ISBN: 978-3-96152-229-3
1. Auflage 2020
© 2020 Schardt Verlag, Oldenburg, www.schardtverlag.de.
Titelbild: misterQM / photocase.de
Die Handlung und alle Personen des Textes sind frei erfunden. Alle möglichen Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Vorgängen oder Ereignissen bzw. mit lebenden oder gestorbenen Personen sind rein zufällig.
Alle Rechte vorbehalten.
La muerte es segura pero la vida no.
Der Tod ist sicher, aber das Leben nicht.
Mallorca. „Es Trenc“, 27,8 Grad im Halbschatten und diese unglaublich frische Brise. Er drückte die weißen Stöpsel etwas fester in seine Ohrmuscheln. Gäbe es ein Lied, das diese Insel im Hochsommer, ihr Licht, den Wind und das Surfen auf dem Meer zu beschreiben vermochte, konnte es für ihn nur „Red Earth & Pouring Rain“ von Bear’s Den sein. Er drehte sein Lieblingslied auf laut und tat dabei einen tiefen, zufriedenen Seufzer.
„Mal etwas größer, mal etwas kleiner“ – das Leben auf diesem Eiland konnte sich seiner Meinung nach auch in „tägliche Herausforderung, die es zu meistern gilt“ umtaufen lassen.
Javier führte sich sein Lebensmotto vor Augen, bevor er die Stirn konzentriert in Falten legte. Der nicht übermäßig braungebrannte Surfer hatte sich trotz aller Erfahrung leicht verschätzt. Obwohl sein Verlangen nach Normalität noch nie allzu hoch war, konnte man das, was jetzt auf ihn zukam, durchaus als etwas größere Herausforderung bezeichnen. Sein Blick fiel auf einen wagemutigen Mariposa, einem Schmetterling, der sich auf der Spitze seines Funboards niedergelassen hatte. „Ich hoffe, du kannst besser schwimmen als ich, kleiner Sommervogel“, flüsterte Javier lächelnd zu den Sonntagsgeschöpfen der Natur. „Es geht los!“ Die Zeit des tiefen Einatmens begann. Er hörte dieses bekannte Rauschen, beinahe ein Grollen. Er sah den Schatten von etwas Großem aufsteigen. Jenes enorme Blau, das sich scheinbar unaufhörlich vor ihm aufbäumte, würde ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit erbarmungslos in die Tiefe reißen. Und wie jedes Mal stellte er sich nur eine Frage: Komme ich wieder hoch? Javier stieß sich durch die tosenden Wassermassen zum Licht und zur Luft. Plötzlich hielt er inne. Das konnte nicht sein: Die Wellen loderten! Ein glühend heißer Strudel nahm ihn gefangen. Wie konnte er in diese infernalische Untiefe geraten? Javier befand sich hilflos strampelnd inmitten eines Flammenmeers. Alles knisterte um ihn herum. Sein Körper funktionierte wie eine Maschine, deren Tanknadel sich bedrohlich in den roten Bereich senkte. Als er die verzweifelten Anstrengungen zu überleben einstellte und sich unter Wasser entspannte, gänzlich ohne Furcht treiben ließ, wurde es dunkler und dunkler um ihn. Es beunruhigte ihn nicht. Welchen Teil seines Lebens hatte man schon wirklich unter Kontrolle? Alles Leichte schwamm an ihm vorbei. Javier genoss die Einheit mit Wasser und Wellen. Er fragte nicht nach dem Sinn seines bevorstehenden Todes. Nein, er grübelte unablässig: Konnte das Meer wirklich knistern?
Über den Wellen flatterte ein kleiner Mariposa Richtung Strand davon, und der würde die Alten auf der Insel in ihrer Meinung bestärken, dass auf Mallorca ein aufregend schönes Schmetterlingsjahr zukäme …
Alles in der Finca „Catalina“ brannte. Alles, außer dem Kamin. Einige Geckos lagen in sicherer Entfernung wie aus Metall gegossen in der Sonne. Kommissar Javier Ramos stand breitbeinig vor dem gelbroten Inferno. Es knisterte laut. Ein rußiger Balken stürzte krachend zu Boden. Der tagträumende Kommissar merkte auf, zuckte aber ungeachtet des gewaltigen Getöses nicht zusammen. Trotz der aufgeladenen Atmosphäre wanderten seine Blicke ruhig umher. Jeder Tatort konnte reden, man musste ihn nur zum Sprechen bringen. Ihn nervten diese hektischen Feuerwehrleute, die verzweifelt versuchten, dem zügellosen Feuer Herr zu werden und in ihrem blinden Eifer jegliche Indizien, wenn diese nicht schon dem Erdboden gleichgemacht worden waren, endgültig zerstörten. Javier stöhnte geschlagen. Hier war eindeutig nichts mehr zu retten. Was sollte dieser Aktionismus bewirken? Er schüttelte verständnislos den Kopf.
