Patricia St. John
Das Geheimnis von Wildenwald
Impressum
Originaltitel: »The Tanglewood’s Secret«
Erschienen bei: Scripture Union (Bibellesebund), London
© 1948 by Patricia St. John
Deutsch von Elisabeth I. Aebi
© 1950 der deutschsprachigen Ausgabe bei: Verlag Bibellesebund, Winterthur
18. Auflage 2013
© 2019 der E-Book-Ausgabe
Bibellesebund Verlag, Marienheide
https://shop.bibellesebund.de/
Coverillustration: Justo G. Pulido, www.pulido.de
Covergestaltung: Georg Design, Münster
ISBN 978-3-95568-329-0
Hinweise des Verlags
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
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Inhalt
Titel
Impressum
Wir stellen uns vor
Ferienpläne
Die Indianerhütte
Terry
Das verlorene Schäflein
Ein genialer Einfall
Eine verhängnisvolle Einladung
Auf der Flucht
Ich finde einen neuen Freund
Das Eichhörnchennest
»Meine Schafe hören meine Stimme«
Der Unfall
Ein Besuch im Pfarrhaus
Ich bade die Zwillinge und werde zornig
Ein Brief
Expedition im Mondschein
Mitternächtliches Abenteuer
Vom Geben
Hopfen und Pilze
Das Geheimnis
Terrys Ankunft
Heimgetragen
Herr Tanner weiß Rat
Ein unvergessliches Weihnachtsfest
Wir stellen uns vor
Es war ein schönes Heim, in dem Philipp und ich unter der Obhut unserer Tante Margret aufwuchsen. Das weiße Haus stand am Hang eines Hügels, hinter dem die Sonne unterging.
Vor dem Haus war ein Ziergarten, und hinten breitete sich ein Obstgarten aus, in dem Schlüsselblumen und wilder Klee unter den Bäumen Ringelreihen tanzten. Philipp und ich schliefen in den beiden Dachstübchen, mit offenen Türen, sodass einer zum anderen hinüberrufen konnte. Ich konnte mich nie so richtig entscheiden, welches Fenster mir lieber war, Philipps oder meines. Sein Fenster gab mir ein Gefühl der Geborgenheit, denn man konnte den mit Föhren bepflanzten Garten und den schützenden Wall der dahinter sanft ansteigenden Hügel mit ihrem Farnkraut und Ginster sehen. Mein Fenster aber weckte in mir ein herrlich abenteuerliches Gefühl, denn von hier aus konnte man auf eine weite Ebene mit Feldern und blühenden Kirschbäumen und auf ferne, ferne Hügel schauen, die fremd und geheimnisvoll zu mir herüberwinkten.
Ich liebte jene Hügel. Manchmal sahen sie so grün und nah aus, manchmal so verschwommen und fern. Ich betrachtete sie als eine Art Märchenland, in das ich eines Tages, wenn ich erwachsen wäre, eindringen könnte. Und wenn Philipp morgens kam und sich auf mein Bett setzte, um dem Gesang der ersten Vögel zu lauschen oder den feurigen Sonnenaufgang über der Ebene zu bewundern, dann erzählten wir uns allerlei Geschichten über jene Hügel und über die seltsamen Tiere, die nach unserer Vorstellung auf ihren Hängen lebten.
Philipp war anderthalb Jahre älter als ich, und ich liebte ihn mehr als sonst jemanden auf Erden. Er war ein sanfter, nachdenklicher Junge, der lange brauchte, bis er zu einem Entschluss kam. War es aber so weit, führte er ihn mit großer Hartnäckigkeit zu Ende. Solange ich mich erinnern konnte, war Philipp mein Freund, mein Beschützer und mein Tröster gewesen, von dem ich mich nur während der Schulzeit trennen musste. Wir waren so verschieden, wie Geschwister überhaupt sein können. Philipp war kräftig gebaut, hatte blaue Augen und ein rundes, ruhiges Gesicht; ich dagegen war klein und mager, hatte blondes und langes Haar und ein spitzes Kinn. Philipp war brav und folgsam; ich war wild und widerspenstig. Dass Tante Margret Philipp sehr gernhatte, konnte jedermann sehen. Über mich schüttelte sie den Kopf und behauptete, ich mache sie um Jahre älter.
