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Zu sein, zu leben, das ist genug

Warum wir Hölderlin brauchen

Christoph Quarch

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INHALT

I. Die Stimme des Gottes Hölderlins Berufung

Im Arme der Götter. Die Kindheit

Als schritte Apollon. Die Jugend

Du musst erleuchten. Die Reife

Unter Gottes Gewittern. Die Blüte

Zu viel des Lichts. Der Wahnsinn

II. Ewiges, glühendes Leben. Hölderlins Botschaft

Die exzentrische Bahn. Freiheit

Eins zu sein mit allem. Natur

Der neuen Göttin neues Reich. Schönheit

Eine Sonne ist der Mensch. Liebe

Zu sein, zu leben, das ist genug. Frieden

III. Eine vollentblühende Welt. Hölderlins Vision

Tage wie Blumen. Die Hoffnung

Des Weingotts heilige Priester. Die Nacht

Liebender Streit. Das Chaos

Komm ins Offene, Freund. Die Sprache

Die Lebendigen, die Seligstillen. Die Götter

I. Die Stimme des Gottes. Hölderlins Berufung

Ach! wir kennen uns wenig,
Denn es waltet ein Gott in uns.
(aus: Menschenbeifall)

Uns selber zu verstehen! Das ist’s, was uns emporbringt. Lassen wir uns irremachen an uns selbst, an unserem θειον, oder wie Du’s nennen willst, dann ist auch alle Kunst und alle Müh’ umsonst.
(An Neuffer, August 1798)

Wer ist Friedrich Hölderlin? Viele schon haben sich an einer Antwort versucht. Manche, indem sie sein Leben minutiös rekonstruierten; andere, indem sie seine Werke sorgfältig interpretierten; wieder andere, indem sie sein Schaffen in den Zusammenhang der geistigen Strömungen seiner Zeit brachten. Alle diese Bemühungen haben eine Flut von Erkenntnissen und Einsichten über Hölderlin zutage gefördert. Und doch umweht den Dichter immer noch die Aura des Geheimnisvollen. Irgendetwas an ihm scheint sich beharrlich allen Deutungsversuchen zu entziehen. Irgendwie will es nicht recht gelingen, sich einen Reim auf diese Gestalt zu machen, deren Dichtung Tausende zutiefst berührt und ergriffen hat und die trotz ihrer oft enigmatischen Sprache noch heute ihre Leser begeistert. Was ist es mit dem Dichter, der als hoffnungsvoller Stiftszögling in Tübingen begann, seine Poesie an dem von ihm verehrten Schiller schulte, mit Hegel und Schelling den deutschen Idealismus aus der Taufe hob, in seinem einzigen Roman Hyperion seine Liebesbeziehung mit der Frankfurter Bankiersgattin Susette Gontard verewigte, mit seinen späten Hymnen und Elegien zum Wegbereiter der modernen Lyrik wurde … und der zuletzt in geistiger Umnachtung die zweite Hälfte seines Lebens im Turm zu Tübingen fristete?

Tatsächlich sind im Falle Hölderlins das Leben und das Werk des Dichters nicht zu trennen. Die Dichtung ist ihm von Anfang an eine Lebensform, die gleichsam aus seinem Innersten aufkeimt und wächst. Sie ist ebenso Ausdruck der Seele Hölderlins wie sein gelebtes Leben. Will man Werk und Leben Hölderlins verstehen, ist man deshalb gut beraten, sich der Seele des Dichters zuzuwenden – was aber nur gelingt, wenn wir den Mut aufbringen, uns selbst ihm mit der Seele, nicht mit dem Verstand, zuzuwenden: in seine Worte hineinzufühlen, Resonanzen zu entdecken und das Wesentliche seiner Dichtung ebenso wie seines Lebens zu erspüren. Dafür ist es unabdingbar, den Winken zu folgen, die er uns gibt. Wer Friedrich Hölderlin ist, verstehen wir nur, wenn wir ernst nehmen, wie er sich selbst gesehen hat.

