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Über Baptiste Morizot

Autorenfoto © Caroline Chevalier

BAPTISTE MORIZOT, geb. 1983, ist Schriftsteller und lehrt Philosophie an der Universität Aix-Marseille. 2016 erschien sein Buch Les diplomates. Cohabiter avec les loups sur une autre carte du vivant über das Verhältnis von Wolf und Mensch.

Über dieses Buch

»Um den Wolf zu finden, muss man in sich nach Fragen suchen, die man mit dem Wolf gemeinsam hat.«

Für moderne Menschen ist die Natur etwas, das man ausbeutet oder das Erholung bietet, aber kein Ort, an dem man wohnt und sich selbstverständlich bewegt. Baptiste Morizot lädt dazu ein, sich in die Perspektive wilder Tiere hineinzudenken und sensibler zu werden für die Welt, die uns umgibt. Seine Streifzüge führen ihn durch die Heimat der Wölfe, der Leoparden und der Bären, doch auch den Stadtvögeln lassen sich Geheimnisse entlocken.

Die Wildnis ist überall. Wer ausgetretene Pfade verlässt und in die Natur eintaucht, wird verändert von seinem Abenteuer zurückkehren – als Grenzgänger zwischen zwei Welten.

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

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Enthält das E-Book in eckigen Klammern beigefügte Seitenzählungen, so verweisen diese auf die Printausgabe des Werkes.

Endnoten

Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur, übers. von Eva Moldenhauer, Berlin 2011.

Ebd., S. 423–26.

Gilles Havard, Histoire des coureurs de bois, Amérique du Nord 16001840, Paris 2016.

Walt Whitman, »Gesang von der freien Straße«, in: Ders., Grashalme, übers. von Johannes Schlaf, S. 146.

Emanuele Coccia hat Imponierendes über dieses Phänomen geschrieben – vgl. Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen, übers. von Elsbeth Ranke, München 2018.

Claude Lévi-Strauss / Didier Eribon, Das Nahe und das Ferne: eine Autobiographie in Gesprächen, übers. von Hans-Horst Henschen, Frankfurt a. M. 1996, S. 201.

Whitman, »Gesang von der freien Straße«, S. 143.

René Char, Hypnos. Aufzeichnungen aus dem Maquis (19431944), übers. von Paul Celan; Frankfurt a. M. 1990, S. 85.

Adolf Portmann, Die Tiergestalt. Studien über die Bedeutung der tierischen Erscheinung, Basel 1948, S. 233 ff.

Jean-Marc Moriceau / Philippe Madeline (Hrsg.), Repenser le sauvage grâce au retour du loup. Les sciences humaines interpellées, Caen 2010, S. 117.

Aldo Leopold, A Sand County Almanach, Oxford 1949.

Konrad Lorenz, Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte des menschlichen Erkennens, München 1973.

Edward O. Wilson, Biophilia, Cambridge, MA, 1984.

»Smokey the Bear Sutra« (1969) ist ein Gedicht des amerikanischen Autors Gary Snyder.

Zu den Beziehungen der primitiven Völker zu den Tieren als diplomatische Beziehungen s. Edward O. Wilson (Hrsg.), The Biophilia Hypothesis, Washington, DC, 1993.

Ein Kampf zwischen Tier und Tier, werden manche sagen. Aber es wäre falsch, die tierischen Interaktionen nur mit der physischen Aggression zusammenzubringen: Diplomatische Beziehungen sind den Tieren nicht weniger eigen als mit gefletschten und zubeißenden Zähnen ausgetragene Konflikte, denn der ritualisierte Dialog ist nicht weniger geläufig als die physische Konfrontation in den ökologischen Beziehungen zwischen animalischen Rivalen und Fressgenossen.

Cristina Eisenberg, The Carnivore Way. Coexisting with and Conserving North America’s Predators, Washington, DC, 2014, S. 99.

David Quammen, Monster of God. The Man-Eating Predator in the Jungles of History and the Mind, New York 2004.

Val Plumwood, »Human Vulnerability and the Experience of Being Prey«, in: Quadrant 39 (1995), H. 314, S. 2934.

Ebd., S. 31.

Tatsächlich kommt alle Energie, welche die Lebewesen der Erde versorgt, aus der Sonne – durch Photosynthese (nur auf eine bestimmte, seltene Bakterienart in den Tiefen der Ozeane trifft dies nicht zu: die Chemotrophen, die die Oxydation chemischer Verbindungen als initiale Energiequelle nutzen).

Nähere Informationen zum sibirischen Schamanismus sind nachzulesen bei Roberte Hamayon, La chasse à l’âme. Esquisse d’une théorie du chamanisme sibérien, Paris 1990. Zur generellen Betrachtung des Kosmos vgl. auch Eduardo Viveiros de Castro, From the Enemy’s Point of View, Humanity and Divinity in Amazonian Society, Chicago 1992.

Val Plumwood, »Human Vulnerability«.

Ebd., S. 34.

Paul Shepard, Nature and Madness, Athens, GA, 1988, S. 52.

