Doris Oetting


Kalte Liebe in Cuxhaven








Kriminalroman






Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie der Autorin. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.
Nicht erfunden sind Institutionen und Schauplätze in Cuxhaven und im Cuxland.




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Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-214-0
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-203-4

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Die Autorin
Doris Oetting wurde im Mai 1970 in Lübbecke geboren, lebt und arbeitet inzwischen aber seit vielen Jahren in Minden. Sie ist glücklich verheiratet, kinderlos und hauptberuflich in einer Werbeagentur tätig. Im März 2016 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dem eine Sammlung von Kurzgeschichten folgte, einige kriminellen Geschichten erschienen seither in verschiedenen Anthologien. Gerne spielen ihre Romane an der Nordsee: Dem Inselroman »Haus auf Föhr« (2018) folgt nun dieser Cuxhaven-Krimi.

Mehr Informationen über die Autorin unter:
www.doris-oetting.de
Prolog
12. November 2019

Halb zwölf mittags, aber es sah aus, als ginge der Tag bereits wieder zu Ende. Jeden Moment würde es anfangen zu regnen. Die Szenerie an dem offenen Grab wirkte wie ein Standbild, während rings um den Friedhof in Otterndorf alles seinen gewohnten Lauf nahm. Busse schluckten Fahrgäste und spuckten andere aus. Männer und Frauen mit Einkaufstaschen eilten vorbei. Ein paar Schulkinder waren auf dem Heimweg und Rentner mit Hunden an der Leine flanierten durch den Ort, in der Hoffnung auf einen kurzen Plausch mit einem Bekannten. Aber an dem Familiengrab unweit der Kapelle erschien alles wie eingefroren. Als hätte man beim Anschauen eines Filmes auf Pause gedrückt.
Nina Bergmann ließ ihren Blick über die Trauergemeinde wandern, die kaum als solche bezeichnet werden konnte, da außer ihr nur Frau Mattis, der Pastor und der Urnenträger anwesend waren. Der ließ das Seil, an dem das Gefäß hing, langsam durch seine weiß behandschuhten Hände gleiten, nachdem der Pastor ihm das Stichwort gegeben hatte. Die Urne verschwand in dem kleinen, aber tiefen Loch. Frau Mattis schluchzte laut auf und schwankte bedenklich. Nina trat näher an sie heran und legte den Arm um die gebeugten Schultern der alten Dame. Frau Mattis tat ihr leid. Dass sie diesen furchtbaren Tag mit ihren vierundachtzig Jahren noch erleben musste, machte Nina traurig und fassungslos zugleich. Frau Mattis schenkte ihr einen kurzen dankbaren Blick, während weiter die Tränen aus ihren Augen herausrannen. Es musste sehr schmerzhaft für sie sein, das zu erleben. Der Mann, der vor fünf Wochen gestorben und vor drei im Sahlenburger Krematorium eingeäschert worden war und den sie heute zur letzten Ruhestätte geleiteten, war nur dreißig Jahre geworden. Außerdem war er gewaltsam zu Tode gekommen. In einer Kabine der Herrentoiletten bei der Kurverwaltung in Cuxhaven-Duhnen hatte man ihn in den Morgenstunden des sechsten Oktobers aufgefunden. Die Obduktion hatte ergeben, dass der Mann erwürgt worden war, aber vom Täter fehlte bisher jede Spur. Die Polizei ermittelte in alle Richtungen, hieß es, doch das bedeutete wohl nur, dass sie keinen Schimmer hatte, wer diese furchtbare Tat begangen haben könnte.
Ihre Überlegungen wurden unterbrochen, als der Pastor auf Frau Mattis zutrat, ihr die Hand schüttelte und ihr sein Beileid aussprach. Da er Nina nicht kannte, sie aber offensichtlich in irgendeiner Verbindung zu Frau Mattis stand, wiederholte er ihr gegenüber sowohl die Geste als auch die Worte. Dann verließ er die Grabstelle mit angemessen langsamen Schritten, obwohl bereits die ersten dicken Regentropfen vom Himmel fielen. Zusammen mit Frau Mattis trat sie nach vorne ans Grab, ließ die mitgebrachten Blumen auf die Urne fallen und verharrte einen Moment im Gedenken an den Verstorbenen. Sie hatte ihn zwar nicht lange, aber dennoch gut gekannt.

Zwei Stunden später stand sie vor dem Fenster in Frau Mattis’ Wohnzimmer. Die alte Dame hatte sich nach ihrer Rückkehr vom Friedhof auf ihr Sofa gelegt und war vor Trauer und Erschöpfung sofort eingeschlafen. Nina Bergmann sah hinaus auf die Straße und dachte daran, wie sie dem Mann, den sie heute zu Grabe getragen hatten, zum ersten Mal begegnet war. Es war auf den Tag genau zehn Wochen her.