Hölderlin sah sich als Sprachrohr eines Göttlichen, das in ihm und durch ihn wirkte. Nicht sah er sich selbst als Urheber der Werke, die er schrieb; so wenig wie des Lebens, das er führte. Er wusste, dass ein Gott in ihm waltete, und wenn es überhaupt möglich ist, diesen Gott zu benennen, dann sah er sich als Stimme oder Sprachrohr des Apollon – jenes alten Griechengottes, dessen vornehmste Aufgabe es war, die Dichter und Sänger zu inspirieren, um durch sie das Sein dieser Welt als etwas Heiliges zur Sprache zu bringen; um durch die Rückbindung an die göttliche Tiefendimension der Wirklichkeit eine Ordnung zu gründen, die es den Menschen erlaubt, in Frieden, Freiheit und Schönheit lebendig zu sein – in Liebe zum Leben zu erblühen.

Hölderlin sah sich als Sänger der Götter. Er wusste um seinen ›spirituellen Auftrag‹, dem er immer treu blieb – bis zur Selbstzerstörung. Denn, wie er selbst bezeugt, zuletzt war er dem Andrang des Heiligen nicht mehr gewachsen: die Leier des Gottes zerbrach und der Dichter fiel in den ›göttlichen Wahnsinn‹, von dem er als junger Student in Platons Dialog Phaidros erfahren hatte – also bei dem für ihn wohl prägendsten Autor, dem er am Ende der Vorrede zur vorletzten Fassung des Hyperion die Worte zugerufen hatte: Heiliger Plato, vergib! man hat schwer an dir gesündigt.

So löst sich zuletzt das Mysterium der geistigen Umnachtung, in der Hölderlin seine zweite Lebenshälfte zubrachte: Das Gefäß seines Ichs war unter dem übermächtigen Zustrom der Begeisterung durchs Göttliche zerbrochen. Diese geistige Dimension des Lebens ernst zu nehmen, ist eine wichtige Lektion, die wir heute von Hölderlin lernen können.

Im Arme der Götter. Die Kindheit

Im Arme der Götter wuchs ich groß.

Was für ein Satz! Für sich alleine ist er ein Gedicht! Sieben Worte, in denen ein ganzes Leben verdichtet ist. Man muss sie sich auf der Zunge zergehen lassen. Sie schwingen nach. Wer sie einmal wirklich in sich aufnahm, wird sie nie mehr los.

Im Arme der Götter wuchs ich groß.

Wie kann ein Mensch so etwas schreiben? Was hat er erfahren? Was ist ihm begegnet? Mit welchen Augen hat er in die Welt geblickt? Was hat seine Seele so gestimmt, dass es ihm möglich wurde, einen solchen Satz zu formulieren?

Im Arme der Götter wuchs ich groß.

Wir leben zu Beginn des 21. Jahrhunderts – einer rationalen, säkularen Zeit, in der es nicht geläufig ist, dass man von Göttern spricht; auch nicht davon, dass man als Mensch groß wachsen könnte. Unsere Gegenwart ist geprägt von Wissenschaft und Technik. Ihren Rhythmus prägt die Wirtschaft. Junge Menschen wachsen heute mit Maschinen auf – aber nicht im Arm der Götter groß. Hölderlins Worte sprechen offenbar aus einer Welt, die längst vergangen ist. Aber trotzdem gehen sie uns etwas an. Ja, sie gehen uns nicht irgendetwas an, sondern sie betreffen uns in etwas Wesentlichem – etwas, das nur selten Nahrung findet; etwas, das sich nach Ansprache sehnt.

Im Arme der Götter wuchs ich groß.

