nicht verrückt. Diese Leute braucht Frank jetzt nicht. Er braucht Freunde wie dich und Michael, die ihm beistehen.«

Pascal bewundert den ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und das große Herz seines Bruders. Tobias ist niemand, der den Kopf in den Sand steckt. Von Anfang an hat er sich offen zu seinem Partner bekannt und auch auf der Arbeit nie ein Geheimnis aus seiner Beziehung gemacht. Pascal hält das Auto an, legt den Rückwärtsgang ein und fährt einige Meter zurück. Er hat eine Parklücke entdeckt.

»Weißt du Papa, bei Verena wird jedes Hallo gleich zu einer Geschichte.« Matilda erklärt mir beim Abendessen, warum Einkaufen mit der Tagesmutter länger dauert als mit mir. (24. 3. 1986)

Die Wolken verdichten sich, wahrscheinlich fallen bald die ersten Regentropfen. Pascal und sein Arbeitskollege Andreas sitzen vor dem Fabrikgelände auf einer Bank, beide sind damit beschäftigt, ihre Sandwiches aus der Klarsichtfolie zu wickeln, was mit klammen Fingern nicht ganz einfach ist. Die Sonne hat sich den ganzen Vormittag nicht blicken lassen, und trotzdem zieht Pascal es vor, seine kurze Mittagspause draußen an der frischen Luft zu verbringen und nicht im überheizten Aufenthaltsraum. Meistens leistet Andreas ihm Gesellschaft. »Kommst du am Sonntag auch zum Firmenjubiläum?«, fragt dieser zwischen zwei Bissen.

Pascal, der sein Brot inzwischen ebenfalls von der Folie befreit hat, schüttelt den Kopf, dreht den Verschluss seiner Thermoskanne auf und füllt Tee in die zwei Becher, die zwischen ihnen auf der Bank stehen. Dampf steigt auf. »Keine Lust«, murmelt er.

»Würde es dir nicht guttun, mal wieder unter Leute zu gehen?«, fragt Andreas und greift sich dabei in den Bart.

»Ich mag solche Anlässe nicht«, erwidert Pascal und nimmt einen Schluck heißen Tee.

»Dann komm Matilda zuliebe«, beharrt Andreas. »Rita und Anna werden auch da sein.«

Pascal reicht Andreas den Becher. »Du gibst nicht auf, was? Ich mag es nun mal nicht, unter Beobachtung zu stehen.«

»Komm, so schlimm wird es schon nicht sein. Ich habe den Eindruck, du selbst bist dein strengster Beobachter.«

Pascal legt sein Brot auf die Bank, schlägt die Beine übereinander. »Du hast keine Ahnung, Andreas. Auf jeden Zettel, den Matilda vom Kindergarten nach Hause bringt, folgt ein Anruf der Kindergärtnerin, die sich vergewissert, dass ich die Information auch wirklich bekommen habe. Ich schicke Matilda mit einem Pferdeschwanz zum Kinderturnen, sie kommt mit geflochtenen Haaren zurück. Die Nachbarin fragt, ob sie für Matilda eine Geburtstagsfeier organisieren soll und erwähnt in einem Ton, der möglichst beiläufig klingen soll, dass auch bald Ostern sei.«

»Die Leute meinen es doch nur gut, Pascal.«

»Ja, ich weiß. Aber es fühlt sich an, als würde man mir nicht zutrauen, meiner Aufgabe gerecht zu werden. Verdammt, Andreas, ich weiß, wann Ostern ist und mein Pferdeschwanz ist gut. Oder zumindest gut genug.«

»Du hast insofern recht, als es einer alleinerziehenden Mutter vermutlich anders ergehen würde. Aber jeder Mensch trägt nun mal einen Rucksack mit sich herum und stolpert hin und wieder durch die Tage. Wetten, dein Bruder würde, was die Andersbehandlung angeht, gern mit dir tauschen?«