Zur Zeit meiner Geschichte lebten wir schon seit fünf Jahren bei Tante Margret und hatten vergessen, wie Vater und Mutter aussahen. Ich war vier Jahre alt gewesen, als sie beide nach Indien fuhren. Natürlich hatte Mutter längst schon heimkehren wollen, aber der Krieg hatte sie daran gehindert. Ich glaube nicht, dass ich ihre Heimkehr wirklich wünschte. Tante Margret sagte mir immer wieder mit solchem Nachdruck, wie sehr meine arme Mutter von mir enttäuscht sein werde, dass ich hoffte, diese Entdeckung könne möglichst lange hinausgeschoben werden. Nach den Briefen meiner Mutter schien es zwar stets, als hätte sie mich sehr lieb, aber das, so nahm ich an, war nur, weil sie mich nicht kannte. Wenn sie kommen sollte, würde ihr Philipp ohnehin viel besser gefallen als ich, wie das bei Erwachsenen stets geschah, und sie würde Philipp gernhaben, weil jedermann Philipp gernhatte – und ich wollte ihn doch viel lieber für mich allein behalten. Deshalb schob ich den Gedanken an Mutters Heimkehr beiseite und beschäftigte mich so wenig wie möglich damit.
Aber Philipp konnte sich an Mutter erinnern, und manchmal, wenn er von ihr sprach, wurde ich unsicher. Ich werde jenen Abend nie vergessen, an dem ich als etwa achtjähriges Kind zur Strafe für irgendein falsches Verhalten ohne Abendessen ins Bett geschickt wurde. Ich weiß noch, wie ich in dem schönen Dämmerlicht jenes Frühlingsabends dort lag – heiß, aufgebracht, hungrig – und nur noch auf eines wartete: auf das regelmäßige Trapp, Trapp zweier Fußballschuhe, in denen ein etwas schwerfälliger Junge auf seinem Weg ins Bett die Treppe heraufstieg. Natürlich kam Philipp schnurstracks in mein Zimmer. Ein paar Minuten lang mühte er sich mit einem merkwürdigen Klumpen in seinem Strumpf ab, und was kam heraus? Ein ziemlich zerquetschtes Zuckerbrötchen, an dem viele Fussel klebten und das deutlich nach Wolle roch. Aber Philipp war sehr stolz darauf, denn er hatte das Ding beim Abendbrot in seinen Strumpf rutschen lassen, direkt unter Tante Margrets Nase, und sie hatte gar nichts gemerkt! Ich verzehrte den Leckerbissen dankbaren Herzens. In der Zwischenzeit setzte sich Philipp auf mein Kissen und legte den Arm um mich, denn er wusste: Bei solchen Gelegenheiten brauchte ich recht viel Mitgefühl.
»Was habt ihr sonst noch zu essen gehabt?«, erkundigte ich mich, den Mund voll vom Zuckerbrötchen.
»Wir hatten leider Fischklößchen«, antwortete Philipp in entschuldigendem Ton, »aber sie waren zu breiig, um in die Socken gesteckt zu werden. Sie waren nicht sehr gut, du hast nicht viel verpasst.«
»Es ist gemein von Tante Margret, mich ohne Abendessen ins Bett zu schicken«, stöhnte ich mit tragischer Stimme. »Wenn Mutter hier wäre. Sie würde mich nicht so unfreundlich behandeln.«
»Nein«, antwortete Philipp mit Überzeugung, »allerdings nicht. Aber schau, du bist ja wirklich sehr frech gewesen gegenüber Tante Margret; gegenüber Mutter aber wärst du niemals frech.«
»Wie kannst du das wissen?«, wandte ich ein, »es wäre doch sehr gut möglich.«
»O nein!«, versicherte Philipp, »du könntest einfach nicht. Du bist ja nur ungezogen, wenn du ärgerlich bist, und bei Mutter waren wir das nie. Sie war so fröhlich und sonnig, und wenn wir ein klein bisschen unartig waren, so lachte sie, nahm uns in die Arme und erzählte uns wunderschöne Geschichten, sodass wir ganz vergaßen, unartig zu sein. Ich wollte, du könntest dich an sie erinnern, Ruth!«
Ich öffnete den Mund zu weiteren Fragen, da sprang Philipp plötzlich von meinem Bett herunter und schoss wie ein aufgescheuchter Hase über den Korridor. Ich hörte ein hastiges Rascheln, dann nichts mehr; dann tönten Tante Margrets Schritte auf der Treppe.
Sie trat in Philipps Zimmer, und ich hörte sie zu ihm hinübergehen und seine Bettdecke glätten. Ich hörte ihn ziemlich atemlos sagen: »Gute Nacht, Tante.« Dann kam sie herüber und blieb an der Tür zu meinem Zimmer stehen. »Gute Nacht, Ruth«, sagte sie.
Wenn ich den Gruß erwidert und gesagt hätte, es täte mir leid, wäre sie auch zu mir gekommen und hätte mich für die Nacht zugedeckt. Aber ich verabscheute es, um Verzeihung zu bitten. Deshalb tat ich, als ob ich schliefe, und ließ ein sehr lautes Schnarchen vernehmen – das niemanden täuschen konnte, am allerwenigsten meine Tante.
