Rupert Read lehrt Philosophie an der University of East Anglia in Norwich, ist Mitglied der britischen Grünen und war mehrfach regionaler Parlamentsabgeordneter und Kandidat für das Europaparlament. Er schreibt für mehrere britische Tageszeitungen, u. a. für »The Guardian« und »The Independant«, und hat Bücher zu Wittgenstein, Kuhn, zur Filmphilosophie, zur Angewandten Philosophie sowie zum Vorsorgeprinzip in der Umwelt- und Gesundheitspolitik veröffentlicht.
Samuel Alexander lehrt Umweltökonomie an der University of Melbourne, ist Co-Direktor des Simplicity Institute und Forscher am Melbourne Sustainable Society Institute. Er zählt zu den weltweit bedeutendsten Nachhaltigkeitsforschern und hat eine Vielzahl an Büchern und Aufsätzen zur Postwachstumsökonomie, Konsumkritik und zu Perspektiven einer nachhaltigeren Gesellschaft und Demokratie publiziert.
Helena Norberg-Hodge ist Linguistin und Umweltaktivistin; für ihre Arbeit im indischen Ladakh erhielt sie 1986 den Alternativen Nobelpreis.
Gespräche über die Klimakrise und die Chance eines Neuanfangs
Mit einem Nachwort von
Helena Norberg-Hodge
Aus dem Englischen übersetzt von
Marcel Simon-Gadhof
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.
eISBN (PDF) 978-3-7873-3803-0
eISBN (ePub) 978-3-7873-3830-6
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel This civilisation is finished. Conversations on the end of Empire – and what lies beyond. © 2019 Simplicity Institute, Melbourne.
Umschlagabbildung: pxhere.com/en/photo/879643
© für die deutsche Ausgabe: Felix Meiner Verlag Hamburg 2020. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Konvertierung: Bookwire GmbH
1Der Blick in den Abgrund
2Klimachaos: ein »schwarzer« oder ein »weißer Schwan«?
3Technologische Verführungen
4Geo-Engineering und Vorsorgeprinzip
5Soll man mit Klimaleugnern diskutieren?
6Der Gott des Grünen Wachstums hat uns verlassen
7Ziviler Ungehorsam und Extinction Rebellion
8Politik und Spiritualität
9Die Lösung des Armutsproblems: »Entwicklung« oder Post-Entwicklung?
10Technologie nach dem Ende des Empire
11Das »Informationsdefizit«-Modell des Wandels
12Die Rolle von »Lehrern« in einer niedergehenden Zivilisation
13Die Krise als Chance
14Die Sterilität der Einbildungskraft
15Die existentielle Leere, die der Konsumismus nicht füllen kann
16Kultur und politische Ökonomie
17Der Neubeginn ist nah
Nachwort von Helena Norberg-Hodge
Anmerkungen
Register
Vor uns öffnet sich ein Abgrund, der alles in Frage stellt, was wir über unsere Kultur und über die Natur zu wissen glaubten. Wir müssen hineinblicken und uns auf das konzentrieren, was wir erkennen können.
Paul Kingsnorth
SAMUEL ALEXANDER: Rupert, ich möchte Sie gern zu einem rückhaltlos offenen Dialog einladen. Lassen Sie uns nicht als Wissenschaftler miteinander sprechen, die ihre Theorien verteidigen wollen, nicht als Politiker, die Wahlen gewinnen möchten oder eine politische Agenda verfolgen, und auch nicht als Aktivisten, die für ihr Anliegen kämpfen, sondern als Menschen, die so klar wie möglich ihre Situation und ihr Dasein in dieser krisenhaften historischen Lage zu verstehen versuchen.