Pascal greift nach seinem Brot, lehnt sich zurück und nimmt einen Biss. »Entschuldige bitte«, murmelt er mit vollem Mund. »Ich weiß, ich sollte mich nicht beschweren. Oder zumindest nicht darüber. Ich habe gestern zu viel getrunken – übrigens mit meinem Bruder und bin heute mit dem falschen Fuß aufgestanden.«

»Du kannst dich beschweren, so viel du willst. Aber Selbstmitleid bringt dich nicht weiter.«

»Ist ja gut.«

»Heißt das, du kommst zum Firmenjubiläum?«

»Du kannst mich mal.«

»Wie viele Menschen schweigen genau jetzt, in diesem Moment, auf der ganzen Welt, und wie viele reden?« Matilda hat mich das heute beim Frühstück gefragt, als ich ihr gesagt habe, dass ich keinen Menschen kenne, der so viel spricht wie sie. (12. 4. 1986)

Der Regen prasselt aufs Dach, aus der Regenrinne fließt ein brauner Wasserstrom, fällt auf die bunten Steinmännchen, die draußen auf dem Fensterbrett nebeneinanderstehen. Diese haben die Kinder im Kindergarten bemalt und bei ihrem ersten Besuch in der Schule mitgebracht. Pascal rückt den Kinderstuhl, auf dem er unbequem sitzt, um wenige Zentimeter nach hinten. Langsam trocknen die Abdrücke, die seine nassen Socken auf dem Boden hinterlassen haben, ziehen sich zusammen und verdunsten schließlich ganz. Er hat sich freigenommen, denn heute ist Matildas erster Schultag. Sie sitzt neben ihm, wiegt sich leicht vor und zurück und scheint mit den Augen einen Punkt in der Mitte des Stuhlkreises zu fixieren. Auf den Schulbeginn hat sie sich sehr gefreut und sich bis zur letzten Minute den zukünftigen Schulalltag plappernd ausgemalt, gelacht und gestrahlt. Deshalb erstaunt es ihn, dass sie jetzt so ernst wirkt, und er fragt sich, ob es womöglich damit zusammenhängt, dass alle anderen Kinder von ihren Müttern begleitet werden und nur sie mit ihrem Vater dasitzt. Es ist ja nicht so, dass Matilda keine Mutter hat – aber halt eine, die nichts von ihr wissen will. Er weiß nicht, was schlimmer ist. Vielleicht spricht er deswegen kaum über Lucía, weil er Matilda beschützen will. Vor dem Schmerz, den diese unweigerlich fühlen wird, sobald sie begreift, dass ihre Mutter sie im Stich gelassen hat. Weshalb sollte er auch über Lucía sprechen? Matilda kennt nichts anderes – Vater und Tochter, als eingespieltes Team. Das ist ihre Realität.

Frau Sommer, Matildas neue Lehrerin, geht im Kreis herum, reicht allen die Hand und wechselt mit jedem Kind ein paar Worte. Jetzt ist Matilda an der Reihe. »Und du musst Matilda sein, oder?« Matilda nickt. Klar. Matilda ist das Kind, das mit ihrem Vater auftaucht. Ein Blick auf die Klassenliste genügt. An anderen Tagen hätte ihn die Tatsache, dass Matilda nicht nach ihrem Namen gefragt, sondern aufgrund ihrer Familiensituation gleich zugeordnet wird, genervt. Doch heute lässt er sich davon nicht beirren, sondern ist stolz und dankbar, diese wichtige Rolle in Matildas Leben einnehmen zu dürfen. Welcher andere Vater kann schon von sich behaupten, kein bedeutsames Ereignis im Leben seines Kindes zu verpassen?

»Freust du dich auf die Schule, Matilda?«, fragt Frau Sommer.

Matilda nickt.

Pascal und Matilda verbringen den Sonntagnachmittag im Wald. Davor haben sie lange im Bett gelegen und mehrere Folgen eines Hörspiels gehört, während der Regen unaufhörlich ans Fenster geprasselt hat. Beide lieben die Sonntage, wenn es morgens keinen Grund zur Eile gibt. Inzwischen hat der Regen nachgelassen, nur hin und wieder fallen schwere Regentropfen von den Blättern der Laubbäume. Matilda stapft über den weichen, nassen Waldboden. »Wie auf einer Turnmatte«, erklärt sie. Mit ihren blauen Gummistiefeln und dem gelben Regenmantel würde sie weder hier im Wald noch an irgendeinem anderen Ort der Welt verloren gehen, denkt Pascal. Er atmet tief ein. Er mag den Geruch von feuchter Erde.