»Ich bedaure, dass du immer noch so schlecht gelaunt bist«, sagte sie kühl, wandte sich ab und ging hinunter.
»Hat sie nicht gemerkt, dass du dich noch nicht ausgezogen hast?«, flüsterte ich über den Gang hinweg.
»Nein«, flüsterte Philipp zurück, »ich habe die Decke bis unters Kinn heraufgezogen. Gute Nacht, Ruth.«
»Gute Nacht, Phil«, antwortete ich, drehte mich gegen das Fenster und starrte ins Dunkel hinaus. Meine Gedanken waren erfüllt von dem, was mir Philipp über Mutter gesagt hatte. Mutter wäre hergekommen und hätte mich geküsst, ob es mir nun leidgetan hätte oder nicht, und dann hätte es mir natürlich leidgetan. Wir hätten zusammen zu den Sternen aufgeschaut, und sie würde mir Geschichten erzählt haben. Beim Einschlafen konnte ich beinahe ihre Arme um mich spüren. In meinen Träumen jedoch lief sie mit Philipp von mir weg, und als ich versuchte, ihnen nachzulaufen, konnte ich meine Füße nicht von der Stelle bewegen.
Ferienpläne
Zwei Jahre waren seitdem vergangen. Ich war jetzt neuneinhalb und Philipp beinahe elf Jahre alt. Der erste Tag unserer Osterferien war gekommen. Frühmorgens um halb sieben Uhr huschte Philipp in seinem Schlafanzug in mein Zimmer und kletterte, mit Notizbuch und Bleistift bewaffnet, auf mein Bett, das am offenen Fenster stand. Und nun stemmten wir beide die Ellenbogen auf das Fensterbrett und schmiedeten Pläne.
In diesem Frühling waren wir von einer einzigen Leidenschaft besessen: Vögel zu beobachten. Wir hatten ein Album, in das wir die verschiedenen Arten von Vögeln eintrugen, denen wir begegneten, mit allem, was wir über sie ausfindig machen konnten: Gesang, Nesterbau, Gewohnheiten. Philipp hatte das Album selbst angelegt, und seine Aufzeichnungen waren wunderschön sauber und genau. Ich malte die Eier daneben, wenn wir solche fanden; aber meine Malereien waren nicht besonders naturgetreu.
Philipps sehnlichster Wunsch war ein Fotoapparat. »Wenn ich bloß die Nester fotografieren könnte!«, jammerte er immer wieder. »Ich könnte bestimmt ein großer Naturforscher werden; vielleicht würde mein Buch sogar gedruckt werden!«
Doch der billigste Apparat, den wir in den Schaufenstern gesehen hatten, kostete Unsummen, und unsere Sparbüchse enthielt nur einen geringen Betrag, obwohl wir seit vielen Wochen unser Taschengeld zusammensparten. Wir schütteten das Geld auf die Steppdecke und zählten es mehrere Male, bloß für den Fall, dass wir uns das vorige Mal verrechnet hätten. Aber es stimmte. Philipp seufzte schwer.
»Ich werde schon beinahe ins Schulinternat müssen, bis wir den Apparat kaufen können«, sagte er wehmütig. »Wenn wir nur etwas verdienen könnten, Ruth!«
Wir starrten recht trübselig in den Garten hinaus und zerbrachen uns die Köpfe nach einer guten Idee; aber kein Geistesblitz wollte uns zu Hilfe kommen. Zu unseren Füßen hatte der April die Obstbäume angerührt, und in weichen, weißen Wellen schäumte ein Blütenmeer über die Ebene hin. Unsere eigenen Pflaumenbäume waren weiß und duftig wie Spitzengewebe. Zwischen den Stämmen konnte ich ganze Büschel von Primeln und goldenen Osterglocken in der Sonne glänzen sehen. Ich schaute zu meinen Hügeln hinüber, aber sie hatten sich in den morgendlichen Dunst eines schönen Frühlingstages gehüllt. Plötzlich fühlte ich, wie neben mir Philipps Körper sich straffte. In seinem Eifer hing er halb zum Fenster hinaus.
»Baumläufer«, zischte er, »dort auf dem Pflaumenbaum!«
Ich lehnte mich ebenfalls hinaus. Zusammen beobachteten wir den zierlichen braunen Vogel, der den Stamm hinauftrippelte und die Rinde nach Insekten abklopfte. Philipp war voll angespannter Aufmerksamkeit; er hielt den Atem an und merkte sich jede Bewegung und Haltung des Vogels. Dann breitete das niedliche Geschöpf seine Flügel aus und verschwand um die Ecke. Augenblicklich zückte Philipp Bleistift und Notizbuch, und fünf Minuten lang war er ganz in seine Aufzeichnungen vertieft.