Omar Khayyām, Rubayat, pers., 11. od. 12. Jh., hier zit. n. d. frz. Ausg. (Paris 1994, Vierzeiler Nr. 71).

Charles Darwin, Notebooks 18361844, Cambridge 2009, S. 524.

Paul Shepard verdanken wir die Idee des intuitiven Wirkens der animalischen Anzestralitäten in uns und ihrer intuitiven Erfassbarkeit. Er führt sein Konzept u. a. aus in The Only World We've Got; s. besonders das Kapitel »The Eye«.

Augustinus zit. n. ders., Gesamtausgabe, Würzburg 19491975, hier Bd. VIII: Die Geduld, hrsg. u. erl. v. Josef Martin.

Im Katmai-Nationalpark in Alaska stehen Kameras, die kontinuierlich bestimmte besonders aussagekräftige Stellen seiner Wildnis filmen. Im Sommer kann man am Monitor seines Computers live und tagelang Bilder aus dem Park verfolgen, die ohne Kommentar, ohne Montage und ohne Inszenierung zeigen, wie Grizzlys in einem Wildwasser Lachse fangen. www.explore.org/live-cams.

»Exaptation« ist ein jüngerer Begriff der Evolutionstheorie; er bezeichnet ursprünglich nicht vorgesehene Zweckzuweisungen. Anfangs weist die Selektion einem bestimmten biologischen Zug eine bestimmte Funktion oder Verwendung zu; dann aber, sozusagen in einem zweiten Durchgang, gibt es eine Abwandlung: Der Zug erhält eine neue Funktion, einen neuen Gebrauchszweck. So wurden etwa die Federn der Dinosaurier, der Urahnen der Vögel, zunächst nicht deshalb selektiert, weil sie das Fliegen erlaubten, sondern sie weil sie zur Thermoregulation oder zur Zierde dienten. Erst nach dem besagten zweiten Durchgang zeigte sich, dass sie die Entwicklung des Fliegens erleichterten. Vgl. Stephen Jay Gould / Elisabeth Vrba, »Exaption – a missing term in the science of Form«, in: Paleobiology 8 (1982), H. 1, S. 415.

Eduardo Viveiros de Castro, The Relative Native, Chicago 2016, S. 243.

Davi Kopenawa / Bruce Albert, La chute du ciel, Paris 2010.

Georges Leroy, Lettres sur les animaux, erstmals 1768, Wiederauflage Oxford 1994; hier: Brief II, S. 24.

Louis Liebenberg, The Art of Tracking. The Origin of Science, Claremont 1990, S. 38.

Eduardo Viveiros de Castro, Métaphysiques cannibales, Paris 2009, S. 20.

Michel de Montaigne, Essais, erstmals 15801588, hier zit. n. d. Ausg. Paris 2017, Buch I, Kap. 39.

Vgl. Michael Rosenzweig: Win-Win Ecology. How the Earth’s Species Can Survive in the Midst of Human Enterprise, Oxford 2002, S. 5: »Wir können lernen, wie wir unsere eigene Nutzung der Erde mit jener zahlreicher anderer Arten in Einklang bringen. Vielleicht sogar mit jener der meisten von ihnen. Wenn sie Zugang gewährt bekommen zu unseren Feldern, unseren Stadtparks, unseren Schulhöfen, unseren Militärbasen, und ja, sogar zu unseren Privatgärten, dann haben sie eine Chance. Wenn sie leben, wo wir leben, haben sie, was wir haben. Wir wären so imstande, die Risiken der Auslöschung zu minimieren.«

Anna Lowenhaupt Tsing, Le Champignon de la fin du monde. Sur la possibilité de vivre dans les ruines du capitalisme, Paris 2015.

Monserrat Suárez-Rodríguez / Isabel López-Rull / Constantino Macías Garcia, »Incorporation of Cigarette Butts into Nests Reduces Nest Ectoparasite Load in Urban Birds: New Ingredients for an Old Recipe?«, in: Biology Letters 9 (2013), H. 1.

Roberte Hamayon, La chasse à l’âme, S. 373.

Partition rouge. Chants et poèmes indiens, übers. von Florence Delay und Jacques Roubaud, Paris 1988, S. 194.

Diese Heilmittel synthetisch herzustellen, gelang der pharmazeutischen Industrie erst im 20. Jahrhundert. So war es etwa beim Aspirin – sein Hauptwirkstoff wurde inspiriert von einer Substanz, die in der Weidenrinde und in den Pappelknospen vorkommt: dem Salicin, das zu Salicylsäure wird, sobald die Leber es metabolisiert hat.

Blaise Pascal: Pensées, erstmals 1670, hier zit. n. d. Ausg. Paris (Le Livre de Poche) 2000, S. 58.

Hierzu sehenswert: eine Episode aus der hervorragenden BBC-Doku- Serie The Life of Mammals (2002/2003); es gibt zehn Folgen; als Kommentator und Präsentator fungiert David Attenborough. Die Sendungen sind im Internet abrufbar: https://www.youtube.com/watch?v=826HMLoiE_o.