»Sind Menschen eigentlich wasserdicht?«, fragt Matilda.

»Irgendwie schon«, antwortet Pascal. »Aber kalt wird uns, wenn wir nicht geschützt sind und das Wasser läuft dir zu den Ohren rein, wenn du die Kapuze nicht aufsetzt.« Matilda schaut ihn mit großen Augen an, schüttelt langsam den Kopf und rennt davon. Sie hasst Kapuzen, würde sich diese nie freiwillig aufsetzen. »Dich pack ich gleich, du kleiner Frechdachs«, ruft ihr Pascal nach, rennt ihr hinterher. Beim Waldspielplatz, gleich neben der Feuerstelle, entdeckt Matilda im Stamm einer Eiche ein eingeritztes Herz. »Was bedeutet A+A?«, fragt sie.

»Wahrscheinlich sind das die Anfangsbuchstaben der Namen zweier Menschen, die sich lieben. Aber sag, kannst du nach wenigen Wochen in der Schule schon lesen?«

Matilda überhört seine Frage. Seit einiger Zeit kann sie einfache Worte erkennen, hat ihn immer wieder gefragt, wie einzelne Buchstaben heißen.

»Andrea und Arnold«, überlegt Matilda.

»Anton und Anna«, fügt Pascal hinzu.

»Oder Adam und Adrian«, lacht Matilda.

»Zwei Männer? Wie bei Onkel Tobias und Michael?«

Matilda nickt. Sie hebt einen Stock vom Boden auf und malt ein großes »P« und daneben ein etwas kleineres »M« in den feuchten Waldboden. Dazwischen setzt sie ein »+«.

»Papa und Matilda?«, fragt Pascal.

»Papa und Mama«, antwortet Matilda, ohne den Blick zu heben. Pascal findet keine Worte, weiß nicht, was er entgegnen kann. Doch Matilda scheint sowieso keine Reaktion zu erwarten. Sie sitzt bereits auf der Schaukel. »Schubst du mich an?«

»Heute Nacht habe ich in deinem Kopf gewohnt, Papa!« Matilda strahlt mich verschlafen an und reibt sich mit den Fäusten den Schlaf aus den Augen. (11. 5. 1986)

Pascal geht ins Badezimmer, nimmt die Packung mit den Pflastern aus dem Schrank und sucht den Desinfektionsspray, den er kürzlich gekauft hat. Er findet Schmerztabletten, Medikamente zur Malariaprophylaxe und Fieberzäpfchen für Säuglinge, die bestimmt längst abgelaufen sind. Doch wo ist der Spray? Zum Glück ist Tobias da, um ihm bei der Geburtstagsparty zu helfen. Sein Bruder ist der geborene Unterhalter, und obwohl Matildas Freunde Tobias nicht kennen, werden sie ihn sofort ins Herz schließen, da ist er sich ganz sicher. Matilda liebt ihren Onkel abgöttisch.

Es klingelt an der Tür. »Matilda, bestimmt für dich!«, ruft Pascal aus dem Bad. Natürlich hätte er nichts zu sagen brauchen, schon rennt Matilda am Bad vorbei zur Haustür. Zwei ihrer Freundinnen sind bereits hier, die anderen Kinder würden auch gleich kommen. Das Wetter ist schön, zwar noch etwas kühl, aber die Sonne scheint. Wie geplant werden sie mit den Fahrrädern zum Waldsee fahren, in der Wohnung wäre es mit Matildas Gästen zu eng und für die Nachbarn zu laut. Pascal horcht auf, offenbar wird nach ihm verlangt. Er legt die Pflaster zur Seite und geht zur Haustür. Christoph und seine Mutter stehen im Treppenhaus. »Komm rein, Christoph«, sagt Pascal und nickt Christophs Mutter zu, die sofort zu sprechen beginnt. »Herr Müller, hallo. Können Sie mir sagen, wer heute beim Ausflug dabei ist?«, fragt sie, ohne die Hand ihres Sohnes loszulassen. »Anna, Jonas, Martina«, zählt Matilda sofort auf, doch Christophs Mutter unterbricht sie. »Nicht die Kinder, Matilda. Ich meine die Begleitpersonen.«