Was ist es, das durch diese Worte angesprochen und berührt ist? Etwas Zartes, etwas Stilles, das im lärmenden Getriebe dieser digitalisierten, technisierten und ökonomisierten Welt dauernd übertönt oder verleugnet wird. Etwas höchst Lebendiges, das bei aller tosenden Geschäftigkeit unbeirrt an einer echten Sehnsucht festhält: groß zu wachsen, zu gedeihen, zu erblühen, zu reifen, Frucht zu tragen, dann zu welken und zuletzt im Einklang und im Frieden mit der Welt zu sterben – groß zu sein als Mensch, der liebt und leidet, lacht und weint, singt und seufzt, vor allem aber ganz lebendig ist. Dieses Etwas kannten unsere Vorfahren als Seele. Sie ist es, die durch die Worte angesprochen und geweckt wird: aus einer dumpfen Trance, die uns Menschen heute oft benebelt und die uns den Irrsinn dieser Tage dulden lässt.

Im Arme der Götter wuchs ich groß.

Wer spricht diese Worte? Wer ruft hier aus welcher Zeit in unsere Welt hinein, um uns an all das zu erinnern, was wir längst vergessen haben? Es ist Friedrich Hölderlin, geboren am 20. März 1770 in Lauffen am Neckar. Er schrieb diese Zeile irgendwann um 1800, war also um die dreißig, als er wehmütig und sehnsuchtsvoll auf die Jahre seiner Kindheit blickte – einer Kindheit, die vom frühen Tod des Vaters überschattet und von Ortswechseln und Unruhe geprägt war, die sich aber gleichwohl tief in seine Seele eingeschrieben hatte: als die Zeit, da er sich im Arme der Götter aufgehoben fühlte. Das Gedicht, das er mit diesen Worten abschließt, hat er selber nie veröffentlicht. In den Ausgaben seiner Werke findet man es unter einem Titel, der die erste Zeile dieser Dichtung ist: Da ich ein Knabe war.

Diese Worte geben einen Hinweis darauf, wer es ist, der sich durch jene Schlussworte gemeint weiß: Es ist das Kind, das in der Tiefe einer Menschenseele waltet – das spielende, das unschuldige Kind, das Kind mit einem reinen Herzen, das noch ganz das ist, was es zu sein bestimmt ist: ein Echo des Himmels, ein heiliges Herz, wie Hölderlin es gerne nannte. Ein solches reines, echtes und deshalb heiliges Herz schlägt in unser aller Brust. Und es weiß sich angesprochen, weil die Worte Hölderlins nichts anderes sind als eben dieses Echo, das aus seinem Herzen über 200 Jahre hinweg in unsere Welt tönt. Können wir es hören?

Da ich ein Knabe war
   Rettet' ein Gott mich oft
      Vom Geschrei und der Rute der Menschen,
         Da spielt ich sicher und gut
            Mit den Blumen des Hains,
               Und die Lüftchen des Himmels
                  Spielten mit mir.

So beginnt ein Gedicht, das der Erinnerung gewidmet ist: an die lang vergangene Zeit der Kindheit – eine Zeit, deren heiterer Himmel schon bald durch dunkle Wolken überschattet wurde. Denn der junge Hölderlin litt unter dem Erziehungswesen seiner Zeit. Er begegnete ihm zunächst in Nürtingen, wo er die Lateinschule besuchte. 1784 absolvierte er mit Erfolg das württembergische Landesexamen. Seine Mutter drängte darauf, dass er, der Tradition ihrer Familie folgend, Pfarrer werden solle – ein Plan, dem er sich zeit seines Lebens tapfer widersetzen würde. Anfangs war das noch nicht abzusehen. Also schickte sie ihn nach Denkendorf, wo er in einem Internat zum Theologen ausgebildet werden sollte. Wie es ihm dort ergangen ist, hat er später in seinem Roman Hyperion verraten:

Ach! wär ich nie in eure Schulen gegangen. Die Wissenschaft, der ich in den Schacht hinunter folgte, von der ich, jugendlich töricht, die Bestätigung meiner reinen Freude erwartete, die hat mir alles verdorben.