Die allermeisten Wissenschaftler, Forscher, Aktivisten und Politiker unterwerfen ihre Arbeit und ihre Gedanken heute einer Selbstzensur, um Ansichten vertreten zu können, die sozial, politisch und auch für sie selbst angenehm sind. Natürlich gibt es manchmal Zeiten, in denen wir pragmatisch und einfühlsam sein und unsere Ideen in leicht verdaulicher Form und an das jeweilige Publikum angepasst kommunizieren müssen. Aber je mehr wir das tun, desto mehr lassen wir uns davon abhalten zu sagen, was uns wirklich durch den Kopf geht; desto weniger sind wir dazu in der Lage, unverschleiert den Stand der Dinge zu reflektieren und unverblümt zu beschreiben, was wir um uns herum zur Kenntnis nehmen. Wenn wir uns nie in einer Atmosphäre zwangloser Offenheit bewegen, kann das darauf hinauslaufen, dass wir selbst nicht mehr so genau wissen, was wir wirklich denken, und uns die Wahrheit sogar selbst vorenthalten.
Einer der ersten Grundsätze intellektueller Redlichkeit ist, sich nicht vor der Wahrheit zu verstecken, wie bedrohlich oder schwierig sie auch sein mag. Wir haben es heute aber mit Wahrheiten zu tun, von denen ich das Gefühl habe, dass viele Menschen sie lieber ignorieren, nicht weil sie sie nicht erkennen oder begreifen, sondern weil sie sie nicht erkennen oder begreifen wollen. Wahrheit ist, wie jeder Philosoph weiß, ein umstrittenes Konzept. Vielleicht ist es aber gerade angesichts des zunehmend beschworenen »postfaktischen« Zeitalters angebracht, sich wieder auf diesen nebulösen Begriff zu berufen und ihn nicht unbedingt in der Theorie, aber in der Praxis neu zu bestimmen. Ich lade Sie also – im Sinne praktizierter Aufrichtigkeit – zu einem Gespräch darüber ein, was wir wirklich denken, und zwar so weit wie möglich ungefiltert. Dies erfordert unter Umständen einige Unerschrockenheit, denn, wie Nietzsche sagt, »wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein«.1 Haben wir dazu den Mut? Werden unsere Leserinnen und Leser den Mut aufbringen, diese riskante und ungewisse Reise mit uns zu unternehmen?
Ich habe Sie natürlich nicht zufällig eingeladen. Sie gehören, so scheint es mir, zu den sehr wenigen Denkern, die sich auf den Prozess eingelassen haben, ungefiltert zu sprechen. In Ihren Vorlesungen sprechen Sie über Dinge, die die meisten Wissenschaftler nicht einmal zu denken wagen, geschweige denn laut in der Öffentlichkeit äußern würden. Ich kenne Artikel von Ihnen, in denen eine rückhaltlose Ehrlichkeit zum Ausdruck kommt, von der ich hoffe, dass sie unser Gespräch anregen, vielleicht sogar beflügeln wird. Einer dieser Beiträge, dessen Titel jetzt auch dieses Buch trägt, heißt: »Diese Zivilisation ist gescheitert«.2 Lassen Sie uns mit dieser gewagten und verstörenden Behauptung beginnen, die ohne Zweifel einiger Erläuterung bedarf. Was meinen Sie, wenn Sie diese Zivilisation für erledigt erklären?
RUPERT READ: Danke Sam. Es ist für mich ein Privileg, einen Dialog über diese entscheidende Frage mit Ihnen führen zu dürfen, aus zweierlei Gründen: einmal weil Ihre Arbeiten über Postwachstum und freiwilligen Konsumverzicht einfach die besten sind, die es gibt. Aber ich empfinde unsere Konversation auch überhaupt als wunderbaren Luxus, weil solche Gespräche möglicherweise bereits binnen einer Generation oder auch schon früher etwas sein werden, das wir uns nicht mehr leisten können.
Es ist durchaus möglich, dass wir auf unsere Zeit, auch wenn sie für zahlreiche Menschen (ganz abgesehen von den Tieren) bereits in vielerlei Hinsicht ein Albtraum ist, später als auf eine ganz außerordentlich privilegierte Epoche zurückblicken werden – sofern wir dann überhaupt noch leben. Genau jetzt sind viele Menschen wie Sie und ich auf der Suche nach Wasser und Nahrung und müssen dabei um ihr Leben fürchten. Wir haben daher die Verantwortung, etwas aus den Privilegien zu machen, die wir genießen dürfen.
