Cover

Monika Büchel (Hrsg.)

Freude breitet sich aus

24 Weihnachtsgeschichten – mal besinnlich, mal heiter

Impressum

© 2011 Verlag Bibellesebund, Marienheide

© 2019 der E-Book-Ausgabe

Bibellesebund Verlag, Marienheide

Alle Rechte vorbehalten

https://shop.bibellesebund.de/

 

Covergestaltung: Georg Design, Münster

ISBN 978-3-95568-357-3

 

Hinweise des Verlags

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

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Inhalt

Titel

Impressum

Der Wunschengel

Ruheort im Weihnachtschaos

Das Schenken schenken?

Küsse an Heiligabend

Wären die Hirten wie wir gewesen

Die Waschmaschinen-Weihnachtslektion

Das Problemkind

Ein Weihnachtsmann, ein Christkind und eine Handvoll Sterne

Erlebnisse an der Krippe

Die Würde der Hirten

In derselben Nacht

Spätdienst am Heiligen Abend

Ruhe wie ein weißes Tuch

Rosinas Weihnachten

Die Pflaster-Weihnachtspredigt

So eine Bescherung!

Engel singen nicht für Geld

Der Hirte Adam

Schenken – eine Kunst

Die Weihnachtsuhr

Eine Stunde Weihnachten

Christvesper ohne Carmen

Die Stadt, die Weihnachten vergaß

Ein ungewöhnliches Geschenk

Hinweise für Gruppenstunden

Der Wunschengel

von Monika Büchel

Charlotte sitzt am Küchentisch und rührt mit dem Löffel in einer Tasse Kaffee. Den braucht sie jetzt, nachdem sie an diesem 24. Dezember um die Mittagszeit nach Hause gekommen ist. Sie muss erst mal ihre Gefühle sortieren. Einerseits ist sie glücklich, anderseits …

Es war Mitte November, als sie aus der Zeitung von einer Aktion in der Vorweihnachtszeit erfuhr: Rat und Verwaltung ihres Ortes hatten beschlossen, im Rathausfoyer einen Wunschengel aufzustellen. An den hatten von karitativen Verbänden ausgesuchte Kinder aus sozial benachteiligten Familien einen Wunschzettel gehängt. Wer wollte, konnte sich nun als Wunschengel beteiligen.

Charlotte war von der Aktion sofort begeistert. Seit einem halben Jahr ist die ehemalige Krankenschwester in Rente und genießt ihre freie Zeit. Schon am nächsten Morgen machte sie sich auf den Weg zum Rathaus. Im Foyer angekommen, ergriff sie kurzerhand einen der Briefumschläge, die am „Wunschengel“ hingen. Ein klein wenig aufgeregt öffnete sie ihn und las auf einem Stück Papier: „Didl Maus Shal.“ Aha, das musste der Wunsch eines kleinen Mädchens sein, ging es ihr durch den Kopf.

Am frühen Nachmittag stattete Charlotte ihren Nachbarn in dem Vierfamilienhaus einen Besuch ab. Charlotte lebt allein und geht ab und zu gern auf ein Schwätzchen zu ihnen. Müllers sind beide über 80. Überschwänglich erzählte sie ihnen von ihrem Vorhaben. Doch die reagierten eher skeptisch als freudig darauf. „Das ist ja eine schöne Sache, aber wenn nun solche Asozialen in unser Haus kommen, das würde mir nicht gefallen!“, warf Herr Müller ein. „Nein, nein, das wird nicht passieren. Das ist alles doch ganz anonym“, versicherte Charlotte. Aber Herrn Müllers Worte brachten sie doch zum Nachdenken. Hatte er nicht recht? Musste man sich vor Menschen aus diesem Milieu nicht in Acht nehmen? Sollte sie den Wunschzettel besser wieder in den Briefumschlag stecken, vorsichtig zukleben und im Rathaus sagen, dass sie es sich anders überlegt hatte?

Aber dann machte sie sich später doch auf den Weg, um den Schal zu kaufen. Sie durchquerte den kleinen Park und bog dann in die Einkaufszeile ein. Im zweiten Warenhaus erstand sie einen rosa Diddl-Maus-Schal. Dann kaufte sie noch einige Süßigkeiten und erschien schon am nächsten Tag im Rathaus, um das liebevoll in Weihnachtspapier eingewickelte Geschenk abzugeben.

