Patricia St. John

Flucht in die Freiheit

Meiner Schwester Hazel gewidmet,
die einen Volkswagen
und ein Zelt herbeigeschafft
und mich auf den Spuren
des Apostels Paulus begleitet hat

Impressum

Originaltitel: »Twice Freed«

Erschienen bei: Christian Focus Publications, Schottland

© 1970 by Patricia St. John

© 1991 der deutschsprachigen Ausgabe CLV, Christliche Literatur-Verbreitung

Postfach 11 01 35, 33661 Bielefeld, www.clv.de

Verlag Bibellesebund Marienheide

1. Auflage 1991

2. Auflage 1995

3. Auflage 1999

4. Auflage 2013

© 2020 der E-Book-Ausgabe

Bibellesebund Verlag, Marienheide

Alle Rechte vorbehalten

https://shop.bibellesebund.de/

Covergestaltung: Georg Design, Münster

ISBN 978-3-95568-328-3

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Inhalt

Titel

Impressum

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Karte

Index

1

Es war mitten am Nachmittag eines heißen Julitages. Beinahe alles Leben in der ausgedörrten Landschaft war in Schlaf gesunken.

Die schwarzen Schafe, für die das Tal berühmt war, drängten sich: unter den Pappeln, und die Erntehelfer schlummerten im Schatten von Getreidegarben oder unter ihren hölzernen Karren.

In den stattlichen Landhäusern, die hoch über dem Weideland lagen, schliefen die wohlhabenden Grundbesitzer, Bauern und Wollhändler tief und fest auf ihren bequemen Lagern, während ihre Sklaven im Hof mit schlechtem Gewissen dahindösten.

Nur oben in der Bergschlucht, dort, wo die Luft über den glühenden Felsen flimmerte, bewegte sich etwas. Ein braun gebrannter zwölfjähriger Junge, nur mit einem Lendentuch und Sandalen bekleidet, kletterte mit der Anmut und Behändigkeit einer jungen Wildkatze einen steilen Hang der Felsschlucht hinauf. Es kümmerte ihn nicht, dass ihm der Schweiß übers Gesicht strömte oder dass die Felsen seine Hände wund scheuerten, denn dies war die Stunde, in der er frei war.

Vom frühen Morgen bis zum späten Abend gehörte er seinem Herrn und war ihm nach außen hin untertan. Doch in dieser Stunde gehörte er sich selbst! Da atmete er auf! Da lebte er erst wirklich und eroberte sich die Welt.

Hier, in den felsigen Schluchten, konnte ihn nichts aufhalten. Im Winter bahnte er sich Wege durch die Schneewehen, und im Frühling trotzte er den tosenden Wasserfällen. Im Sommer ließ er sich nicht von der sengenden Nachmittagsglut entmutigen, sondern kletterte unbeirrt weiter. Er warf dabei immer wieder einen Blick auf die Sonne, die jetzt westlich von ihm stand. Er wusste, dass er heimkehren musste, sobald der Schatten des riesigen Felsens über ihm den Rand des Olivenhains unten im Tal erreichte. Aber er hatte immer noch Zeit genug, um bis zu der alten, umgestürzten Kiefer zu klettern, die den Hohlweg versperrte, und um in das klare Gewässer zu tauchen, das dahinterlag.

Die Bergschlucht verengte sich jetzt, und die Kiefern, die verkümmerten Eichen und die Wacholdersträucher warfen ihre Schatten über den Hohlweg. Der Fluss hier oben war nur ein schmaler Bach, aber er war kühl und erfrischend. Der Junge spritzte sich das Wasser übers Gesicht und über den Körper und fühlte, dass er noch den ganzen Tag so weiterklettern könnte. Er sehnte sich immer danach, noch weiter hinaufzusteigen – bis hin zum Bittersalzsee, wo die Wermut-Blumen wuchsen und wo der Fluss Lycus entsprang, ja, bis hinauf zu den Schneefeldern des Berges Cadmus – aber ach, der Schatten kroch schon auf den Olivenhain zu, und sein Herr würde bald anfangen, sich in seinem Nachmittagsschlaf zu regen. Er murmelte einen Fluch und spuckte wütend aus.

Nun, die Zeit reichte immerhin noch, um kurz etwas in dem grün schimmernden Teich zu schwimmen, der so tief war, dass er niemals austrocknete. Er kletterte auf die umgestürzte Kiefer und hielt plötzlich erschrocken inne. Der Mund blieb ihm offen stehen, und seine Augen weiteten sich vor Furcht. Denn dort auf dem Baumstamm saß ein kleines Mädchen, ließ ihre Beine ins Wasser hängen und sang leise vor sich hin.

Sie mochte neun oder zehn Jahre alt sein, war klein und schmal und hatte dunkles Haar, das ihr bis zur Hüfte herabhing. Ihre Wangen waren von der Hitze gerötet, und sie hatte den Schoß voller Blumen, die sie am Flussufer gepflückt hatte: welkende Witwenblumen, Löwenzahn und Vergissmeinnicht. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie den Jungen gar nicht bemerkte, der sich ihr vorsichtig näherte.