»Ruth«, sagte er lebhaft, von seinem Album aufschauend, »heute müssen wir früh in den Wald und viel Zeit vor uns haben. Ich habe mir nämlich gestern Abend im Bett etwas ausgedacht: Wir sollten unbedingt ein Naturforscher-Hauptquartier haben. Wir müssen uns eine Hütte bauen, wo wir Bleistifte und Papier und Vorräte in Büchsen aufbewahren können, statt sie immer mit uns herumzutragen. Wir wollen ja jeden Tag, die ganzen Ferien hindurch, in den Wald! Und wir müssen frühzeitig entwischen, bevor sich Tante Margret allerlei ausdenkt, was wir tun sollten!«
Ich purzelte beinahe aus dem Bett vor Eifer.
»Großartig!«, jubelte ich. »Wir erledigen unsere Ferienarbeiten ganz schnell, und ich werde so lieb sein wie ein Engel, sodass sie mich kaum bemerkt und nicht daran denkt, mich zu überwachen. Wenn ich das Wohnzimmer gefegt und Staub gewischt habe, mache ich mich auf und davon, bevor sie an etwas anderes denkt. Und wenn sie fragt, wo wir gewesen sind, sagen wir, wir hätten Holz gesammelt – und wir bringen auch ein wenig mit heim, damit es wahr ist. Ich sehe zwar nicht ein, warum wir in unseren Ferien überhaupt arbeiten sollten! Ich weiß, was ich mache: Ich ziehe mich schnell an und gehe gleich hinunter, um Tante Margret zu helfen, das Frühstück vorzubereiten. Dann meint sie, ich sei schrecklich brav!«
Im Nu war ich angezogen, und zehn Minuten später war ich in der Küche bei Tante Margret, sauber gekämmt und mit einer frischen Schürze um.
»Darf ich dir helfen, Tante?«, fragte ich bescheiden. »Ich bin früh aufgestanden, weil ich dachte, du könntest mich vielleicht brauchen.«
Da ich für mein Spätaufstehen bekannt war, warf mir meine Tante einen überraschten Blick zu.
»Danke, Ruth« , antwortete sie freundlich und versuchte ihre Verblüffung zu verbergen. »Ich bin froh, wenn du den Tisch deckst.«
Es ging alles glatt. Philipp und ich schlangen unser Frühstück hinunter und saßen zappelnd vor Ungeduld auf unseren Stühlen, während Onkel Peter und Tante Margret an ihrer zweiten Tasse Kaffee nippten und das Tagesprogramm besprachen. Dann ging Onkel Peter weg, und Tante Margret wandte sich uns zu.
»Und was für Pläne habt ihr beiden denn?«, fragte sie.
Philipp hielt die Antwort schon bereit.
»Sobald wir unsere Arbeiten gemacht haben, wollen wir im Wald Holz holen, Tante Margret«, erwiderte er mit seiner liebenswürdigsten Stimme.
»Gut«, sagte meine Tante ein wenig unsicher, »aber ihr müsst daran denken, dass ich an den Vormittagen eure Hilfe brauche. Ruth ist alt genug, um im Haushalt mitzuhelfen. Sie soll zuerst abwaschen und das Wohnzimmer fegen, und nachher werden wir weitersehen.«
Ich konnte schnell sein, wenn ich wollte, und ich hatte das Frühstücksgeschirr in erstaunlich kurzer Zeit abgewaschen. Dann, ohne weitere Beratung mit meiner Tante, ergriff ich Besen und Staubtuch und steuerte auf das Wohnzimmer zu. Ich wirbelte den Staub in wilder Jagd auf dem Linoleum herum und wischte ihn im Eiltempo von den Möbeln. Das Kehrblech konnte ich nirgends erblicken, aber ich verlor keine Zeit deswegen: Ich kehrte mein Häuflein zusammen und schob es schnell unter den Teppich. Dann trippelte ich auf den Zehenspitzen in die Küche zurück, verstaute Besen und Staublappen, und blitzschnell war ich zur Haustür hinaus.
Draußen und frei an einem Aprilmorgen, an dem die Sonne schien und die Vögel sangen und die Lämmer blökten – was für eine Freude! Ich raste wie ein Wirbelwind hinters Haus, wo ich so ungestüm in Philipp hineinrannte, dass ich ihn beinahe zu Boden geworfen hätte. Doch er war meine Art gewohnt und erschrak deshalb nicht übermäßig.
»Schon fertig?«, erkundigte er sich überrascht.
