Roman
In der Nacht sind alle Augen groß und weit offen,
sie sind dunkel bis an die Ränder hinaus.
Tarjej Vesaas
Diese Geschichte ist eine Fiktion. Alle Verweise auf reale Begebenheiten, Institutionen, Orte und Personen dienen lediglich dazu, einen fiktiven Kosmos zu erschaffen.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
»Die Welt gerät aus den Fugen«, hatte er in der letzten Unterrichtsstunde am Nachmittag gesagt, bevor er die Schüler nach Hause entließ.
Sie hatten ihn wahrscheinlich nicht verstanden. Von den älteren vielleicht der eine, die andere. Aber die jüngeren hatten den merkwürdigen Satz sicher bereits vergessen, als sie über die Schwelle hinaus in den warmen Herbsttag rannten, in die Sonne, die nun von Woche zu Woche früher hinter den Bergen verschwinden würde.
Er stand am offenen Fenster und blickte über den leeren Schulhof. Risse zogen sich durch den asphaltierten Platz. Das Gras unter den drei Lärchen war gelb und trocken. Von einem hohen Maschenzaun umgeben, stießen die Kletterstangen, leicht krumm, wie rostige Spargel aus dem Sand.
Weiter unten hockten die Häuser des Dorfes, Dach an Dach, als tuschelten sie miteinander. Aus dem Grund des Tals stiegen die Schatten. Sie kletterten rasch an den gegenüberliegenden Bergwänden hoch und schwärzten sie ein. Das war der Augenblick, auf den er immer wartete, der unausweichlich kam: Wenn Licht und Dunkel das Tal in zwei Teile schieden. Wenn unten das Dorf bereits im Schatten versank, während hier oben die Fenster noch in den letzten Sonnenstrahlen aufblitzten.
Er griff in der Kitteltasche nach den Zigaretten. Nur noch drei Stück steckten in der zerknitterten Packung. Er klaubte eine heraus, wölbte die Lippen um den Filter wie eine Liebkosung und hielt das angerissene Streichholz an das Papier. Tief sog er den Rauch ein, als traute er ihm eine reinigende Wirkung zu.
Die Kirche, die etwas östlich vom Dorf auf einer kleinen Kuppe lag, stand bezüglich Abendsonne stets in Konkurrenz zum Schulhaus. Auch heute würde die zwiebelförmige Spitze noch blinken, wenn hier schon alles grau war.
Wieder blickte er hinunter auf das Dorf, wo sich die Einzelheiten zu verwischen begannen. Die steinernen Dächer waren kaum mehr von den mit Blech bedeckten zu unterscheiden. Die engen Gassen gerannen zu schwarzen Linien. Es schien, als rückten die Häuser für die Nacht zusammen.
Am Vorabend war er unten in der Dorfwirtschaft gewesen. Er ging jetzt häufiger ins »Crusch Alba«. Er wollte hören, was die anderen sagten. Er wollte reden können mit jemand. Als er eingetreten war, hatten ihm Dunst und Rauch entgegengeschlagen. Verschwommen hingen die Gesichter darin, und die Unterhaltung, die früher laut und polternd sein konnte, war zu einem eintönigen Gemurmel geschrumpft. Er sah sich nach einem freien Platz um. Chasper Bisaz winkte ihm. Er nickte grüßend nach rechts und nach links, als er zwischen den Tischen nach hinten ging, wo die anderen neben Bisaz ihre Stühle zusammenrückten, ohne ihr Gespräch zu unterbrechen. Er setzte sich.
Polen war gefallen. Innert weniger Tage. Die Welt geriet aus den Fugen.
»Polen ist weit weg«, sagte Bisaz. »Madlaina, bring dem Lehrer einen Zweier Veltliner!«
»Man muss sich von innen wärmen, wenn’s draußen kälter wird«, fügte er hinzu und klopfte ihm auf die Schulter.
Er versuchte, Chasper Bisaz in die Augen zu schauen, aber unter den buschigen Brauen war nicht auszumachen, ob der Blick tatsächlich den Worten entsprach.
Als Madlaina den Wein brachte, stieß er mit Bisaz an, dann auch mit Jon Conrad und Peider Capaul, die am selben Tisch saßen. Er blickte auf die ausgestopften Tiere auf dem Wandregal, einen Raubvogel, ein Eichhörnchen, zwei Murmeltiere, die ihrerseits mit glasigen Augen die Männerrunde zu beobachten schienen.
»Und?«, fragte ihn Conrad, nachdem er eine Weile stumm dagesessen und zugehört hatte.
»Der Piz Malört hat schon eine weiße Kappe«, sagte er.
Er hatte etwas Unverfängliches sagen wollen. Etwas, was die Rückkehr des Gesprächs zu den gewohnten kleinen Geschäften des Tals, des Dorfes ermöglichen würde. Er hätte auch sagen können, die Katze des Pfarrers sei ein roter Teufel. Das eine so selbstverständlich und wahr wie das andere.
»Ja«, meinte Conrad nur, »das gibt einen harten Winter.«
»Für andere wird er härter sein«, brummte Bisaz.
»Wie bringst du das eigentlich den Schülern bei?«, wollte Capaul wissen.
»Was denn?«
»Das mit dem Krieg.«
Anton hatte nur die Schultern gehoben. Die Welt gerät aus den Fugen.
So hilflos hast du dich ausgedrückt, Anton Marxer, dachte er. Er fröstelte. Die Sonne hielt sich mit letzter Kraft an den zerrissenen Zacken des Grats. Die Wärme war dem Licht vorausgeeilt ins nächste Tal. Er drückte den Zigarettenstummel zu den anderen in den Blumentopf auf dem Steinsims. Dann schloss er das Fenster. Er ging durch die Pultreihen, rückte Stühle zurecht, schob halb offene Tintenfässer zu, öffnete hier und da einen Pultdeckel. Er tat es mechanisch, wie jeden Tag. Alles musste seine Ordnung haben, bevor er sich an den Schreibtisch setzen konnte, der auf einem niedrigen Holzpodest stand, als wäre es der Führerstand eines seltsamen Gefährts.
Einen Augenblick stand er still da und blickte hinunter auf die Schulbänke, die jetzt leer und aufgeräumt waren. Morgen würden hier wieder all die ungewaschenen, mit Rotz verschmierten Gesichter dumpf vor sich hinbrüten, so dass er mit dem Stock auf den Tisch schlagen müsste, um Aufmerksamkeit zu erlangen.