Kapitel 9
Den ganzen Sonntag über hatte sie auf dem Sofa gelegen und sich eine Folge nach der anderen von ihrer Lieblings-Netflix-Serie The Crown angesehen. Sie mochte die Geschichten über das britische Königshaus. Vielleicht wäre die Queen not amused gewesen über so viel Faulenzerei, aber das Wetter ließ kaum Alternativen zu, denn: It was raining cats and dogs. Am Nachmittag fragte Oliver per WhatsApp, ob es ihr passen würde, wenn er am Freitagabend käme, um Clara zu bringen. Sie sagte den Termin zu und überlegte, ob sie schreiben sollte, dass sie sich darauf freute, ihn wiederzusehen, entschied sich jedoch dagegen. Lieber nicht zu dick auftragen. Umso mehr gefiel ihr, als eine weitere Nachricht von Oliver kam: Dann bis Freitag, ich freue mich darauf, dich wiederzusehen. 
Gegen Abend brannten ihre Augen von den vielen Stunden vor der Flimmerkiste. Zum Arbeiten hatte sie keine Lust, zum Spazierengehen war es bereits zu spät, aber um ins Bett zu gehen, wiederum zu früh. Sie ging zum Wohnzimmerschrank, holte die alten Fotoalben hervor und gab sich ihren Erinnerungen hin.
Auf einem einzigen Foto entdeckte sie Peters Schwester Frauke. Bei ihrem allerersten Besuch auf Neuwerk zusammen mit Mama und Peter war sie sieben oder acht Jahre gewesen und sie erinnerte sich nur bruchstückhaft an den Tag. Die Fahrt mit der Kutsche durch das Watt hatte Spaß gemacht. Vor Frauke hatte sie im ersten Moment Angst gehabt, denn sie sah genauso aus wie die Hexe in ihrem Märchenbuch. Sehr groß, sehr dünn, mit einem hageren Gesicht und einem Blick, mit dem sie einen scheinbar durchbohrte. Nina hatte damals aber trotz ihres jungen Alters schnell begriffen, dass Frauke viel netter war, als ihr Aussehen vermuten ließ.
Im Laufe des Nachmittags war dann ein Streit zwischen Frauke und Mama und Peter entstanden. Worum es gegangen war, wusste Nina nicht. Sie waren danach nie wieder zusammen nach Neuwerk gefahren, und Peter wollte bis heute nichts mehr von Frauke wissen, obwohl Nina ihn Jahr für Jahr zu Weihnachten und zum Geburtstag an seine einzige Schwester erinnerte. Dass Nina kurz nach dem Abitur einen erneuten Ausflug nach Neuwerk unternommen hatte, wusste Peter bis heute nicht. Damals hatte sie eine Woche alleine in Duhnen verbracht und war mit der Fähre übergesetzt, um Frauke zu besuchen. Nicht aus Sentimentalität oder wegen irgendwelcher familiären Gefühle, sondern weil sie eine rebellische Phase ihren Eltern gegenüber gehabt hatte und sich bei ihrem Ausflug auf die Insel sehr verwegen vorgekommen war.
Dass ihr Stiefvater den Kontakt zu Frauke nach wie vor ablehnte, hieß aber nicht, dass Nina es genauso machen musste. Einem spontanen Entschluss folgend, setzte sie sich an den Küchentisch und schrieb einen Brief an ihre Tante, in dem sie ihr nachträglich zum Geburtstag gratulierte. Auf Neuwerk wohnten ihrer Internetrecherche nach nur knapp 40 Menschen, es war deshalb davon auszugehen, dass der Postbote jeden einzelnen Bewohner kannte. Frauke hatte nie geheiratet, also war ihr Nachname Mertens. Gleich morgen früh wollte Nina den Brief zum Postkasten bringen. Sie hoffte, dass er sein Ziel erreichte: Frauke Mertens, Insel Neuwerk.

Am Montag war das Wetter wieder nasskalt und ungemütlich, so dass sie nach dem Frühstück nur schnell den Brief an Frauke einwarf, ansonsten aber auf einen Spaziergang verzichtete. Stattdessen mistete sie ihren Kleiderschrank aus und trennte sich von allen Klamotten, die ihr nicht mehr gefielen oder nicht mehr passten oder beides. Danach beschloss sie, zum Baumarkt in Cuxhaven zu fahren und alles einzukaufen, was sie brauchte, um sich endlich den Traum von einer Wohnzimmerwand in altrosa zu erfüllen. Kurz vor ihrem Einzug hatte Frau Mattis von einem Maler alle Wände in ihrer Wohnung weiß überstreichen lassen, damit es frisch und sauber aussah. Und das tat es, doch Nina wünschte sich nun mal eine Wand in Altrosa. Schon in Bremen hatte sie diese Idee einmal zur Sprache gebracht, aber Lars hatte nur gelacht und gemeint, »oma-pink« wolle er in seinem Zuhause nicht sehen. Sie hatte eingelenkt. Das hatte sie schließlich immer getan. Doch hier, in ihrem eigenen Reich, konnte ihr zum Glück niemand mehr etwas vorschreiben oder verbieten.
Im Baumarkt ließ sie sich den gewünschten Farbton von einem Verkäufer mischen und holte anschließend Malerkrepp, Pinsel und Farbroller. Auf Abdeckfolie verzichtete sie, das wäre nichts weiter als ein unnötiger Berg Plastikmüll gewesen, alte Zeitungen taten es auch. Auf dem Weg zur Kasse fiel ihr ein, wie sie Papageiendame Clara den Einzug in ihr neues Zuhause erleichtern konnte. In Jeffreys Käfig gab es ein Schaukelseil, das er heiß und innig liebte und auf dem er fast den ganzen Tag saß. Und wenn Clara ebenso gerne schaukelte? Nina beschloss, ein Stück Naturseil zu kaufen und damit eine zweite Schaukel zu bauen. Schnell fand sie die entsprechende Abteilung. Sie schnitt mit dem am Regal befestigten Messer einen Meter von der Naturseilrolle ab.