»Mein Onkel Tobias!«, erklärt Matilda. Seit Tagen redet sie nur noch von ihrer Party. Gelächter dringt aus dem Wohnzimmer. »Mein Bruder«, bestätigt Pascal. »Matilda, schau mal nach, was es drinnen so Lustiges gibt«, sagt er, fasst sie an den Schultern und dreht sie in die andere Richtung. Sie hüpft davon. Kurz ist es still, dann räuspert sich Christophs Mutter. »Es tut mir leid, aber Christoph kann nicht bleiben. Es liegt nicht an mir, verstehen Sie mich bitte recht, aber mein Mann möchte das einfach nicht.« Sie will mit ihrer Erklärung fortfahren, doch Pascal, dem bereits klar ist, worauf sie hinauswill, unterbricht sie knapp. »Schade.« Christoph schaut seine Mutter fragend an. »Mama, ich will aber hierbleiben.«

»Ein anderes Mal«, sagt seine Mutter und zieht ihn an der Hand fort. Dann dreht sie sich nochmals um, reicht Pascal eine Tüte. »Das ist Matildas Geschenk. Ich hoffe, Sie verstehen.« Pascal schließt die Tür. Ob Matilda Christoph gegenüber mal erwähnt hat, dass Tobias und Michael zusammenleben? Gut so. Hoffentlich. Er würde Tobias nichts davon erzählen, ihm nicht unnötig wehtun, keine schlechte Stimmung zulassen. Zurück im Wohnzimmer sagt Pascal, Christoph habe nur das Geschenk vorbeibringen wollen, er müsse notfallmäßig zum Zahnarzt.

»Ich habe ein Glück gefunden!« Matilda hat gerade die ersten zwei Tomaten an den hochgewachsenen Stauden entdeckt. (12. 6. 1986)

Pascal zieht die Tür hinter sich zu. »Matilda, mein Mädchen, ich bin so schnell hergekommen, wie ich konnte.« Endlich. In der Aufregung hat er sich zuerst in der Abteilung und dann in der Zimmernummer getäuscht. Matilda antwortet nicht, sie liegt im hinteren Bett neben dem Fenster, die anderen drei Betten sind nicht besetzt. Steckt in Matildas Arm eine Infusion? Ist es etwa doch schlimmer, als Doktor Weber am Telefon gesagt hat? Jetzt sieht er, dass die Arminnenseite oberhalb des Verbands rot gefleckt ist. Matildas Augen sind geschlossen, auch der andere Arm, den sie seitlich vom Oberkörper wegstreckt, ist gerötet und stark geschwollen. Der weite Ausschnitt des hellblauen Krankenhauskittels fällt ihr über die Schultern. Pascal schluckt leer. Wie bleich sie ist. »Matilda, hier bin ich.«

Matilda öffnet benommen die Augen, greift nach seiner Hand. Er küsst sie vorsichtig zwischen die geröteten Stiche auf ihrer Stirn und legt seine andere Hand auf ihren Bauch. »Juckt es sehr?«

Matilda nickt. Tränen rollen über ihre Wangen. Im Zimmer riecht es nach einem Gemisch aus Desinfektionsmittel und Zitrusöl. Jemand räuspert sich, Pascal schaut über seine Schulter, er hat die Frau, die sich jetzt aus dem Besucherstuhl erhebt, beim Hineinkommen gar nicht gesehen. »Meier«, stellt sie sich vor und streckt ihm die Hand hin. »Ich habe Matildas Klasse beim Ausflug begleitet. Zum Glück sind Sie da. Ich bin mit Matilda direkt zu Herrn Doktor Weber gefahren, er hat mir versichert, dass es nichts Schlimmes ist.«

»Was ist denn genau passiert?«, fragt Pascal.