Zwei Tage vor Heiligabend ging sie wieder durch den Park. Der Schnee, der in der Nacht gefallen war, knirschte unter ihren Füßen. Da kam ihr ein kleines, zierliches Mädchen entgegen.

„Du hast aber einen schönen Diddl-Maus-Schal!“, redete Charlotte sie an.

„Der ist vom Wunschengel!“, antwortete das Mädchen.

Charlottes Herz machte einen kleinen Sprung. „Der ist sicher schön warm“, fuhr sie fort.

„Hm“, nickte das Mädchen und fragte: „Was machst du hier?“

„Ich komme öfter hierher, weil ich den Park so mag“, erklärte Charlotte. „Und warum bist du hier?“

„Mama hat gesagt, ich soll raus, weil ich sie nerve.“

„Das Mädchen hatte mich dabei unendlich traurig angeblickt“, erzählte sie Müllers Stunden später, weil sie dieses unglaubliche Glück, ihr Mädchen entdeckt zu haben, nicht für sich behalten konnte. „Stellen Sie sich vor, bei dieser Kälte hat es nur einen Pullover und eine Strickjacke darüber getragen, weil die Winterjacke schmutzig und die Waschmaschine kaputt ist.“

„Aber da haben Sie doch nicht wieder Wunschengel gespielt und sich angeboten, eine neue Waschmaschine zu kaufen, oder?“, fragte Herr Müller. Er lächelte dabei, aber sie hatte an seinem spitzen Ton bemerkt, dass ihm die Entwicklung der Beziehung ganz und gar nicht gefiel. Schon bombardierte er sie mit weiteren Fragen: „Wissen Sie eigentlich, was für ein Kind das ist? Aus welchen Verhältnissen kommt es?“

Er hat Angst, schoss es Charlotte plötzlich durch den Kopf.

Die Sätze nährten in ihr wieder Zweifel, ob sie richtig gehandelt hatte. Denn als sie das Mädchen so traurig im Park stehen sah und fieberhaft überlegte, wie sie es aufmuntern könnte, kam ihr eine Idee.

„Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“, fragte sie.

„Ist es eine schöne Geschichte?“

„O ja. Was hältst du davon, wenn wir ins Einkaufszentrum um die Ecke gehen. Da gibt es Bänke und es ist warm. Meinst du, du darfst das?“

Das Mädchen nickte.

„Übrigens, ich bin Charlotte.“

„Und ich bin Jenny!“

„Ein schöner Name! Wohnst du in der Nähe?“

„Ja, dort drüben mit meiner Mama!“ Jenny zeigte mit dem Finger auf ein großes, schmuckloses Mehrfamilienhaus, von dem an manchen Stellen der Putz abgeblättert ist.

Im Einkaufszentrum setzten sie sich auf eine leere Bank. „Erzählst du mir jetzt die Geschichte?“, fragte Jenny. „Ja, eine, die wirklich so passiert ist, also kein Märchen: Es war vor langer Zeit, da musste ein Mann mit seiner Frau verreisen. Die Frau hieß Maria und saß auf einem Esel, weil sie ein Baby bekam und nicht so lange laufen konnte. Der Mann hieß Josef und führte das Tier. Die Stadt, wohin sie gingen, hieß Bethlehem. Als sie dort ankamen, suchten sie nach einer Unterkunft. Endlich fanden sie einen kleinen Raum. Dort brachte Maria einen Jungen zur Welt, den sie Jesus nannten.“

Sie hatten alles um sich herum vergessen. Sahen nicht die Menschen, die an ihnen vorbeihasteten, hörten nicht das Stimmengewirr. Und so erzählte Charlotte Jenny, dass Jesus kein gewöhnliches Baby gewesen war, sondern Gottes Sohn, der sein wunderschönes Zuhause bei Gott verlassen hatte, um auf die Erde zu kommen. Und das deshalb, weil er die Menschen – auch Jenny – so sehr liebt. Und weil er denen helfen will, die traurig und einsam sind.

„Und deshalb feiern wir an Weihnachten seine Geburt!“, beendete Charlotte ihre Erzählung.

„Das ist eine schöne Geschichte. Kommst du morgen wieder und erzählst sie mir noch einmal?“, fragte Jenny.

„Meinst du, deine Mama ist damit einverstanden?“

„Bestimmt“, war Jennys Antwort.