Als sie mit ihrem Einkaufswagen um die Ecke bog, hätte sie beinahe einen anderen Kunden angefahren. Sie konnte den Zusammenstoß zum Glück noch abfangen und wollte sich gerade entschuldigen, als sie den Mann erkannte. Marius Engel stand grinsend vor ihr. In der Hand hielt er einen kleinen Karton. Sie versuchte, wortlos an ihm vorbeizukommen, aber er versperrte ihr mit einem schnellen Schritt zur Seite erneut den Weg.
»Was fällt Ihnen ein? Lassen Sie mich vorbei!«, fauchte sie.
»Hallo, Frau Bergmann«, antwortete er gänzlich unbeeindruckt von ihrer Wut. »Was für ein schöner Zufall.«
»Meine Freude hält sich in Grenzen«, schleuderte sie ihm entgegen. Sein Grinsen war widerlich. Zufall! Das glaubte er doch selbst nicht. Sie überlegte, ob sie ihn mit ihrem Verdacht konfrontieren sollte, dass er derjenige war, der ihr die gemeinen Nachrichten schickte. Doch irgendetwas hielt sie zurück. Sie wollte nur weg von hier, aber jetzt stützte er sich mit beiden Unterarmen auf dem Einkaufswagen ab, als hätte er vor, noch einige Zeit zu verweilen. Dann hob er die Hand mit dem kleinen Pappkarton und strich sich mit der Ecke der Schachtel übers Kinn. Sie erkannte, dass es sich um eine Packung Rattengift handelte. Hätte er es nicht in Ottendorf kaufen können? Oder brauchte er es nicht in Otterndorf, sondern hier? War das Gift für sie bestimmt? War das sein nächster Schlag gegen sie? Oh je, sie durfte jetzt auf keinen Fall paranoid werden. Hatte sie sich nicht vorgenommen, cool zu sein und ihm damit sein zweifelhaftes Vergnügen zu verderben?
»Tja, Herr Engel«, sagte sie so gelangweilt wie möglich, »ich habe weder Zeit noch Lust, um mit Ihnen zu plaudern, also werden Sie mir jetzt sofort aus dem Weg gehen, verstanden?«
Das Grinsen auf dem Gesicht von Marius Engel veränderte sich kein bisschen, aber er trat tatsächlich zur Seite und ließ sie vorbei. Mit wackeligen Schritten ging sie zur Kasse. Sie fühlte seinen Blick im Rücken und hoffte, dass er nicht sah, wie ihre Knie zitterten.

Auf dem Weg nach Hause machte sie einen Abstecher zum Städtischen Friedhof in der Sahlenburger Straße. Kreuz und quer lief sie zwischen den Gräbern umher. Ziellos, denn sie kannte keinen einzigen der Menschen, die hier im Laufe von vielen Jahrzehnten beerdigt worden waren. Ab und zu setzte sie sich für ein paar Minuten auf eine der Bänke und spürte, wie ihre innere Ruhe wiederkehrte. Schon immer hatten Friedhöfe eine beruhigende Wirkung auf sie gehabt. Von hier aus betrachtet, wurden alle Probleme kleiner, lösbarer, weniger bedrohlich. Sich die Endlichkeit des eigenen Lebens bewusst zu machen, hatte ihr stets geholfen, die Dinge klarer zu sehen. In ihrer Zeit als Teenager hatte sich ihre Mutter Sorgen deswegen gemacht. Welches normale heranwachsende Mädchen fühlte sich schon zwischen Gräbern wohl? Als sie aber verstanden hatte, dass Nina dort zur Ruhe kommen und ihre Gedanken sortieren wollte, anstatt in düsteren Klamotten irgendeinen Kult zu betreiben, hatte sie ihre Tochter gewähren lassen. Auch heute erfüllte der Aufenthalt an diesem friedlichen Ort seinen Zweck. Sie wurde ruhiger und die Begegnung mit Marius Engel spukte nicht mehr die ganze Zeit in ihrem Kopf umher. Als es schon dunkel war, ging sie zu ihrem Auto und fuhr nach Hause.
Zurück in ihrer Wohnung kochte sie sich Spaghetti mit Tomatensoße, stocherte dann aber appetitlos auf ihrem Teller herum. Das Fernsehprogramm ließ wieder einmal zu wünschen übrig, also beschloss sie gegen halb zehn, ins Bett zu gehen und zu lesen. Sie schaltete gerade den Fernseher aus, als ihr Handy den Eingang einer WhatsApp-Nachricht meldete. Oliver schrieb: Nur noch vier Tage, bis wir uns wiedersehen. Ich freue mich. Sie antwortete: Ich mich auch. Sehr sogar.
