MARY MACLANE (1881–1929) kam in Winnipeg, Kanada, zur Welt, zog mit ihrer Familie aber bald in die Bergarbeiterstadt Butte in Montana, USA. Mit ihrem ersten Buch wurde sie schlagartig berühmt, weitere autobiographische Texte folgten. Sie schrieb den Stummfilm Men Who Have Made Love to Me (1918), in dem sie selbst die Hauptrolle spielte. MacLane, deren bohemehafter Lebensstil und Bisexualität immer wieder für Skandale sorgten, starb im Alter von 48 Jahren in Chicago.
ANN COTTEN wurde 1982 in Iowa geboren; heute lebt sie in Wien und Berlin. Sie ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Zuletzt erschien 2019 ihr Erzählband Lyophilia.
JULIANE LIEBERT, geb. 1989, ist Journalistin und schreibt über Musik und Literatur, u. a. für die Süddeutsche Zeitung und Die Zeit.
1902 wurde das literarische Selbstporträt einer völlig unbekannten jungen Frau aus dem ländlichen Montana zum Welterfolg. Zum ersten Mal in deutscher Übersetzung.
»Mary MacLanes Werk gleicht einem Zug, der mit Höchstgeschwindigkeit durch eine verstaubte, erstarrte Welt rast.«
L’Express
Die 19-jährige Mary MacLane wünscht sich Napoleon oder am besten gleich den Teufel als Liebhaber. Sie träumt von einer Revolution, während sie mit ihren Mitmenschen im provinziellen Montana genauso wenig anfangen kann wie mit ihren häuslichen Pflichten und der kargen Landschaft. Mary fühlt sich einsam auf der Suche nach sich selbst und dem guten Leben – und feiert trotzdem kraftvoll das eigene Ich.
MacLane war völlig unbekannt, als sie 1902 ihr erstes, im Tagebuchstil verfasstes Buch veröffentlichte. Es wurde zum Skandal und seine Autorin zum Star. Reporter aus den Metropolen pilgerten in ihre Heimatstadt, Cocktails und Sportmannschaften wurden nach ihr benannt. Ihr Name wurde zum Inbegriff für rebellische junge Frauen.
Auch über 100 Jahre später fasziniert es ungemein, wie virtuos und selbstverständlich Mary MacLane sämtliche Konventionen über den Haufen wirft, wie sie zwischen Größenwahn und Todessehnsucht, Resignation und Euphorie tänzelt.
Die E-Books des Reclam Verlags verwenden entsprechend der jeweiligen Buchausgabe Sperrungen zur Hervorhebung von Textpassagen. Diese Textauszeichnung wird nicht von allen Readern unterstützt.
Enthält das E-Book in eckigen Klammern beigefügte Seitenzählungen, so verweisen diese auf die Printausgabe des Werkes.
Ich verwende mein übliches »polnisches Gendering«: alle für alle Geschlechter nötigen Buchstaben kommen in gefälliger Reihenfolge ans Wortende.
Sweet Vale of Avoca … (trad.) Avoca ist ein Tal in Irland, in dem ebenfalls Kupferbergbau betrieben wurde.
Das Zitat stammt aus dem Roman Victoire (1864) von Mary Clemmer, in dem der Satz aber als Zitat aus einem »alten Buch« präsentiert wird.
Eine Zeile aus dem Gedicht »Omar Khayyam« von Justin Huntly McCarthy.
Das Zitat aus dem 18. Jahrhundert wird verschiedentlich und ohne klaren Nachweis Jean de la Bruyère oder Horace Walpole zugeschrieben. Es ist jedenfalls in den Volksmund übergegangen, ohne den Charakter eines Zitates zu verlieren, vermutlich dank des durch und durch kulturellen Inhalts.
Im Original heißt es altertümelnd without where to lay our heads (›und mit nichts, um den Kopf niederzulegen‹).
Im Japanischen bedeutet der Begriff Makura, Kopfkissen (in Wirklichkeit eine Kopfstütze aus hartem Material, wie es auch bei den Römern üblich war), im Kontext der Dichtung einen Topos; und auch in Schottland und Irland konnte man damit rechnen, von Feen entführt zu werden, wenn man an bestimmten Stellen einnickte. Ähnliches leisten auch die in der Landschaft situierten Sagen und Kenntnisse, die dort, wo MacLane aufwächst, ausgerottet worden sind. Ignoranz ist der Fluch des Exils, der sich noch Generationen später auswirkt, wenn sich Leute längst für eingesessen halten. Ignoranz ist weder ganz selbstverschuldet noch ganz fremdverschuldet und ein zentrales Problem in einer globalisierten, industrialisierten Welt.