Louis Liebenberg, The Art of Tracking, S. 119.

Ebd., S. 83.

Ebd., S. 57.

Aus einem persönlichen Gespräch.

Zusätzlich gilt zu vermerken, dass es auch noch das random tracking gibt, das »Spurensuchen aufs Geratewohl«. Dieses findet statt, wenn keinerlei Indiz zu sehen ist. Laut Liebenberg benutzen die Nomaden für ihre Wahrsagemethode Lederscheiben. Es wäre nicht völlig absurd zu glauben, dass dem Schamanismus hier eine gewisse Notwendigkeit zukommt, wenn man das Aleatorische meistern, Wege in die absolute Ungewissheit hineinzeichnen will. Man konsultiert die Scheiben, um zu erfahren, in welche Richtung man gehen soll, denn noch hat man ja gar keine Information. Zwei Hypothesen Liebenbergs: Entweder die Scheiben werden im Lichte dessen betrachtet, was sie über die Bewegungen des Wildes wissen. Oder aber sie werden benutzt, um die Jagdrouten aleatorisch abwechslungsreicher zu gestalten – eine Reaktion auf die Fähigkeiten des Wildes, die eigenen Gewohnheiten zu ändern, wenn sie ein bestimmtes, wiederholtes Standardhandeln bei ihren Verfolgern bemerken. Letztere wollen so womöglich eine profitable Innovation und eine segensreiche Unvorhersehbarkeit bewirken. Vgl. Liebenberg, The Art of Tracking, S. 120.

Ebd., S. 112.

Für Pierce »bedeutet Induktion vor allem die Prüfung von Hypothesen, einerlei, ob sie sich am Ende bestätigt oder widerlegt finden«, präzisiert Claudine Tiercelin, die Pierces in drei Schritten vorgehende wissenschaftliche Methode detailliert behandelt. Vgl. Claudine Tiercelin, Charles S. Pierce et le pragmatisme, Paris 1993, S. 9598.

Vgl. Ian Hacking, Was heißt »soziale Konstruktion«? Zur Konjunktur einer Kampfvokabel in den Wissenschaften, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 1999.

Liebenberg, The Art of Tracking, S. 60.

Liebenberg, The Art of Tracking, S. 39.

Der Historiker Carlo Ginzburg äußert sich ähnlich zu diesem Komplex in Mythes, emblèmes, traces, Paris 1989. Auch er meint, dass das Lesen von Indizien den Ursprung der kognitiven Kapazität bildet, deren Leistung darin besteht, dass sie durch experimentell erfasste, scheinbar unbedeutende Tatsachen zu einer komplexen Realität gelangt, die nicht unmittelbar erfahrbar ist. Laut Ginzburg handelt es sich dabei um die älteste Aktion der geistigen Geschichte des Menschengeschlechts, die Aktion des prähistorischen Jägers. Während Jahrtausenden hat der Mensch durch seine Jagdtätigkeiten gelernt, ausgehend von Abdrücken im Schlamm oder aufgrund von Losungen die Gestalten und die Bewegungen der unsichtbaren Beutetiere zu rekonstruieren. »Er hat gelernt, in der Dichte eines Gestrüpps oder in einer Lichtung, wo ebenfalls jede Menge Bedrohnisse lauern, mit Blitzgeschwindigkeit komplexe mentale Operationen durchzuführen« (Ginzburg, Mythes, S. 148). Das Spurenlesen wäre, so betrachtet, die Quelle der Semiotik: ein Verhalten, das sich der Analyse eines einzelnen Falles zuwendet, den man nicht anders rekonstruieren kann als über Spuren, Symptome, Indizien. Ginzburg geht noch weiter: das Spurenlesen steht, postuliert er, am Ursprung des indiziären Paradigmas, das eine große Bandbreite der modernen Wissenschaften charakterisiert: die Medizin, die Jurisprudenz, die Geschichte, die Paläontologie … nicht zu vergessen die kriminalistische Ermittlung.

Stephen Jay Gould, La structure de la théorie de l’évolution, Paris 2006, S. 1766.

Temple Grandin, Ich sehe die Welt wie ein frohes Tier: Eine Autistin entdeckt die Sprache der Tiere, übers. von Christiane Burkhardt, Berlin 2005, S. 106.

Ebd., S. 106.

Ebd.

Ebd., S. 107. Während der Jagd und auch während der Tötung sind dennoch die für Wut und Zorn zuständigen neuronalen Schaltstellen, anders als bei der intraspezifischen Aggressivität und bei der Selbstverteidigung, nicht aktiviert. Das Raubtier ist »dabei immer ganz leise«, schreibt Grandin, ebd., S. 153. Man sieht, wie wenig moralische Bewertungen der Wirklichkeit der Prädation gerecht werden. Das Entscheidende ist nicht die Jagd mit ihrem bellizistischen und testosterondurchwaberten Imaginarium, die Jagd, in deren Mittelpunkt die Tötung steht, sondern das Spüren als quête, als Forschen, als Erweckung der Sinne und des Gehirntieres.

Ebd., S. 107.