Kapitel 10
Marius

Er stand wieder hinter der hohen Hecke des Nachbargrundstücks. Dass ihm die Sache Spaß machte, konnte er beim besten Willen nicht behaupten. Es war kalt, es regnete und es war sterbenslangweilig, weil im Wehrbergsweg so wenig passierte. Nina Bergmann war am Dienstagmorgen nur einmal kurz mit ihrem Auto weggefahren. Während er noch überlegte, was sie vorhaben mochte, kehrte sie schon wieder zurück und verschwand mit einer Brötchentüte unter dem Arm im Haus. Den Vormittag brachte Marius mangels Alternative damit zu, seine Oma zu beobachten. Sie räumte ihre geliebten Orchideen von der Fensterbank und putzte das Wohnzimmerfenster, was man bei diesem miesen Wetter nur als Beschäftigungstherapie betrachten konnte. Anschließend reihte sie die Blumentöpfe wieder akribisch auf. Ganz großes Kino für ihn.
Gegen zwei Uhr am Nachmittag warf Nina einen dicken Stapel Zeitungen in die Papiertonne. Sie sah zerzaust und verschwitzt aus, scheinbar hatte sie ihre Renovierungsarbeiten abgeschlossen. Er hatte den Farbeimer gestern in ihrem Einkaufswagen gesehen, aber nicht auf den Farbton geachtet. Die Flecken und Kleckse auf ihrem weißen T-Shirt verrieten ihm, dass ihre Farbvorlieben nicht seinen Geschmack trafen. Bevor Nina ins Haus zurückging, sah sie sich verstohlen nach allen Seiten um, und Marius hatte sich an ihrer Angst geweidet.
Eine gute Stunde später kam Nina wieder heraus, warm angezogen und mit ihren leuchtend bunten Gummistiefeln an den Füßen. Sah aus, als wollte sie einen Spaziergang am Strand machen, um nach dem Farbgeruch jetzt frische Luft in ihre Lungen zu pumpen. Marius dachte einen Moment darüber nach, ob er ihr folgen und ein weiteres vermeintlich zufälliges Zusammentreffen inszenieren sollte, überlegte es sich aber anders. Er würde die Zeit nutzen und sich das Ergebnis der Renovierung ansehen. Einen Haustürschlüssel hatte er, und clever, wie er war, hatte er den Zweitschlüssel für Ninas Wohnung, den seine Oma für Notfälle in ihrem Garderobenschränkchen aufbewahrte, schon letzte Woche an sich genommen. Die scheintote Alte hatte davon nichts mitbekommen.
Marius wartete, bis Nina um die nächste Hausecke verschwunden war. Dann schlich er sich an das Wohnzimmerfenster seiner Oma. Er musste wissen, was sie tat, denn sie durfte ihn auf keinen Fall beim Betreten des Hauses erwischen. Gertrud Mattis lag ausgestreckt auf dem Sofa. Die Brille hing schief auf ihrer Nase und sie schien tief und fest zu schlafen, fix und fertig von der unsinnigen Fensterputzaktion. Marius war das nur recht.
Er schloss die Haustür auf und ging die Treppe hinauf zu Ninas Wohnung. Leise drehte er den Schlüssel herum und trat ein. Er kannte die Räumlichkeiten, aber natürlich nicht mit Ninas persönlicher Note. Sein erster Weg führte ihn ins Arbeitszimmer. Die Fülle an Büchern schreckte ihn ab und der Computer war so alt wie Methusalem. Wie konnte man bloß noch mit einem solchen Gerät arbeiten? In einem riesigen Käfig saß der blöde Papagei, von dem ihm seine Oma schon erzählt hatte. Zum Glück schlief das Vieh und bemerkte ihn nicht.
Marius ging in die Küche, die penibel sauber und aufgeräumt war und durch die man in das angrenzende Wohnzimmer kam. Er betrachtete die frisch gestrichene Wand, die denselben Farbton aufwies wie die Flecken auf Ninas T-Shirt. Ekelhaft. Eine echte Weiberfarbe. Nur raus hier.
Im Badezimmer verzichtete er auf einen Blick in die Schränke, denn der Kram, den er dort zweifellos finden würde, interessierte ihn nicht. Nur das Täschchen mit den Schminksachen auf der Ablage über dem Waschbecken sah er sich genauer an. Wofür brauchte eine Frau so viele Lippenstifte, die sich farblich kaum unterschieden? Danach inspizierte er das Schlafzimmer. Das Bett war ordentlich gemacht und auf dem Nachtschränkchen daneben stapelten sich Bücher. Er öffnete den Kleiderschrank und ließ den Blick über Ninas Klamotten schweifen. In einer Schublade bewahrte sie ihre Unterwäsche auf. Marius steckte einen schwarzen Spitzen-BH in seine Jackentasche.
Kapitel 11
Es war ziemlich windig, aber wenigstens regnete es nicht mehr. Der Spaziergang war eine gute Idee gewesen. Es war Ebbe, deshalb hatte Nina ihre Gummistiefel angezogen und war ein Stück hinaus ins Watt gegangen. Immer wieder faszinierte es sie, über den Meeresboden zu wandern, diese meistens verborgene Welt, die sich hier in verlässlicher Regelmäßigkeit dem Betrachter offenbarte. Sie wusste, dass viele Leute die Ostsee als Urlaubsziel bevorzugten, weil sie da zu jeder Tageszeit ins Wasser gehen konnten, aber gerade das Spiel der Gezeiten war es, was Nina an der Nordsee liebte. Mitten im Naturpark Wattenmeer schienen alle Sorgen und Probleme winzig zu werden, hier war es möglich, weit über die eigene Existenz hinauszuschauen. Trotzdem wurde es langsam Zeit, umzukehren. Sie wusste zu genau Bescheid über die Gefahren, die die einsetzende Flut mit sich brachte, und wollte sich keiner von ihnen aussetzen.