»Ja, du nicht?«
»Nein«, antwortete er, »ich soll dieses Reisig zerkleinern und Bündel daraus machen; es wird eine Ewigkeit dauern.«
»Oh«, rief ich aus, »wir können nicht warten! Du hast genug von diesen dummen Bündeln gemacht. Niemand wird wissen, dass du nicht fertig bist, wenn sie das Übrige nicht sehen. Schnell, gib mir das Zeug!«
Und bevor mein gewissenhafter Bruder etwas einwenden konnte, hatte ich den Rest in den Graben geworfen und stieß mit dem Fuß Laub darüber.
»Und denk doch«, schrie ich und hopste wie wild um ihn herum, »wie schnell wir das Reisig finden werden, wenn man uns schickt, um neues zu suchen!« Im Nu sauste ich durch den Obstgarten, über das frische, nasse Gras hinweg, das mit Primeln und Blütenblättern besät war. Wie ein Wiesel schlüpfte ich durch eine Öffnung in der hinteren Hecke, und Philipp folgte mir auf den Fersen.
Die Lücke in der Hecke war unser ganz persönliches, streng gehütetes Geheimnis. Tante Margret konnte die Gartentür vom Küchenfenster aus sehen; wir zogen jedoch des Öfteren vor, unser Kommen und Gehen geheim zu halten. So hatten wir hinter dem Hühnerstall eine Lücke in der Hecke entdeckt, welche durch überhängende Zweige, die wir bloß beiseitezuschieben brauchten, für jeden Uneingeweihten unsichtbar war. Durch diese Lücke kamen wir auf eine Wiese, welche an die Straße grenzte, die zu unseren geliebten Wäldern führte.
Auf der Straße angekommen, hüpfte und schrie ich wie ein ausgelassenes junges Ding. Es war ja auch eine reine Lust, an solch einem Morgen am Leben zu sein! Philipp folgte mir etwas bedächtiger. Er hielt den Blick auf die Hecken geheftet, die die Straße säumten, und stand von Zeit zu Zeit still, um zu lauschen oder zu spähen. Ich wartete nicht auf ihn, der Frühling war mir in die Beine gefahren! Ich glaube, ich verscheuchte die meisten Vögel, bevor Philipp nur in ihre Nähe kam.
Mit einem Sprung setzte ich über das Tor hinweg, das zu einer Wiese führte. Hier blieb ich einen Augenblick stehen, um die bedächtigen Mutterschafe mit ihren drolligen, langbeinigen Lämmern zu betrachten, die wie ich in den Gänseblümchen herumhüpften. Und während ich so dastand und zuschaute, wurde plötzlich eines der Lämmer auf mich aufmerksam und kam auf mich zugesaust. Es hatte ein schwarzes Näschen und schwarze Beine und stieß leise, vergnügte Laute des Willkommens aus. Ich kauerte ins Gras nieder und breitete meine Arme aus. Das Lamm rannte geradewegs hinein und begann mit eifriger, warmer Zunge mein Gesicht zu lecken.
»Philipp«, rief ich, »schau doch, wie lustig!« Er war inzwischen bei mir angekommen, und zusammen knieten wir im Gras, während das Schäflein uns stieß und leckte und von einem Schoß in den anderen sprang. Nun kam auch der alte Hirte, lehnte sich über das Tor und schaute uns schmunzelnd zu.
»Das ist eine kleine Waise«, belehrte er uns. »Es ist ein Flaschenkind und fürchtet sich vor niemandem. Die anderen Schafe schieben es beiseite, aber es geht munter seine eigenen Wege. Der kleine Schlingel hat immer irgendeine Dummheit im Kopf!«
In diesem Augenblick sprang das Lamm von meinen Knien weg und rannte auf das Tor zu. Der Alte bückte sich und hob es auf.
»Es kennt meine Stimme schon gut, nicht wahr?«, meinte er lächelnd. Er verstaute das Tierchen unter seinem Umhang und ging Richtung Bauernhaus.
»Das ist ein neuer Hirte«, sagte ich zu Philipp, »ich habe ihn noch nie gesehen.«
»Ich schon«, antwortete Philipp. »Aber nun los, Ruth, wir haben keine Zeit zu verlieren!«
Er sprang auf, und wir liefen über das freie Feld, sodass meine Haare im Wind flogen. Nun noch über einen Zaun, und schon standen wir in »unserem« Wald.
Die Indianerhütte
Wie herrlich war er, unser Wald! Anemonen bedeckten, Sternen gleich, den Boden, Veilchen bildeten blaue Flecken in den Lichtungen, und die spitzen Schäfte der Hyazinthen schossen überall hervor. Die Sonnenstrahlen fielen schräg durch die Eichenstämme und beleuchteten Hänge und Mulden, wo zarter Sauerklee unter dem Laub hervorblinzelte und Eichhörnchen und Vögel geschäftig waren.