Wer mochte sie nur sein? Ihre Tunika war von kostbarem Stoff. Sie trug wunderschöne, geflochtene Sandalen und benahm sich wie eine kleine Königin. Er beobachtete sie aufmerksam, kroch weiter auf dem Baumstamm voran und überlegte, wer sie wohl sein mochte. War sie vielleicht eine Tochter der Göttin Kybele, der großen Mutter der Natur, in deren Arme die Toten zurückkehren – wie Kinder, die nach Hause eilen? – Nun, wenn sie das war, dann hatte er auf jeden Fall nichts zu befürchten. Ein böser Geist war sie bestimmt nicht! Er schob sich noch ein wenig näher heran. Da knackte ein trockener Zweig unter seinem Fuß.

Sie fuhr zusammen und blickte auf, verriet jedoch weder Überraschung noch Furcht. Sie war ein vernünftiges Kind, und ein Junge war für sie eben bloß ein Junge. Und dies hier war sogar ein hübscher Junge! Dennoch wurde es ihr jetzt ein wenig bang zumute, wenn sie an das dachte, was sie getan hatte.

»Was machst du denn hier oben?«, fragte sie den Jungen in perfektem Griechisch. »Ich dachte, alle Leute würden schlafen.«

»Und was tust du hier?«, entgegnete er in ziemlich barschem Ton, denn er war nun überzeugt, dass sie nur ein irdisches kleines Mädchen war. »Es ist ein weiter Weg bis hier herauf in die Felsschlucht für solch ein kleines Ding wie du. Wer bist du eigentlich?«

»Ich bin Eirene«, erwiderte das Kind. Sie sprach bedachtsam und beobachtete ihn ernst, als denke sie darüber nach, wie viel sie ihm wohl anvertrauen dürfe. Auch er starrte sie an, wie sie da so allein und schutzlos zwischen den Felszacken der Bergschlucht stand, in flimmerndem Sonnenlicht, das durch die Kiefernzweige auf sie niederfiel; und er sehnte sich danach, alles über sie zu erfahren, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie zu beschützen, wenn es nötig sein sollte.

»Wo wohnst du denn, Eirene? Ich habe dich noch nie mit den kleinen Mädchen von Kolossä spielen sehen.«

»Ich wohne in Laodizea«, antwortete sie, noch immer zurückhaltend und misstrauisch.

»Laodizea!«, wiederholte er erstaunt, denn Laodizea lag 15 Kilometer entfernt jenseits des Tales. »Du bist doch sicher nicht allein hierhergekommen? Wird man dich nicht suchen?«

»O ja, ganz bestimmt!« – Ihre Augen funkelten plötzlich vor Vergnügen, und dann sprudelte es aus ihr heraus: »Sie werden außer sich geraten meinetwegen. Heute Morgen bin ich mit meinem Vater hier herübergekommen. Er fertigt Mäntel an, weißt du, und er wollte mit Herrn Philemon über Wollgeschäfte reden. Sie gingen ins Haus, um zusammen zu speisen, und ich blieb bei meiner Kinderfrau und den Sklaven. Meine Kinderfrau wollte mit Philemons Sklaven plaudern, und ich sollte nicht zuhören. Sie gab mir etwas zu essen und schickte mich in den Weingarten. Aber was sollte ich in diesem langweiligen Weingarten? Ich wollte viel lieber in den Felsschluchten klettern, am liebsten bis zum Gipfel hinauf – darum lief ich einfach weg. Bis hierher bin ich gelangt, und ich wäre noch weiter vorgedrungen, aber der Teich da hat mich aufgehalten.«

»Aber hattest du denn keine Angst, so hoch hier oben und so ganz allein?«

»Nein«, erwiderte Eirene lebhaft, »ich bin nämlich gern allein. Meine Kinderfrau geht mir auf die Nerven. Sie hat solche Angst vor meinem Vater, dass sie nie ein Auge von mir lässt. Eirene hier und Eirene da, Eirene dies und Eirene das. So geht es den lieben langen Tag; es ist zum Verrücktwerden! Warum soll ich immer bloß tun, was sie will, und gehen, wohin sie will? Hast du niemals Lust, einfach wegzulaufen und das zu tun, was du willst, anstatt die ganze Zeit über das zu tun, was du sollst?«

Der Junge lachte laut. Ha, hier hatte er eine gleichgesinnte Seele gefunden!

»O ja«, erwiderte er, »mir ergeht es ebenso. Darum komme ich ja hier den Hohlweg heraufgestiegen, um allen davonzulaufen, und um das zu tun, was ich mag. Manchmal, wenn ich Zeit habe, schwimme ich über die Teiche und klettere weiter die Felsen hinauf, bis dahin, wo die Adler hausen. Eines Tages werde ich mich noch weiter vorwagen. Eines Tages werde ich den Fluss bis zu seiner Quelle verfolgen. Eines Tages werde ich bis zum höchsten Gipfel emporklettern und das ganze Land Phrygien überschauen bis hin zum Meer im Westen. Und eines Tages werde ich auch noch das Meer überqueren. Ich habe gehört, Griechenland soll das schönste aller Länder sein.«

Er hielt inne, selber erstaunt über diesen Ausbruch, denn für gewöhnlich behielt er seine Wünsche und Sehnsüchte still für sich. Dann kehrten seine Gedanken jäh wieder zurück zu dem kleinen Geschöpf an seiner Seite, das ihn mit großen hellen Augen anstarrte und teilnahm an seinen Traumfahrten.