Zurück am Strand vibrierte das Handy in ihrer Jackentasche. Sie warf einen Blick auf das Display, bevor sie das Gespräch annahm. »Hallo, Peter!«
»Hallo, Sternchen! Was machst du?«
»Ich bin am Meer «, gab sie Auskunft. »Es ist beinahe menschenleer und ziemlich windig.«
»Klingt deprimierend«, fand Peter.
»Nein, es ist wunderbar. Du weißt, wie sehr ich das alles hier liebe.«
»Ich habe ja nichts gegen Duhnen als Urlaubsdomizil, obwohl die Welt weitaus mehr zu bieten hat, aber das ist ein anderes Thema. Ich finde nur, du könntest hier in Bremen ein wesentlich geselligeres und abwechslungsreicheres Leben führen. Außerdem wäre ich sofort da, wenn du mich brauchst.«
Sie hatte diese Unterhaltung mit ihrem Stiefvater schon zig Mal geführt, doch sie blieb ruhig, weil sie seine Fürsorge zu schätzen wusste und ihn nicht kränken wollte. »Peter, ich bin erwachsen, und zwar seit geraumer Zeit. Glaub mir, ich komme gut alleine klar, und es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen musst.« Mit Ausnahme einiger Droh-SMS und dieses Typen, der mich verfolgt, setzte sie der Vollständigkeit halber in Gedanken hinzu.
Peter schwieg für einen Moment, dann sagte er: »Weißt du, es ist meine Hauptaufgabe, mir Sorgen um dich zu machen. Und seit deine wunderbare Mutter von uns gegangen ist, gilt das umso mehr.«
»Ich weiß«, lenkte sie ein. »Aber ich bin über dreißig, und da steht man auf eigenen Füßen.«
»Schon gut, ich will dir ja nicht auf die Nerven gehen«, erwiderte er.
»Das könntest du gar nicht. Ganz nebenbei bist du nämlich zufällig auch mein bester Freund.«
»Na toll«, lachte Peter, »ist der beste Freund des Menschen nicht sein Hund?«
Sie stimmte in sein Lachen ein, dann sagte sie: »Mach’s gut und lass uns bald wieder telefonieren, okay?«
»Ganz bestimmt. Mach’s gut, Sternchen.«

Als sie in ihre Wohnung zurückkehrte, war es schon fast dunkel. Noch bevor sie ihre Jacke auszog, ging sie ins Arbeitszimmer, um nach Jeffrey zu sehen.
»Okay, okay, alles okay«, schmetterte ihr der Papagei sofort entgegen.
»Hallo, Jeffrey. Freust du dich auf deine neue Freundin?«
»Ja, ja, ja«, antwortete der Vogel, als hätte er jedes Wort verstanden. Sie musste lachen. Mit einem Blick auf ihren Schreibtisch beschloss sie, die Arbeit heute ruhen zu lassen. Morgen würde sie mit ihrem neuen Auftrag starten.
An der Garderobe zog sie ihre Jacke aus und nahm das Handy aus der Tasche. Das Display zeigte den Erhalt einer SMS an. Wahrscheinlich hatte sie das Piepen draußen wegen des Windes nicht gehört. Die Nachricht kam von einer neuen unbekannten Nummer. Sie dachte einen Moment darüber nach, die SMS ungelesen zu löschen, aber um seinem Feind begegnen zu können, musste man ihn kennen.
Die Kackfarbe im Wohnzimmer ist doch wohl nicht dein Ernst. Wütend warf sie das Handy auf die Arbeitsplatte. Von Anfang an war sie davon ausgegangen, dass die gemeinen Nachrichten von Marius Engel kamen. Jetzt war sie absolut sicher. Er hatte gesehen, dass sie im Baumarkt Farbe und andere Malerutensilien gekauft hatte. Was ihr aber blankes Entsetzen verursachte, war die Tatsache, dass er zu wissen schien, in welchem Raum sie gestrichen hatte. Woher wusste er, dass sie die Farbe nicht im Schlaf- oder Arbeitszimmer oder in der Küche verwendet hatte? Hektisch und am ganzen Körper zitternd ließ sie den Blick durchs Wohnzimmer wandern. Alles sah aus wie immer. Nichts hatte sich verändert, nichts schien zu fehlen. Trotzdem war für sie nichts mehr wie vorher. An diesem Abend schloss sie ihre Wohnungstür doppelt ab, ließ den Schlüssel stecken und nahm zum ersten Mal in ihrem Leben eine Schlaftablette, um zur Ruhe zu kommen.