Philipp und ich ließen den Fußweg zur Seite und kämpften uns durch das Jungholz hindurch, in dem Geißblattranken sich von Stamm zu Stamm wanden. Schließlich hielten wir an, um uns umzusehen. Philipp setzte sich auf ein Mooskissen, und ich kauerte mich neben ihn auf den Boden.
»Hier schlagen wir unser Hauptquartier auf«, verkündete er. »Das ist ein guter Ausgangspunkt für weitere Expeditionen.« Philipp liebte lange Wörter und las manchmal die Zeitung auf der Suche nach solchen; aber er verstand sie nicht immer.
»Wie willst du das machen?«, fragte ich.
»Wir bauen ein Wigwam, eine Indianerhütte«, erklärte Philipp.
»Siehst du den Vogelbeerbaum da drüben? Der gibt einen guten Mittelpfosten. Jetzt suchen wir Äste und stellen sie ringsum gegen die Mitte, alle ganz dicht nebeneinander. Dann verflechten wir sie mit Geißblattranken und lassen bloß ein Loch offen, groß genug, dass wir durchkriechen können. Den Boden bedecken wir mit Farnkraut und Moos, so wird er ganz weich und bequem. Es ist fast, als ob wir ein Nest bauen wollten. Hinten in der Hütte graben wir ein Loch in den Boden und legen den Boden mit kleinen Zweigen und Steinen aus. Dort verstecken wir dann unsere Vorräte und decken sie mit Farnkraut zu, sodass man fast nichts merken kann; es wird genauso aussehen wie der Boden.«
Ich war begeistert und machte mich unverzüglich ans Werk. Den ganzen Vormittag arbeiteten wir tüchtig. Wir schleppten dürre Äste durchs Unterholz und schnitten mit Philipps Taschenmesser lange Pfähle daraus. Bald stand das Gerippe unserer Indianerhütte fest im Boden.
Wir brauchten einige Tage, um unseren Wigwam fertigzustellen. Jeden Morgen hastete ich durch meine Hausarbeiten, und dann rannten wir in den Wald. Jeden Morgen wurde das Häuflein Staub unter dem Teppich ein wenig größer. Da Tante Margret aber vor Kurzem die Frühjahrsreinigung des Hauses beendet hatte, wurde meine Nachlässigkeit nicht bemerkt.
O diese Morgenstunden im Wald! Wir blieben selten beisammen. Jeder von uns ging seine eigenen Wege und hing seinen eigenen Gedanken nach. Dann kehrten wir, die Arme voll Farnkraut und Ranken, zu unserem Ausgangspunkt zurück. Jeder von uns fand seine besonderen Schätze und hatte seine besonderen Erlebnisse, die wir dann bei unserer Rückkehr miteinander teilten.
Philipps wichtigste Entdeckung war das Nest einer Schwanzmeise. Ich stieß auf ihn, wie er regungslos in einem Graben kauerte und direkt auf einen Weißdornbusch starrte. Er zog mich neben sich auf den Boden.
»Schwanzmeise«, hauchte er, »füttert Junge, wird gleich zurück sein.«
Noch während er sprach, hörten wir winzige Flügel schwirren und Laub rascheln, und schon war die kleine Mutter mit einem Bissen im Schnabel vorübergeflitzt. Wir konnten das erregte Piepen der Vöglein hören und den allgemeinen Tumult, der zur Essenszeit in einem Vogelnest herrscht! Dann husch! war die Mutter wieder draußen auf ihrer ängstlichen Futtersuche und verschwand zwischen den Bäumen.
»Komm schnell«, flüsterte mein Bruder, »wir wollen hineinschauen, bevor sie zurückkehrt!«
Vorsichtig bogen wir die Zweige auseinander und suchten das Nest. Da lag es, ein formvollendetes, rundes Bällchen, dicht gewoben aus Haar und Baumflechten, mit einer seitlichen Öffnung. Es kam uns wie ein Wunder vor, dass solch ein winziges Vögelchen sich ein dermaßen vollkommenes Haus gebaut haben sollte. Während wir es betrachteten, bemerkten die Nestbewohner unsere Gegenwart, und eine Menge von gierigen gelben Schnäbeln drängte sich mit erregtem Gezirpe durch die Öffnung. Aber wir hatten keine Würmer für sie und zogen uns zurück, um die Mutter nicht abzuschrecken.