Nach zwei Jahren wechselt er zur Klosterschule nach Maulbronn. Dort setzt sich die Zeit der Leiden für ihn fort. Immanuel Nast, einem Freund aus jenen Tagen, schrieb der damals gerade 16-Jährige:

Ich will dir sagen, ich habe einen Ansatz von meinen Knabenjahren – von meinem damaligen Herzen – und der ist mir noch der liebste – das war so eine wächserne Weichheit, und darin ist der Grund, dass ich in gewissen Launen ob allem weinen kann – aber eben dieser Teil meines Herzens wurde am ärgsten misshandelt, solang ich im Kloster bin …

Geschrei und Rute waren Hölderlin aus seiner Schulzeit also wohl vertraut. Gleichwohl hat er sich wunderbarerweise sein so arg gebeuteltes und strapaziertes knabenhaftes Herz bewahrt, worin der Himmel – der doch immer da war und der immer zu ihm sprach – ein vollkommen reines Echo fand; so dass Hölderlin sich aufgehoben wusste im Arme der Götter.

Woher kam ihm dieses Wissen? Wo vernahm er den Gesang des Himmels, der in seinem Herz und seiner Dichtung widerhallt? Das Gedicht Da ich ein Knabe war spricht uns auf diese Frage eine Antwort zu:

Da spielt ich sicher und gut
            Mit den Blumen des Hains,
               Und die Lüftchen des Himmels
                  Spielten mit mir.

Es ist die Sprache der belebten Welt, die im knabenhaften Herzen Hölderlins ihr Echo findet. Es ist das leise Wehen des Windes, das sein Herz berührt, das Spiel der Blumen, das ihn vor Geschrei und Rute rettet, weil es ihm die Rückbindung an das erlaubt, was in ihm Sehnsucht nach dem wirklichen, lebendigen und echten Leben wachhält. Im Roman Hyperion lässt er seinen Titelhelden rufen:

Ich bin bei euch so recht vernünftig geworden, habe gründlich mich unterscheiden gelernt von dem, was mich umgibt, bin nun vereinzelt in der schönen Welt, bin so ausgeworfen aus dem Garten der Natur, wo ich wuchs und blühte, und vertrockne an der Mittagssonne.

Das war die schmerzliche Erfahrung, die er in der Schulzeit selbst durchlitten hatte: Man schulte seinen Intellekt, zog ihn auf für eine Welt der Nützlichkeit und Brauchbarkeit, machte ihn zu einem rationalen Menschen, so wie man es eben damals tat – und wie man es auch heute tut, nur noch viel entschiedener und kompromissloser. Hölderlin jedoch bewahrte sich gleichwohl sein kindliches Gemüt, weil er damit begnadet war, stets und immer wieder für das Spiel der Blumen und die Lüftchen des Himmels empfänglich zu sein. Diese Gabe war es, die ihn zum Dichter machte. Die Empfänglichkeit für das, was er als Zuspruch der Götter gewahrte, war es, was ihn durch seine Kindheit rettete. Denn, wie er in späten Jahren sagte:

Nah ist und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist,
Wächst das Rettende auch.

Nah war ihm der Gott, nahe waren ihm die Götter. Nah war ihm die Natur. Nah war ihm die Erde, nah war ihm der Himmel, der in seinem Herzen das ihn rettende Echo fand. So hat er es selbst erlebt. Und so hat er es immer neu besungen. Aber können wir ihn darin noch verstehen? Ist es nicht eine vielleicht ganz nette, dabei aber doch verbrauchte und leere Metapher, wenn Hölderlin wieder und wieder Gott und Götter bemüht? Macht er sich damit nicht für eine Zeit unmöglich, deren klügste Köpfe sich anschicken, den Menschen digital zum Homo Deus aufzurüsten und den von Friedrich Nietzsche diagnostizierten Tod Gottes endgültig zu exekutieren? Was soll uns die Rede von den Göttern? Selbst wenn Hölderlin mit ihrer Hilfe seine schweren Jugendjahre bewältigen konnte, heißt das doch nicht, dass wir heute irgendetwas damit anfangen könnten – oder gar sollten.