Er stand auf der Kommandobrücke. Er war Steuermann und Kapitän in einer Person. Von ihm erwartete man, dass er das Schiff sicher durch Stromschnellen und Untiefen führte. Ausgerechnet von ihm.
»Wie bringst du das eigentlich den Schülern bei? Das mit dem Krieg«, hatte Peider Capaul wissen wollen.
Es war die Frage, die allen auf der Zunge lag. Jeder hätte sie stellen können. Nun hatte es Peider Capaul getan. Für alle anderen. Und er, Anton Marxer, der Lehrer, sollte die Antwort darauf haben.
Er ließ sich auf den Stuhl an seinem Schreibtisch sinken. Das Licht floh aus dem Raum, die Scheiben dunkelten ein. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und stieß an den Stock, der polternd zu Boden fiel.
Ordnung ins Chaos bringen. Das war seine Aufgabe. Dazu war er da. Er schaltete die Tischlampe ein und begann, Hefte und Papiere zu sortieren. Die Ernte des Tages, wie er zu den Schülern zu sagen pflegte.
»Gestern war die Ernte des Tages ihren Namen nicht wert«, sagte er jeweils. Oder: »Heute wollen wir aber wieder einmal eine schöne Ernte einfahren.«
Schönredner! Als ob man von Worten satt werden könnte.
»Nein, man wird nicht satt vom Wort«, hätte Barbla gesagt, früher, als sie ihre Sprache noch besaß. »Aber es ist lebenswichtig.«
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Die Müdigkeit stand plötzlich vor ihm wie eine undurchdringliche Nebelwand. Er erhob sich, etwas unsicher. Als er die Tischlampe löschte, mussten sich seine Augen erst an die Dämmerung gewöhnen. Vorsichtig stieg er vom Podest, suchte nach dem Stock und legte ihn auf die Ablage unter der Wandtafel. Nach einem letzten prüfenden Blick verließ er das Schulzimmer und zog die Tür hinter sich zu.
Im Flur, der nur zwei schmale Fenster zur Hangseite hatte, war es noch dunkler. Er tastete nach dem Schalter, machte Licht und schloss die Haustür ab. Am Treppenaufgang fasste er nach dem Handlauf. Das glatt polierte Holz über dem Metallgeländer fühlte sich kühl an. Er zögerte einen Augenblick, bevor er den Fuß auf die erste der einundzwanzig steinernen Stufen setzte.
»Barbla, ich bin’s!«, rief er, als er die Wohnung im oberen Stock betrat.
Überall brannte Licht. Er hatte längst aufgehört, ihr die teure Stromrechnung vorzuhalten.
»Das Gesichtsfeld Ihrer Frau ist eingeschränkt«, hatte der Arzt erklärt. »Ihre Wahrnehmung ist nicht mit der unseren zu vergleichen.«
Vielleicht vergaß sie jeweils auch nur, das Licht wieder zu löschen, wenn sie einen Raum verließ. Wie sie so vieles vergaß.
Er ging in die Stube. Barbla saß am Fenster, im gelben Lichtkegel der Stehlampe, deren ausladender Schirm wie ein schützender Baldachin über ihrem Kopf schwebte. Im Inneren des Schirms flatterte ein Nachtfalter, der, vom Licht angezogen, immer wieder an die Schirmbespannung stieß. Barbla schien es nicht zu bemerken. Sie saß leicht vornübergebeugt, so dass er nicht sehen konnte, ob sie die Augen geöffnet hatte oder vor sich hindöste. Mit der rechten Hand, der gesunden, hielt sie die linke am Gelenk umklammert. Mit der Innenfläche nach oben gewendet und den starr eingekrümmten Fingern sah diese aus wie die hohle Hand einer Bettlerin.
»Barbla …«
Er klopfte mit dem Knöchel an den Türrahmen, um sie nicht zu erschrecken. Erst als sie den Kopf hob, ging er auf sie zu. Er beugte sich zu ihr nieder, legte seine Hände auf die ihren und küsste sie auf die Wange. Barblas Kopf drehte sich in kleinen, ruckartigen Bewegungen von ihm weg, als suchte sie auf der falschen Seite nach ihm. Als sie sein Spiegelbild im dunklen Fenster erkannte, erschien ein angedeutetes Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Jetzt bin ich da«, sagte er und richtete sich auf. »Wie war dein Tag? So lang wie der meine, nicht wahr? Gehen wir in die Küche? Das Abendessen kochen?«
Er sah, dass sie nickte. Sie versuchte aufzustehen, sank aber kraftlos in den Sessel zurück. Er trat nahe vor sie hin und hob sie hoch. Sie war so leicht geworden.
»Füße auf den Boden!«, befahl er, weil sie den schwebenden Zustand beibehalten wollte.
Wieder drehte sich ihr Kopf von ihm weg. Er achtete darauf, dass sie richtig stand, und langte nach ihrem schwarzen Gehstock, der am Fensterbrett lehnte. Als sie den Holzgriff in der Hand spürte, stieß sie den Stock zwei-, dreimal auf den Boden. Das war ihr Signal zum Aufbruch.
»Dann lichten wir die Anker«, sagte er.
Sie umschifften das Kap des Esstischs, hielten Abstand zu den Klippen der Sessel und passierten ohne große Schwierigkeiten die Hafeneinfahrt zur Küche. Ihre tägliche kleine Weltumsegelung. Die kurzen Strecken waren lang geworden, das gedrosselte Tempo ließ keine schnellen Manöver zu. Er war froh, wenn alles nach Plan verlief, ohne Zwischenfälle, wenn kein Sturm aufkam, kein Mast brach, die Mannschaft nicht meuterte.
Barbla schaffte es allein auf den Küchenstuhl. Er setzte Wasser auf. Dann öffnete er die schmale Tür zur Vorratskammer und holte die Schüssel mit den restlichen Pizokel vom Vortag. Er ließ wenig Fett in der Bratpfanne heiß werden. Als es in der Pfanne zu brutzeln begann, kippte er den Inhalt der Schüssel hinein.