»Wir waren im Wald. Beim Versteckenspielen ist Jonas in ein Wespennest getreten. Matilda war direkt hinter ihm, die aufgeschreckten Wespen haben sich in ihren Kleidern und Haaren verfangen. Aber wie gesagt, ich bin mit ihr sofort zu Herrn Doktor Weber …«

»Was haben die Ärzte hier gesagt?«, unterbricht Pascal sie.

»Über die Infusion wird ihr eine leichte Dosis Kortison verabreicht, die Frau Doktor kommt später nochmals vorbei, um mit Ihnen zu reden.«

Pascal atmet tief durch. Während der Kaffeepause ist er ins Personalbüro gerufen worden. Ein dringender Anruf, hieß es. Herr Weber, sein Hausarzt, hat ihn zum Glück sofort beruhigt, gesagt, dass es Matilda gut gehe, die Einlieferung ins Krankenhaus sei eine reine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass Matilda auf die Wespenstiche allergisch reagieren würde.

Frau Meier verabschiedet sich von Matilda. »Du warst sehr tapfer«, sagt sie. Pascal begleitet sie auf den Flur hinaus, bedankt sich mehrmals für ihre Hilfe, beschwichtigt, ja, er werde sie auf dem Laufenden halten, dann verabschieden sie sich ebenfalls voneinander. Eine Weile bleibt Pascal vor der Zimmertür stehen, zwingt sich, tief durchzuatmen. Er hält nach der Ärztin Ausschau und beobachtet das Treiben auf dem Flur, das Hin und Her von Blumen, Infusionsständern, Patienten, Besuchern, weißer Bettwäsche und Pflegepersonal. Da er keine Ärzte entdeckt, kehrt er ins Zimmer zurück, setzt sich zu Matilda aufs Bett, streicht ihr über die zerstochenen Arme. Auch auf dem Augenlid und am Haaransatz sind Stiche sichtbar. Matilda sieht erschöpft aus.

»Bin ich hier geboren?«, fragt sie plötzlich in die Stille hinein.

»Nein«, antwortet Pascal. »Du weißt doch, dass du in Mexiko geboren bist.« Seine Formulierung klingt unbeholfen.

»In einem Krankenhaus?«

»Nicht ganz, aber so ähnlich, gerochen hat es ein bisschen wie hier, nach Zitrusöl.«

»Du und ich wohnen in Andersland.«

»Wie kommst du denn darauf?«

Matilda öffnet den Mund, schließt ihn aber gleich wieder, und Sekunden später fallen ihr die Augen zu. Pascal tritt ans Fenster und schaut in den wolkenlosen Himmel. Andersland. Wie schön das klingt. Und wie traurig. Flugzeuge haben weiße Bahnen im Blau hinterlassen, Reisespuren. Er ist schon lange nicht mehr geflogen.

Das Licht flimmert eigenartig über der Bergkette am Horizont. Wahrscheinlich würde er die Bergtour am Wochenende nun absagen müssen. Dabei hatte er versprochen, eine Gruppe von Bergsteigern zur Mutthornhütte zu begleiten. Schade, er hatte sich über die Anfrage gefreut, und die Auszeit in den Bergen hätte ihm sicher gutgetan. Nirgendwo kann er besser abschalten; sobald er die Baumgrenze hinter sich lässt und die Luft dünner wird, fühlt er sich leicht. Pascal dreht sich vom Fenster weg, betrachtet seine Tochter. Wie klein sie aussieht in diesem großen Bett; und wie viel kleiner sie noch war, als die Nonnen sie ihm zum ersten Mal in die Arme gelegt haben. Er wischt sich mit dem Handrücken über die Augen. Inzwischen atmet Matilda gleichmäßig. Für einen kurzen Moment würde er sie allein lassen, nochmals nach der Ärztin suchen und sich unten am Kiosk Zigaretten besorgen. Er verspürt das dringende Bedürfnis zu rauchen.