Wir finden hier, ins Biomorphe umgesetzt, eine begriffliche Nuancierung, die Gilles Deleuze vorgeschlagen hat: die Unterscheidung zwischen Vergnügen (plaisir) und Lust (désir). Irrigerweise wird häufig dem Vergnügen der Effekt einer Intensivierung der Existenz zugeschrieben; das Vergnügen ist punktuell: Es befriedigt kurz und schläft wieder ein. Das Dopamin ist eher das chemische Indiz der Lust; sie schenkt die belebenden Freuden und die Intensivierung der Existenz, die der Hedonismus im Vergnügen zu finden glaubt. Aufgrund dieser Verwechslung, hinter die man erst einmal kommen muss, scheitert er daran.

Edward O. Wilson, Biophilie, S. 132.

Mihály Csíkszentmihály, Flow. The Psychology of Optimal Experience, New York 1990.

René Char, Hypnos, S. 77.

Paul Shepard, Coming Home to the Pleistocene, Washington 1998.

»Es schien uns, dass der sozio-historische Kontext zur Genealogie der Idee der Wahrheit beitrug. Im Aktionsfeld einer Institution, die unsere Untersuchungen zu den Pythagoräern ausführlich analysieren konnten, haben wir die Merkzeichen eines Prozesses der Laisierung des Wortes offengelegt. Die wichtigsten erkannten wir in der militärischen Versammlung, die das gleiche Recht auf Rede all denen zugestand, die zum Kreise der Krieger gehörten; so wurden dort die öffentlichen Angelegenheiten diskutiert. Als die hoplitische Reform, erzwungen durch einen neuen Typus der Bewaffnung und neue Kampftaktiken, etwa 650 vor unserer Zeitrechnung die Sitten und Gebräuche der Städte verändert, als diese Reform das Aufkommen der Bürgersoldaten begünstigt, die ›gleich und einander ähnlich‹ sein sollen, gewinnt die Dialog-Rede, die profane Rede, die auf andere einwirkt, die Rede, die zu überzeugen sucht – diese Art Rede gewinnt an Boden und drängt nach und nach die zweckgebundene Rede alten Typs und die Rede als Trägerin der Wahrheit in den Hintergrund; sie erscheinen jetzt antiquiert. Durch ihre neue Funktion, die fundamental politisch ist, besonders dank ihres Einsatzes in der Agora, wird der logos, also Rede und Sprache, ein autonomes Objekt, seinen eigenen Gesetzen unterworfen.« So schreibt Marcel Detienne in seiner Abhandlung: Maîtres de vérité dans la Grèce archaïque, Paris 2006, Kap. »Retour sur la bouche de vérité« (›Rückkehr zum Mund der Wahrheit‹), S. 8 ff.

Jean-Christophe Bailly, Le parti pris des animaux, Paris 2013.

Die Idee, sich die Beziehungen zu den anderen Lebewesen im inchoativen Sinne zu denken, hat Baptiste Morizot in einem von Pierre Charbonnier und Bruno Latour geführten Interview formuliert: »Redécouvrir la terre«, in: Tracés. Revue de sciences humaines 33 (2017), http://journals.openedition.org/traces/7071.

Ein sehr schönes Beispiel für diese Intimität ohne Nähe findet sich in einem Artikel von Jacob Metcalf, der darin über Mensch-Grizzly-Begegnungen schreibt: »Intimacy without Proximity: Encountering Grizzlies as a Companion Species«, in: Environmental Philosophy 5 (2008), H. 2.

S. das oben bereits zitierte, von Pierre Charbonnier und Bruno Latour geführte Interview.

Vgl. zu diesem Thema, auf das die Arbeit Baptiste Morizots sozusagen gleichzeitig spekulativ und pragmatisch reagiert, den sehr schönen Vorschlag von Bruno Latour, geäußert in seinem Artikel: »Où atterrir? Comment s’orienter en politique«, in: Cahiers libres, Paris 2017.

Akira Mizubayashi, Mélodie, chronique d’une passion, Paris 2013.

Baptiste Morizot, Les Diplomates. Cohabiter avec les loups sur une autre carte du vivant, Marseille 2016, S. 149.

Sich einwalden

»Wo gehen wir morgen hin?«

»In die Natur

Für meinen Freundeskreis und mich war diese Antwort lange Zeit selbstverständlich, weder heikel noch problematisch; wir hinterfragten sie nicht. Dann aber kam der Anthropologe Philippe Descola mit seinem Buch Jenseits von Natur und Kultur1 und lehrte uns, dass die Idee von der Natur ein seltsamer Glaube des Abendlandes sei. Es handle sich um einen Fetisch unserer Zivilisation, die ein schwieriges, konfliktreiches und zerstörerisches Verhältnis zu der Welt des Lebendigen habe, die sie »Natur« nenne.