Er schaute nach der Glut im Holzofen, der neben dem Kochherd stand und mit dem die Wohnung beheizt wurde. Er hatte am Mittag einige Scheiter nachgelegt, die inzwischen längst zu Asche zerbröselt waren. Dennoch war es hier oben deutlich wärmer als unten im Schulzimmer. Er fachte das Feuer noch einmal an, damit die Räume über Nacht nicht ganz erkalteten.
Früher hatte er noch gemeint, er müsse jeden Handgriff kommentieren. Müsse ununterbrochen mit Barbla sprechen, sie unterhalten, wenn er endlich aus der Schulstube heraufkam. Bis sie eines Tages den Zeigefinger auf ihre Lippen gelegt hatte.
Schweigen zu dürfen, war manchmal eine Erleichterung. Er erzählte nur noch, was ihm wichtig schien. Von den Schülern. Vom Dorf. Das Weltgeschehen ließ er meist unerwähnt. Barbla hörte häufig Radio. Sie wusste sicher genug. Er wollte sie nicht unnötig verängstigen.
Mit der Zeit hatte er gelernt, ihre Laute zu deuten. Für Hunger, Schmerzen, Trauer brauchte es keine Worte. Wenn er wach lag nachts, dachte er oft daran, wie sich all die ungesagten Sätze bei ihr stauten. Dass es wie ein Würgegriff sein musste, der ihr den Atem nahm. Dass sie einmal daran ersticken würde. Er hoffte, dass er nicht recht bekäme. Vielleicht war es nur seine Trauer über all das, was er von ihr nicht mehr zu hören bekam. Die Trauer, die Wut.
Er rührte heftig in der Pfanne. Das Wasser im Topf blubberte. Er füllte das Teesieb mit der Kräutermischung, gab es in den Krug und goss das heiße Wasser darüber.
»Dauert nicht mehr lange«, sagte er.
Er deckte den Tisch, schaltete die Kochplatte aus und stellte die Pfanne auf einen Untersatz. Bevor er die Teller füllte und Tee einschenkte, schob er Barblas Stuhl näher und band ihr eine große Serviette um. Einige Flecken von früheren Mahlzeiten waren darauf zu sehen. Babigna machte die Wäsche höchstens zweimal im Monat. Barbla, nein, sie bemerkte es wohl kaum.
Er setzte sich ihr gegenüber und wartete, bis sie die Gabel neben dem Teller gefunden hatte. Sie fuhr mit den Metallzinken über das Steingut, dass es kratzte. Beim zweiten Versuch gelang es ihr, einen der dickeren Pizokel aufzuspießen. Sie führte die Gabel langsam zum Mund und fing bedächtig an zu kauen.
Jetzt langte auch er zu. Er war richtig ausgehungert und blickte erst wieder auf, als er den letzten Bissen geschluckt hatte und mit der Zunge zwischen den Zähnen nach Speiseresten suchte. Da erst bemerkte er, dass sie kaum etwas gegessen hatte. Mit der Gabel hatte sie ungewollt alles an den linken Rand ihres Tellers geschoben.
Am Anfang hatte er dieses Verhalten nicht einordnen können. Eine der unzähligen Veränderungen in Barblas Alltag. Der Arzt hatte erklärt, dass Barbla infolge einer Sehstörung mit beiden Augen nur noch den rechts von der Mitte gelegenen Bereich sehen könne. Sie glaubte also, der Teller sei leer. Es half nicht, wenn er sie aufforderte, den Kopf nach links zu drehen. Stets ging ihre Bewegung in die entgegengesetzte Richtung.
Er zog ihren Teller zu sich heran, drehte ihn, so dass die Pizokel nun wieder innerhalb von Barblas Gesichtsfeld lagen, und schob ihn über den Tisch zurück.
»Du musst essen«, forderte er sie auf. »Du fliegst mir sonst davon wie eine Flaumfeder.«
Sie blickte verständnislos an ihm vorbei, während ihre Gabel, dem Zufall folgend, wieder durch die Mehlspeise fuhr.
Manchmal half er ihr, setzte sich neben sie, führte ihre Hand. Oder fütterte sie wie einen hilflosen, kleinen Vogel. Meistens aber wehrte sie ihn ab, wollte sich das bisschen Selbständigkeit bewahren, wurde ungehalten. Einmal hatte sie dabei die Teetasse vom Tisch gefegt. Er hatte nicht gewusst, war es Ungeschicklichkeit oder Absicht. Er war aufgestanden, hatte sich gebückt und die Scherben zusammengesucht. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, war ihm Barblas erschrockener Blick aufgefallen.
Den Teller musste er noch ein zweites und ein drittes Mal drehen, bis er leer war. Er hielt Barbla die neue Schnabeltasse mit dem Tee hin. Während sie mit geschlossenen Augen trank, betrachtete er ihr Gesicht. Es war nicht mehr das Gesicht einer knapp Vierzigjährigen. Es war, als hätte es sich in zwei Teile gespalten. In einen gesunden und einen kranken. Als hätte der Blitz eingeschlagen und Verwüstungen hinterlassen. Das eine Auge schien tiefer gesunken zu sein, der Mundwinkel auf derselben Seite zeigte schlapp nach unten, wie wenn daran ein unsichtbares Gewicht hinge. Furchen hatten sich in die Haut eingegraben, Rötungen und Schrunden von unkontrollierbarem Tränenfluss.
Er erinnerte sich an eine Wanderung, die sie vor Jahren an einem warmen Tag Ende August unternommen hatten. Die letzte gemeinsame. Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen den Weg ins Dorf fanden, waren sie aus dem Haus getreten und das Fahrsträßchen hochgestiegen, das auf die Maiensäße zu den Alphütten führte.
Im Wald war es noch kühl. Auf dem Huflattich am Wegrand lag Tau. Ein Tannenhäher flatterte durch die Arvenwipfel. Als unten im Dorf die Kirchenglocken zu läuten begannen, waren Barbla und er schon über der Baumgrenze und machten Rast.
Dann bogen sie in das schmale Seitental ein, das noch im Schatten lag. Bald erreichten sie die Alp Dadaint, deren Hütten und Ställe bereits leer und zugesperrt waren. Von hier verlief der Bergpfad seitlich stetig höher, bis er sich hinten, am Ende des Tals, in engen Serpentinen durch Geröllfelder und zwischen Felsstürzen hinaufwand zum Hochplateau.