»Du musst jetzt heim!«, sagte er. »Deine Kinderfrau wird außer sich sein. Was ist überhaupt mit deiner Mutter? Blieb sie in Laodizea zurück?«

Ein Schatten legte sich über das Gesicht des Kindes. »Sie starb vor zwei Jahren«, sagte Eirene schlicht. »Wäre sie noch am Leben, wäre alles anders für mich. Sie hat mich nie die ganze Zeit über beaufsichtigt. Sie ließ mich spielen, Blumen pflücken und gehen, wohin ich wollte. Wenn sie noch am Leben wäre, dann wäre ich frei.«

»Hast du keine Brüder oder Schwestern, mit denen du spielen könntest?«

»Nein, ich habe keine Geschwister. Vater sagte, ich sei sein einziger, kostbarster Besitz; darum wagt meine Kinderfrau es auch nie, mich aus den Augen zu lassen. Mein Vater ist ein viel beschäftigter Mann, immer bei den Webstühlen oder auf der Suche nach Wolle oder auf Geschäftsreisen nach Ephesus oder Milet mit seinen Waren. Ich glaube, er vergisst mich manchmal ganz.«

»Das tut er bestimmt nicht«, sagte der Junge tröstend. »Komm, Eirene! Wir müssen jetzt sofort heimgehen. Steige hier über den Ast, und jetzt herunter auf den nächsten Stein und hinein ins Flussbett. Hier kannst du besser gehen. Reiche mir die Hand! Und jetzt springst du einfach von Stein zu Stein, so wie ich, dann werden wir bald unten sein.«

Besorgt hielt er Ausschau nach den Schatten unter ihm. O weh! Schon war der halbe Olivenhain in Schatten getaucht. Er war spät dran, sein Herr hatte einen vornehmen Gast und würde schon seit einer Stunde nach ihm verlangt haben. Er hatte ja nicht gewusst, was sich im Haus seines Herrn ereignet hatte. Schon am frühen Morgen hatte man ihn mit einer Nachricht zu den Schafhirten auf einen weit entfernten Weideplatz hoch oben im Tal geschickt. Erst nach Philemons Mittagsruhe hatte man ihn zurückerwartet. Vielleicht konnte er irgendeine Geschichte erfinden, wie schwierig es gewesen sei, die Herden zu finden. Das könnte seine Prügelstrafe wenigstens so lange hinauszögern, bis sein Herr Nachforschungen angestellt hätte. Auf jeden Fall machte es ihm nicht viel aus. An Prügel war er gewöhnt. Worauf es ankam, das war das flinke, kleine Geschöpf neben ihm, das seine Hand so fest hielt und so fröhlich und ausgelassen lachte, wenn es den Halt verlor und von einer Seite des Flussbettes zur anderen rutschte. Er musste die Kleine heil und sicher zu ihrer Kinderfrau bringen.

Und ihr dann Lebewohl sagen? Sie war die einzige Tochter eines reichen Kaufmanns aus Laodizea, und er nur ein armer Sklave aus Kolossä. Warum weigerte sich sein Innerstes so verbissen, ihr für immer Lebewohl zu sagen? Sie waren jetzt schon beinahe aus der Felsschlucht heraus. Er wollte ihr gerade von einem Felsblock herunterhelfen, der zu hoch für sie war. Doch bevor er sie fassen konnte, wurde er von einem durchdringenden Schrei hinter seinem Rücken erschreckt. Schnell wandte er den Kopf und erhielt einen heftigen Schlag ins Gesicht und dann noch einen und noch einen von einem kräftigen jungen Sklaven, während die Kinderfrau in hysterisches Geschrei ausbrach und ihre Arme nach dem Kind ausstreckte.

»O Herrin Eirene, Herrin Eirene, du böses Mädchen!«, kreischte die Kinderfrau. »Wie konntest du so ungehorsam sein und mit diesem schlimmen Jungen davonlaufen? O Herrin Eirene, ich bin außer mir, den ganzen Weingarten habe ich abgesucht, in dem du doch bleiben solltest. Wie konntest du nur auf einen solchen Nichtsnutz hören und deiner armen Kinderfrau davonlaufen? O schlag ihn noch mal, Menander! Prügle ihm die Seele aus dem Leib!«

Menander hielt den Jungen fest. Er bemerkte, dass er keinen Widerstand leistete und auch nicht zu fliehen versuchte. Er hob die Hand, um ihn erneut zu schlagen. Da ertönte plötzlich über ihm ein Wutgeschrei. Eirene stand auf dem Felsblock wie eine kleine, wilde Furie, mit blitzenden Augen und zitternd vor Zorn.