So erhebt sich die Stimme des nüchternen Verstandes. Und sie schickt sich an, das stille Staunen der Seele zu übertönen; wie es so oft geschieht in der Betriebsamkeit unserer modernen Welt. Doch für dieses Mal wollen wir uns diesem Diktat des Intellektes widersetzen und ein Experiment wagen: uns angehen und anreden zu lassen von den Worten Hölderlins; uns einzulassen auf seine Sprache; hinzuhören und zu lauschen, wie der Dichter von den Göttern spricht, die ihn gerettet haben und in deren Armen er nach eigenem Bekunden groß geworden ist.

Und wie du das Herz
Der Pflanzen erfreust,
Wenn sie entgegen dir
Die zarten Arme strecken,

So hast du mein Herz erfreut,
Vater Helios! und, wie Endymion,
War ich dein Liebling,
Heilige Luna!

O all ihr treuen
Freundlichen Götter!
Daß ihr wüßtet,
Wie euch meine Seele geliebt!

Können wir uns darauf einlassen? Ahnen wir die Dimension des Lebens, die in diesen Worten zu uns flüstert? Es geht um etwas Einfaches und dabei Wesentliches. Es geht um diese Tiefenschicht des Lebens, die wir Seele nennen. Sie ist bei Hölderlin allgegenwärtig: in der Tiefe unseres Herzens und in der Tiefe der belebten Welt. Sie erscheint dabei als etwas Pflanzliches, das in der Erde verwurzelt ist und dem die Sehnsucht innewohnt, sich dem Himmel entgegenzustrecken, um groß zu wachsen. Sie nährt sich von der Wärme und dem Licht der Sonne, die von Hölderlin Vater Helios genannt wird: einer Energie, die alles Leben wachsen und erblühen lässt und die immer da ist, dauernd zu uns spricht, obgleich sie unsere vom Flimmern der Monitore und dem Scheinwerferlicht der Medien geblendete Welt meist vergessen hat. Ebenso ahnt die Seele das sanfte Liebesspiel des Mondlichts – der heiligen Luna –, das sie in mancher Nacht verzückt und zart berührt. All das ist nicht neu. All das ist völlig alltäglich, nichts Besonderes, nichts Spektakuläres, kein Event. All das ist das einfache und echte Leben der Natur. All das ist das stille Lied des Seins – eines lebendigen, beseelten Seins, das sich freundlich der Menschenseele zuwendet und zuspricht, sofern sie sich ihm öffnet, hingibt, anvertraut. Dieses stille Lied des lebendigen und seelenvollen Seins der Welt tönt aus der Dichtung Hölderlins: rein und ungetrübt, unschuldig und wahr. Und es vermag noch immer das reine, wahre, unschuldige und echte Zentrum der Seele anzusprechen: Echo des Himmels, heiliges Herz.

Und wenn ein Menschenherz von diesem Lied des Seins beseelt ist, kann es nicht umhin, als liebendes Echo widerzuhallen. Davon spricht der Dichter, wenn er sagt:

O all ihr treuen
Freundlichen Götter!
Daß ihr wüßtet,
Wie euch meine Seele geliebt!

Hier bekundet er nicht nur die Liebe seines Herzens, sondern auch den Dank. Liebe und Dank prägen die Stimmung, den Ton oder die Färbung der Dichtung Hölderlins. Sie ist von Liebe durchdrungen. Aber nicht von einer abstrakten, vergeistigten, spirituellen Liebe, sondern von einer Liebe, die konkret ist und sich dankbar an das Du wendet, dem sie gilt: dem lebendigen Sein der Welt, das Hölderlin oft Natur nennt, aber auch gern als Götter anspricht. In unseren Ohren klingt das fremdartig. Sind die Götter nicht schon lange tot und aus der Welt gewichen? Nein, sie sind es nicht. Sie sind noch da, nur haben wir für diese Götter keine Sprache mehr. Hölderlin weiß das. So bezeugt es sein Gedicht:

Zwar damals rief ich noch nicht
Euch mit Namen, auch ihr
Nanntet mich nie, wie die Menschen sich nennen,
Als kennten sie sich.