Barbla war ihm immer um einige Meter voraus. Ihre weiße Bluse leuchtete vor dem Schieferblau der Felswände. Den beigefarbenen Rock, der ihre Beine sonst bis über die Waden bedeckte, hatte sie hochgekrempelt bis zu den Knien und den Saum mit Sicherheitsnadeln befestigt, damit es sich leichter ging. In ihrem Nacken wippte der Zipfel eines hellblauen Kopftuchs.
»Meine Gämse!«, dachte er.
Wie eines dieser gelenkigen Wildtiere erklomm sie leichtfüßig die Höhe. Manchmal schien es ihm, als berührten ihre Schuhe kaum den Boden. Er war stehen geblieben und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Barbla war bereits oben, wo die Sonne sie traf. Sie drehte sich um, lachte und winkte.
»Eine Gämse und ein Maultier«, stellte er fest, als er den Rucksack neben sie auf die Grasnarbe stellte.
»Mein armer Lastenträger!«
Barbla legte eine Maske gespielten Bedauerns auf, durch die gleich wieder das Lachen brach. Er drohte ihr mit dem Zeigefinger und zog sein Hemd aus.
»Du wirst dir einen Sonnenbrand holen«, warnte sie.
»Bei Maultieren besteht da wenig Gefahr.«
Er holte die Flasche aus dem Rucksack und reichte sie ihr.
»Und deine Beine, nackt wie die sind?«, fragte er. »Wenn die im Dorf unten wüssten, in welcher Aufmachung du da oben herumkraxelst – ich hab doch wenigstens noch das Unterhemd an.«
Sie streckte ihm die Zunge heraus. Er verdrehte die Augen. Da stand sie auf, fasste ihn an den Armen und küsste ihn.
»So, Anton Marxer, genug geschwätzt, die letzte Etappe steht uns noch bevor!«
Am späten Vormittag, fast vier Stunden nach ihrem Aufbruch unten im Tal, erreichten sie den ersten See. Obwohl die Sonne schien, kräuselte ein kühler Wind das türkisfarbene Wasser. Barbla zog Schuhe und Strümpfe aus und watete durch den seichten Uferbereich.
»Gletscherwasser!«, prustete sie schon nach den ersten Schritten.
Er holte die neue Voigtländer aus dem Rucksack, die er kürzlich gekauft hatte, klappte den Balg auf und folgte Barblas Hüpfern durch die Linse. Es reichte gerade noch für eine, wie sich später herausstellte, etwas verwackelte Aufnahme, bevor sie auf eine Steinplatte sprang, die wie eine Zunge aus dem Wasser ragte.
Barbla ließ sich auf dem Stein nieder und streckte die Füße aus. Er sah, wie eine Gänsehaut ihre nackten Beine überzog. Als er das Hemd überstreifte, nahm er eine Bewegung im Geröll wahr.
»Da oben ist jemand«, sagte er.
Barbla folgte seinem Blick. Auf dem Weg von der Seenplatte zur Fuorcletta ging ein Mann. Bisher war ihnen niemand begegnet. Rasch erhob sie sich, löste die Sicherheitsnadeln und ließ den Rock wieder auf Wadenlänge fallen. Die Füße rieb sie am vergilbten Gras trocken, schlüpfte in die Strümpfe und band die Schuhe.
Sie umrundeten den See. Über eine kleine Kuppe gelangten sie zum zweiten See, stießen bald darauf auf den dritten, einen größeren. Hier waren die Farben noch intensiver. Im tiefblauen Wasser spiegelte sich der Schnee der umliegenden Gipfel.
Wieder klappte er die Kamera auf, die er sich umgehängt hatte.
»Schade, dass man die Farben nicht festhalten kann«, sagte Barbla.
»Segantini hätte eine Staffelei heraufgeschleppt.«
»Heraufschleppen lassen«, korrigierte sie.
Er zuckte die Schultern. Der Wind wehte hier spürbar stärker. In einer felsigen Mulde fanden sie einen windgeschützten Platz für die Mittagsrast. Er öffnete den Rucksack und holte den Proviant heraus. Brotscheiben, Alpkäse, Trockenfleisch, dazu ein hartgekochtes Ei und als Nachspeise einen Apfel. Für die Verpflegung unterwegs war er verantwortlich. Das hatte auch sein Vater schon so gehalten.
Barbla, die im Rucksack nach ihrer Windjacke suchte, hielt plötzlich eine Tafel Schokolade in der Hand.
»Oh«, sagte sie, »was haben wir denn da für Schmuggelware?«
Sie leckte sich die Lippen.
»Statt Gipfelwein«, sagte er. »Gibt es erst oben auf dem Joch.«
Sie verzog das Gesicht, legte die Schokolade aber folgsam zurück. Er lachte.
»Braves Kind!«
Wenn er hinuntermusste, nach Chur, wo seine Eltern wohnten, besorgte er jedes Mal ein paar Tafeln von Barblas Lieblingssorte. Wo er sie aufbewahrte, bis er sie, eine um die andere, bei besonderen Gelegenheiten hervorzauberte, hatte sie rasch herausgefunden. In der untersten Schublade des Lehrerpults, verdeckt von Stößen bedruckten Papiers. Sie behielt ihr Wissen für sich.
Nach dem Essen stiegen sie wieder höher. Auf dem letzten Stück war das Gelände steil und eine einzige Geröllhalde. Einzelne Stellen waren schneebedeckt.
Wenn sie hinunterschauten auf den weiten Bergkessel mit seinen zahlreichen Seen, glaubten sie, in die spiegelnden Augen eines trägen, steinernen Tieres zu blicken. Barbla sprach es aus, und er nickte.
Oben auf der Fuorcletta packte sie der Wind. Sie waren auf fast dreitausend Meter Höhe. Der Blick ging über das schier endlose Tal nach Westen, das sich im Dunst verlor. Zu ihrer Linken, im Süden, erhob sich die weiße Kappe des Ortlers, greifbar nah und doch schon jenseits der Grenze, in der Ferne, in fremdem Land.
Schweigsam, beide mit sich und dem Abstieg beschäftigt, stiegen sie dann hinunter, verweilten nochmals beim tiefst gelegenen See, wie betäubt von den Eindrücken der Höhe und der Weitsicht.