»Lass ihn sofort los, Menander!«, rief sie. »Tu sofort, was ich dir sage, oder ich werde es meinem Vater erzählen. Wie kannst du es wagen, diesen Jungen zu schlagen?«

Auf einmal war sie keine wutentbrannte Zornesgöttin mehr, sondern brach in Tränen aus. Sie war nur noch ein erschrecktes, verletztes, kleines Mädchen, dem man seinen glücklichen Nachmittag verdorben hatte. Sie stieß ihre Kinderfrau von sich, rutschte ohne fremde Hilfe von dem Felsblock herunter und stellte sich schützend vor den Jungen.

Menander hatte ihn losgelassen. Er hatte große Furcht vor den Launen seiner kleinen Herrin.

»Weiß mein Vater schon, dass ich verschwunden bin?«, fragte Eirene und putzte sich die Nase. Die Tränen rannen ihr zwar noch immer über die Wangen, aber sie hatte sich in ihrer ganzen kleinen Größe aufgerichtet und hielt den Kopf hoch.

»Nein, Herrin Eirene!«, zwitscherte die Kinderfrau besänftigend. »Er redet noch immer über Geschäfte, aber er kann dich jetzt jeden Augenblick rufen lassen.«

»Ich werde aber überhaupt nicht mit euch zurückkommen, wenn ihr über diesen Jungen schlecht redet«, entgegnete Eirene. »Hier bleibe ich stehen, und dann wird mein Vater sehr, sehr böse auf euch sein, weil ihr beide nicht besser auf mich aufgepasst habt. Er wird euch alle beide streng bestrafen, wenn ich es ihm sage.«

Ja, so würde es wohl kommen. Die Kinderfrau brach in Tränen aus und stammelte Entschuldigungen. Menander kratzte sich ratlos am Kopf. Der Junge blickte das Mädchen fest an.

»Komm heim, Eirene«, sagte er sanft. »Ich muss jetzt an meine Arbeit gehen; aber wenn ich deinen Vater sehe, werde ich ihm sagen, dass du gleich da sein wirst.« Er ergriff ihre Hand und half ihr über den letzten Felsblock hinüber. Menander beherrschte sich nur mühsam.

»Aber, Herrin«, widersprach die aufgebrachte Kinderfrau, »bedenke doch, ein gewöhnlicher Sklave …«

»Was er ist, das kümmert mich überhaupt nicht«, versetzte Eirene aufbrausend. »Er ist ein Junge wie jeder andere, und er hat mir geholfen. Lebewohl, und vielen Dank. Eines Tages treffen wir uns bestimmt wieder!«

»Das mögen die Götter verhüten«, murmelte Menander vor sich hin; aber der Junge achtete nicht darauf. Er wandte sich um und schaute Eirene an und sprach zu ihr allein, als würde er ihr ein Versprechen geben: »Ja, eines Tages treffen wir uns wieder!«

2

Er eilte den steilen Abhang des Olivenhains hin unter und erreichte atemlos das Haus seines Herrn. Eirene hatte nicht wissen sollen, dass er Philemons Sklave war, aber zuletzt war natürlich doch alles herausgekommen. So erging es ihm immer. Um die Tatsache seiner Sklaverei kam er nicht herum. Und doch hatte ihr das eigentlich nichts ausgemacht. Obwohl sie nun alles wusste, war sie doch neben ihm stehen geblieben und wollte ihn sogar wiedersehen. Dieser Gedanke wärmte ihm das Herz. Darüber vergaß er ganz seine brennenden Wangen; er dachte erst wieder daran, als er völlig außer Atem in das Haus seines Herrn stürzte und plötzlich Philemons Sohn, dem jungen Archippus, gegenüberstand.

»Du bist spät dran, Onesimus«, sagte Archippus streng. »Mein Vater hat schon nach dir verlangt. Er hat Besuch und befahl, du solltest ihnen nach ihrer Mittagsruhe den Wein bringen. Er ist sehr unzufrieden mit dir. Wo bist du gewesen, und warum hast du so rote Wangen? Hat dich vielleicht jemand geschlagen?«

»Ich bin unten auf den Schafweiden gewesen«, versuchte sich Onesimus herauszureden. »Es dauerte lange, bis ich die Schafhirten endlich fand. Sie waren an den Fluss hinuntergestiegen, um die Herden zu tränken.«

»Du Lügner!«, stieß Archippus verächtlich aus. »Schon um die Mittagszeit warst du zurück von den Weideplätzen. Einer der Sklaven hat dich gesehen, wie du vor mehreren Stunden zu deinem geliebten Hohlweg liefst; mein Vater weiß es; versuche also bloß nicht, ihm einen Bären aufzubinden.«

Noch vor zwei, drei Jahren hatten Onesimus und Archippus zusammen die Felsen erklettert. Seit Archippus die Schule verlassen hatte, war er eifrig bemüht, das neue Verhältnis Herr – Sklave auszukosten, und Onesimus war ebenso eifrig bemüht, ihm das übel zu nehmen. Trotz allem bestand aber immer noch eine enge Bindung zwischen ihnen. Als kleiner Junge hatte Archippus oft viele Stunden in der Hütte der Sklaven verbracht. Er hatte dem Mahlen des Mühlsteins zugeschaut, das Holzkohlenfeuer angeblasen und sich in die Haufen schwarzer Schafwolle gekuschelt, die aufs Verspinnen warteten. Die beiden Jungen hatten zusammen die Flussbetten erforscht, Dämme gebaut, einander Vogelnester und Fuchsbauten gezeigt und gemeinsam die Spuren der Bären und wilden Hunde verfolgt. Onesimus hasste Archippus und schämte sich dessen, denn Archippus war früher sein bester Freund gewesen. Archippus dagegen liebte Onesimus und schämte sich dieser Liebe, denn nur ein Weichling liebte einen Sklaven.