Gut gelaunt wacht Matilda am späteren Nachmittag auf. Das Jucken hat nachgelassen, und die Schwellung an den Armen ist zurückgegangen. Auch die Ärztin gibt Entwarnung. Trotzdem möchte sie, dass Matilda zur Beobachtung die Nacht im Krankenhaus verbringt. »Einem Aufenthalt bei deinem Onkel steht aber nichts im Wege«, sagt sie und kneift Matilda freundschaftlich in den Zeh. »Fast hätte ich es vergessen«, fügt sie an Pascal gewandt hinzu, »Matilda sollte jetzt etwas Kaltes essen, ein Eis zum Beispiel.« Sie zwinkert Matilda zu und verlässt das Zimmer. Pascal atmet erleichtert auf. Das waren erfreuliche Nachrichten.

»Papa, hast du gehört, was die Ärztin gesagt hat?«, fragt Matilda.

Pascal streicht Matilda die Locken aus dem Gesicht. »Dass du trotzdem zu Onkel Tobias darfst?«

»Nein, Papa.«

»Dann weiß ich leider nicht, was meine Prinzessin von Andersland meint«, entgegnet Pascal mit strengem Blick.

»Papa!«

Pascal schmunzelt, kitzelt Matilda an den nackten Füßen. »Vanilleeis?«

Matilda zieht ihre Füße lachend an den Körper heran, verdreht die Augen. »Ich bin keine Prinzessin.«

Die Tür geht auf, Tobias tritt ein. Pascal legt das Märchenbuch, das er sich vom Regal im Flur genommen und aus dem er bis eben vorgelesen hat, zur Seite. Matilda sitzt aufrecht im Bett, ein Eisbecher steht vor ihr auf dem ausgeklappten Tisch. Sie schwingt den langen Löffel in der Luft, als leite sie ein Orchester. »Schon unsere zweite Portion Vanilleeis«, lacht sie.

»Wenn du nicht sprichst, ist die Stille zu laut«, sagte Matilda heute beim Abendessen, als ich müde und deshalb nicht sehr gesprächig war. (24. 6. 1986)

Pascal kauert auf der niedrigen Holzbank vor der Hütte. Er lockert die Schnürsenkel seiner Wanderschuhe, streift die Schuhe ab und schiebt sie unter die Bank. Langsam bewegt er die Zehen auf und ab, neigt den Kopf erst zur einen und dann zur anderen Seite, kreist die Schultern. Sein Nacken ist verspannt, es lässt sich nicht leugnen, dass seine Form nachgelassen hat, seitdem er beim Alpenclub kaum noch aktiv ist. Früher hat er praktisch jedes Wochenende in den Bergen verbracht, und wenn er nicht auf einer Tour war, dann bestimmt in der Kletterhalle. Selbst in Mexiko war er oft in der Natur unterwegs gewesen. Pascal atmet tief ein, streckt seine müden Beine aus. Umso schöner ist es, jetzt hier zu sein. Wie erwartet ist der Aufstieg reibungslos verlaufen. Bereits in Selden, von wo er mit der Gruppe kurz vor Mittag losmarschiert ist, hat er gewusst, dass ihm die vier rüstigen Rentner keinerlei Schwierigkeiten machen würden. In einem angenehmen Tempo haben sie die 1500 Höhenmeter in rund siebeneinhalb Stunden zurückgelegt. Der letzte Streckenabschnitt, der über den Gletscher bis zur Hütte führte, war dank des Abendlichts besonders eindrücklich. Sosehr er die körperliche Müdigkeit und die inneren Bilder nach der langen Wanderung auch genießt, ist es doch ein zwiespältiges Gefühl, an den Ort zurückzukommen, an dem er Günther kennengelernt hat. Oben auf dem Mutthorn hatte ihm Günther, damals verantwortlich für Volkswagen Deutschland, die Stelle in Mexiko angeboten.