Daraufhin konnten wir, wenn wir unsere Ausflüge organisierten, schlecht weiterhin zueinander sagen: »Morgen gehen wir in die Natur«. Uns fehlten die Worte, wir waren stumm und konnten die simpelsten Dinge nicht mehr ausdrücken. Das banale Problem, gemeinsam festzulegen, wo wir morgen hingehen wollten, führte zu einem philosophisch verunsicherten Gestammel: Wie sollte man denn künftig sagen, dass man ins Freie gehen will? Wie lässt sich benennen, wo man sich hinbegibt, wenn man mit Freunden, mit der Familie oder allein »in die Natur« aufbricht?

Das Wort »Natur« ist keineswegs unschuldig; es ist das Markenzeichen einer Zivilisation, die alles daransetzt, Territorien massiv auszubeuten, als seien sie unbelebte Materie. Allenfalls kleine Teilflächen werden für besondere Zwecke geschützt, etwa für Erholung, Sport oder geistige Regeneration – und all dies offenbart, dass unsere Einstellung zur Welt des Lebendigen armseliger ist, als wir uns bewusst machen. Unsere Weltauffassung nennt Descola »Naturalismus«: Damit meint er jene westliche Kosmologie, der zufolge es auf

Descola macht uns bewusst, dass jeder, der von »Natur« spricht und das Wort somit gebraucht bzw. auf den Fetisch verweist, schon eine seltsame Form von Gewalt gegenüber diesen lebendigen Territorien anwendet. Dabei bilden sie doch unsere Existenzgrundlage, diese unzähligen Lebensformen, die mit uns die Erde bewohnen und die wir bald als Ressourcen, bald als Schädlinge, bald als uninteressantes Objekt und bald als hübsches Exemplar einstufen, dem wir mit dem Fernglas nachspähen; sie verdienen Besseres. Es hat schon seine Berechtigung, wenn Descola den Naturalismus als die »unfreundlichste« Kosmologie bezeichnet.2 Weder einem Individuum noch einer Zivilisation aber tut es auf Dauer gut, in der unfreundlichsten aller Kosmologien zu leben.

In seinem Buch Histoire des coureurs de bois (›Geschichte der Waldläufer‹, 2016) schreibt Gilles Havard, dass das amerindianische Volk der Algonquin spontan »soziale Beziehungen zum Wald« aufnehme.3 Eine merkwürdige Vorstellung, die uns vielleicht schockiert – und doch soll dieses Buch genau in die Richtung führen: Dieser Spur wollen wir folgen. Auf Umwegen, bei der philosophischen Spurensuche, anhand von Berichten darüber, wie man sich eine neue Empfänglichkeit gegenüber der lebendigen Welt aneignet, wollen wir uns dieser Vorstellung nähern. Warum versuchen wir nicht, eine freundlichere Kosmologie zu entwerfen, und zwar durch unsere Praktiken? Oder mehr noch, indem wir Praktiken, Sensibilität und Ideen zusammenbringen? Denn Ideen allein werden unser Leben wohl nicht so leicht ändern.

Doch bevor wir unseren Kompass in die Hand nehmen und diesem Kurs folgen, sollten wir zunächst ein anderes Wort dafür finden, »wohin wir morgen gehen«, und auch dafür, wo wir morgen wohnen

 

Seit einigen Jahren drängt sich uns – einem Kreis von Freunden, der gern Expeditionen in die »Natur« unternimmt – ebendiese Frage auf. Wollten wir uns für unsere Unternehmungen verabreden, konnten wir nun nicht mehr sagen: Wir gehen »in die Natur«. Wir mussten neue Worte finden, um mit unseren sprachlichen Gewohnheiten zu brechen, Worte, die von innen her die Nähte der Kosmologie sprengen, in der wir leben. Diese Weltsicht verleitet uns dazu, unsere Umwelt wie ein großzügiges Energiereservoir oder einen Ort zur Regeneration unserer persönlichen Kräfte auszunutzen, und sie erzeugt eine Distanz zwischen uns und jenen lebendigen Territorien, die sich doch in Wahrheit unter unseren Füßen befinden und uns eine Grundlage geben.

 

Der erste Einfall, wie wir das Unterfangen neu benennen und auf andere Art sagen könnten, »wo wir morgen hingehen«, hieß: »nach draußen«. Morgen gehen wir nach draußen. »Essen und schlafen mit der Erde«, wie Walt Whitman sagt.4 Es war eine provisorische Lösung, aber wenigstens ließ sich so die alte Gewohnheit umgehen. Und die Unzufriedenheit mit der neuen Formulierung drängte uns, schnell eine andere zu finden.

 

Die Formel, die sich unserer Freundesgruppe als Nächstes aufdrängte, klang seltsam – kein Wunder bei der Eigenartigkeit unseres Zeitvertreibs. Sie lautete: »in den Busch«. Morgen gehen wir in den Busch. Dorthin also, wo es keine markierten Wanderwege gibt. Dorthin, wo wir, wenn es sie doch gibt, uns nicht nach ihren Vorgaben richten müssen. Denn wir wollen auf Spurensuche gehen (wir sind Sonntagsspurenleser). Darum durchstreifen wir das Unterholz, folgen den Pfaden der Wildschweine oder den Wildwechseln der Rehe; die Wege der Menschen interessieren uns nur, wenn sie die Fleischfresser dazu einladen, ihre Reviere dort zu markieren (Füchse, Wölfe, Luchse, Marder u. a.). Viele Tiere schätzen Menschenwege und nutzen sie auf ihre Weise: Ihre Markierungen – für sie Wappen und Fahnen – sind darauf besser sichtbar.

