Kapitel 11
Es war ziemlich windig, aber wenigstens regnete es nicht mehr. Der Spaziergang
war eine gute Idee gewesen. Es war Ebbe, deshalb hatte Nina ihre Gummistiefel
angezogen und war ein Stück hinaus ins Watt gegangen. Immer wieder faszinierte es sie, über den Meeresboden zu wandern, diese meistens verborgene Welt, die sich hier in
verlässlicher Regelmäßigkeit dem Betrachter offenbarte. Sie wusste, dass viele Leute die Ostsee als
Urlaubsziel bevorzugten, weil sie da zu jeder Tageszeit ins Wasser gehen
konnten, aber gerade das Spiel der Gezeiten war es, was Nina an der Nordsee
liebte. Mitten im Naturpark Wattenmeer schienen alle Sorgen und Probleme winzig
zu werden, hier war es möglich, weit über die eigene Existenz hinauszuschauen. Trotzdem wurde es langsam Zeit,
umzukehren. Sie wusste zu genau Bescheid über die Gefahren, die die einsetzende Flut mit sich brachte, und wollte sich
keiner von ihnen aussetzen.
Zurück am Strand vibrierte das Handy in ihrer Jackentasche. Sie warf einen Blick auf
das Display, bevor sie das Gespräch annahm. »Hallo, Peter!«
»Hallo, Sternchen! Was machst du?«
»Ich bin am Meer «, gab sie Auskunft. »Es ist beinahe menschenleer und ziemlich windig.«
»Klingt deprimierend«, fand Peter.
»Nein, es ist wunderbar. Du weißt, wie sehr ich das alles hier liebe.«
»Ich habe ja nichts gegen Duhnen als Urlaubsdomizil, obwohl die Welt weitaus mehr
zu bieten hat, aber das ist ein anderes Thema. Ich finde nur, du könntest hier in Bremen ein wesentlich geselligeres und abwechslungsreicheres
Leben führen. Außerdem wäre ich sofort da, wenn du mich brauchst.«
Sie hatte diese Unterhaltung mit ihrem Stiefvater schon zig Mal geführt, doch sie blieb ruhig, weil sie seine Fürsorge zu schätzen wusste und ihn nicht kränken wollte. »Peter, ich bin erwachsen, und zwar seit geraumer Zeit. Glaub mir, ich komme gut
alleine klar, und es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen musst.« Mit Ausnahme einiger Droh-SMS und dieses Typen, der mich verfolgt, setzte sie
der Vollständigkeit halber in Gedanken hinzu.
Peter schwieg für einen Moment, dann sagte er: »Weißt du, es ist meine Hauptaufgabe, mir Sorgen um dich zu machen. Und seit deine
wunderbare Mutter von uns gegangen ist, gilt das umso mehr.«
»Ich weiß«, lenkte sie ein. »Aber ich bin über dreißig, und da steht man auf eigenen Füßen.«
»Schon gut, ich will dir ja nicht auf die Nerven gehen«, erwiderte er.
»Das könntest du gar nicht. Ganz nebenbei bist du nämlich zufällig auch mein bester Freund.«
»Na toll«, lachte Peter, »ist der beste Freund des Menschen nicht sein Hund?«
Sie stimmte in sein Lachen ein, dann sagte sie: »Mach’s gut und lass uns bald wieder telefonieren, okay?«
»Ganz bestimmt. Mach’s gut, Sternchen.«
Als sie in ihre Wohnung zurückkehrte, war es schon fast dunkel. Noch bevor sie ihre Jacke auszog, ging sie
ins Arbeitszimmer, um nach Jeffrey zu sehen.
»Okay, okay, alles okay«, schmetterte ihr der Papagei sofort entgegen.
»Hallo, Jeffrey. Freust du dich auf deine neue Freundin?«
»Ja, ja, ja«, antwortete der Vogel, als hätte er jedes Wort verstanden. Sie musste lachen. Mit einem Blick auf ihren
Schreibtisch beschloss sie, die Arbeit heute ruhen zu lassen. Morgen würde sie mit ihrem neuen Auftrag starten.
An der Garderobe zog sie ihre Jacke aus und nahm das Handy aus der Tasche. Das
Display zeigte den Erhalt einer SMS an. Wahrscheinlich hatte sie das Piepen
draußen wegen des Windes nicht gehört. Die Nachricht kam von einer neuen unbekannten Nummer. Sie dachte einen
Moment darüber nach, die SMS ungelesen zu löschen, aber um seinem Feind begegnen zu können, musste man ihn kennen.