Jetzt tritt Julika, die Hüttenwartin, aus dem Haus, nickt Pascal zu und zündet sich eine Zigarette an. »Täglich gönn ich mir eine, niemals würde ich auf diese einzige Zigarette am Tag verzichten wollen.«

»Wir sind uns früher schon einmal begegnet«, sagt Pascal. »Aber das ist schon lange her.«

»Hier oben?«

Pascal nickt.

»Wie heißt du?«

»Pascal. Ich war damals mit Günther Blum hier.«

»Ach, Günther! Ja, an Günther Blum erinnere ich mich gut. Der ist damals mehrere Male aus Wolfsburg angereist und jeweils für ein paar Tage bei mir geblieben.«

»Ich verstehe«, sagt Pascal. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte Günther Julika ständig den Hof gemacht, sie hingegen hatte ihn auf Distanz gehalten.

»Ideales Wetter, klare Sicht«, sagt Julika, »ihr habt ein tolles Wochenende ausgewählt.« Kurz darauf verschwindet sie wieder im Haus, bestimmt hat sie noch zu tun. Pascal bleibt draußen auf der Bank sitzen und schaut zu, wie langsam die Dämmerung einsetzt.

Das frühe Aufstehen und der etwas beschwerliche Aufstieg im Lichtkegel der Stirnlampe haben sich gelohnt: Gerade rechtzeitig, um die ersten Sonnenstrahlen über die Gipfelkette hereinbrechen zu sehen, erreichen Pascal und seine Seilschaft das Mutthorn-Plateau. Der Himmel, der durch die zurückgelegten Höhenmeter und das plötzliche Sonnenlicht unwirklich nah scheint, ist von einem kräftigen Rot durchzogen, auch die Berge schimmern rosa. Pascal erschauert. Das Tschingelhorn, die Blümlisalp; jeder Gipfel, jeder Stein tritt stechend scharf aus der magisch aufgeladenen Umgebung hervor. Sie trinken heißen Kaffee, den sie in einer Thermoskanne mitgebracht haben. Dampfschwaden steigen von den Tassen auf, scheinen sich nicht aufzulösen, sondern bleiben wie kleine Skulpturen über den Tassen stehen. Nie zuvor hat Pascal den Duft von Kaffee so intensiv wahrgenommen. Er atmet schwer, Tränen schießen ihm in die Augen. Vor acht Jahren hatte ich den Kopf noch voller Abenteuer, denkt er und weiß nicht, wohin mit all den Gefühlen und bildstarken Erinnerungen.

»Keine fünf Minuten hast du das Geheimnis für dich behalten können, Matilda«, lacht Michael und verschwindet in der Küche. »Dabei haben wir dir doch eingeschärft, Papa nichts davon zu erzählen«, fügt Tobias hinzu und kneift Matilda in den Arm, worauf diese ihn mit weit aufgerissenen Augen anschaut. »Alles gut, meine Kleine, war doch nur ein Scherz. Pascal, gibst du mir mal den Sack mit der Kohle herüber?«

»Toller Scherz«, brummt Pascal, reicht ihm widerwillig die Kohle. »Mensch Tobias, ihr dürft sie bei der starken Strömung doch nicht in der Aare schwimmen lassen, dafür ist sie noch viel zu klein. Weißt du eigentlich, wie gefährlich das ist?«

»Ich war nicht allein im Fluss schwimmen, Papa«, flüstert Matilda. »Onkel Tobias und Michael waren auch dabei und sowieso haben wir uns an einer Luftmatratze festgehalten.«

»Hörst du?«, fragt Tobias.

»Trotzdem«, beharrt Pascal, »das gefällt mir nicht.« Dass Tobias mit Matilda macht, worauf er gerade Lust hat, ohne dabei an die Risiken zu denken, stört ihn tatsächlich. Tobias hätte ihn zuvor wenigstens um Erlaubnis bitten müssen.

»Jetzt entspann dich mal, Bruder, du weißt genau, dass wir Matilda keine Sekunde aus den Augen gelassen haben. Kaum zu glauben, dass du früher ein richtiger Draufgänger warst.«