Spurenlesen heißt für uns, Fährten und Abdrücke zu entziffern,

In den Busch gehen ist nicht dasselbe wie in die Natur gehen: Wir nehmen uns in der Landschaft als Ziel weder einen Gipfel vor, der zu bezwingen wäre, noch eine malerische Aussicht, die die Augen erfreuen soll, sondern uns interessiert der Grat, der uns den Durchgang des Wolfs meldet, die Flussau, in der bestimmt ein Hirsch gewesen ist, der Tannenwald, in dem man an einem Stamm die Krallenspuren des Luchses findet, das Blaubeerfeld, in dem man den Bären antrifft, der felsige Steilhang, an dem die weiße Losung des Adlers die Nähe seines Horstes verrät …

Bevor man losgeht, versucht man auf Karten und im Internet zu orten, was man erkunden will: den Waldstreifen, über den der Luchs möglicherweise die beiden Felsmassive erreicht, auf denen er sich am liebsten aufhält; die Steilküste, an der möglicherweise Wanderfalken nisten; den Bergpass, den sowohl Menschen als auch Wölfe benutzen, die einen bei Tag, die anderen bei Nacht.

Spaziergänge locken uns nicht mehr, auch nicht die Wegmarkierungen für Wanderer. Nach einer Weile sind wir, wenn wir zufällig welche sehen, eher erstaunt darüber, dass es so etwas gibt; ihre Zeichensprache ist uns nicht mehr recht geläufig. Wir werden langsam, wir fressen keine Kilometer mehr, sondern gehen im Kreis, um Spuren zu finden. Manchmal brauchen wir eine Stunde für 200 Meter. So war es jedenfalls, als wir einem Elch in Ontario nachgingen, der

 

Es geht uns selbstverständlich nicht darum, ein neues Wort für »Natur« zu finden, das allen einleuchtet und alle künftig verwenden sollen. Wir wollten lediglich vielfältige und komplementäre Alternativen entwickeln, wie man unsere alleralltäglichsten Beziehungen zum Lebendigen anders benennen und leben könnte.

 

Die dritte Formulierung, die »in die Natur« ersetzen könnte, begegnete mir eines Morgens, als ich ein Gedicht las. Es handelt sich um eine Wendung, die nur noch wenig gebraucht wird, obwohl sie einen mächtigen Zauber birgt. Sie lautet au grand air (wörtlich: ›an die große Luft‹; entspricht der deutschen Wendung »an die frische Luft«, »unter freiem Himmel«, A. d. Ü.). Also: Morgen gehen wir an die frische Luft. An dieser Formulierung fasziniert mich, dass die Zwänge der französischen Semantik und Phonetik einen auf poetische Weise dazu bringen, etwas ganz anderes zu hören und zu verstehen, als die Worte besagen, wenn man sie ausspricht. Tatsächlich bewirkt der Gleichklang der Worte, dass man das der Luft am meisten entgegengesetzte und komplementärste Element zu hören glaubt: Denn terre (›Erde‹, ›Land‹) drängt sich dem Ohr auf, obwohl in au grand air gar kein t vorkommt. Man ruft sie praktisch an wie der Ausguck im Mastkorb eines Schiffes – Terre, terre! (›Land, Land!‹).

»An der frischen Luft« sein heißt auch auf der Erde sein; man wird wieder ein Erdbewohner oder ein »Terrestrischer«, wie der Philosoph Bruno Latour das nennt. Die frische Luft, die wir einatmen und die uns dank dem alten Wunder der Photosynthese umgibt, ist das Produkt der atmenden Kräfte der Wiesen und Wälder, durch die wir laufen, und die wiederum ein Geschenk des Bodens sind, den unsere Füße betreten: Die frische Luft ist der Stoffwechsel der Erde. Unsere

In der Formulierung »an der frischen Luft«, au grand air, ist die Erde, terre, zwar dem Auge verborgen, doch sie offenbart sich dem Ohr. Hat man das einmal gehört, kann man es nicht mehr ignorieren. Die magische Formel evoziert dann eine andere Welt, die keine Trennung zwischen Himmlischem und Irdischem mehr kennt, denn die frische Luft des freien Himmels ist ja das, was die grüne Erde ausatmet. Kein Gegensatz besteht mehr zwischen Ätherischem und Materiellem, kein Himmel erstreckt sich mehr über uns, zu dem wir aufsteigen müssten, denn wir sind ja immer schon im Himmel, der nichts anderes ist als die Erde, sofern sie lebt. Sie wird geformt durch den Stoffwechsel alles Lebendigen, der es uns ermöglicht, zu existieren.5 An der frischen Luft zu leben, heißt eben nicht, in der Natur und fern der Zivilisation zu sein, denn sie gibt es ja überall, außer vielleicht in den Einkaufszentren. Es heißt gerade nicht, sich draußen zu befinden, sondern überall zu Hause zu sein, wo jene lebendigen Territorien sind, die unsere Existenz speisen, und wo jedes Lebewesen sich ins Dasein der anderen Lebewesen einfügt.