Am frühen Abend stieß er die Tür des Schulhauses auf, sie stiegen die Treppe hoch in die Wohnung, aßen etwas und stillten den plötzlichen großen Durst. Die Nacht fand sie eng umschlungen, in einer rührenden Erschöpfung.
Barbla hatte die Schnabeltasse hingestellt, gefährlich nahe an der Tischkante. Anton langte hinüber und zog Tasse und Teller aus ihrer Reichweite. Jetzt blickte sie ihn an. Bewegte die Lippen, als wollte sie etwas sagen. Aber es kam kein Laut. Nur eine Art Schmatzen. Vielleicht hatte sie noch überschüssige Flüssigkeit im Mund. Auch das Schlucken bereitete ihr oft Schwierigkeiten.
Ihr Gesicht hatte nur noch im Schlaf eine Ähnlichkeit mit dem Gesicht in seiner Erinnerung.
Meine Barbla, dachte er.
Nein, sie gehörte nicht ihm. Nicht mehr. Manchmal wurde er wütend, regte sich über sie auf, über ihre Ungeschicklichkeit, ihre Fremdheit, die nicht mehr die Nähe von früher zuließ. Dann musste er hinaus, an die frische Luft, in den kühlen Nachtwind, in den strömenden Regen. Oft trat er auch nur vor die Haustür, unter das Vordach, und rauchte.
»So«, sagte er, »magst du nicht mehr essen.«
Es war eine Feststellung. Ohne Fragezeichen. Er stand auf, ging um den Tisch herum und wischte ihr mit der Serviette den Mund sauber. Er löste den Knoten, faltete sie zusammen und legte sie neben Barblas Platz.
»Ich räume noch ab«, sagte er, »dann gehen wir ins Bad.«
Sie drehte langsam den Kopf und folgte seinen Handbewegungen. Er stellte die Teller zusammen, nahm das Besteck und trug beides hinüber zur Spüle, in der noch das schmutzige Geschirr vom Mittag stand. Mit einem feuchten Lappen wischte er die Tischplatte sauber. Er warf ihn in den Spültrog, trocknete die Hände und kehrte zu Barbla zurück.
»Willst du alleine aufstehen?«, fragte er und hielt ihr den Gehstock hin.
Sie hob den Kopf, als müsste sie zuerst wissen, wer soeben zu ihr gesprochen hatte. Ihr Körper begann zu zittern, geriet in Schwingung, in Aufruhr. Es war die Anstrengung, er wusste es, die Anstrengung, mit der sie jeden Muskel, den sie noch unter Kontrolle hatte, antrieb, seinen Anteil beizusteuern, so dass es gelang. Aufzustehen. Nur das. Und er wusste, es war die Aufregung, die Unsicherheit, ob es tatsächlich auch gelingen würde. Oder ob sie es schließlich doch wieder nicht aus eigener Kraft schaffte. Aber sie wollte es so.
Dann stand sie da, leicht schwankend, mit dem Anflug eines Lächelns, wie er wahrzunehmen glaubte. Er hob anerkennend den Daumen, trat zur Seite, um Barbla den Vortritt zu lassen.
Sie machte einen ersten zaghaften Schritt mit dem rechten, dem gesunden Bein. Das linke, das von der Lähmung beeinträchtigt war, schleuderte sie in einem kleinen Halbkreis nach vorn, als wäre es ein Holzbein, ein Fremdkörper. Sie hatte wieder gehen gelernt, mühsam, unsicher, aber sie war zäh, war unerbittlich mit sich selbst. Es musste gehen. Und es ging.
Anton spornte sie an, half nur, wenn sie es zuließ. Trotzdem fürchtete er stets, sie könnte sich eines Tages nicht mehr erheben, sie könnte stürzen, während er ein Stockwerk tiefer die Schüler unterrichtete. Und er würde es vielleicht nicht einmal hören.
Er beobachtete genau, wie sie die Türschwelle meisterte. Im Flur überholte er sie, um die Tür zum Bad zu öffnen. Der Eingang war schmal. Auf der rechten Seite war das Waschbecken, darüber hing ein kleiner, grüner Spiegelschrank. Zur Linken stand die Badewanne auf gusseisernen Löwenpranken. In der Schreinerwerkstatt bei Flurin hatte er eine verschiebbare Holzabdeckung anfertigen lassen, die, über die gewölbten Ränder der Wanne gelegt, eine Sitzgelegenheit für Barbla ergab und als Ablagefläche für den Wäschekorb diente. An der Wand neben dem Waschbecken hatte bloß ein lackiertes Holzschränkchen Platz.
Barbla setzte sich auf den Wannensitz. Er nahm ihr den Stock ab und reichte ihr die Haarbürste. Ihr Haar hatte immer noch das dunkle Kastanienbraun der Jugend, stellte er fest, wenn er ihr bei der Pflege zusah. Da und dort hatte sich ein einzelner Silberfaden eingeschlichen.
Sie hielt ihm die Bürste hin. Er legte sie zurück auf das Schränkchen, hielt das Waschtuch unter den Heißwasserstrahl, wrang es aus und reichte es Barbla. Sie fuhr sich damit übers Gesicht, rieb Stirn und Wangen, tupfte die Augendeckel ab, die Nase, das rechte Ohr. Das linke vergaß sie, auch die linke Gesichtshälfte reinigte sie nie vollständig. Es war, als existierte diese Seite in ihrer Wahrnehmung nicht mehr. Er half nach, sie ließ es geschehen. Er wusste nicht, spürte sie es überhaupt.
Er nahm die Zahnbürste aus dem Glas, benetzte die Borsten, gab etwas Salz aus dem gläsernen Behältnis darauf und drückte sie Barbla in die Hand. Ihre Finger schlossen sich um den Griff. Sie führte die Bürste zum Mund. Es war eine ebenso unsichere Bewegung, wie wenn sie Löffel oder Gabel in der Hand hielt. Sie rieb sich damit so unkontrolliert über die Zähne, dass er sich jeweils fragte, ob die Prozedur überhaupt Sinn machte. Manchmal half er nach. Manchmal wurde es ihm zu viel und er ließ es bleiben. Am Morgen würde Babigna kommen, sie hatte mehr Übung in der Pflege von behinderten Menschen. Sie würde darauf bestehen, dass Zahnpflege wie Intimwäsche regelmäßig und gründlich erfolgten.