Doch kannt’ ich euch besser,
Als ich je die Menschen gekannt,
Ich verstand die Stille des Aethers,
Der Menschen Worte verstand ich nie.

Mich erzog der Wohllaut
Des säuselnden Hains
Und lieben lernt’ ich
Unter den Blumen.

Es kommt nicht auf die Namen an, die man dem gibt, was einen in der Tiefe seiner Seele anrührt. Namen, so gibt Hölderlin uns zu bedenken, sind sogar gefährlich, weil sie leicht dazu verführen, das Benannte zu verschleiern: so zu tun, als kennten sie das, was sie benennen. Das aber verhindert, dass die Seele sich von dem berühren lässt, was der Intellekt mit einem Namensschild versieht. Wirkliches Verstehen braucht weder Namen noch Konzepte. Wenn wir etwas nicht nur mit dem Verstand, sondern mit der Seele verstehen wollen, dann ist es eher hinderlich, für alles, was uns widerfährt, Namen, Konzepte oder Antworten zu finden. Dann kommt es vielmehr darauf an, sich berühren zu lassen – so sehr berühren zu lassen, dass es nur noch eine Antwort gibt: zu lieben.

Es ist diese wirkliche, existenzielle Berührung, was Hölderlin Gott nennt. Es sind diese Berührungen, die er die Götter nennt. Sie sind für ihn die pure Wirklichkeit, denn ihre Wirkung auf die Seele ist von größter Wirksamkeit: Sie lässt die Seele in die Liebe fallen.

O all ihr treuen
Freundlichen Götter!
Daß ihr wüßtet,
Wie euch meine Seele geliebt!

Diese Liebe wendet sich an das, was sie entflammt hat, als ihr Du: Du, der Gott – Ihr, die freundlichen Götter. Dieses Ihr und dieses Du sind der Seele eine unabweisbare Wirklichkeit. Sie sprechen zu ihr, sie nehmen sie in Anspruch. Sie sind das, was sie unbedingt anspricht – und zwar so sehr, dass die Seele als Echo Antwort geben muss, indem sie liebevoll nennt, was sie begeistert und beseelt hat: die Götter. Aber diese Götter sind nicht irgendwo in einer fernen Welt. Diese Götter fordern nichts vom Menschen. Sie geben keine Gebote und verheißen keine Erlösung. All das haben die Götter, von denen Hölderlin spricht, nicht nötig. Sie begnügen sich damit zu sein. Sie sind einfach da. Durch ihr bloßes Sein beseelen und begeistern sie den Menschen, lassen seine Seele wachsen, reifen, blühen, fruchten, welken, friedlich sterben.

Diese Götter sind das in seinem unbedingten Anspruch an die menschliche Seele empfundene heilige und lebendige Sein dieser Welt. Sie sind Lebendigkeit in Hochpotenz, verdichtet zur Gestalt konkreter Erfahrung – und als solche dann von einem Dichter zu benennen: Vater Helios, heilige Luna – Namen für Sonne und Mond, die alltäglichsten und vergessensten Begleiter unseres Menschenlebens; Repräsentanten der von uns so geschundenen großen Natur. Ganz so wie Himmel und Erde, Lüftchen und Blumen. Das alles scheint banal und alltäglich, dem modernen, rationalen Menschen langweilig und uninteressant. Doch sie sind dem unschuldigen Kind – dem heiligen Herz der Seele – die treuesten Gefährten und die nie versiegende Quelle der Begeisterung; oder könnten es zumindest sein, wenn wir sie nur zu gewahren wüssten: hörten, was sie unaufhörlich schweigend uns zu sagen wissen; sähen, welche Schönheit sie uns unaufhörlich schenken; fühlten, wie sie uns mit ihrer ganzen unaufdringlichen Liebe umschmeicheln. All das schwingt in jenen Worten mit, die Hölderlin hervorgehoben an das Ende seiner Dichtung stellte:

Im Arme der Götter wuchs ich groß.