»Wer ist der Besucher?«, fragte Onesimus, wischte sich schnell den Lehm von Händen und Armen und streifte eine frische Tunika über.

»Es ist Polemon aus Laodizea«, berichtete Archippus mit wichtiger Miene. »Er ist der reichste Mantelfabrikant der ganzen Stadt und hat beschlossen, unsere Wolle zu kaufen. Er kam heute Morgen herüber, um sich unsere Herden anzuschauen und ein paar Wollproben mitzunehmen. Vielleicht wird er auch noch anderen aus seiner Gilde unsere Wolle empfehlen. Das könnte für uns eine Reise nach Ephesus bedeuten, und wenn – dann fahre ich mit hin!«

Onesimus befestigte seinen Gürtel und erwiderte nichts. Etwas furchtsam betrat er die Säulenhalle und stand vor seinem Herrn. Archippus, der gern mit ansehen wollte, was nun geschehen würde, schlüpfte hinter ihm hinein und ließ sich zu den Füßen seines Vaters nieder.

Philemon und sein Gast saßen auf seidenen Polstern, nippten an ihren Weinbechern und unterhielten sich eifrig. Es war ein schöner Innenhof, beschattet von einem alten Weinstock, an dem dicke, reife Trauben über das kunstvoll geschmiedete Gitter herabhingen, das ihn stützte. Der Fußboden bestand nach griechischem Stil aus buntem Mosaik, und in der Mitte plätscherte ein Springbrunnen. Philemon, ein wohlhabender Gutsbesitzer mit einem scharf geschnittenen, wettergebräunten Gesicht, drehte sich mit einer heftigen Bewegung nach dem jungen Herumtreiber um. Er hatte einen bedeutenden Gast bei sich, und obwohl ihm genug Sklaven zur Verfügung standen, hätte er doch gern diesen anmutigen, schönen Knaben zur Bedienung gehabt.

»Warum kommst du so spät?«, fragte er mit kalter Stimme.

Da fiel es Onesimus plötzlich ein, dass es günstig für ihn sein könnte, wenn er die Wahrheit sagen würde – oder doch wenigstens einen Teil davon. Das würde auch eine herrliche Gelegenheit sein, sich an dem Sklaven Menander zu rächen. Er wandte sich um und verbeugte sich vor dem Gast.

»Ich bitte um Verzeihung, Herr«, sagte er. »Du hast eine kleine Tochter?«

Philemon runzelte die Stirn, und der Gast hob die Augenbrauen, als ob er sagen wollte: »Und wenn schon, was geht das dich an?«

Onesimus ließ sich nicht entmutigen, sondern fuhr fort: »Sie streifte bei ihrem Spiel zu weit umher, Herr. Ich sah sie in der Schlucht die Felsen hinaufklettern und folgte ihr. Sie war so klein, Herr, und die Felsblöcke waren hoch. Ich half ihr sorgsam beim Abstieg über die unwegsamen Stellen.«

»Im Namen der Götter!«, rief Polemon und erhob sich halb von seinem Sitz. »Wo war ihre Kinderfrau? Und wo ist Eirene jetzt?«

»Ich brachte sie zu ihrer Kinderfrau zurück und übergab sie ihr, Herr«, erwiderte Onesimus. »Ich traf sie und den Sklaven Menander am Eingang zu den Weingärten, wo sie nach ihr suchten. Der Kleinen ist kein Leid geschehen. Wenn du willst, dass ich sie hereinholen soll …«

»Ich will selber gehen und nachsehen, ob alles in Ordnung ist«, sagte Archippus und stand schnell auf. Er war ganz rot geworden vor Ärger und Neid. Dass Onesimus, dieser unverschämte junge Sklave, das Glück gehabt hatte, Polemons Töchterchen Gesellschaft zu leisten und es zu beschützen! Hastig verließ er den Raum, und Polemon warf Onesimus achtlos ein Goldstück zu.

»Nimm das für deine Dienste«, sagte er. »Die Kinderfrau wird noch heute Abend davongejagt und der Sklave bestraft werden. Eirene ist ein eigensinniges kleines Mädchen. Ihr fehlt die Mutter. – Um wieder auf jene Ballen Wolle zurückzukommen, von denen wir soeben sprachen …«

Seine Tochter hatte er schon wieder vergessen. Vielmehr dachte er mit spähenden, zusammengekniffenen Augen nur noch ans Geldverdienen. Onesimus stand eine Zeit lang ruhig abwartend daneben und schenkte den Herren bei Bedarf Wein ein. Dann schickte Philemon ihn fort, um Obst zu holen. Auf nackten Füßen verließ er leise den Raum.