Figur aus Shakespeares Theaterstück Wie es euch gefällt, die im Wald lebt.
Zitat aus dem Gedicht »Afoot« von Sir Charles George Douglas Roberts (1860–1943):
Comes the lure of green things growing,
Comes the call of waters flowing –
And the wayfarer desire
Moves and wakes and would be going.
Rubaiyat oder Rubai’at ist eine persische Gedichtform mit dem Schema ›aaba‹. Die Übersetzungsgeschichte weicht im Deutschen von der französischen und englischen ab; MacLane las Michael R. Brown zufolge (annotierte Ausgabe von I await the Devil’s Coming, 2016) eine Übersetzung von Charles E. Norton (ca. 1896) von J. B. Nicolas’ französischer Übersetzung (1867) der Rubaiyatsammlung des persischen Astronomen Omar Khayyām (1048–1131). Im Deutschen wurde die Sammlung um 1880 von Schack/Bodenstedt und 1912 von Rosen übersetzt. Hier ist aber schlicht die Version aus MacLanes Text übersetzt.
Generell kann man einen Einfluss auf oder eine Bekräftigung von MacLanes Denkhaltung in den hedonistischen Strophen des sufistischen Mystikers Khayyām finden, die in asiatischer Tradition (vgl. auch Li Bai / Li Bo / Li Po [701–762]) irdische Freuden feiern und zu ihnen ermutigen. Insbesondere aber feiern sie, abweichend von der Neunzehnjährigen, den Wein und die Wiederverwertung des Trinkerkörpers als Krug bzw. Ziegel.
Zitat aus einem Lied des schottischen Schriftstellers Charles MacKay (vgl. Charles MacKay, 188 Songs).
Vanity Let It Be
Through wild-wood valleys roaming,
A maiden by my side,
I vowed to love her evermore,
My beautiful, my bride.
»All is vanity! vanity!«
A wise man said to me:
I pressed my true love’s yielding hand,
And answered frank and free
»If this be vanity, who’d be wise?
Vanity let it be«
I sat with boon companions,
And quaffed the joyous wine,
We drank to Worth with three times three,
To Love with nine times nine.
»All is vanity! vanity!«
Said Wisdom, scorning me:
We filled our goblets once again,
And sang with hearty glee
»If this be vanity, Hip! Hurrah!
Vanity let it be«
Zitat aus William Wordsworths Gedicht »I wandered lonely as a cloud«.
Zitat aus Shakespeare, King Henry VIII, Akt 3, Sc. 2.:
And when he falls, he falls like Lucifer,
Never to hope again.
William Dean Howells (1837–1920), US-amerikanischer naturalistischer Publizist und Romancier.
MacLane wusste 1901 offenbar nicht, dass Pool schon 1898 gestorben war. Später lebte MacLane mit Pools companion Caroline Branson zusammen.
Die Bibelstelle in der Webster-Übersetzung lautet: »Better is a dinner of herbs where love is, Than a stalled ox and hatred therewith.« In der Lutherbibel (2017) heißt das so: »Besser ein Gericht Kraut mit Liebe als ein gemästeter Ochse mit Hass.«
Verweis auf ein Gleichnis aus der Bibel.
Bibelzitat (Spr 6).
Zitat aus der ersten Strophe von Charles Wesleys Kirchenlied »Jesus, Lover of My Soul« (1740):
Let me to Thy bosom fly,
While the waters near me roll,
While the tempest still is high.
Hide me, O my Saviour, hide,
Till the storms of life be past;
Safe into the haven guide;
Oh receive my soul at last!
Aus Robert Brownings »dramatischem Langgedicht« »By the Fireside« (1853):
Oh, the little more, and how much it is!
And the little less, and what worlds away!
How a sound shall quicken content to bliss,
Or a breath suspend the blood’s best play,
And life be a proof of this!
»Hoffnung, die sich verzögert, ängstet das Herz« (Bibel, Spr 13,12).
»Was ist dein Knecht, der Hund, dass er so große Dinge tun sollte?« (Bibel, 2. Kön 8,13).
Der Abbau von Erzen hatte in Butte um 1860 begonnen.
Attentäterin, die während der Französischen Revolution den Jakobiner Jean Marat im Bad erstach.
Aus Shakespeares Kaufmann von Venedig, I: 2, im Original:
If to do were as easy as to know what were good to do,
Chapels had been churches, and poor men’s cottages
Princes’ palaces.
In Byrons Versepos Don Juan wird die Liebesaffäre zwischen der Piratin Haidée und dem Titelhelden ausführlich beschrieben.