So traf sie sich heute, einen Tag vor Heiligabend, wieder mit dem Mädchen an der Bank im Einkaufszentrum. Und Charlotte erzählte zum zweiten Mal die Geschichte von der Geburt von Jesus.

Sie war kaum zu Hause angekommen, als Herr Müller an der Wohnungstür klingelte. Seine Frau wollte einen Kuchen backen, weil ja morgen Weihnachten wäre, aber sie hätte vergessen, Mehl einzukaufen. Ob sie ihr vielleicht ein Päckchen ausleihen könnte?. Charlotte war klar, dass das nur ein Vorwand war, denn Herr Müller fragte dann wie nebenbei: „Haben Sie wieder Ihre kleine Freundin getroffen?“ Sie wusste sofort, wen er damit meinte. Und dann sprudelte es aus ihm heraus: Er hätte Sorge, dass demnächst liederliche Leute ums Haus herumschleichen würden. Man wüsste nie, was die im Schilde führten. Und er und seine Frau wären schon alt und könnten sich nicht wehren. Charlotte versuchte, seine Bedenken auszuräumen: „Das Mädchen ist ja erst acht Jahre alt und kennt nicht mal unsere Adresse.“ Doch Herrn Müller beruhigte das nicht.

Wieder überfielen Charlotte Zweifel, ob sie richtig handelte. Doch dann gab sie sich einen Ruck. Hatte Gott ihr nicht dieses Mädchen über den Weg geschickt?

Es ist Heiligabend. Schon am Vormittag ging Charlotte wieder zum Einkaufszentrum. Sie hatte sich mit Jenny früher verabredet, weil die Geschäfte heute um 14 Uhr schlossen. Doch Jenny saß nicht auf der Bank. Suchend blickte sich Charlotte um. Ob ihre Mutter ihr verboten hatte zu kommen? Oder hatte sie den früheren Zeitpunkt vergessen?, überlegte Charlotte.

Nachdem sie etwa 20 Minuten vergeblich gewartet hatte, verließ sie das Zentrum, überquerte die viel befahrene Hauptstraße und ging zögernd auf das Haus von Jenny zu. Ratlos stand sie vor den zwölf Klingelknöpfen. Da polterte es hinter der Tür und einige Kinder stürmten heraus.

„Wartet mal!“, rief sie ihnen nach. „Kennt einer von euch Jenny?“

„Klar, ich!“, antwortete ein Junge.

„Weißt du, wie sie mit Nachnamen heißt?“

„Nö, aber die wohnt da oben, linke Tür!“, sagte er und deutete auf den zweiten Stock.

Während Charlotte die Stufen in dem schmucklosen Treppenhaus hinaufstieg, hörte sie hinter einer Tür einen heftigen Ehestreit, hinter einer anderen das quengelige Weinen eines Kindes und von oben herunter den Singsang arabischer Musik. Etwas außer Atem erreichte sie den zweiten Stock, drückte erwartungsvoll auf den Klingelknopf und wartete gespannt.

„Geh ins Bett!“, hörte sie plötzlich eine barsche Frauenstimme hinter der Tür, bevor die sich einen Spaltbreit öffnete. Charlotte stand einer jungen Frau mit verhärmten Gesichtszügen gegenüber, die sie scharf musterte.

„Ja?“, fragte die Frau einsilbig.

Charlotte stellte sich vor. „Sind Sie die Mutter von Jenny?“

„Hat sie was angestellt?“, fragte die Angesprochene schroff.

Charlotte verneinte. „Hat Ihnen Ihre Tochter –“

„Was wollen Sie?“, unterbrach die Frau sie.

„Ich möchte Jenny einige Plätzchen von mir geben, weil doch Weihnach…!“

„Jenny ist krank!“, fiel die Frau ihr ins Wort.

„Oh, das tut mir leid. Würden Sie ihr bitte diese Tüte geben?“ Nach einigem Zögern ergriff die Frau die Tüte und schloss grußlos die Tür.

Das also war Jennys Zuhause. Mit solcher Ablehnung hatte Charlotte nicht gerechnet. Doch was hatte sie überhaupt erwartet? Schließlich wandte sie sich um und begann schweren Herzens langsam die Stufen hinunterzugehen.

„Charlotte!“, hörte sie da eine leise, heisere Stimme hinter sich. Jenny stand barfüßig und in einem Schlafanzug am Treppenabsatz, den Diddl-Maus-Schal fest um ihren Hals geschlungen.