Als er auf dem Weg zur Küche den äußeren Hof überquerte, blieb er stehen und hielt erregt den Atem an. Eirene saß vor dem Haus, umrahmt von den Weinblättern, die in dicken Büscheln um den Eingang hingen. Sie spielte mit einem schwarzen Lamm, das Archippus ihr gebracht hatte. Er saß neben ihr, und beide lachten über das zahme, anschmiegsame Geschöpf. Die Kinderfrau stand ein Stückchen weiter entfernt und beobachtete die beiden mit wachsamem Auge. Als Onesimus sich ihnen näherte, blickte Eirene auf und rief ihn freudig an. Lächelnd ging er einen Schritt auf sie zu. Da stand Archippus sofort auf.

»Zurück an deine Arbeit, Sklave!«, befahl er, und Onesimus hatte keine andere Wahl, als dem Sohn seines Herrn zu gehorchen. Er schämte sich, noch einmal in das glückliche, unschuldige Gesichtchen zu blicken, und beeilte sich, seinen Auftrag auszuführen. Erst als er wieder hinter seinem Herrn stand, merkte er, dass etwas mit ihm geschehen war. In diesen wenigen Augenblicken hatte er sich verändert.

Erstens war das Band gemeinsamer Kindheitserinnerungen endgültig zerrissen, und der Hass gegen Archippus hatte sich tief bei ihm eingewurzelt. Zweitens hatte er den festen Entschluss gefasst, frei zu werden. Was immer es auch kosten mochte, was immer er auch tun müsste, um dieses Ziel zu erreichen, eines Tages würde er frei sein. Er tastete nach der kleinen Goldmünze, die er in seinen Gürtel geknotet hatte.

»Ich will sie aufheben, bis ich mir meine Freiheit erkaufen kann«, sprach er zu sich selbst. »Diese Münze soll mein Anfangskapital sein.«

»Sklave!«, rief Philemon mit scharfer Stimme und klatschte in die Hände. »Ich habe dich angeredet, und du hörst überhaupt nicht hin. Hole sofort Herrn Polemons Mantel und ordne an, dass die Sklaven seine Sänfte zurechtmachen.«

Die Sklaven warteten schon auf den Aufbruch und schauten besorgt nach der sinkenden Sonne. Sie mussten ja noch 15 Kilometer zurücklegen, und das Tal war voller Diebe und Räuber, die nach Sonnenuntergang den wohlhabenden Reisenden auflauerten. Onesimus half Polemon in seinen Mantel und zog ihm die Sandalen an. Dann zog er sich zu den Stallungen zurück, um von dort aus die Abreise zu beobachten. Er sah, wie Archippus das kleine Mädchen in den Sitz neben ihrem Vater hob und wie er ihr ein paar Maulbeeren auf einem Weinblatt reichte. Er bemerkte, dass sie ihm ernst und höflich, aber mit abgewandtem Blick dankte; sie sagte auch nicht zu ihm: »Eines Tages treffen wir uns wieder!« Als sich die vier Sklaven, welche die prächtige Sänfte auf ihren Schultern trugen, in Bewegung setzten, sah er, wie sie sich hinauslehnte und einen langen Blick zurückwarf – aber nicht auf Archippus! Warum eigentlich nicht? fragte er sich. Archippus war doch ein hübscher, kräftiger Bursche, zwei Jahre älter als er und einen halben Kopf größer!

Als er die Reste des Mittagessens weggeräumt, den Abendbrottisch gedeckt und den Wein mit Honig gemischt hatte, war die Sonne schon am Untergehen. Ein anderer Sklave würde die Familie beim Abendessen bedienen, und er durfte nun nach Hause gehen. Da er beim ersten Hahnenschrei aufstehen musste, pflegte er abends nur noch schnell zu essen und sich dann gleich zum Schlaf niederzulegen. Heute Abend hatte er es nicht so eilig, und schläfrig fühlte er sich auch noch nicht.

Nachdem er das einfache Linsengericht gegessen hatte, saß er noch lange auf der Schwelle der Hütte und schaute hinaus über das weite Land, wo die Sonne soeben hinter den Bergen im Nordwesten des Tals verschwunden war, während ihre letzten Strahlen den Himmel in rote Glut tauchten. Auf der Ebene von Kolossä war die Ernte beinahe beendet, und die langsamen hölzernen Ochsenwagen rumpelten die staubigen Wege zwischen den Pappeln entlang. Die müden Erntehelfer ruhten sich auf ihren Weizengarben aus. Jenseits des Tals konnte Onesimus die weißen Kreidefelsen und die Wasserfälle von Hierapolis erkennen und weiter unten auf dem grünen Hügel hinter dem Fluss die Dächer und Säulen von Laodizea.

Vielleicht war Eirene schon daheim angelangt. All die vertrauten Laute der Dämmerung nahm er heute deutlicher wahr als je zuvor: das Quaken der Frösche im Sumpf, das Zirpen der Grillen, das Geklapper eines Storches, der heimwärts zu seinem Nest flog, das Blöken der eingepferchten Schafe. Mit wachem Entzücken betrachtete er die zierlichen Ranken des Weinlaubs und die aufbrechenden dunkelroten Knospen der Granatapfelblüten neben seiner Hand. Wieder spürte er es: Er hatte sich verändert.