Was ich gerade zum Ausdruck gebracht habe, werden manche Leserinnen und Leser als Effekthascherei betrachten. Das ist es aber nicht. Es ist einfach ein Versuch, allen gegenüber offen und ehrlich zu sein – Ihre Einladung aufzugreifen und Ihnen mit rückhaltloser Aufrichtigkeit zu begegnen. Naturschützer werden oft der Schwarzmalerei bezichtigt. Das ist meines Erachtens völlig falsch. Tatsächlich neigen fast alle Naturschützer eher zu übermäßigem, unverbesserlichem Optimismus. Man mag mir vielleicht vorwerfen, ich betriebe Angstmacherei oder Alarmismus. Ich bin kein Alarmist; ich löse den Alarm aus. Wenn sich Feuer ausbreitet – wie es gegenwärtig, während ich dies schreibe, in Großbritannien und anderen Teilen der Welt der Fall ist, einschließlich der Regenwälder, die unsere planetarische Lunge bilden –, dann tue ich das, was zu tun ist: den Alarm auslösen. Diese zentrale Unterscheidung – zwischen Alarmismus und der gerechtfertigten Auslösung des Alarms – ist exakt die Unterscheidung, die Winston Churchill in den Dreißigerjahren vornahm, unter ähnlich schwierigen (wenn auch genau genommen weniger alarmierenden) Bedingungen.
Das Gefühl der Lähmung, das viele Menschen empfinden, hängt vermutlich damit zusammen, dass sie zwischen falschen Hoffnungen feststecken: auf der einen Seite die trügerischen Verlockungen des Optimismus, die Hoffnung auf eine technologische Lösung, die die Klimakrise entschärft und dafür sorgt, dass das Leben mehr oder weniger so weitergeht wie gewohnt. Das hält uns, glaube ich, in wirklich gefährlicher Weise davon ab, uns mit der Realität des Klimageschehens auseinanderzusetzen. Auf der anderen Seite gibt es dunkle Ängste, die die meisten Menschen nicht aussprechen und mit denen sie sich auch nicht konfrontieren möchten. Meine Botschaft wirkt eher befreiend als paralysierend: Wir befreien uns von der bequemen Position ökologischer Selbstgefälligkeit – von der die meisten von uns tief in ihrem Innern wissen, dass sie auf Illusionen beruht. Wir sind dazu in der Lage, unseren Befürchtungen ins Auge zu blicken. Wir können die Dinge erkennen, die andere nicht erkennen wollen. Und sind in unseren Handlungen schließlich freier von Zwängen.
Eine der Ideen im Werk Ludwig Wittgensteins, das mich nachhaltig beeinflusst hat, ist, dass wirklich schwierige philosophische Probleme nichts mit Klugheit oder intellektuellem Handwerk zu tun haben. Wirklich schwierig ist eher, gewillt zu sein, Dinge zu erkennen oder zu verstehen, die man nicht verstehen will. Nach Jahren der Leugnung und der verzweifelten Hoffnung bin ich an einen Punkt gelangt, an dem ich das Verhängnis, das uns mit Sicherheit umgibt, nicht länger abstreiten kann.
Ich bin in den letzten Jahren zu dem Schluss gekommen, dass diese Zivilisation sich im Niedergang befindet. Sie wird nicht fortdauern. Sie kann nicht, denn sie zeigt keine Anzeichen dafür, dass sie die radikale Klimakrise – geschweige denn die umfassende ökologische Krise – als das wahrnimmt, was sie ist: als umfassenden, globalen Notstand, als existentielle Bedrohung. Diese industriell-wachstumsbasierte Zivilisation wird die Pariser Klimaziele nicht erreichen;3 und das bedeutet, dass wir es sehr wahrscheinlich mit einer Erderwärmung um mindestens drei bis vier Grad Celsius zu tun bekommen werden – und das ist nicht mit der Zivilisation vereinbar, die wir kennen.