Als sie am Mittwoch aufwachte, war es schon halb zehn. Sie fühlte sich ausgeruht und ihre Nerven hatten sich beruhigt, was sicher an dem Medikament lag, das sie gestern eingenommen hatte. Natürlich lief ihr immer noch ein Schauer über den Rücken angesichts der Vermutung, dass Marius Engel sich in ihrer Wohnung aufgehalten haben könnte. Aber logisch überlegt fragte sie sich, wie er überhaupt hereingekommen sein sollte. An der Tür waren definitiv keine Einbruchspuren zu sehen. Frau Mattis hatte einen Zweitschlüssel für Notfälle, doch sie hätte ihrem Enkel den Schlüssel niemals ausgehändigt, dessen war Nina sich absolut sicher. Wahrscheinlich hatte der schräge Typ nur ins Blaue gequatscht und eins und eins zusammengezählt, nachdem er sie im Baumarkt getroffen hatte. Dass sie mit der Farbe, die er in ihrem Einkaufswagen gesehen hatte, das Wohnzimmer streichen würde, war womöglich nur eine Vermutung, mit der er jetzt zufällig richtig lag. Was bedeutete das alles schon? Auf keinen Fall wollte sie zulassen, dass diese Zwischenfälle, mit denen der kranke Nerd seinen Alltag zu beleben versuchte, ab jetzt ihre Gedanken bestimmten.
Nach einer Dusche und einem Frühstück machte sie sich wie geplant an die Arbeit. Mit der Übersetzung des Romans über Friedrich I., der von 1155 bis 1190 als römisch-deutscher Kaiser das Reich regiert hatte und den meisten als Kaiser Barbarossa geläufig war, kam sie nicht gut voran. Die Handlung war hölzern konstruiert, teilweise sogar albern, und Nina kämpfte sich lustlos und quälend langsam durch den Text. Erst spät in der Nacht hörte sie auf und fiel dann erschöpft in einen tiefen Schlaf.

Der Donnerstag war eine komplette Wiederholung des Tages davor. Sie arbeitete konzentriert, wenn auch ohne großen Enthusiasmus an der Barbarossa-Übersetzung und gönnte sich nur kurze Pausen. Zwischendurch schob sich immer wieder das Bild von Marius Engel in ihre Gedanken und verursachte ein unangenehmes Gefühl von Angst und Unsicherheit. Sie wehrte sich dagegen, so gut es ging, und machte verbissen weiter. Das Ergebnis war, dass sie am Donnerstagabend so gut vorangekommen war, dass sie spontan beschloss, am Freitag nicht zu arbeiten. Stattdessen putzte sie die Wohnung, kümmerte sich um ihre Wäsche, kaufte ausgiebig ein und freute sich auf den Abend mit Oliver.
Als die Sonne nachmittags zum ersten Mal seit Tagen durch die Wolken lugte, wäre Nina liebend gerne zum Strand gegangen, um sich die frische Seeluft um die Nase wehen zu lassen. Aber was, wenn Marius Engel sie wieder verfolgte? Vielleicht stand er jetzt gerade vor dem Haus und beobachtete sie. Auf eine erneute gruselige Begegnung hatte sie nicht die geringste Lust. Außerdem wollte sie sich durch nichts die Vorfreude auf den heutigen Abend verderben lassen.
Kapitel 12
Als es abends um halb sieben klingelte, sahen sowohl Nina als auch ihre Wohnung aus wie aus dem Ei gepellt. Oliver kam herein, steuerte direkt das Arbeitszimmer an und stellte den schweren und mit einem Tuch zugedeckten Papageienkäfig ab. Dann drehte er sich zu Nina um und strahlte sie an.
»Hallo«, sagte er nur, aber das eine Wort genügte, um aus Ninas Knien Wackelpudding zu machen.
»Schön, dass du da bist«, antwortete sie und fügte mit einem Blick auf den verhüllten Käfig hinzu: »Ich meine natürlich, schön, dass ihr da seid.«
Als hätte sie ihm damit das Stichwort gegeben, zog Oliver behutsam das Tuch herunter und zum Vorschein kam eine wunderhübsche Papageiendame mit glänzendem Gefieder und wachen Augen. Oliver überreichte Nina die CITES-Bescheinigung, die Clara als vor vielen Jahren legal importierten Papagei auswies.
»Du weißt bestimmt aus Erfahrung, dass die beiden sich ab jetzt miteinander unterhalten werden, indem sie schrille Pfiffe ausstoßen. Was wird deine Vermieterin dazu sagen?«
»Nichts«, antwortete Nina lächelnd, »denn sie ist schwerhörig.«
Vorsichtig öffnete sie die Tür der Voliere, damit Oliver den Käfig mit Clara hineinstellen konnte. Sie wussten beide, dass die Verpaarung von bereits ausgewachsenen Papageien weitaus schwieriger war als bei Jungvögeln. Genau wie die Menschen waren auch Graupapageien sehr wählerisch bei der Partnerwahl und in der Liebe ließ sich nun mal nichts erzwingen. Jeffrey blickte von seiner Schaukel neugierig auf seine Untermieterin herab und Clara warf kurze schüchterne Blicke zurück. Nina und Oliver beobachteten die beiden eine Weile und unterhielten sich darüber, dass diese neue Voliere zum Glück noch nicht allzu lange Jeffreys Revier war, denn nach Expertenmeinung hatte eine solche Papageien-Zusammenführung in neutraler Umgebung weitaus größere Erfolgschancen. Sie hofften beide, dass die zwei sich schnell aneinander gewöhnen würden.