Aus George Whitefield’s Hymnenbuch, 1774 (oder noch früher?), 8 7 1: »Sweet the moments, rich in blessing, Which before the cross I spend; Life, and health, and peace possessing, From the sinner’s dying friend.«
Aus John Milton’s »Ode on the Nativity« (1629): »The winds, with wonder whist, Smoothly the waters kiss’d.«
Ein Verweis auf die Bibel (Mt 7,25).
Die anzitierte Hymne »Nearer, My God, to Thee« (1841) der englischen Dichterin Sarah Fuller Flower Adams (1805–1848) beruht auf einer Bibelstelle (Gen 28,11–19).
Aus dem Gedicht »Great, Wide, Beautiful, Wonderful World« des englischen Kinderdichters William Brighty Rands (1823–1882):
Great, wide, beautiful, wonderful World,
With the wonderful water round you curled,
And the wonderful grass upon your breast –
World, you are beautifully drest.
The wonderful air is over me,
And the wonderful wind is shaking the tree,
It walks on the water, and whirls the mills,
And talks to itself on the tops of the hills.«
Da die Kinderzeitschrift Our Young 1874 mit St. Nicholas fusionierte, war der Band, in dem MacLane las, Jahrzehnte alt.
Zitat aus William Wordsworths Gedicht »Lucy Gray«.
Lewis Carroll parodierte mit dem in Alice in Wunderland von Alice rezitierten Gedicht eine didaktisch seriösere Vorlage, Robert Southeys »The Old Man’s Comforts and How He Gained Them« von 1799.
»Rest for the Weary« findet sich etwa im Kirchenlied des irisch-amerikanischen Geistlichen William Hunter (1811–1877):
There is rest for the weary,
There is rest for you.
On the other side of Jordan,
In the sweet fields of Eden,
Where the tree of life is blooming,
There is rest for you.
Bibel, Mt 7,16.
Ursprung unbekannt; der Beispielsatz in Harvey’s Language Course. Practical Grammar of the English Language, 1868, könnte denselben haben.
Refrain aus Alfred Tennysons Gedicht »Mariana« (1830), einer Art Illustration einer Szene aus Shakespeares Maß für Maß:
With blackest moss the flower-plots
Were thickly crusted, one and all:
The rusted nails fell from the knots
That held the pear to the gable-wall.
The broken sheds look’d sad and strange:
Unlifted was the clinking latch;
Weeded and worn the ancient thatch
Upon the lonely moated grange.
She only said, »My life is dreary,
He cometh not‹, she said;
She said, ›I am aweary, aweary,
I would that I were dead!«
The Mill on the Floss (1860) von George Eliot.
»Der Wind bläst, wo er will« (Bibel, Joh 3,8).
Dem Teufel
mit den stahlgrauen Augen, der eines Tages
kommen mag – wer weiß? –
widme ich, mit der wahnwitzigen Liebe
eines jungen, müden, hölzernen Herzens,
dieses mein Buch.
Butte, Montana
November 1901
Butte, Montana
13. Januar 1901
Ich, neunzehn Jahre alt und im weiblichen Geschlecht geboren, werde jetzt, so vollständig und ehrlich wie ich kann, eine Darstellung von mir selbst verfassen, Mary MacLane, die in der Welt nicht ihresgleichen kennt.
Davon bin ich überzeugt, denn ich bin ungewöhnlich.
Ich bin ausgesprochen originell, von Geburt an und in meiner Entwicklung.
Ich habe eine ganz ungewöhnliche Lebensintensität in mir.
Ich kann fühlen.
Ich habe eine wunderbare Fähigkeit zu Elend und zu Glück.
Ich bin gedanklich offen.
Ich bin ein Genie.
Ich bin eine Philosophin meiner eigenen guten peripatetischen Schule.
Mich kümmert weder Gut noch Böse – mein Gewissen ist gleich null.
Mein Gehirn ist ein Sammelgefäß energischer Vielfalt.
Ich habe einen wahrlich erstaunlichen Zustand elenden, krankhaften Unglücks erlangt.
Ich kenne mich, ach, sehr gut.
Ich habe einen wirklich seltenen Egoismus entwickelt.
Ich bin in die tiefen Schatten hineingegangen.
All das zusammen ergibt Seltsamkeit. Ich denke also, dass ich ziemlich, ziemlich seltsam bin.