»Mutter, bitte erzähle mir von meinem Vater!«, sagte er plötzlich.

Die Mutter lachte und setzte sich neben ihren unruhigen Sohn. Während ihre Hände mit der Wollkratze die schwarze Schafwolle kämmten, beschäftigten sich ihre Gedanken nur mit ihm. Sie war eine schöne, dunkeläugige Phrygierin, als Sklavin geboren und zufrieden mit ihrem verhältnismäßig freundlichen Herrn. Sie hatte ihren Gatten sehr geliebt. Und doch war sie froh gewesen, als der Tod ihm die Freiheit schenkte, denn für ihn war die Sklaverei eine zu schwere Bürde gewesen.

»Ach, du weißt doch schon alles, was es da zu wissen gibt«, sagte sie. »Was ist denn nur heute Abend mit dir los?«

»Nichts«, erwiderte er. »Ich wollte nur gern wieder von meinem Vater hören.«

»Er wurde zu Füßen des Berges Parnass in Griechenland geboren«, begann seine Mutter, »und er liebte alles Schöne. Als er heranwuchs, ging er zum Studium nach Athen. Er sagte, das sei die schönste Stadt der Welt. So manchen Abend lang hat er neben mir gesessen und mir von seinem Land erzählt. Von Inseln hat er gesprochen, die wie Edelsteine in der blauen See funkeln, von Bergen, deren Gipfel in Wolken gehüllt sind und wo die Götter leben, und von der großen, aus Marmor erbauten Akropolis auf einem Hügel über der Stadt. Er heiratete mich, weil ich schön war und weil er mich liebte; aber glücklich war er niemals hier in einem fremden Land unter fremden Göttern. Die freigeborenen Menschen können sich nie ganz der Sklaverei unterwerfen. Für ihn war es gut, dass er zu Kybele und ihren lieblichen, grünen Wiesengründen zurückgekehrt ist.« Sie verstummte und blickte in die Dämmerung hinaus.

»Weiter, Mutter«, bat Onesimus. »Erzähle mir jetzt von den Räubern!«

»Dein Vater war viel unterwegs, er wollte immer sehen, was hinter der nächsten Bergkette lag«, sagte die Mutter mit einem zärtlichen Lächeln. »Jahrelang studierte er an einer Schule in Athen. Eines schönen Frühlingstages reiste er zu der Universität von Tarsus, um dort die Vorlesungen eines gewissen Athenodorus zu hören. Von dieser Reise hat er mir viel erzählt. Im Frühsommer schloss er sich einer Karawane an, als gerade der Schnee auf den Taurus-Bergen schmolz. Wie er die Gazellen auf den zilizischen Ebenen liebte! Gegen Ende des Sommers reiste er weiter und überwinterte in Jerusalem.«

»Hat er dir viel von Jerusalem erzählt?«

»O ja. An manch einem Winterabend hat er am Feuer gesessen und von Jerusalem erzählt. Weißt du, er kam zu einer merkwürdigen Zeit dort an, damals, vor 26 Jahren. Kurz vorher hatten die Römer einen Mann namens Jesus gekreuzigt. Die jüdischen Machthaber hassten ihn, doch das einfache Volk liebte ihn sehr.«

»Warum haben die Machthaber ihn gehasst?«

»Sie fürchteten ihn. Er hat irgendeine neue Religion verkündet. Aber obwohl sie ihn gekreuzigt hatten, wimmelte es in jenem Winter in Jerusalem nur so von seinen Anhängern. Seltsame Geschichten über ihn gingen um. Hunderte erklärten, er sei von den Toten auferstanden. Sie hätten ihn tatsächlich gesehen. Außerdem hatten seine Anhänger etwas Besonderes, Furchterweckendes an sich. Sie besaßen übernatürliche Kräfte. Dein Vater hat es selber mit angesehen, wie einer von ihnen einen stadtbekannten lahmen Bettler bei der Hand ergriff und ihm im Namen Jesu befahl, aufzustehen und umherzuwandeln. Und der Mann lief wirklich in den Tempel der Juden hinein, sprang dort umher und jauchzte vor Freude. – Es hat den Anhängern dieses Jesus auch offenbar gar nichts ausgemacht, dass sie verfolgt wurden.«

»Aber warum wurden sie denn überhaupt verfolgt? Was taten sie Böses?«

»Gar nichts! Sie taten nur Gutes. Aber ihre Lehre hätte die Welt auf den Kopf gestellt. Sie lehrten Bruderschaft zwischen Juden und Heiden, zwischen Sklaven und Freien. Unterschiede gab es für sie nicht. Natürlich waren die Oberschicht und die Führer der Juden dagegen.«

»Hat mein Vater diese Lehre angenommen?«

»Nein. Er hatte seine eigenen Götter und Göttinnen, die auf dem Berg Parnass lebten, den Donnergott und den Kriegsgott und die Göttinnen der Jagd. Seine Lieblingsgöttin war wohl die Göttin der Schönheit, denn er pflegte zu sagen, er sähe sie überall: in den Sonnenuntergängen, in den ersten Frühlingsblumen und in den zarten Weinranken.