Er füllte ein Glas mit Wasser und hielt Barbla ein kleines Becken hin, damit sie sich nicht die Kleider beschmutzte. Er wartete, bis sie die Bürste kraftlos ins Becken sinken ließ und bereit war fürs Spülen. Mit dem Handtuch rieb er ihr anschließend die Mundwinkel sauber.
»Ich denke, für heute genügt es«, sagte er. »Was meinst du?«
Barbla nickte. Er reichte ihr den Stock. Sie stand auf. Vom Badewannenrand, der ziemlich hoch war, höher als jeder Stuhl oder Sessel, war das vergleichsweise ein Leichtes. Er ging ihr voraus in den Flur und öffnete die Tür zum Abort, der gleich neben der Wohnungstür nach hinten hinaus in einem hölzernen Anbau lag. Als er den Schalter drehte, flackerten die Drähte in der Glühbirne auf und tauchten den Raum in zitterndes Licht. Es gab noch nicht viele Häuser im Dorf, die bereits elektrischen Anschluss besaßen. Oder einen Heißwasserboiler. Das gab es seines Wissens nur im Pfarrhaus, im Schulhaus und bei Giusep Arquint, dem ehemaligen Gemeindepräsidenten, seinem Schwiegervater. Vor Jahren, als er hier eingezogen war, hatte er das Wasser noch unten am Brunnen holen müssen, und die Beleuchtung war mit Kerzen oder einer Petroleumlampe erfolgt.
Mit ihrem schlenkernden Fuß stieß Barbla an den Türrahmen und erschrak. Er schob sie sanft zur Seite und zog die Tür hinter ihr zu. Dass er mit hineinging, wollte sie unter keinen Umständen. Es wäre ihm auch peinlich gewesen. Dafür musste er in Kauf nehmen, dass sie manchmal roch. Er sagte nichts. Er wusste nicht, ob sie selber den Geruch wahrnahm oder nicht. Vielleicht war es ihr so peinlich wie ihm. Er war Babigna dankbar, dass sie konnte, was er nicht zustande brachte.
Während er im Flur wartete, versuchte er, seine Gedanken auf etwas anderes zu lenken, um nicht auf die Geräusche achten zu müssen, die hinter der angelehnten Tür zu hören waren. Um sich nicht überlegen zu müssen, ob sie jetzt endlich saß, ob sie wieder den hölzernen Sitz beschmutzte. Oder sich selber. Nein, er wollte nicht daran denken. Wollte keine Vorwürfe hochkommen lassen. Es war beschämend. Für sie beide. Beschämend.
Er erinnerte sich an den toten Vogel, den er am Vortag auf dem Schulhof gefunden hatte. Es war eine Meise gewesen, ein zerzaustes, blassgelbes Federbällchen. Sie musste in eine Fensterscheibe geflogen sein, in der sich das Licht und die Lärchen gespiegelt hatten. Am Schnabel des Vogels klebte geronnenes Blut. Die Augen waren geschlossen. Er holte den Spaten aus dem Keller und hob die Meise auf. Er trug sie über den Platz und seitlich hinunter an den Fuß der hohen Stützmauer. Dort grub er ein Loch, ein kleines nur, der Vogel war ja kaum so groß wie seine Faust. Es war nicht das erste Tier, das hier zu liegen kam. Im Lauf der Jahre war er zum Totengräber für allerlei Vögel geworden. Auch die alte Katze seines Vorgängers lag da. Und all die Mäuse, die immer wieder in die Falle gingen im Keller.
Dass es hier, unterhalb des Schulhofs, einen heimlichen Friedhof gab, wusste nur Barbla. Ihr konnte er solche Dinge sagen. Sie begann jeweils zu nicken, zustimmend, schien ihm. Als hätte sie es genauso gemacht. Im Dorf machte man kein Aufheben um ein totes Tier. Die Kadaver der kleineren warf man auf den Misthaufen, die größeren vergrub man darin.
Barbla würde es niemand weitererzählen. Er war sich sicher, dass sie das auch nicht tun würde, wenn sie noch sprechen könnte.
Barbla folgte ihm durch den Flur ins Schlafzimmer. Er half ihr, sich auszuziehen und das Nachthemd überzustreifen. Über dem dunkel gebeizten Doppelbett, dessen hoher Kopfteil strenge Ornamente in Form von Linien und angedeuteten Säulen zeigte, hing eine Kreuzabnahme. Das Bild war in schweren Brauntönen gemalt, die jetzt, im schwachen Licht der Deckenlampe, noch düsterer erschienen als tagsüber. Nur der Körper des Gekreuzigten leuchtete kränklich weiß, das nackte, tote Fleisch. Wirkliche Farben hatte der Maler einzig bei Marias Kleidern zugelassen: Rot und Blau.
Anton schlug die Decke zurück. Barbla setzte sich auf den Bettrand und lehnte ihren Stock gegen den Nachttisch. Er bückte sich und zog ihr am linken Fuß den Pantoffel aus. Der andere war bereits von selber abgefallen. Dann schob er den rechten Arm unter ihre Beine, um sie auf die Matratze hochzuheben. Weil er gleichzeitig mit dem linken ihren Oberkörper stützen musste, geriet er plötzlich aus dem Gleichgewicht. Er machte einen unbeabsichtigten Schritt seitwärts und stolperte dabei über Barblas Pantoffeln. Der unerwartete Schwung, der ihn dadurch erfasste, reichte gerade noch aus, um zu verhindern, dass er stürzte. Statt zu Boden fiel er, ungeschickt wie er war, über seine Frau auf die Matratze und lag quer auf ihren Oberschenkeln, wie eine Gliederpuppe, deren Fäden jemand durchgeschnitten hat.
Barbla hatte einen erschrockenen Laut ausgestoßen. Er hob den Kopf, stützte sich auf die Hände und vergewisserte sich, dass er ihr nicht wehgetan hatte.
»Tollpatsch, der ich bin«, entschuldigte er sich.