Ich habe mich umgesehen, ob es auch nur die Andeutung einer Parallele zu den paar hundert Menschen gibt, die ich meine Bekannten nenne. Vergeblich. Es gibt Leute von unterschiedlicher Tiefe und charakterlicher Vertracktheit, aber niemanden, der sich mit mir vergleichen ließe. Die jungen Leute in meinem Alter – sofern ich ihnen auch nur einen kurzen Blick in die wahren Vorgänge meines Gehirns gewähre – starren mich in ihrer stumpfen Blödheit nur verständnislos an; und die Alten, die vierzig und fünfzig sind – vierzig und fünfzig sind alt, wenn man neunzehn ist –, können auch nur blöd starren, oder sie setzen mit der ihnen eigenen Engstirnigkeit ihr kleines, teuflisches, überlegenes Lächeln auf, das sie für ahnungslose junge Menschen bereithalten. – Diese völlige Idiotie von Vierzig- und Fünfzigjährigen manchmal! –
Das sind sicherlich Extremfälle. Es gibt unter meinen jungen Bekannten auch welche, die nicht blöd starren, und ja, sogar mit vierzig und fünfzig gibt es ein paar, die die eine oder andere Phase meines komplizierten Charakters verstehen, auch wenn niemand ihn in seiner Ganzheit begreift.
Allerdings finde ich, wie gesagt, nicht einmal annähernd eine Entsprechung unter ihnen.
In diesem Moment denke ich an zwei berühmte Köpfe aus der literarischen Welt, die mit dem meinen gewisse feine Gemeinsamkeiten haben. Es sind die von Lord Byron und Marie Bashkirtseff. Im Byron des Don Juan finde ich mich selbst angedeutet. In diesem erhabenen Erguss werden nur wenige die Figur Don Juan bewundern, alle aber müssen Byron verehren. Man muss ihn wirklich bewundern. Er enthüllte und entblößte seine Seele, diese Mischung aus Gut und Böse – wie man so sagt –, damit die Welt sie betrachten konnte. Er kannte die menschliche Rasse. Und er kannte sich selbst.
Was diese seltsame Berühmtheit anbelangt, Marie Bashkirtseff: Ja, ich ähnele ihr in manchen Punkten, hat man mir gesagt. Aber in den meisten gehe ich über sie hinaus.
Wo sie tiefgründig ist, bin ich tiefgründiger.
Wo sie wunderbar leidenschaftlich ist, bin ich noch viel leidenschaftlicher.
Wo sie philosophisch ist, bin ich eine Philosophin.
Wo sie erstaunliche Eitelkeit und Einbildung besaß, bin ich noch eitler und eingebildeter.
Aber, ganz ehrlich, sie konnte gut malen – und ich – was kann ich?
Sie hatte ein wunderschönes Gesicht, und ich bin ein bedeutungsloses kleines Tier mit unauffälligen Zügen.
Sie war umringt von bewundernden, mitfühlenden Freunden, und ich bin allein – allein, obwohl es vor Leuten wimmelt.
Sie war ein Genie, doch ich bin noch viel mehr ein Genie.
Sie litt mit dem Schmerz einer Frau, die jung ist, und ich leide mit dem Schmerz einer Frau, die jung und ganz allein ist.
Und so ist es.
In mancherlei Hinsicht habe ich den Rand der Welt erreicht. Noch ein Schritt und ich falle hinunter. Ich mache den Schritt nicht. Ich stehe am Rand, und ich leide.
Nichts, ach, nichts auf der Welt kann so leiden wie eine Frau, die jung ist und völlig allein!
– Bevor ich mit der Darstellung von Mary MacLanes Persönlichkeit fortfahre, will ich etwas von ihrem uninteressanten Werdegang herunterschreiben.
Ich wurde 1881 in Winnipeg in Kanada geboren. – Ob Winnipeg noch einmal auf diese Tatsache stolz sein wird, ist eine Frage, die mir Anlass zu einiger Spekulation und Nervosität gibt. – Als ich vier Jahre alt war, wurde ich mit meiner Familie in eine kleine Stadt im Westen Minnesotas gebracht, wo ich, bis ich zehn wurde, ein mehr oder weniger nichtssagendes und einsames Leben führte. Dann kamen wir nach Montana.
Dort ging das Leben genauso weiter.
Mein Vater starb, als ich acht war.
Er ernährte mich und kleidete mich und schickte mich in die Schule – nicht mehr, als mir zusteht – und übertrug auf mich den Erbcharakter und das Blut der MacLanes, aber ich wüsste nicht, dass er mir je einen einzigen Gedanken schenkte.
Auf jeden Fall liebte er mich nicht, denn er war unfähig, irgendwen außer sich selbst zu lieben. Und da nichts in dieser Welt von Bedeutung ist, wenn die Menschen einander nicht lieben, ist es mir im höchsten Grade gleichgültig, ob mein Vater, Jim MacLane, selbstsüchtigen Eingedenkens, lebte oder starb.
Er ist mir nichts.
Auf dieser Welt sind mir noch gegeben: eine Mutter, eine Schwester und zwei Brüder.
Sie bedeuten mir auch nichts.