»Ich werde sie genau beobachten«, versprach Nina, »und wenn es keinerlei Anzeichen von Streit gibt, können wir Claras Käfig in ein paar Tagen schon entfernen.«
»Und sehen, wie sich alles weiterentwickelt«, fügte Oliver hinzu, und sie war nicht sicher, ob er immer noch von den Papageien sprach.
»Also, Jeffrey«, mahnte Nina mit einem strengen Blick auf ihren Vogel, »sei nett und nutz deinen Heimvorteil nicht aus. Und wir«, sie wandte sich an Oliver, »überlassen die zwei jetzt sich selbst und verziehen uns, okay?«
Im Wohnzimmer standen Nina und Oliver einen Moment verlegen herum. Er ließ den Blick über die frisch gestrichene Wand wandern, sagte aber nichts.
»Was möchtest du trinken?«, fragte sie, um das Schweigen zu brechen.
»Heute darf es zur Feier des Tages ein Glas Wein sein«, antwortete er. Dann grinste er, setzte sich aufs Sofa und meinte: »Ist das zu fassen? Wir zwei fremdeln mehr als die Papageien. Lass uns doch einfach da weitermachen, wo wir letzte Woche aufgehört haben. Wovon sprachen wir gerade?«
Sie grinste und setzte sich zu ihm. Schnell war die Vertrautheit ihres ersten gemeinsamen Abends wieder da und sie redeten und lachten wie alte Bekannte. Sie erfuhr, dass Olivers Ehe nach nur zwei Jahren geschieden worden war und seine Exfrau jetzt mit ihrem Chef liiert war. Die Ehe war kinderlos, was Oliver rückblickend als Segen ansah. Ein Wochenendvater war das Letzte, was er sein wollte.
»Hast du Kinder?«, fragte er.
Sie schüttelte stumm den Kopf.
Oliver verstand, dass sie über das Thema nicht gerne sprach und stellte sofort eine andere Frage. »Hast du noch Verbindungen zu deinem Exmann?«
»Nur den Nachnamen. Den habe ich behalten, weil es beruflich ein ziemliches Chaos geworden wäre, alle zu informieren, die wichtig waren oder sind oder werden könnten.«
»Dann weißt du also nicht, was er so treibt?«
»Nein, aber wenn es mich interessieren würde, was nicht der Fall ist, müsste ich nur das Internet befragen. Lars war schon immer überzeugt von seiner eigenen Suchmaschinenrelevanz. Bestimmt teilt er der Nation regelmäßig alle noch so uninteressanten Details aus seinem Leben mit.«
Oliver lachte, wobei kleine Fältchen in seinen Augenwinkeln sichtbar wurden. »Diese sozialen Medien sind meiner Meinung nach so überflüssig wie Schlittschuhe in der Wüste. Und außerdem gefährlich. Wissenschaftler haben rausgefunden, dass jeder Dritte mit seinem Leben unzufrieden ist, wenn er Posts von anderen gelesen hat. Als ob das Selbstwertgefühl nur noch durch die Anzahl von Likes und Followern bestimmt wird. Dabei hat das alles mit echtem Interesse an der jeweiligen Person meistens überhaupt nichts zu tun.«
»Ich sehe das genauso«, sagte sie, »und was die Leute da alles von sich preisgeben. Aber wen bitte schön gehen meine Gewohnheiten und die kleinen Rituale meines Alltags etwas an?«
»Keinen, außer mir, hoffe ich«, meinte Oliver mit einem Augenzwinkern, »ich möchte alles über dich erfahren.«
Sie lächelte und spürte, wie sie rot wurde. Um ihre Verlegenheit zu überspielen, fragte sie Oliver nach seinen Hobbys.
»Lenkdrachen«, lautete seine Antwort, »ich arbeite gerne und viel, aber sobald ich mal Zeit habe, fahre ich an den Strand und lasse Lenkdrachen steigen. Und wo bist du am liebsten, wenn du nicht arbeitest?«
»Auch am Strand. Und ich habe den Vorteil, dass ich sogar dort arbeiten kann, indem ich mir Notizen über das Buch mache, das ich gerade übersetze.«
Nachdem sie ein paar Details über ihren Job erzählt hatte, fragte sie ihn nach seinem Beruf und erfuhr, dass er als Physiotherapeut im Elbe Klinikum in Stade arbeitete. Als Oliver im Laufe des Abends den Arm um sie legte, fühlte Nina sich einfach nur wohl und geborgen. Vielleicht lag es an ihm, vielleicht am Wein, vielleicht an beidem. Jedenfalls war die Beklommenheit der letzten Tage wie ausradiert, und Marius Engel war keine Bedrohung mehr, sondern höchstens ein lästiges kleines Ärgernis.
Kapitel 13
Sie redeten und redeten, und zwischendurch sahen sie hin und wieder nach Jeffrey und Clara. Die beiden Graupapageien hatten sich bereits angenähert. Jeffrey saß auf einem Ast ganz in Claras Nähe, und sie drückte sich gegen die Stäbe ihres Käfigs, als wolle sie ihm auch nahe sein, was ein gutes Zeichen war.