Aber dann sah er Barblas Augen, die plötzlich einen seltsamen Glanz bekommen hatten, er sah ihren Mund, der sich nicht schmerzhaft verzog, sondern zu einem unverkennbaren Lächeln geformt war. War es nicht für einen Augenblick, einen ganz kurzen, wie früher, wenn sie ins Bett gefallen waren und sich geliebt hatten? Er stand auf und drückte Barbla einen festen Kuss auf die Lippen. Noch während er sich abwendete, konnte er ein Lachen nicht mehr unterdrücken. Es schien zuerst nur belustigt, von der flüchtigen Szene hervorgerufen, aber als er zum Fenster trat, um die Vorhänge zuzuziehen, merkte er, dass es aus seinem Inneren kam, von sehr weit her, es breitete sich unaufhaltsam aus, bis es ihn schüttelte und er nur noch hoffte, dass Barbla seine Tränen nicht sah.
Er ging zur Tür und drehte den Lichtschalter aus. Erst dann zog er die Wolldecke zurecht, an der Barbla erfolglos zupfte, legte das Federbett darüber und richtete ihr das Kopfkissen.
»Gute Nacht!«
Seine Stimme klang brüchig. Er räusperte sich.
»Ich komme bald nach«, sagte er.
Sie bewegte sich nicht. Meist schlief sie schon, wenn er endlich den Weg ins Bett fand.
Er ließ die Schlafzimmertür einen Spaltbreit offen und im Flur das Licht brennen. So lag sie nicht völlig im Dunkeln und konnte ihn hören, wie er in der Küche hantierte, den Abwasch machte, Geschirr, Besteck und Pfannen wegräumte. Wie er anschließend in die Stube ging, sich in den Sessel setzte und das Radio einschaltete. Solange er Nachrichten hörte, drehte er den Lautstärkeregler absichtlich zurück. Die Nachrichten waren nicht gut. Schon lange nicht mehr. Im Allgemeinen nicht und auf die Nacht hin sowieso nicht. Erst wenn klassische Musik gesendet wurde, machte er lauter.
Er hatte den einen Band von Tschechow aus dem Regal genommen, das Buch lag auf seinem Schoß und wartete darauf, dass er es öffnete.
»Das ist dekadentes Geschreibsel«, hatte Peider Padrun, der Pfarrer, gesagt.
Er war der Einzige, mit dem man über Literatur sprechen konnte, seit sich der Austausch mit Barbla auf das Alltägliche, Nützliche, Notwendige beschränkte. Anton hatte Tschechows Namen dem Pfarrer gegenüber nie wieder erwähnt. Er wollte sich die Welt, in die er sich flüchten konnte, die ihm auf eine seltsame Weise nahestand, nicht zerstören lassen. Es war diese Mischung aus Traurigkeit und Melancholie, die er in sich aufsog, in die man sich wie in einen weichen, watteartigen Sessel hineinsinken lassen konnte.
Es kommt eine Zeit, dann werden alle erfahren, warum dies alles ist, warum diese Leiden; es wird keinerlei Geheimnisse geben, aber einstweilen muss man leben … man muss arbeiten, nur arbeiten!
Bücher hatten die Kraft, zu verwandeln. Sie konnten das Leben erträglicher machen. Sie konnten die Welt verändern. Sie konnten töten. Selber waren sie verletzlich. Wie ihre Autoren. Das Wort eines Einzelnen konnte sie vernichten. Eine Flamme genügte, um sie zu zerstören.
Er war ab und zu nach Davos gefahren, in die Buchhandlung, um sich nach alten und neuen Büchern umzusehen. Er hatte Barbla vorgelesen, als die Anstrengung des Lesens für sie zu groß geworden war. Kellers »Der grüne Heinrich« und »Der König der Bernina« von Jakob Christoph Heer. Eine Zeit lang war es zum Abendritual geworden. Aber auch das Zuhören hatte Barbla ermüdet. Sie war unruhig geworden oder eingenickt. Das letzte Buch, aus dem er ihr vorgelesen hatte, lag noch immer unbeendet auf ihrem Nachttisch.
Nach wie vor liebte Barbla hingegen die Musik. Sie hatte kein Instrument gespielt, das war nichts, was im Haus von Giusep Arquint Platz gehabt hatte. Aber sie war Mitglied des Kirchenchors gewesen. Sie hatte eine schöne Stimme gehabt.
»Der Sopran ist nicht mehr, was er war«, wiederholte Pfarrer Padrun bei jeder Gelegenheit. »Barblas Stimme ist nicht zu ersetzen.«
Wem sagte er das! Sie war oft heruntergekommen, ins Schulzimmer, wo hinten an der Wand das alte schwarze Klavier stand mit den schwenkbaren Kerzenhaltern aus Messing. Sie setzte sich an eines der Fenster und hörte ihm zu, wenn er Lust verspürte zu spielen. Wenn er in sich versunken mit den Händen über die vergilbte Elfenbeintastatur wanderte und Tonspuren legte, die hinausführten aus dem Raum, dem Haus, über das Dorf, das Tal hinweg, wie ein Schwarm flatternder, weißer Vögel.
Wenn er den Deckel zuklappen wollte, stand sie plötzlich hinter ihm, als hätte sie geahnt, dass er das tun würde, und legte ihm die Hände auf die Schultern. Er wusste, was sie damit meinte.
»Du hast bis jetzt nur für dich gespielt. Spielst du noch ein Stück für mich?«
»Natürlich. Oder: Für heute ist’s genug. Meine Finger sind wund.«
Dann lachte sie: »Ohne Musik kein Abendessen!«
Sie beneidete ihn dafür, dass seine Eltern ihn das Klavierspiel hatten erlernen lassen.
Dann hatte er lange Zeit nicht mehr gespielt. Es war, als betreffe Barblas Lähmung auch seine eigenen Hände. Bis sie ihn darum bat. Mit den Fingern der gesunden Hand hatte sie das Anschlagen der Töne imitiert. Jetzt ging er manchmal wieder hinunter, ließ alle Türen weit offen, dass die Töne den Weg fanden durchs Treppenhaus hinauf in die Wohnstube.
Wenn er spielte, dann nur noch für Barbla. Nie mehr für sich selber. Es ging einfach nicht mehr. Er hatte das Versinken verlernt. Mit den Schülern sang er jeden Morgen ein Lied zur Einstimmung in den Schultag. Aber er begleitete den Gesang nicht mehr, er schlug nur noch den Ton an. Zwei-, dreimal hintereinander, damit ihn alle aufnehmen konnten. Einen gequälten, scheppernden Ton. Das Klavier hätte seit Langem wieder einmal richtig gestimmt werden sollen.