Sie verstehen mich nicht, sie scheinen mich als eine Art lebende Kuriosität zu betrachten.
Mich durchströmt in besonderer Weise das Blut der MacLanes, das aus dem schottischen Hochland stammt. Meine Schwester und meine Brüder haben die Züge der Familie ihrer Mutter aus dem schottischen Tiefland geerbt. Schon dieser Unterschied kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Davon abgesehen unterscheiden sich die MacLanes – diese speziellen MacLanes – ein klein wenig von jeder Familie in Kanada, wie auch von jeder anderen, die ich kennengelernt habe. Sie hat Fanatiker aller Art hervorgebracht – religiöse, soziale, was weiß ich. Und ich bin eine echte MacLane.
Zwischen meiner unmittelbaren Familie und mir herrscht nicht das kleinste bisschen Sympathie. Es wird auch niemals dazu kommen.
Meine Mutter, die die gesamten neunzehn Jahre mit mir verbracht hat, hat ein vollkommen verzerrtes Bild von meiner Natur und meinen Wünschen, falls sie sich überhaupt eine Vorstellung davon macht.
Wenn ich an die köstliche Liebe und zärtliche Sympathie denke, die zwischen einer Mutter und einer Tochter möglich wären, fühle ich mich um eine wunderschöne Sache betrogen, auf die ich ein Anrecht gehabt hätte, in einer Welt, wo es für mich wenige solcher Dinge gibt.
Es wird immer so sein.
Meine Schwester und meine Brüder interessieren sich nicht für mich, meine Analysen und meine Philosophie, auch nicht für meine Wünsche. Ihre eigenen sind entschieden praktisch und materiell. Liebe und Sympathie zwischen Menschen sind in ihren Augen etwas für Romanfiguren.
Kurzum, sie sind Tieflandschotten, und ich bin eine MacLane.
Wie ich schon erwähnte, schleppte ich also mein uninteressantes Dasein nach Montana. Das Dasein wurde jedoch weniger uninteressant, als mein vielseitiger Geist sich zu entwickeln und zu wachsen begann und die glitzernden Dinge kennenlernte, die da in der Welt sind. Allerdings wurde mir im Lauf der Jahre bewusst, dass mein eigenes Leben bestenfalls eine flüchtige, negative Angelegenheit ist. All die Schätze, die ich begehrte, fehlten.
Ich schloss die höhere Schule ab mit sehr gutem Latein, gutem Französisch und Griechisch und einem Desinteresse an Geometrie und sonstiger Mathematik. Von Geschichte und Literatur habe ich eine grobe Ahnung. Ohne schulische Unterstützung habe ich mir eine peripatetische Philosophie angeeignet. Bei Schulabschluss besaß ich ferner: das Genie, das mir immer schon eignete; ein leeres Herz, das eine gewisse hölzerne Beschaffenheit angenommen hatte; einen ausgezeichneten, starken jungen Frauenkörper und eine erbärmlich ausgehungerte Seele.
Mit dieser Ausstattung bin ich durch die letzten zwei Jahre gegangen. Mein Leben, sei es auch unbefriedigend und verzerrt, ist jetzt nicht mehr langweilig. Ein bitteres Elend lastet darauf – das Elend des Nichts.
Nichts beschäftigt mich sonderlich. Ich schreibe jeden Tag. Schreiben ist eine Notwendigkeit – wie Essen. Ich mache ein wenig Hausarbeit, was ich im Großen und Ganzen sogar mag – zumindest manche Aufgaben. Ich staube ungern Stühle ab, aber ich habe nichts dagegen, Böden zu scheuern. Ja, viel von meiner Kraft und körperlichen Anmut kommt vom Scheuern von Küchenböden – ganz zu schweigen von einigen feinen philosophischen Gedankengängen. Es flößt dem Körper und dem Gehirn Energie ein.
Hauptsächlich aber wandere ich sehr weit übers offene Land. Butte und seine unmittelbare Umgebung bieten einen so scheußlichen Anblick, wie man es sich nur wünschen kann. Es ist tatsächlich so scheußlich, dass es als Annäherung an die vollkommene Scheußlichkeit gelten kann. Und alles, was vollkommen ist oder beinahe, sollte man nicht verachten. Ich bin auf einige verblüffend subtile Ideen gekommen, während ich viele Meilen über den Sand und das karge Land zwischen den kleinen Hügeln und Schluchten gegangen bin. Die vollkommene Ödnis inspiriert lange, lange Gedankengänge und das namenlose Verlangen. Jeden Tag gehe ich über den Sand und die Ödnis.
Also scheint mein tägliches Leben gewöhnlich genug zu sein, und möglicherweise kommt es einem gewöhnlichen Menschen sogar einigermaßen bequem vor.