An der frischen Luft zu sein, ist allerdings nicht immer leicht zu haben. Wenn man ein ausschließlich städtisches Leben führt und abgekoppelt ist von den Wegen, auf denen die Biomasse zu uns gelangt, fern von den Elementen und anderen Lebensformen, ist es sehr schwierig, Zugang zur frischen Luft zu finden. Doch selbst mitten in der Großstadt hat man Möglichkeiten: Man kann den Zugvögeln nachspüren oder etwas für die Umwelt tun, indem man nachhaltige Gemüsegärten auf dem Balkon anlegt. Oder man erkundet, woher diese eine Tomate kommt, um herauszufinden, von welcher Sonne sie beschienen und auf welchem Stück Territorium, das ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe, sie heranwuchs. Oder man geht Zweckbündnisse ein mit den Würmern des Wurmkompostierers, denen man Küchenabfälle und Haare zu fressen gibt, um das Wirken der Solarenergie zu sehen und ökologisch zu nutzen, statt seine Abfälle in leblosen Mülleimern zu verbergen. Es ist schwieriger, aber selbst in der Stadt kann man an der frischen Luft sein, mit etwas ökosensibler Achtsamkeit jedenfalls; das lebendige Territorium bringt sich uns schon in Erinnerung. Der Frühling etwa zeigt es uns:

An der frischen Luft profitieren wir gleichzeitig davon, dass uns ein lebendiger Raum umgibt, der uns dann auch in unserem Inneren erfüllt, und davon, dass unsere Füße fest auf dem Erdboden stehen. Auf diesem Erdboden ruhen wir wie auf einem phantastischen Tier, das uns trägt, ein riesiges Tier, das für uns nun wieder lebendig, reich an Zeichen und an feinen Verbindungen geworden ist. Wir erleben eine freigiebige Umwelt, deren Großzügigkeit wir endlich erkennen – sobald wir den Irrglauben überwunden haben, demzufolge man die Erde tyrannisieren muss, damit sie uns ernährt.

An der frischen Luft sein heißt, sich in jener lebendigen Atmosphäre zu befinden, die die Atmung der Pflanzen erzeugt. Was sie ausstoßen, ist, was uns hervorbringt. Es bedeutet anzuerkennen, dass frische Luft und Erde von ein und demselben Gewebe sind. Es ist allumfassend, lebendig, von Lebewesen gemacht, und wir können aus ihm nicht heraus, ohne es und uns zu verletzen – vielleicht müssen wir uns ebendarum um diplomatischere Beziehungen bemühen? An die frische Luft – gleichzeitig eine belebende Öffnung und eine Rückkehr zur Erde.

 

Aber auch diese Formulierung war nicht unser letztes Wort. Auf den Begriff, der endlich alles Gemeinte in sich vereinte, stießen wir durch Zufall. Es ist ein altfranzösisches Wort, das sich erhalten hat durch den Sprachgebrauch der Waldläufer von Quebec. Wenn diese ihre Geschäfte in der Stadt erledigt hatten und sich anschickten, ihren Weg unter freiem Himmel fortzusetzen, sagten sie: »Morgen ziehe ich weiter, ich gehe mich einwalden [je vais m’enforester]«.

»Sich einwalden« – ein semantischer Doppelschlag, ermöglicht durch das Reflexivverb: Man geht in den Wald, und zugleich zieht dieser in uns ein. Sich einzuwalden erfordert keinen Wald im Wortsinne, sondern schlicht eine neuartige Beziehung zu den lebendigen Territorien. Eine zweifache Bewegung sollte stattfinden: Erstens durchschreitet man die Landschaft anders, nimmt Verbindung zu ihr mithilfe anderer Formen der Achtsamkeit und anderer Praktiken auf; zweitens lässt man sich von ihr kolonisieren, durchdringen; man lässt sie bei sich einziehen. So wie die Pionierfronten der Tannen in

Eine philosophisch angereicherte Spurensuche hat uns auf den Geschmack des »Sich-Einwaldens« gebracht, das unseren Blick und unser Leben neu ausgerichtet hat. Zu solch einer Spurensuche gehören auch andere Praktiken, etwa das Sammeln von Wildpflanzen, das eine gesteigerte Sensibilität gegenüber den ökologischen Beziehungen erfordert, die uns in den lebendigen Territorien miteinander verbinden. Bei dieser ›ökosensiblen‹ Spurensuche finden wir ein anderes Verhältnis zur lebendigen Welt, die zugleich abenteuerlicher und freundlicher wird. Abenteuerlicher wird sie, weil wir jede Menge darin erleben. Alles zeigt ein bestimmtes Verhalten, alles ist ein wenig reicher an Eigenartigkeiten. Jegliche Beziehung mehrerer Erscheinungen zueinander, sogar in einem schlichten Garten, ist erforschenswert. Freundlicher hingegen wird sie, weil wir es jetzt nicht mehr mit einer stummen und reglosen Natur in einem absurden Kosmos zu tun haben, sondern mit Lebewesen, wie wir welche sind, die vitalen Logiken folgen – erkennbar, aber immer auch rätselhaft. Ein Teil des darin liegenden Mysteriums können wir niemals ergründen.