Als die Hausglocke klingelte, war er sich nicht sicher, ob er nur geträumt hatte. Er musste im Sessel eingenickt sein. Im Lampenschirm machte sich der Nachtfalter wieder bemerkbar. Er blickte nach der Uhr auf dem Büffet. Es war halb zehn. Draußen war dunkle Nacht. Aus dem Radio erklang Klaviermusik. Er kannte das Stück nicht, aber er vermutete, dass es Mozart war. Mühsam erhob er sich aus dem Sessel und horchte. Wahrscheinlich hatte er sich getäuscht.
Trotzdem ging er hinaus ins Treppenhaus, öffnete das Fenster, das sich schräg über dem Hauseingang befand, und blickte hinunter. Es war schwierig, etwas zu erkennen, weil das Mondlicht fehlte. Wenn tatsächlich jemand die Klingel betätigt hatte, musste er unter dem Vordach vor der Tür stehen.
»Jemand da?«, rief er hinunter.
Er nahm eine Bewegung wahr. Die schmalen Umrisse eines Schattens.
»Ich bitte um Verzeihung …«
»Ist es nicht ein bisschen spät?«, brummte er.
»Ich weiß, es tut mir leid.«
»Ich komme«, sagte er und schloss das Fenster.
Er machte die Tür zur Wohnung zu und stieg die Treppe hinunter. Die Stimme gehörte einer Frau. Sie hatte einen fremden Akzent. Er konnte ihn nicht einordnen. Bevor er die Tür aufschloss, schaltete er die Lampe über dem Eingang ein.
Unten im Tal blinkten noch einige Lichter und zeigten an, wo das Dorf lag. Sie verließ den Weg, kletterte den Hang hinauf und kroch unter eine Tanne, deren ausladende Äste bis fast zu den Wurzeln reichten. Die Wärme des Tages hatte sich unter diese schützenden, dunklen Arme zurückgezogen, und es war, als liege auf dem von Nadeln bedeckten Boden die noch nicht völlig erkaltete Asche einer ausgetretenen Feuerstelle.
Ihr Atem ging stoßweise. Bereits eine Stunde war sie den Hang hinaufgestiegen. Sie musste sich ausruhen. Obwohl die Furcht, die stetige Begleiterin, dies kaum zuließ. Nun war sie schon den dritten Tag unterwegs.
»Anna, du musst fliehen!«, hatte Magda sie beschworen. »Du bist die Nächste, die sie holen!«
»Ich habe die Kraft nicht«, hatte sie geantwortet. »Nicht mehr. Wozu sollte mein Leben noch gut sein?«
»Du kannst dein Leben doch nicht einfach wegwerfen!«, hatte Magda zornig gesagt.
Aber sie hatte nur den Kopf geschüttelt. Sie hatte alles verloren. Josef und das Kind, ihr einziges.
»Ich habe alles verloren, was es zu verlieren gab.«
»Das Leben ist noch nicht vorbei – geh, Anna! Nicht für dich. Geh! Mir zulieb …«
Magda hatte sie davon abgehalten, den naheliegenden Fluchtweg nachts über den Rhein zu wagen. Die Schweizer Grenze wurde gut bewacht. Und in den Sümpfen des Riedlandes konnte man sich nicht nur verirren. Auch wenn tagsüber die Hügel des Appenzellerlandes mit Händen greifbar schienen, hatte Magda ihr geraten, den beschwerlicheren Weg hinauf durch das Montafon und über einen der alten Säumerpässe zu wählen.
Langsam beruhigte sich ihr Puls. Sie konnte den Bergweg unter sich sehen und würde jede Bewegung sofort bemerken, falls jemand heraufgestiegen käme. Hier unter dem dunklen Dach der Äste blieb sie unsichtbar. Sie öffnete die Tasche und kaute an der hart gewordenen Rinde des letzten Stücks Brot. Proviant hatte sie nur ganz wenig mitnehmen können, Brot, Hartkäse, zwei Äpfel, eine Flasche mit Lindenblütentee. Sie hatte gewusst, es würde nicht reichen, auch bei strengster Einteilung nicht. Hätte sie genügend Verpflegung mit sich geführt, für mehrere Tage, hätte eine Kontrolle fatale Folgen haben können.
»Kein Gepäck!«, hatte Magda gesagt. »Nur eine Tasche, als ob du zu Besuch fährst. Und die Fahrkarte hin und zurück.«
Sie war froh gewesen, jemand zu haben, der für sie dachte. Die einfachsten Dinge hätte sie falsch gemacht. Wäre der Spinne ins Netz gelaufen und hätte sich darin verheddert, noch ehe der erste Tag um war.
»Trau niemand, schließ dich niemand an! Verlass dich nur auf dich selbst!«
Vorgestern hatte Magda sie ein letztes Mal umarmt.
»Du schaffst das!«
»Und wenn man nach mir fragt?«
»Wir werden einfach sagen, du bist nach Innsbruck gefahren, um deine betagten Eltern zu besuchen.«
»Aber meine Eltern …«
»Sind in Graz, ich weiß. Aber das werden wir denen doch nicht haarklein erzählen, Liebes.«
»Und dein Mann?«
»Weiß hoffentlich, was er tut.«
Magdas Mann war bereits vor dem Anschluss ans Reich in die Partei eingetreten. Er musste sich Vorteile ausgerechnet haben. Ihr gegenüber war er immer höflich gewesen. Trotzdem hatte Magda sie nur mit Mühe davon überzeugen können, dass er mit Josefs Verhaftung nichts zu tun hatte. Dass er ihn im Gegenteil gewarnt hatte. Aber Josef hatte ihm nicht geglaubt. Er hatte sich doch stets korrekt benommen, sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Was sollten sie gegen ihn vorzubringen haben? War es nur schon, weil er sich bisher aus allem herauszuhalten versucht hatte? Dass seine Großmutter mütterlicherseits jüdische Wurzeln gehabt hatte, erfuhr sie nicht erst, als die Behörde sie vorlud und ihr mitteilte, Josef Schwarz, ihr Ehemann, sei während des Transports in ein Lager bei einem Fluchtversuch erschossen worden. Aber sie hatte es verdrängt.