Das mag sein.
Für mich ist es nur eine leere, verdammte Müdigkeit.
Ich stehe früh auf, esse drei Mahlzeiten und gehe spazieren; arbeite ein wenig, lese ein wenig, schreibe; treffe ein paar uninteressante Leute, gehe schlafen.
Am nächsten Tag stehe ich früh auf, esse drei Mahlzeiten und gehe spazieren; arbeite ein wenig, lese ein wenig, schreibe; treffe ein paar uninteressante Leute; gehe schlafen.
Wieder stehe ich früh auf, esse drei Mahlzeiten und gehe spazieren; arbeite ein wenig, lese ein wenig, schreibe; treffe ein paar uninteressante Leute; gehe schlafen.
Wahrlich ein erhabenes, seelenvolles Leben!
Was es mir gibt und wie es mich prägt, versuche ich jetzt zu schildern.
14. Januar
In mir trage ich den Keim eines intensiven Lebens. Wenn ich leben könnte, und wenn es mir gelingen könnte, mein Leben aufzuschreiben, würde die Welt seine schwere Intensität spüren.
Ich habe die Persönlichkeit, die Anlagen eines Napoleon, wenngleich in einer weiblichen Version. Daher erobere ich nicht; ich kämpfe nicht einmal. Ich schaffe es gerade einmal, zu existieren.
– Arme kleine Mary MacLane, – was könntest du nicht alles sein? Welch herrliche Taten könntest du vollbringen? Aber kleingehalten, halb begraben, ein Samenkorn, das auf unfruchtbaren Boden fiel, allein, unverstanden, unbekannt – arme kleine Mary MacLane! – Weine, Welt, – warum weinst du nicht? – für die arme kleine Mary MacLane.
Wäre ich als Mann geboren worden, hätte ich bereits einen tiefen Eindruck in der Welt hinterlassen – in irgendeinem Teil davon. Aber ich bin eine Frau, und Gott, oder der Teufel, oder das Schicksal, oder was es auch immer war, hat mir die dicke äußere Haut abgezogen und mich mitten ins Leben hineingeworfen – hat mich dort zurückgelassen als einsames, verdammtes Ding, gefüllt mit dem roten, roten Blut des Ehrgeizes und der Lust, das aber vor Berührungen Angst hat, denn zwischen meinem empfindlichen Fleisch und den Fingern der Welt ist keine dicke Haut.
Aber ich möchte berührt werden.
Napoleon war ein Mann, und wenn auch sein Fleisch fein empfand, war es sicher eingehüllt.
Aber ich bin eine Frau. Ich wache auf, und nachdem ich aufgewacht bin und mich umgesehen habe, möchte ich mich umdrehen und wieder einschlafen. Schmerz ist mit diesen Dingen verbunden, wenn man eine Frau ist, jung und völlig alleine.
– Mich erfüllt ein Ehrgeiz. Ich möchte der Welt eine nackte Darstellung von Mary MacLane geben: Ich zeige ihr hölzernes Herz, ihren guten jungen Frauenkörper, ihren Geist, ihre Seele.
Ich möchte schreiben, schreiben, schreiben!
Ich möchte diese schöne, gütige, zärtliche, erquickende Sache erlangen: Ruhm. Ich will ihn – oh, ich will ihn! Ich will all meine Unbekanntheit, mein Elend, – mein müdes Unglück für immer hinter mir lassen.
Ich bin meines Unglücks so zum Sterben müde.
Ich möchte, dass diese Schilderung veröffentlicht wird und in jenes tiefe, salzige Meer sticht, das die Welt ist. Es gibt dort sicher einige, die sie und mich verstehen werden.
Kann ich sein, was ich bin – kann ich ein seltsames, seltenes Genie besitzen und doch mein Leben verborgen in diesem ungehobelten, verzerrten Städtchen in Montana fristen?
Es ist doch unmöglich! Wenn ich glaubte, dass die Welt nichts anderes für mich bereithielte – ach, was täte ich! Würde ich mein trostloses kleines Leben jetzt beenden? Ich fürchte, ja. Ich bin Philosophin – und ein Feigling. Und es wäre unendlich viel besser, jetzt im schnellen Puls der Jugend zu sterben, als Jahr für Jahr, Jahr für Jahr sich weiterzuschleppen und sich schließlich als starre alte Frau wiederzufinden, lustlos, hoffnungslos, mit einem alternden Körper, einem nachlassenden Gehirn – und auf nichts zurückblicken zu können außer Visionen dessen, was möglich hätte sein können – und die Müdigkeit.