Es steht sehr, sehr viel auf dem Spiel, denn die Klimakrise gefährdet unsere Zivilisation als Ganze. Mit ›dieser Zivilisation‹ meine ich die hegemoniale Zivilisation des globalisierten Kapitalismus – manchmal auch ›Empire‹ genannt –, die heute den weitaus größten Teil des menschlichen Lebens auf der Erde beherrscht. Nur einige indigene Völker/Gesellschaften und einige kleinbäuerliche Kulturen bewegen sich noch außerhalb (auch wenn die Integration von Tag zu Tag tiefer und umfassender wird). Selbst diese Gesellschaften und Kulturen werden vermutlich vom Empire mitgezogen, wenn es scheitert, wenn die globalen Ökosysteme zusammenbrechen, die für uns alle die Lebensgrundlage bilden. Was ich damit sagen will, ist, dass diese Zivilisation sich transformieren wird.4 Meiner Einschätzung nach liegen drei denkbare Zukunftsszenarien vor uns:
(1)Diese Zivilisation könnte gänzlich und endgültig zusammenbrechen, in Folge klimatischer Instabilität (die zum Beispiel zu katastrophalem Nahrungsmangel im Zusammenhang mit dem Kollaps führen würde) oder vielleicht rascher durch einen Nuklearkrieg, Pandemien oder einen Zusammenbruch des Finanzsystems, der einen umfassenden Niedergang des zivilgesellschaftlichen Lebens zur Folge hätte.
(2)Dieser Zivilisation (uns) gelingt es, den Keim für (eine) zukünftige Nachfolge-Zivilisation(en) zu legen, wenn sie zusammenbricht. Oder
(3)Dieser Zivilisation gelingt es irgendwie, sich auf vernünftige Weise, radikal und rasch, in unvorhergesehener Weise und rechtzeitig zu transformieren, um dem Zusammenbruch zu entgehen.5
Das dritte Szenario ist bei weitem am unwahrscheinlichsten, wenn auch das am meisten wünschenswerte, einfach weil die beiden anderen mit Leid und Tod in unvorhersehbarem Ausmaß verbunden sein werden. (1) bedeutet die Auslöschung oder Nahezu-Auslöschung der Menschheit, (2) wäre mindestens mit vielen Millionen Toten verbunden.
Die zweite Möglichkeit im Detail vorherzusehen ist sehr schwierig, sie ist aber, glaube ich inzwischen, ziemlich wahrscheinlich. Einer der Gründe, aus denen ich mit Ihnen dieses Gespräch führen wollte, Sam, ist der, dass wir darüber sprechen können, wie wir uns auf diese Entwicklung vorbereiten sollten. Bisher ist diesbezüglich kriminell wenig geschehen. Praktisch jeder in der erweiterten Umweltbewegung war bisher auf Option (3) fixiert und nicht willens, sich mit irgendetwas Geringerem zu beschäftigen. Ich habe aber das starke Gefühl, dass dieser Standpunkt nicht länger haltbar ist. Erfreulicherweise bin ich damit nicht ganz allein.6
Die erste Möglichkeit mag bald so wahrscheinlich sein wie die zweite. Das lässt kaum irgendwelche Fragen offen.7
Jedes dieser drei Szenarien bringt eine Transformation solchen Ausmaßes mit sich, dass was danach kommt nicht mehr sinnvoll als diese Zivilisation bezeichnet werden kann: Der Wandel wird von dem extremen begrifflichen und existentiellen Ausmaß sein, das Thomas Kuhn, der Philosoph des »Paradigmenwechsels«, »revolutionär« genannt hat. Auf die eine oder andere Weise ist diese Zivilisation daher am Ende. Es kann sein, dass es, über der Klippe hängend, noch eine Zeitlang so weitergeht. Aber danach wird sie sich entweder in vollständigem Chaos und in einer Katastrophe auflösen (1); oder aus ihrem sterbenden Körper etwas radikal anderes hervorbringen (2); oder sich irgendwie von der Klippe zurück in Sicherheit bringen (3). Damit dieses Wunder gelingt, bedürfte es eines solch außerordentlichen und völlig unerhörten Wandels, dass die Gesellschaft, die sich da in Sicherheit brächte, nicht mehr im eigentlichen Sinne diese Zivilisation wäre.8
Das ist in Kürze, was ich meine, wenn ich davon spreche, dass diese Zivilisation am Ende ist.