Nun erkennen wir, dass dies weit mehr ist als eine Kindheitserfahrung. Es ist eine Seelenerfahrung; es ist die Bekundung eines Gewahrens der Welt, deren offene, empfängliche und kindliche Wahrnehmung dem Menschen eine tiefe Wahrheit seines Lebens offenbart: Wir sind nicht allein. Rute und Geschrei einer medialen, ökonomisierten, digitalisierten und technisierten Welt sind nicht das einzige, was uns vernehmbar ist. Immer ist da auch die andere, zwar oft vergessene, gleichwohl aber in der Tiefe unseres Seins beheimatete Dimension der Seele. Aus und zu ihr spricht die Dichtung Hölderlins. Immer noch. Vielleicht sogar eindringlicher denn je. Denn die Menschheit des 21. Jahrhunderts braucht das, wovon Hölderlin spricht, gerade jetzt, da sie sich anschickt, sich dem lebendigen Sein der Welt vollends zu entfremden: die Natur zu vernichten und durch eine virtuelle, tote Schattenwelt zu simulieren. Technik ist die neue Rute des Menschen, Ökonomie sein neues Marktgeschrei. Davor müssen unsere Seelen mehr denn je gerettet werden, wenn wir denn unsere Lebendigkeit bewahren wollen. Die gute Nachricht Hölderlins ist: Das Rettende ist immer nah – der Gott, der Geist, der einfach ist, der um uns ist, der mit jedem Windhauch, jedem Regentropfen oder Sonnenstrahl die Seele grüßt; der lebendig ist und der die Seele nährt und energetisiert, so dass sie sich zu ihrer ganzen Schönheit frei entfalten kann – so dass vielleicht auch Sie, von Hölderlin berührt, einst sagen können:

Im Arme der Götter wuchs ich groß.

Als schritte Apollon. Die Jugend

Wer sind die Götter, die der Dichter ruft? In wessen Armen wuchs er groß? Die Götter mit Namen zu nennen, scheut sich Hölderlin. Und wenn er sie dann doch einmal benennt, dann schmückt er sie mit Namen, die den alten Mythen der Griechen und Römer entnommen sind: Helios und Luna. Hätte er sie nicht auch anders nennen können? Das wohl nicht. Es ist alles andere als ein Zufall, dass Hölderlin sich ausschließlich mit den Göttern Griechenlands befasst hat (auch da, wo er sie mit ihren lateinischen Namen nennt). Und das nicht nur, weil er schon als Schüler von einer tiefen Leidenschaft für alles Griechische beseelt war; sondern vor allem, weil er in den Texten Platons, Heraklits und Homers, die er begeistert in der Schule und bei seinem Studium las, einen Geist entdeckte, mit dem er sich aufs Innigste verbunden wusste. Spätestens als er im Jahre 1788 nach Tübingen kam, um im dortigen Stift seine theologische Ausbildung zu beenden, war er mit allem Griechischen durch eine starke Resonanz vertraut – so als sei sein Herz auf genau den Ton gestimmt, den er in den Schriften derer, die er liebte, allenthalben fand.

Hölderlin war tief berührt von dem, was er in seiner Dichtung als den Genius Griechenlands besang. Er fühlte, dass dieser Genius auch in ihm mächtig war. Davon zeugt ein Gedicht, das er um 1790 schrieb und das gemeinhin als sein erstes, ausdrückliches Bekenntnis zum Griechentum gedeutet wird. Es trägt den Titel Hymne an den Genius Griechenlands.

Jubel! Jubel
Dir auf der Wolke!
Erstgeborner
Der hohen Natur!
Aus Kronos’ Halle
Schwebst du herab,
Zu neuen, geheiligten Schöpfungen
Hold und majestätisch herab.

 Ha! bei der Unsterblichen,
Die dich gebar,
Dir gleichet keiner
Unter den Brüdern,
Den Völkerbeherrschern,
Den Angebeteten allen!