Ich sehe das Bild. Ich sehe es deutlich. Oh, gütiger Teufel, erlöse mich davon!
In einer Welt von so vielfältiger Schönheit muss es doch auch etwas für mich geben.
Und noch immer, solange ich jung bin, leuchtet mir diese trübe Funzel, die Zukunft. Aber ihr Licht ist in der Tat ein sehr, sehr trübes, und oft trügt es.
15. Januar
Nun denn. Ich befinde mich an diesem Punkt, als Frau von neunzehn Jahren. Ich bin ein Genie, eine Diebin, eine Lügnerin – eine moralische Vagabundin von Grund auf, mehr oder weniger eine Närrin und eine Philosophin der peripatetischen Schule. Ich finde auch, dass selbst diese Kombination niemanden glücklich machen kann. Sie reicht aber aus, um mein vielseitiges Denken zu beschäftigen, und dass ich mich weiterhin frage, was ein gütiger Teufel für mich auf Lager haben mag.
Eine Philosophin meiner eigenen peripatetischen Schule – Stunde um Stunde durchwandere ich die öde Wüste, die Trostlosigkeit zwischen den winzigen Hügeln und Schluchten am Rand dieser Bergbaustadt; am Morgen, am langen Nachmittag, in der Kühle der Nacht. Und Stunde um Stunde, während ich gehe, marschieren durch mein Gehirn lange, lange Prozessionen: die Prozession meiner Fantasien, die Prozession meines unnachahmlichen Egoismus, die Prozession meines Unglücks, die Prozession meines detaillierten Analysierens, die Prozession meiner eigentümlichen Philosophie, die Prozession meines öden, öden Lebens, – und die Prozession der Möglichkeiten.
Wir drei gehen hinaus auf den Sand, über die Ödnis: mein hölzernes Herz, mein guter junger Frauenkörper, meine Seele. Wir gehen dorthin und betrachten reflektierend die lange, sandige Einöde, die rote, rote Linie am Himmel, wenn die Sonne untergeht, die kalten, düsteren Berge darunter, den Boden ohne Unkraut, ohne einen Grashalm, obwohl es ihre Jahreszeit wäre – der Schwefelrauch der Gießereien hat sie schon vor vielen Jahren vernichtet.
Dieser Sand und diese Ödnis sind also die Kulisse für meine Persönlichkeit.
16. Januar
Ich fühle mich etwa vierzig Jahre alt.
Aber ich weiß, dass mein Gefühl nicht das Gefühl ist, das man mit vierzig Jahren hat. Das hier sind die Gefühle elender, unglücklicher Jugend.
Jeden Tag wird mir die Atmosphäre eines Hauses unerträglich, also gehe ich jeden Tag hinaus zum Sand und zur Ödnis. Es ist weder kalt noch mild. Es ist düster.
Ich sitze zwei Stunden lang neben einem erbärmlich kleinen, schmalen Wasserlauf auf dem Boden. Er ist nicht einmal ein natürlicher Bach. Ich vermute, dass er aus irgendeinem Bergwerk in den Hügeln kommt. Aber es ist schon gut, dass der Bach kein natürlicher ist – wenn man den Sand und die Ödnis betrachtet. Es ist eigentümlich passend.
Und ich passe auch eigentümlich dazu. Es ist gut, zu passen, mit etwas in Einklang zu sein, und wenn es bloß Sand und Ödnis sind.
Der Sand und die Ödnis sind alt – ach, sehr alt. Das fällt einem ein, wenn man sie anschaut.
Was täte ich, wenn die Erde aus Holz wäre, mit einem Himmel aus Papier!
Ich fühle mich etwa vierzig Jahre alt.
Und wieder sage ich, ich weiß, dass mein Gefühl nicht das ist, das man mit vierzig Jahren hat. Das hier sind die Gefühle elender, unglücklicher Jugend.
Noch erbärmlicher als der Sand und die Ödnis und der armselige künstliche Bach ist der trockene, verzerrte Friedhof, auf dem die trockenen, verzerrten Leute von Butte ihre toten Freunde begraben. Es ist mir ein Quell der Befriedigung, zu diesem Friedhof hinunterzusteigen und ihn zu betrachten und in seiner kompletten Erbärmlichkeit zu schwelgen.
»Er ist noch erbärmlicher als ich selbst und mein Sand und meine Ödnis und mein armer künstlicher Bach«, sage ich wieder und wieder, und das tröstet mich.
Sein Zustand ist noch desolater als der einer jungen Frau, die ganz alleine ist. Er ist ungepflegt. Er erstickt an Staub und Steinen. Die vereinzelten Grashalme sehen aus, als würden sie sich schämen, dort zu wachsen. Viele Grabmale sind aus Holz und beschämend verwittert. Die aus Stein sind noch schändlicher in ihrer gleißenden Härte.