»Sie werden bald flügge sein«, sagte Philipp, »da wollen wir uns im Graben verstecken und ihnen zusehen.«
In den nächsten Tagen unterbrachen wir ständig unsere Bauarbeiten und schlichen herbei, um die Vöglein zu beobachten. Tag für Tag wurden sie größer und kräftiger; ihr Gefieder wurde dichter, und im selben Maße wurde ihr Gepiepe lauter und energischer.
Diese Vögel waren nicht unsere einzigen Nachbarn. Die Buche über unserer Hütte hatte hoch oben eine große Astgabel. Eines Tages, als ich ruhig am Flechten unserer Hauswand war, hörte ich das Rauschen großer Flügel: Eine braune Eule fegte nahe an mir vorbei. Im Nu war ich den Stamm hinauf; wie ein aufgeregtes Eichhörnchen schwang ich mich von Ast zu Ast und spähte in jeder Höhlung, jedem Spalt nach dem Nest. Meine Mühe wurde belohnt, denn dort auf jener höchsten Astgabel des Baumes, in einer Wiege von Stroh und flaumigen, braunen Federn, lag ein einziges, schneeweißes Ei, heiß von der Wärme der Vogelmutter.
Ich kletterte ein Stück weit herunter, um die Mutter nicht zu stören, und blieb mit schlenkernden Beinen auf einem Ast sitzen. Wie herrlich ließ sich hier Ausschau halten! Die Hänge hinter dem Wald waren blau von Sternhyazinthen, und durch den dünnen Schleier des jungen Grüns leuchteten gelb die Sumpfdotterblumen. Ich war so glücklich, dass es mir fast wehtat. Und dann erblickte ich Philipp. Er kam langsam zwischen den Bäumen daher, die Arme voll Farnkraut, und sah ganz klein aus.
»Phil«, rief ich, »komm hier herauf!«
Er war gleich oben. Miteinander schauten wir voller Freude auf das schneeweiße Ei. Dann aber entdeckten wir plötzlich auf der nächsten Buche die Mutter, die mit ihren gelben Augen zornig blinzelte, und wir dachten, es wäre wohl besser, hinunterzuklettern. Augenblicklich breitete sie ihre riesigen braunen Fittiche aus und sank auf ihr Nest herab. Wir glitten vollends zu Boden, legten uns bäuchlings in unsere Hütte und sprachen von Eulenkindern.
Eine Woche ging alles gut. Tante Margret schien unsere Freiheit nicht eindämmen zu wollen. Wenn ich je bemerkte, dass sie müde und abgespannt aussah, sagte ich mir, das gehe mich nichts an. Meine Ferien gehörten mir, und ich wollte sie verbringen, wie es mir passte. Ich taugte ja ohnehin nicht zu Hausarbeit. Es war mir deshalb sehr zuwider, als mich meine Tante eines Morgens festhielt (ich war eben im Begriff gewesen, auszureißen) und mich fragte, wohin ich gehe.
»Hinaus, mit Philipp«, antwortete ich und wand mich ein bisschen unter dem festen Griff ihrer Hand. »Ich habe meine Arbeit gemacht, auf Ehrenwort, ich hab sie gemacht, Tante Margret. Bitte, lass mich gehen, Philipp wartet auf mich.«
»Schon recht«, erwiderte meine Tante, ohne mit der Wimper zu zucken, »Philipp wird heute allein gehen müssen. Ich brauche dich, Ruth. Heute Morgen habe ich viel Wäsche, und du kannst mir beim Aufhängen helfen. Es wäre ohnehin an der Zeit, dass du etwas mehr tätest als bisher.«
Ich stampfte auf den Boden und schaute so finster drein, wie ich nur konnte.
»Aber ich wollte doch gerade heute unbedingt hinausgehen!«, sagte ich ärgerlich.
Tante Margret schüttelte mich ein wenig.
»Du kannst gut zur Abwechslung einmal tun, was jemand anders will«, entgegnete sie. »Und wenn du es nicht gutwillig tust, kannst du heute Nachmittag ebenfalls zu Hause bleiben. Du wirst ja von Tag zu Tag fauler und selbstsüchtiger. Je eher du dich zusammenreißt, desto besser.«
Sie stapfte in die Küche, und ich musste ihr wohl oder übel folgen. Ich scharrte mit den Füßen und knurrte böse. Ich war wütend. Solch ein Pech! Heute würde vielleicht die Eule ausschlüpfen, und ich würde nicht dabei sein! Die Meislein verließen vielleicht ihr Nest, und Philipp würde sie allein sehen! Es war ungerecht. In diesem Augenblick hasste ich Tante Margret, und ich beschloss, ihr keineswegs zu helfen, sondern mich so schlecht wie nur möglich aufzuführen. Dann würde sie bereuen, mich zurückgehalten zu haben.