Worum geht es hier? Hölderlin gibt zu verstehen, dass der Genius Griechenlands sehr anders ist als der Geist, der die großen Religionen und Imperien der alten Welt hervorbrachte – sei’s in Rom oder Ägypten, Persien und Babylon. Denn der Genius Griechenlands ist viel natürlicher, naturverbundener als deren Geister. Er ist ein Gewächs der hohen Natur, eine Manifestation des lebendigen Seins und nicht des Herrschaftswillens derer, die es darauf anlegen, das Mächtige anzubeten oder lieber noch sich selbst als Mächtige anbeten zu lassen. Das ist es, was den Geist der Griechen von dem Geist der anderen antiken Völker unterscheidet: Er ist ganz dem Sein der Welt geweiht und nicht dem Regiment eines Allmächtigen, eines Weltenschöpfers oder Weltenrichters. Weltentrückte Mystik und Askese kennt er genauso wenig wie Glaubensbekenntnisse oder moralische Gebote. Der Genius Griechenlands ist immer mitten in der Welt, mitten drin im analogen Leben – immer ganz mit Leib und Seele, Haut und Haar rückgebunden an das physische Walten der Natur. Auch diktiert er dem Menschen keine Gebote und Gesetze, sondern er entfacht im Menschenherz die Liebe.

Von Freude glühten,
Von zaubrischer Liebe deine Schläfe,
Die goldgelockten Schläfe.

Lange säumtest du unter den Göttern
Und dachtest der kommenden Wunder.
Vorüber schwebten wie silbern Gewölk
Am liebenden Auge dir
Die Geschlechter alle!
Die seligen Geschlechter.

Im Angesichte der Götter
Beschloß dein Mund,
Auf Liebe dein Reich zu gründen.
Da staunten die Himmlischen alle.
Zu brüderlicher Umarmung,
Neigte sein königlich Haupt
Der Donnerer nieder zu dir.
Du gründest auf Liebe dein Reich.

Der Genius der Griechen offenbart sich Hölderlin als Geist der Liebe – als ein Geist, der sich dem Leben der Natur mit zaubrischer Liebe zuneigt, dem das Göttliche sich zeigt in der Gestalt der vielen Göttinnen und Götter, deren jeder eine oder einer der Lebendigkeit der Welt eine liebenswerte Gestalt und ein liebreizendes Gesicht verleiht. Was dem Nicht-Begeisterten bestenfalls als silbernes Gewölk erscheint, ist dem Genius der Griechen ein Antlitz des Göttlichen, des Seins der Welt: ein Gesicht, das sich dem Menschen freundlich zuwendet; auch da, wo es das Antlitz des mächtigen Donnerers Zeus ist, des Vaters der Götter und Herrschers der Menschen. Selbst das Machtvollste erscheint dem Geist der Griechen so, dass es ihn in Liebe schwelgen lässt. Auf Liebe ist sein Reich gegründet.

Aber wie? Durch dasjenige, was im Menschenherz die Liebe weckt: Schönheit, Liebreiz, Attraktivität. Damit ist gesagt, wie sich die Götter Griechenlands am liebsten offenbarten: Sie sind schön. So hatte Hölderlin es bei Platon gelesen, den er in seinen Schüler- und Studentenjahren verschlungen hatte. Seither war er vertraut mit der Philosophie, in der sich der Genius Griechenlands am vernehmlichsten ausgesprochen hatte. Ein Text vor allem hatte es ihm angetan: das Symposium, der Dialog, in dem Platon von der Heiligkeit des Eros – der Liebe – spricht. Dort fand Hölderlin den Genius Griechenlands, der sein Reich auf Liebe gründen konnte, weil er in allem die Schönheit des lebendigen Seins einer Welt erkannte, die die Griechen deshalb kósmos nannten: schöne Ordnung. Weil er sich der Schönheit der Natur ergab und sich der schönen Lebendigkeit des kósmos zuwandte, anstatt sich dem Willen strenger Herrschergötter zu unterwerfen, schuf sich der Genius Griechenlands eine Welt, worin die Menschen wachsen, blühen und gedeihen konnten. So wie es das Leben vorgesehen hat – und wie es die Seele eines jeden Wesens inständig begehrt.