Gegen 23 Uhr, Oliver erzählte gerade eine Anekdote von einem schwierigen Patienten, leuchtete das Display von ihrem Handy auf, das auf dem Couchtisch lag. Sie tat so, als hätte sie nichts bemerkt.
»Willst du nicht rangehen?«, fragte Oliver.
»Das ist nur eine SMS, die kann ich später lesen.«
»Vielleicht ist es wichtig.«
»Nein, ist es nicht«, gab sie ein wenig unbeherrscht zurück. Sie stand abrupt auf, nahm das Handy vom Tisch und warf es in einer der Küchenschubladen, die sie mit einer heftigen Bewegung zuknallte.
Oliver sah sie erschrocken und irritiert an. »Hey, was ist los?«
Jetzt konnte Nina die Tränen nicht mehr zurückhalten und die Worte strömten aus ihr heraus. Ohne Punkt und Komma erzählte sie Oliver von Marius Engel, ihrem seltsamen Kennenlernen, den beängstigenden Treffen und der Angst, die der Typ ihr einflößte. Es war befreiend, sich das alles von der Seele zu reden, denn Peter gegenüber wollte sie das Thema nach wie vor nicht anschneiden. Oliver unterbrach sie kein einziges Mal, aber sie sah ihm an, dass ihn ihr Bericht schockierte. Als sie zu Ende erzählt hatte, nahm er sie in die Arme und wiegte sie wie ein Kind.
Irgendwann löste sich Oliver von ihr und sagte: »Du solltest zur Polizei gehen.«
»Um denen was zu sagen?«, fragte sie. »Wissen Sie, Herr Wachtmeister, mir begegnet immer wieder so ein Typ, der mir unangenehm ist. Ob er mir was getan hat? Nein. Ach so, dann können Sie nichts machen? Okay, nichts für ungut und einen schönen Tag noch. Was soll das bringen? Weiß doch jeder, dass erst was passieren muss, bevor die Polizei einschreitet.«
»Sie könnten versuchen, die Nummern zurückzuverfolgen«, schlug Oliver vor.
»Und dann? Ich weiß auch so, wer dahintersteckt. Seinen Namen zu kennen, verschafft der Polizei keinen Handlungsspielraum.«
»Leider hast du Recht«, gab Oliver zu.
Sie nickte, straffte die Schultern und sagte wesentlich selbstbewusster, als sie sich fühlte: »Ich darf ihn einfach nicht so wichtig nehmen. Je weniger ich mich für seine dämlichen Aktionen interessiere, umso schneller verliert er die Lust daran.«
Anstatt zu antworten, hielt Oliver beide Daumen hoch. Nina bemerkte, dass er verstohlen einen Blick auf die Uhr warf. Sie befürchtete, dass er sich gleich auf den Heimweg machen wollte, und überlegte fieberhaft, wie sie genau das verhindern konnte.
»Ich glaube, ich muss los«, sagte Oliver in diesem Moment. »Es sei denn …« Er ließ den Satz unvollendet. Sie verstand, was er hatte sagen wollen, und ja, sie wünschte sich nichts mehr, als dass er bei ihr blieb und sie die Nacht in der Geborgenheit seiner Nähe verbringen konnte. Allerdings kannten sie sich kaum und heute war erst ihr zweiter gemeinsamer Abend. Wie würde es auf ihn wirken, wenn sie ihn einlud, bei ihr zu übernachten? Welchen Stempel würde ihr das aufdrücken? Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sagte Oliver: »Wenn du heute Nacht nicht alleine sein möchtest, könnte ich hier auf dem Sofa schlafen. Dann hättest du die Gewissheit, dass ich da bin, und wir würden trotzdem nichts überstürzen.«
Dankbar lächelte sie ihn an. »Wenn es dir wirklich nichts ausmacht. Es würde mich sehr beruhigen.«
»Kein Ding«, sagte Oliver. »Gibt es sonst irgendetwas, das ich für dich tun kann? Dann sag es bitte. Ich könnte dich begleiten, solltest du dich doch entschließen, zur Polizei zu gehen. Oder ich sehe mich draußen um und stelle den Typen zur Rede, falls ich ihn treffe. Oder ich poliere ihm gleich die Fresse.« Er grinste, wurde aber schnell wieder ernst. »Du sollst nur wissen, dass ich für dich da sein möchte, wann immer du das willst.«
Olivers gefühlvolle Worte rührten sie und sie war froh, mit dem Problem Marius Engel nicht mehr allein dazustehen. »Danke«, flüsterte sie. Dann holte sie Kissen und Decke und zeigte Oliver im Badezimmer, wo er frische Handtücher und eine nagelneue Zahnbürste fand.
Nachdem sie noch einen Blick auf die friedlich schlummernden Papageien geworfen und sich einen scheuen Gutenachtkuss auf die Wange gegeben hatten, rollte sie sich in ihrem Bett zusammen. Beim Einschlafen dachte sie an Oliver, dessen Berührungen sie genoss, der sie zärtlich ansah, der mit seiner schönen Stimme beruhigende Worte fand und der jetzt nebenan auf ihrem viel zu kurzen Sofa schlief. An die SMS auf ihrem Handy in der Küchenschublade verschwendete sie keinen Gedanken.