Die trockenen, verzerrten Freunde der trockenen, verzerrten Leute von Butte sind in diesem staubigen, trostlosen, vom Wind verwüsteten Schutt begraben. Sie werden hier abgeladen und vergessen.
Der Teufel muss seine Freude an diesem Friedhof haben.
Und ich freue mich mit dem Teufel.
Es ist etwas, das ich betrachten kann, das noch erbärmlicher ist als ich selbst und mein Sand und meine Ödnis und mein künstlicher Bach.
Ich freue mich mit dem Teufel.
Die Bewohner dieses Friedhofs sind vergessen. Ich habe einmal zugesehen, als ein kleines Kind begraben wurde. Die nächsten zwei Wochen lang kam ich jeden Tag wieder und sah dort die Mutter des Kinds. Sie kam und stand neben dem neuen kleinen Grab. Ein paar Tage später kam sie nicht mehr.
Ich kannte die Frau und ging sie besuchen. Sie begann, das Kind zu vergessen. Sie begann, die Fäden ihres Lebens dort, wo sie sie fallengelassen hatte, wieder aufzunehmen. Die Fäden ihres Lebens sind verstrickt mit den Trennungen und Streitangelegenheiten ihrer Nachbarn.
Draußen auf dem verzerrten Friedhof ist ihr Kind vergessen. Und bald wird der Grabstein aus Holz beginnen zu verfaulen. Aber die Würmer werden ihren Teil nicht vergessen. Sie haben den kleinen Körper mittlerweile aufgefressen und es genossen. Sie genießen es immer, einen Körper zu fressen.
Und der Teufel freute sich auch.
Und ich freute mich mit dem Teufel.
Sie sind, ich bestehe darauf, noch erbärmlicher als ich selbst und mein Sand und meine Ödnis – die Mutter, deren Leben mit den Streitigkeiten und Trennungen verstrickt ist, und die Würmer, die am Kinderkörper fressen, und der hölzerne Grabstein, der bald verrotten wird.
Und so freuen sich der Teufel und ich.
Aber ganz gleich, wie furchterregend erbärmlich der vertrocknete Friedhof sein mag, der Sand und die Ödnis und der träge kleine Bach haben ihre eigene, zähe, individuelle Verdammnis. Wenigstens ist die Welt so geschaffen, dass ihre Schätze jeder auf eine andere Art verdammt sein können.
Ich fühle mich etwa vierzig Jahre alt.
Und ich weiß, dass mein Gefühl nicht das Gefühl ist, das man mit vierzig Jahren hat. Die Vierzigjährigen fühlen nichts von diesen Dingen. Mit vierzig ist das Feuer längst ausgebrannt. Wenn ich vierzig bin, werde ich auf mich selbst zurückblicken und auf meine Gefühle mit neunzehn – und ich werde lächeln.
Werde ich wirklich lächeln?
17. Januar
Wie gesagt, ich will Ruhm. Ich will schreiben – Dinge schreiben, die den bewundernden Zuspruch der ganzen Welt auf sich ziehen; Dinge, wie sie nur einmal in vielen Jahren geschrieben werden, die sich subtil, aber eindeutig von den Büchern unterscheiden, die jeden Tag geschrieben werden.
Ich kann das.
Lassen Sie mich nur anfangen, lassen Sie mich nur die Welt an einer empfindlichen Stelle treffen, und ich erobere sie im Sturm. Lassen Sie mich nur meine Sporen verdienen, und dann werden Sie mich sehen – weiblich, jung –, kühn auf einem Schlachtross, die Welt niederstürmend, der Ruhm auf den Fersen des Schlachtrosses, und die Menge wird staunen mit offenem Mund.
Aber ach, noch mehr als all das will ich glücklich sein!
Ruhm ist in der Tat gütig und zärtlich und befriedigend. Aber Glück ist eine zugleich zärtliche und alles auf der Welt überglänzende Sache.
Ich will Ruhm mehr, als ich aussprechen kann.
Aber noch mehr als Ruhm will ich Glück. In meinem müden jungen Leben bin ich noch nie glücklich gewesen. Man stelle sich vor, oh, man stelle sich nur vor, ein Jahr lang glücklich zu sein – einen Tag lang! Wie strahlend blau wäre der Himmel; wie schnell und fröhlich flössen die grünen Flüsse; in welch verrücktem, fröhlichem Triumph würden die vier Himmelswinde um die Ecken der schönen Erde fegen!
Was gäbe ich nicht für einen Tag, eine Stunde dieser verzauberten Sache, Glück! Was gäbe ich nicht dafür?