„Jenny, geh schnell wieder rein. Du holst dir noch eine Lungenentzündung!“

„Schade, dass du mir heute nicht die Geschichte erzählen kannst. Der Jesus, der macht mich nämlich innen drin immer ganz warm“, sagte Jenny. Dann drehte sie sich um, schlich zur Wohnungstür zurück und schloss sie leise.

Während Charlotte ihren Kaffee trinkt, wünscht sie sich an diesem Weihnachtsfest nur eins: dass in Jennys Herzen das ganze Jahr über Weihnachten ist.

Ruheort im Weihnachtschaos

von Elisabeth Büchle

Heute war nicht ihr Tag! Sie hätte an diesem Morgen im Bett liegen bleiben sollen. Doch das ging ja nicht. Immerhin hatte sie ihre bettlägerige Mutter zu pflegen, und ihre drei Kinder benötigten ihre ganze Aufmerksamkeit und Fürsorge. Außerdem war heute der 23. Dezember, ein Tag vor Heiligabend, und sie musste in die Stadt.

Anne winkte der Nachbarin, die sich bereit erklärt hatte, ein paar Stunden nach ihrer Mutter zu sehen, zum Abschied zu. Dann ergriff sie mit einer Hand ihren Einkaufskorb, mit der anderen den Schlüsselbund und zog die Eingangstür auf. Fassungslos schaute sie in das wilde Schneetreiben vor dem Haus.

Vor zwei Stunden erst hatte die bleiche Wintersonne geschienen und die mit Eis überzogenen Äste der Bäume in ein wunderschönes Licht getaucht. Wo waren die Sonne und der blaue Himmel hin? Die vielen großen Schneeflocken, die von einem bitterkalten Wind durch die Luft gewirbelt wurden, verhinderten, dass sie kaum mehr als ein paar Meter weit sehen konnte.

Schnell zog Anne die Tür hinter sich zu. Mit gesenktem Kopf kämpfte sie gegen den peitschenden Wind und die dichten Schneeflocken an, bis sie auf dem Parkplatz ihr Auto fand.

Beim Ausparken rutschte der Wagen und verfehlte nur um Haaresbreite den teuren, bei diesem Wetter perfekt getarnten weißen Maserati ihres Nachbarn von schräg gegenüber.

„Gott sei Dank!“, entfuhr es ihr aus vollem Herzen.

Etwas vorsichtiger geworden, die Scheibenwischer auf höchste Stufe gestellt, fuhr sie auf der kurvenreichen Straße durch den düster wirkenden Schwarzwald bis in die nächste größere Stadt. Dort stoppte sie auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums, zerrte ihren Korb vom Beifahrersitz und eilte im Laufschritt in den Laden.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie viel zu spät dran war.

Anne eilte durch die Gänge zwischen den Regalen hindurch, lud die benötigten Lebensmittel in ihren Korb, stellte sich an einer der Kassen an, zahlte per Karte und ging zurück zu ihrem Auto.

Jetzt musste sie schnell Timmi vom Kindergarten abholen, anschließend zur Post, dann zur Schule und zurück zum Einkaufszentrum, um dort mit den Kindern eine Kleinigkeit zu essen.

Da sich Timmi beim Ankleiden mächtig Zeit ließ, kamen sie erst Punkt 12 Uhr bei der Post an. Die elektrische Glasschiebetür ließ zwar noch einen Kunden hinaus, sie aber nicht mehr hinein. Enttäuscht drehte Anne sich um und zog den widerstrebenden Timmi hinter sich her. Sie kämpfte leise schimpfend mit ihrer warmen, dicken Jacke und dem Schal, der über ihren Händen baumelte, während sie den Gurt des Kindersitzes im Fond ihres Wagens zu schließen versuchte. Gerade noch rechtzeitig fuhr sie los, ehe die Politesse, die sogar in diesem Schneetreiben unermüdlich unterwegs war, feststellen konnte, dass sie die Parkscheibe vergessen hatte.

Einer der vor Kälte zitternden Schneemänner vor dem Schulhaus entpuppte sich als ihre Tochter Tamira, die hinten einstieg. Tanias Lehrerin schien den Kindern vor Weihnachten noch vermehrtes Wissen einbläuen zu wollen, denn sie kam erst eine viertel Stunde nach Schulschluss angerannt und warf sich triumphierend, da sie vorne sitzen durfte, auf den Beifahrersitz.