Es gibt eine Anekdote aus dem Zen, die etwas von jener Spur ahnen lässt, der wir gerade folgen, dem Weg hin zum Sich-Einwalden:

Ein Mönch steht im prasselnden Regen, den Rücken zum Tempel gewandt; sein Blick schweift über die Bergkette. Ein junger Bonze, in sein Gewand eingemummelt, steckt den Kopf durch die Tür des Tempels und sagt zu dem Mönch: »Kommt doch herein, Ihr holt Euch ja den Tod!« Nach einem kurzen Schweigen antwortet der Mönch: »Herein? Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich draußen bin.«

Irgendwie langweilte man sich früher »draußen« in der unbelebten Landschaft oft, wenn man dort Sport trieb oder schöne Aussichten suchte. Aber nun ist alles bevölkert, alles sendet Botschaften aus, und wir müssen in der großen Welt, die wir uns teilen, das Zusammenleben lernen. Wir, die Amateurspurensucher, wollen versuchen, wie Diplomaten mit den Lebensformen zu kommunizieren, die unter

Wir sollten nun ebenfalls Waldläufer werden, aber unsere diplomatischen Fähigkeiten anderen »Wilden« widmen: Sich-Einwalden ist gewissermaßen ein Versuch, sich auf die andere Seite zu begeben und dort zu überwintern. Wir müssen uns in die Perspektive der wilden Tiere, der kommunizierenden Bäume, der lebenden und arbeitenden Böden, der miteinander harmonierenden Pflanzen im permakulturellen Gemüsegarten hineindenken; wir sollten durch ihre Augen sehen, uns für ihre Sitten und Gebräuche sensibilisieren. Kennen wir erst ihre unerschütterlichen Sichtweisen auf den Kosmos, können wir unsere Beziehungen zu ihnen verbessern.

Dafür ist Diplomatie gefragt, denn es geht um ein vielfältiges Volk, dessen Sprachen und Gebräuche wir kaum verstehen und das nicht unbedingt geneigt ist zu kommunizieren, obwohl die Möglichkeiten gegeben sind, allein wegen unserer gemeinsamen genealogischen Herkunft (wir stammen ja von denselben Vorfahren ab). Will man »sich einwalden«, wird das nicht gehen ohne Anstrengungen der Intelligenz und der Phantasie. Auch endloses feinfühliges Abwarten ist nötig, denn wir möchten ja versuchen zu übersetzen, was sie tun, was sie kommunizieren und wie sie leben.

Der Anthropologe Claude Lévi-Strauss äußert sich in einem berühmten Interview zur Unmöglichkeit der Kommunikation zwischen den Menschen und den anderen Wesen, mit denen sie die Erde teilen. Er wertet sie als eine tragische Situation und einen Fluch. Gebeten zu erklären, was ein Mythos sei, antwortet er:

Ob tatsächlich ein »Makel der Schöpfung« vorliegt, hängt in gewisser Weise von unserer Geisteshaltung ab: Die Kommunikation ist ja möglich, auch wenn sie schwierig sein mag, da immer Missverständnisse um die Schöpfung hineinspielen und stets Geheimnisse damit verbunden sein werden. Sie hat auch nie aufgehört, möglich zu sein. Verhindert wird sie nur durch eine Zivilisation, die die anderen Lebewesen zu Maschinen degradiert hat, die sie als instinktgesteuerte Materie oder als gewalttätiges Anderes missversteht.

Wenn aber die Definition des Mythos, die Lévi-Strauss vorschlägt, richtig ist, erweist sich die Spurensuche auf rätselhafte Weise als eine von mehreren Möglichkeiten, in die Zeit des Mythos selbst zurück zu gelangen und ihn zu ergründen.

Dieser Zustand, in dem es keinen Unterschied zwischen Tier und Mensch gibt, diese Erfahrung eines Übergangs zwischen dem Selbst und dem Anderen, ist bei der Spurensuche tatsächlich allgegenwärtig. Um die Laufroute des Tieres nachzuvollziehen, muss man sich an seine Stelle versetzen, mit seinen Augen sehen. Man muss die Schlüsselpunkte wiederfinden, die Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Arten des Lebendigseins, indem man der Spur des Tieres folgt. Dessen Überlebensstrategien kann man in sich wiederfinden (auch wenn sie dort anders beschaffen sein mögen). Um den Wolf zu finden, muss man in sich nach Fragen suchen, die man mit dem Wolf gemeinsam hat; man muss versuchen, aus der rein menschlichen Haltung herauszutreten, um anderswo Übereinstimmung zu finden.