Hier wurde mein Gedankengang unterbrochen, denn die hintere Tür wurde heftig aufgestoßen, und Philipps Kopf kam zum Vorschein. Er hatte für Onkel Peter im Garten gearbeitet und sah recht erhitzt und zerzaust aus.
»Kommst du, Ruth?«, fragte er lebhaft.
»Nein, sie kommt nicht«, antwortete meine Tante kurz angebunden. »Sie wird sich zur Abwechslung einmal nützlich machen. Lauf du weg und spiele heute Morgen allein, Philipp. Ruth kann am Nachmittag mit dir gehen, wenn sie sich anständig benimmt.«
Wir verbrachten beide einen erbärmlichen Vormittag: Ich schnitt Gesichter gegen die Wand und ließ meine Wut an der Wäsche aus. Ich seufzte und gähnte, gab den Tischbeinen Fußtritte und warf meiner Tante hinter ihrem Rücken vernichtende Blicke zu. Aber sie arbeitete angestrengt am Waschtrog und schien mich gänzlich zu übersehen. Sie tat oft so, als ob sie meine Launen nicht bemerkte, und nichts ärgerte mich mehr. Was nützte es zu schmollen, wenn sie mich nicht einmal anschaute? Ich wurde immer ärgerlicher.
Schließlich erregte ich aber doch ihre Aufmerksamkeit. Sie hatte mir nämlich befohlen, ein Becken voll sauberer Taschentücher hinauszutragen und auf die Leine zu hängen. Ich hatte eigentlich nicht im Sinn, es fallen zu lassen, aber ich war so sehr damit beschäftigt, die Tür recht kräftig zuzuschlagen und die Wäscheklammern durcheinanderzurütteln, dass das Becken mir aus den Händen glitt und sämtliche Taschentücher auf die Erde fielen. Zu allem Unglück hatte es in der Nacht geregnet, sodass der Boden recht schmutzig war.
Meine Tante war sehr erbost. Ich glaube, sie hatte Lust, mich zu ohrfeigen, denn ich sah, wie sie die Hände fest ineinanderpresste. Sie sagte mir in unmissverständlichen Worten die Wahrheit über mich selber. Dann eröffnete sie mir, ich könne jetzt gehen, ich sei ja an einem arbeitsreichen Vormittag eher eine Belastung als eine Hilfe, dafür müsse ich aber eine ganze Woche lang jeden Vormittag zu Hause bleiben und helfen. So werde ich hoffentlich lernen, ein wenig liebenswürdiger und hilfsbereiter und weniger täppisch zu sein. Meine Tante hielt mir meine Selbstsucht vor und versicherte mir wieder einmal, ich werde eine ungeheure Enttäuschung für meine Mutter sein. Dann nahm sie mir das Becken voll beschmutzter Taschentücher aus der Hand und ließ mich stehen.
Ich stampfte, würgte die Tränen hinunter und marschierte erhobenen Hauptes zum Gartentor hinaus. Zwar hatte ich für eine ganze Woche meine Vormittage eingebüßt; doch jetzt blieb mir noch eine Stunde bis zum Mittagessen. Ich wollte Philipp entgegengehen.
Es war ein stiller, warmer Morgen. Der Himmel war noch immer bewölkt, und ein frischer, herber Erdgeruch erfüllte die Luft. Die Blumen hoben ihre Köpfchen wieder, die Vögel sangen voller Lebenslust. Alles war friedlich. Nur ich mit meinen hässlichen, zornigen Gedanken und meinem tränennassen Gesicht fühlte mich da irgendwie fehl am Platz. Dieses Gefühl überkam mich mit solcher Wucht, dass ich sogar anhielt, um darüber nachzudenken und mich umzuschauen. Da standen die Bäume und erfüllten ihre Aufgabe ohne Hast und Lärm. Jedes Blatt entfaltete sich in vollkommener Weise; jede Knospe öffnete sich wie durch ein Wunder. Und da war kein Widerstreben und keine nutzlose Eile, nur der Friede des richtigen Tuns. Ich hätte das damals nicht in Worte fassen können, doch jener Friede schien in mich hineinzuströmen, und einige Minuten lang dachte ich, wie vollkommen das Leben wäre, wenn ich nur lieb sein könnte.
Ich wünschte nicht oft, lieb zu sein; aber in diesem Augenblick wünschte ich es, wünschte von ganzem Herzen, brav und glücklich und brauchbar zu sein, im Einklang mit Gottes schöner Schöpfung. Ich wünschte es so sehr, dass ich meine Hände faltete und flüsterte:
»Ich will doch brav sein! Ich will nicht mehr zornig werden und selbstsüchtig sein. Oh, warum kann ich nicht brav sein?«