ALEXANDER: Die Rede von einem »Schwarzer-Schwan-Ereignis« wurde von Nassim Taleb in den kulturtheoretischen Begriffsvorrat eingeführt, um damit völlig unerwartete und höchst unwahrscheinliche Ereignisse zu bezeichnen, die tiefgreifende Konsequenzen nach sich ziehen. Etwas, das zum Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen, führt, wäre vermutlich etwas Unerwartetes – ein schwarzer Schwan –, denn sonst hätte man dagegen etwas unternommen. Vermutlich. Sie bezeichnen hingegen den gefährlichen, menschengemachten Klimawandel als einen »weißen Schwan« – worauf wollen Sie hinaus?
READ: Ein Großteil meiner Arbeit in den vergangenen Jahren betraf die Bedeutung sogenannter »determinativer« Ereignisse, die zuerst für unwahrscheinlich gehalten werden, dann aber eine jahrzehntelange Normalität oder den Gang des normalen »Fortschritts« mit einem Schlag außer Kraft setzen. Nehmen Sie zum Beispiel den Fall der Gentechnik; meine Arbeit bewegt sich hier in Übereinstimmung mit Nassim Taleb.9 Wir argumentieren, dass rein aus Vorsicht starke Argumente gegen den Umgang mit gentechnisch veränderten Organismen sprechen (selbst wenn diese Argumente nicht evidenzbasiert sind), einfach weil Genmanipulationen das Risiko einer Katastrophe mit sich bringen, wenn etwas schiefgeht.
Der Fall des Klimas unterscheidet sich jedoch in grundlegender Weise von dem der Gentechnik. Denn es liegt jenseits allen vernünftigen Zweifels, dass jede Form des Weiter-so uns auf den Weg in die Klimakatastrophe führt.10 Die Erkenntnisse der Klimawissenschaften sind so zwingend wie die Erkenntnis, dass Tabak krebserregend ist,11 und deshalb können wir nicht so tun, als wüssten wir nicht, dass es Irrsinn ist, einfach so weiterzumachen wie bisher.
Der sich immer mehr verschlimmernde menschengemachte Klimawandel (sich immer mehr verschlimmernd, wenn es nicht zu einem Systemwechsel kommt, zu einer radikalen und schnellen Einstellungsänderung gegenüber unserem lebendigen Planeten) ist daher eigentlich kein »Schwarzer-Schwan-Ereignis«. Er ist ein weißer Schwan: ein erwartbares Ereignis. Es handelt sich ganz einfach um das, was jeder, der über elementare Einsicht in die Situation verfügt, erwarten sollte. Tragischerweise bedeutet das: Wenn wir nicht etwas Außergewöhnliches tun, sieht die uns vorgegebene Zukunftserwartung aus wie (1) oder im besten Fall wie (2) aus meiner obigen Liste.
Es gibt sicherlich einige bedeutsame graugesprenkelte Federn in dem ansonsten weißen Federkleid. Wir kennen die genaue »Klimasensitivität« des Systems Erde nicht,12 und wir kennen auch nicht die Wirkung aller Rückkopplungseffekte, noch wie stark sich die meisten auswirken werden. Wir wissen nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt.