Der Imbiss bei der Bäckerei verlief erstaunlich ruhig, weil die Kinder wohl ordentlich Hunger hatten. Über den großen Senffleck auf Tanias Pullover regte Anne sich nicht auf. Sie verzieh auch Timmi die bunte Collage aus Farbstiften, Ketchup und Fanta auf seinem Pullover. Immerhin hatte sie daran gedacht, für die Kinder Ersatzkleidung mitzunehmen. Timmi würde bei dem Krippenspiel am späten Nachmittag ohnehin in einem Hirtengewand stecken.

Die Post war noch geschlossen, als sie an ihr vorbei in Richtung Stadthalle fuhren. Also würde sie morgen noch einmal in die Stadt müssen, um das Paket abzuholen, für das eine Benachrichtigungskarte im Briefkasten gelegen hatte. Dabei war sie eigentlich zu Hause gewesen.

Schließlich erreichten die vier den Eingang der Stadthalle. Obwohl sie ein paar Minuten zu spät waren, standen sie vor verschlossener Tür.

Aufgeregt blickte Anne sich um. Hatte sie die Uhrzeit, zu der sie sich treffen wollten, falsch im Kopf? Oder war das Krippenspiel gar nicht hier in der Stadthalle, sondern in der Turnhalle am anderen Ende des Ortes? Immerhin nutzte der Kindergarten die hin und wieder für seine Veranstaltungen.

Nervös trat sie von einem Fuß auf den anderen, bis sich schließlich zwei weitere Mütter mit ihren Sprösslingen bei ihnen einfanden. Frierend warteten sie auf das Kindergartenteam, das endlich kam und ihnen die Tür zur nicht geheizten Halle aufschloss.

Anne atmete erst einmal tief durch. Sie waren hier, halbwegs satt und bereit, sich nun in Ruhe auf die Generalprobe und die anschließende, hoffentlich schöne und besinnliche Weihnachtsfeier vorzubereiten.

Sie versuchte ihren kleinen, jetzt sehr aufgedrehten Jungen durch das Überstreifen des Fellmantels in einen ehrfürchtigen, verantwortungsbewussten Hirten zu verwandeln und schickte ihn mit seinen Schwestern schon einmal auf die Bühne.

Anne blieb allein zurück und lehnte sich vollkommen ausgelaugt mit dem Rücken an die Wand. Sie schloss kurz die Augen. Jetzt musste sie sich nur noch in die vorderste Reihe setzen, den Proben beiwohnen, später die Kuchen- und Keksspenden entgegennehmen, das Krippenspiel genießen und dann – endlich – konnte sie nach Hause gehen.

Auf dem Weg in Richtung Bühne kam sie an einem unverschämt großen Spiegel vorbei. Erschrocken verharrte sie. Ihre Haare lockten sich – dank des nassen Schneefalls – um ihren Kopf, als hätten sie die letzten fünf Tage keine Bürste zu sehen bekommen. Sie hatte Ringe unter den Augen und ihre tolle, neue Hose hatte sich bis fast an die Knie hinauf voll Feuchtigkeit gesogen und wirkte ausgesprochen ungebügelt. Kopfschüttelnd fragte sie sich, weshalb sie an Kleidung zum Wechseln für ihre Kinder, nicht aber für sich selbst gedacht hatte.

„Entspann dich“, sagte sie zu ihrem genervt blickenden Spiegelbild. „Andere werden bei dem Wetter auch nass. Außerdem freuen sich die Kinder, wenn zu Weihnachten Schnee liegt.“ Es half nicht.

Anne fühlte sich gerädert, gestresst und hatte schon gar keine Lust mehr darauf, den ganzen Nachmittag in der kalten Halle zu verbringen.

Warm wurde es ihr allerdings schneller, als sie gedacht hatte. Während die Erzieherinnen mit bereits leicht angehobener Stimmlage die Hirten, die Schafe, den Esel und das heilige Paar mitsamt Kind um Ruhe baten, verkündete eine andere Kindergartenmutter: „Die große Gastronomie-Kaffeemaschine funktioniert nicht!“

Anne eilte mit ihr hinüber in die Großküche.

„Ist der Stecker drin?“, war Annes erste Frage.