Die Kackfarbe im Wohnzimmer ist doch wohl nicht dein Ernst. Wütend warf sie das Handy auf die Arbeitsplatte. Von Anfang an war sie davon
ausgegangen, dass die gemeinen Nachrichten von Marius Engel kamen. Jetzt war
sie absolut sicher. Er hatte gesehen, dass sie im Baumarkt Farbe und andere
Malerutensilien gekauft hatte. Was ihr aber blankes Entsetzen verursachte, war
die Tatsache, dass er zu wissen schien, in welchem Raum sie gestrichen hatte.
Woher wusste er, dass sie die Farbe nicht im Schlaf- oder Arbeitszimmer oder in
der Küche verwendet hatte? Hektisch und am ganzen Körper zitternd ließ sie den Blick durchs Wohnzimmer wandern. Alles sah aus wie immer. Nichts hatte
sich verändert, nichts schien zu fehlen. Trotzdem war für sie nichts mehr wie vorher. An diesem Abend schloss sie ihre Wohnungstür doppelt ab, ließ den Schlüssel stecken und nahm zum ersten Mal in ihrem Leben eine Schlaftablette, um zur
Ruhe zu kommen.
Als sie am Mittwoch aufwachte, war es schon halb zehn. Sie fühlte sich ausgeruht und ihre Nerven hatten sich beruhigt, was sicher an dem
Medikament lag, das sie gestern eingenommen hatte. Natürlich lief ihr immer noch ein Schauer über den Rücken angesichts der Vermutung, dass Marius Engel sich in ihrer Wohnung
aufgehalten haben könnte. Aber logisch überlegt fragte sie sich, wie er überhaupt hereingekommen sein sollte. An der Tür waren definitiv keine Einbruchspuren zu sehen. Frau Mattis hatte einen
Zweitschlüssel für Notfälle, doch sie hätte ihrem Enkel den Schlüssel niemals ausgehändigt, dessen war Nina sich absolut sicher. Wahrscheinlich hatte der schräge Typ nur ins Blaue gequatscht und eins und eins zusammengezählt, nachdem er sie im Baumarkt getroffen hatte. Dass sie mit der Farbe, die er
in ihrem Einkaufswagen gesehen hatte, das Wohnzimmer streichen würde, war womöglich nur eine Vermutung, mit der er jetzt zufällig richtig lag. Was bedeutete das alles schon? Auf keinen Fall wollte sie
zulassen, dass diese Zwischenfälle, mit denen der kranke Nerd seinen Alltag zu beleben versuchte, ab jetzt ihre
Gedanken bestimmten.
Nach einer Dusche und einem Frühstück machte sie sich wie geplant an die Arbeit. Mit der Übersetzung des Romans über Friedrich I., der von 1155 bis 1190 als römisch-deutscher Kaiser das Reich regiert hatte und den meisten als Kaiser
Barbarossa geläufig war, kam sie nicht gut voran. Die Handlung war hölzern konstruiert, teilweise sogar albern, und Nina kämpfte sich lustlos und quälend langsam durch den Text. Erst spät in der Nacht hörte sie auf und fiel dann erschöpft in einen tiefen Schlaf.
Der Donnerstag war eine komplette Wiederholung des Tages davor. Sie arbeitete
konzentriert, wenn auch ohne großen Enthusiasmus an der Barbarossa-Übersetzung und gönnte sich nur kurze Pausen. Zwischendurch schob sich immer wieder das Bild von
Marius Engel in ihre Gedanken und verursachte ein unangenehmes Gefühl von Angst und Unsicherheit. Sie wehrte sich dagegen, so gut es ging, und
machte verbissen weiter. Das Ergebnis war, dass sie am Donnerstagabend so gut
vorangekommen war, dass sie spontan beschloss, am Freitag nicht zu arbeiten.
Stattdessen putzte sie die Wohnung, kümmerte sich um ihre Wäsche, kaufte ausgiebig ein und freute sich auf den Abend mit Oliver.
Als die Sonne nachmittags zum ersten Mal seit Tagen durch die Wolken lugte, wäre Nina liebend gerne zum Strand gegangen, um sich die frische Seeluft um die
Nase wehen zu lassen. Aber was, wenn Marius Engel sie wieder verfolgte?
Vielleicht stand er jetzt gerade vor dem Haus und beobachtete sie. Auf eine
erneute gruselige Begegnung hatte sie nicht die geringste Lust. Außerdem wollte sie sich durch nichts die Vorfreude auf den heutigen Abend
verderben lassen.