Entscheidend ist, dass diese Ungewissheiten, richtig verstanden, das Plädoyer für radikal vorbeugendes Handeln zum Klimaschutz eher unterstreichen,13 denn die Ungewissheit versperrt uns beide Wege: Es kann sein, dass das Problem, vor dem man sich geängstigt hat, am Ende doch handhabbarer ausfällt als gedacht; oder es stellt sich als noch schlimmer heraus als erwartet.
Es besteht also eine Asymmetrie, denn wenn in einem Worst-case-Szenario für eine potentiell ruinöse Entwicklung der schlimmste Fall einzutreten droht, muss man sich umso eher dagegen wappnen. Die Möglichkeit, dass die Sache handhabbar bleibt oder sich sogar zum Vorteil entwickelt (etwa wenn der menschengemachte Klimawandel dazu führt, dass man den weltbesten Champagner zukünftig in Großbritannien herstellen kann), wird stets von der Möglichkeit eines deutlich katastrophaleren Szenarios überwogen (etwa mit der fernen, aber nicht ausgeschlossenen Möglichkeit, dass wir bei gleichbleibendem Temperaturanstieg unkontrollierbare Rückkopplungseffekte auslösen – zum Beispiel durch massive Methanemissionen –, die zur Auslöschung praktisch allen Lebens auf der Erde führen. Die unendlich schlechte Kehrseite einer Sache kann nicht durch ihre Vorteile aufgewogen werden, wie gut diese auch immer sein mögen.
Selbst die grauen Federn im Federkleid des Schwans ändern an der Situation also nichts – außer dass sie unterstreichen, dass wir uns nicht nur einer möglichen Katastrophe gegenübersehen, sondern dass diese möglicherweise schlimmer ausfallen kann, als unsere Modelle es vorhersagen.14 Es liegt jenseits vernünftig begründbaren Zweifels, dass wir uns auf eine Klippe zubewegen, vielleicht eine mit einer tieferen Sturzkante, als es die besten wissenschaftlichen Prognosen gegenwärtig angeben. Wir müssen dringend das Tempo drosseln. Aber es gibt wenige Anzeichen dafür, dass wir das tun werden.
Der desaströse Klimawandel ist ein Weißer Schwan, und selbst einzelne graue oder schwarze Federn machen nur umso deutlicher, wie stark wir der Katastrophe ausgesetzt sind.15 Sprich, wir befinden uns in einer langanhaltenden Notlage, die möglicherweise zu einer permanenten Notlage werden wird. Es fühlt sich nur nicht ständig so an, weil der Weiße Schwan nicht dauernd vor unseren Augen mit den Flügeln schlägt – trotz zunehmend extremerer Wetterereignisse, deren dramatischen Weckruf glücklicherweise immer mehr Menschen vernehmen.
In gewissem Maße leugnen wir also praktisch den Klimawandel. Wir werden von dem Glanz geblendet, der von dieser Zivilisation zwanghaft ausgeht. Eben aus diesem Grund unterhalten wir beide uns hier gerade: um herauszufinden, ob es noch möglich ist, die Scheuklappen abzulegen. Und um abzuschätzen, was wir hoffen dürfen und wofür zu arbeiten es sich nach wie vor lohnt, falls es uns nicht gelingt, einen beispiellosen zivilisatorischen Transformationsprozess auf den Weg zu bringen.
ALEXANDER: Ich habe das Gefühl, dass einer der Hauptgründe dafür, dass die Leute für die von Ihnen beschriebene Situation blind sind, in einer tief verwurzelten Technologiegläubigkeit liegt. Ich bezeichne diesen Glauben als »Techno-Optimismus«, der grob als das Vertrauen definiert werden kann, dass Wissenschaft und Technologie schon die wesentlichen sozialen und ökologischen Probleme unserer Zeit lösen werden, ohne dass es dazu eines grundsätzlichen Umdenkens hinsichtlich der Struktur oder der Ziele unserer wachstumsbasierten Volkswirtschaften oder hinsichtlich der Art unseres wohlhabenden westlichen Lebensstils bedarf.