„Halten Sie mich für bekloppt?“, lautete die deutlich unfreundliche Gegenfrage.

Einen Moment überlegte Anne, ob sie sich auf dem Absatz umdrehen und wieder gehen sollte, doch das hielt sie für unfair. Also begannen sie, Wasser in Töpfen zu erhitzen und die bereitstehenden, weihnachtlich roten Thermoskannen über die kleinen Filter herkömmlicher Maschinen zu befüllen.

Anne schwitzte, fühlte sich durch das abweisende Schweigen der anderen Frau gedemütigt und warf sich schließlich müde auf einen Zuschauersitz. Irritiert blickte sie zu dem lauten Durcheinander auf der Bühne. Zwei der Mädchen stritten sich, eine der ganz Kleinen weinte herzerweichend und die Erzieherinnen und zwei Mütter, die sich wohl in der Verantwortung sahen mitzuhelfen, hatten hochrote Köpfe und entsprechend laute Stimmen.

Nichts schien zu klappen. Einer der drei Könige war noch immer nicht erschienen. Also sollte ein Hirte zu einem König umfunktioniert werden. Die Umwandlung traf den ahnungslosen Timmi, der sichtlich nicht wusste, wie ihm geschah. Plötzlich steckte er in einer langen, blauen Robe, hatte einen Turban auf dem Kopf, der ihm unablässig ins Gesicht rutschte, und wurde mit seiner neuen Rolle vertraut gemacht. Von zwei Frauen gleichzeitig. Anne wusste, dass sie eigentlich einschreiten und ihr Kind vor diesem Chaos schützen sollte. Aber ihr fehlte die Kraft dazu.

In der vergangenen Nacht hatte ihre Mutter zweimal ihre Hilfe gebraucht und eine von einem Alptraum gequälte Tamira hatte sich um fünf Uhr früh zu ihr ins Bett gekuschelt. Anne war ausgelaugt und wollte nur noch ihre Ruhe. Gefrustet ließ sie das hektische, unschöne Treiben an sich vorüberziehen, während sie traurig die freudlosen Gesichter der jungen Akteure betrachtete.

Seit Jahren bemühte sie sich, bereits den 23. Dezember ruhiger und besinnlicher angehen zu lassen, das traditionelle Krippenspiel als schönen Einstieg für die Weihnachtszeit zu nutzen, doch dieses Vorhaben funktionierte auch in diesem Jahr nicht.

Die tagtäglichen Aufgaben wuchsen ihr über den Kopf. Zu Hause gab es noch Unmengen von Baustellen. Ihr Frustpegel stieg von Minute zu Minute. Während ihre Töchter sich links und rechts von ihr niederließen, unterdrückte sie nur mühsam Tränen der Resignation. Seit ihr Mann endlich wieder eine Arbeit gefunden hatte, war er fast ununterbrochen im Ausland unterwegs, gelegentlich sogar über mehrere Wochen. Sie wollte ihre Mutter nicht in ein Pflegeheim geben, obwohl ihre Versorgung immer anstrengender wurde. Und das Sprichwort: „Kleine Kinder, kleine Sorgen – große Kinder, große Sorgen!“ schien sich tatsächlich zu bewahrheiten.

„Ich kann nicht mehr!“, flüsterte sie halblaut vor sich hin. Doch niemand hörte es. Der Geräuschpegel im Raum war zu groß.

Während das Krippenspiel mit vielen Patzern über die Bühne ging, schien Anne in einem schrecklich schwarzen Loch zu versinken. Etwas drohte ihr Herz schmerzhaft zusammenzuschnüren. Verzweifelt kämpfte sie gegen dieses dunkle, erdrückende Gefühl der Hoffnungslosigkeit an, doch es wollte ihr nicht gelingen. All die kraftraubenden Aufgaben und nicht enden wollenden Nöte der letzten Zeit schlugen wie eine große, kalte Woge über ihr zusammen.

Mitten in dieses Durcheinander von Empfindungen kam der Auftritt des kleinen Hirten im Königsgewand. Vollkommen hilflos stand Timmi auf der Bühne. Er wusste nicht mehr, was er tun, was er sagen, wo er hingehen sollte. Plötzlich rollten große Tränen über sein Gesicht und der weise, ehrfürchtige König schluchzte mit hoher Kinderstimme ins Mikrofon: „Ich will zu meiner Mama!“