Vater blieb mehrere Monate in Jerusalem, und gerade bevor er abreiste, erlebte er etwas, das er nie wieder vergaß. Ein Anhänger Jesu namens Stephanus war vor Gericht geschleppt worden. Man hatte ihn bei einem Straßenauflauf verhaftet. Dein Vater hatte dabeigestanden. Stephanus durfte sich verteidigen, aber es schien ihm gleichgültig zu sein, ob er freigesprochen oder hingerichtet würde, wenn er nur etwas über seinen Glauben an diesen Jesus sagen konnte. Die Volksmenge geriet schließlich in Wut und fing an, zu schreien und zu fluchen, doch er beachtete es gar nicht. Er richtete seinen Blick zum Himmel empor, und sein Antlitz leuchtete wie das eines Gottes. Er sagte irgendetwas, aber dein Vater konnte es nicht verstehen. Einer, der neben ihm stand, hat später versichert, er hätte gerufen: ›Ich sehe den Himmel offen und Jesus zur rechten Hand Gottes stehen.‹ – Jedenfalls wurde die Volksmenge wild, fiel über ihn her, stieß ihn zur Stadt hinaus und fing an, ihn zu steinigen. Er blickte wieder empor und rief etwas, brach jedoch bald unter dem Steinhagel zusammen. Kurz vor seinem Tod bat er seinen Gott, er möge seinen Mördern vergeben.«

»Seinen Mördern vergeben?« Onesimus lachte laut auf. »Das glaube ich nicht!«

»Und doch ist es wahr. Dein Vater hat es selber gehört und vergaß es nie.«

»Dann war dieser Stephanus ein armer Narr. – Erzähle mir jetzt von den Räubern!«

»Dein Vater verweilte noch länger in Jerusalem und zögerte seine Heimreise zu lange hinaus. Die ersten Regengüsse strömten schon herab, als er durch die schmale Zilizische Pforte schritt. Er und seine Reisegefährten wurden von der Nacht überrascht. Da kamen Räuber von den Hängen heruntergestürmt. Sie nahmen ihm alles ab: sein Geld, seine Kleider, und – was ihn besonders schmerzte – seine kostbaren Bücher. Er selber wurde gefangen genommen und auf einem phrygischen Sklavenmarkt verkauft.«

»Und dann ist er dir begegnet«, sagte Onesimus leise.

»Mein Herr bezahlte einen hohen Preis für ihn, denn dein Vater war jung, stark und hübsch, und er heiratete mich, die ich auf dem Gut geboren worden war. Ich versuchte, ihn zu trösten, und schenkte ihm Kinder, aber das Leben war sehr hart auf jenen einsamen Hochebenen. Unsere ersten drei Kinder starben. Dein Vater wurde nie ein richtiger Sklave; nichts konnte seinen wilden griechischen Stolz zähmen.«

»Und dann wurde ich geboren.«

»Ja, du wurdest geboren, und dann kam bald das Ende. Unser Herr war entschlossen, Vaters Stolz zu brechen. Er ließ ihn stundenlang in dem tiefen zilizischen Schlamm arbeiten, obwohl er schon vom Husten und vom Fieber geschwächt war. Eines Tages befahl er ihm, ein Sklavenkind zu schlagen, das versehentlich etwas zerbrochen hatte. Dein Vater weigerte sich. Unser Herr schlug ihn, und dein Vater schlug zurück. Vater erholte sich nicht mehr von der Strafe, die sie ihm verabfolgten, obwohl er Tag für Tag im Fieber die Götter anflehte, ihm Kraft zu verleihen, damit er sich rächen könne. Sehr seltsam war das damals … In jener Nacht, als er starb, sprach er von jenem Stephanus. – ›Wie konnte er nur sterben ohne Furcht und ohne Hass?‹, fragte er mich. ›Wie konnte er um Vergebung bitten für seine Mörder? Wen mag Stephanus gesehen haben?‹ – Diese Frage wiederholte er mehrmals, aber ich konnte ihm keine Antwort geben. Bei Tagesanbruch starb er.«

»Und dann?«

»Bald danach rächten ihn die Götter. Sein Herr stürzte auf der Jagd vom Pferd und wurde von einem wilden Eber getötet. Wir wurden alle wieder verkauft, aber das Schicksal war uns gnädig. Wir beide, du und ich, wurden von demselben Herrn erworben, und du solltest die Götter preisen, mein Sohn, dass wir zu einem gerechten Herrn gekommen sind.«

»Warum muss ich überhaupt einem Herrn als Sklave dienen?«, murrte der Junge.

Seine Mutter lächelte sanft und strich mit ihren Fingern durch sein dichtes, dunkles Haar. »Du bist wie dein Vater, du liebst die Schönheit und die Freiheit, und das ist schlimm für dich. Aber heute Abend will ich dir etwas verraten, was ich dir noch nie gesagt habe. Jede Geldmünze, die ich irgendwie verdienen oder auch stehlen kann, lege ich für dich beiseite, um dir deine Freiheit zu erkaufen. Eines Tages wirst du frei sein.«