Der Wind wehte ihm heiße Funken entgegen, die wie winzige glühende Stiche in seine Haut drangen. Javier wischte sie nicht weg. Wie gesagt, Aktionismus war nicht seine Sache. Dann doch lieber die Schmerzen aushalten. Er war durchtrainiert, auch wenn er mittlerweile ein kleines Bäuchlein hatte, aber die vielen Jahre leidenschaftlichen Surfens waren seiner Statur noch immer anzusehen. Während er versuchte, aufrecht dazustehen, wie ihm sein Orthopäde zwecks jugendlicher Ausstrahlung empfohlen hatte, sah er aus den Augenwinkeln ein knatterndes Motorrad, von einer Staubwolke komplett eingehüllt, über den sonnenverbrannten Weg näherkommen. Er schob sich die schmale Sonnenbrille von der Stirn vor die Augen und wandte sich wieder zum Brandherd. Es war ein aussichtloses Unterfangen, ein sinnloser Kampf gegen einen wütenden Gegner. Doch hätten die Löschbrigaden nicht einfach aufhören und die Flammen achselzuckend betrachten können? Danach eine Pressemitteilung rauschicken mit der bedauerlichen Notiz, dass leider nichts mehr zu retten war? Nein, von diesem Schlag waren die „bomberos“ nicht. Ihr Motto hieß: Weitermachen! Sie hielten die Bälle so lange in der Luft, bis sie platzten oder ihre Arme schwer wurden. Heute Abend würden sie sich in den kleinen, verrauchten Bars in Cala Ratjada wie Helden feiern lassen. Nach deutlich überzogener Sperrstunde würden sie dann schwankend über die Pflastersteine der schmalen Gassen stolz nach Hause trotten, nach kläffenden Streunern treten und leise fluchend weitergehen.
Javier lachte verächtlich. Stolz? Auf was? Auf einen Haufen glühender Asche? Er blinzelte den dunklen Rauchschwaden hinterher, die erst im Nordosten der Insel aufstiegen, scheinbar einen kurzen Tanz um den „Far de Capdepera“ vollführten, um sich dann vom pittoresken Leuchtturm weg in alle Richtungen übers weite Meer zu verflüchtigen.
Er wippte in seinen gelben Flip-Flops auf der Stelle und spürte dabei die spitzen Steine unter seinen Fußsohlen. Es käme ihm nie der Gedanke, festeres Schuhwerk zu tragen. Er wollte den Boden dieses Felsens im Wasser unter sich spüren. Und er musste das andere Ende seines Körpers fühlen, deshalb bevorzugte er auch einen 12-Millimeter-Haarschnitt. Javier sah sich versonnen um. Ganz weit hinten, unbehelligt vom Rauch, schwebten zwei, drei unverschämte Wolken am Himmel über dem azurblauen Mittelmeer. Der Sommer kam in die Gänge und machte auch das Halbschattendasein unerträglich.
Der Kommissar steckte seine Hände in die Hosentaschen und musterte die nähere Umgebung. In den 70ern war diese Gegend am Fuße des Bergs extrem angesagt gewesen. Die Farben der Insel im Nordosten zogen trotz nachlassender Attraktivität noch immer Urlauber und Immobilieninteressenten an. Überall mildes, sandbeiges Felsgestein, gekrönt vom leuchtend blauen Himmel. Trotz des erbaulichen Klimas hatten die Palmen links und rechts ihre besten Sommertage hinter sich und ergaben sich dem Palmrüssler, einer tückischen Insektenplage, der viele holzige Pflanzen zum Opfer fielen.
„Tote?“, hörte Javier eine bekannte Stimme hinter sich.
Die Halterung der Yamaha klickte, hakte jedoch nicht ein, und so klickte es noch einmal, begleitet von einem leisen Fluchen. Javier kannte dieses Prozedere nur allzu gut und sah deshalb gar nicht hoch, sondern blickte einem über dem Boden schwebenden Schmetterling nach. Ein Bläuling oder war es ein Admiral? Alles schien auf diesem herrlichen Grundstück zu sterben, schoss es ihm durch den Kopf, bis auf dieses flatternde, zarte Wesen.
Plötzlich zerdrückte ein großer Stiefel den flinken Falter.
Zwei Beamte, der eine hochaufgeschossen, der andere eher an eine fleischgewordene Kanonenkugel erinnernd, trugen schaukelnd wie zwei angetrunkene Matrosen auf Landgang eine Bahre an Javier vorbei. Stan und Olli, so die Spitznamen der beiden, hatten ihren kleinen, heimtückischen Mord nicht bemerkt. Javier verspürte wenig Lust, es ihnen mitzuteilen. Er vernahm einen sachten und vertrauten Schlag auf seiner Schulter.
„Tote?“, vernahm er erneut. Dann bohrte sich ein Zeigefinger in seinen Kugelbauch. „Das gibt wieder eine Verwarnung, Kollege“, grinste Pedro Muntander. „Dienstkleidung ist während der Ausübung unseres Berufes angesagt, sonst hieße diese ja nicht so, nicht wahr? Du rennst hier herum wie ein ...“, er machte eine Pause und schlug einen geringschätzigen Ton an, „… Tourist.“ Pedro richtete sich die zum Pferdeschwanz zusammengebundenen Haare, die vom Helm zerdrückt waren. „Stell dir vor, in Cala Bona gibt es Cafés, da hängen Briefkästen an der Wand. Darauf stehen die Tischnummern des Lokals. So kannst du mit jemandem in Kontakt treten, ohne einen Drink auf Risiko zu spendieren. Ich nehme dich gerne mal mit, einsamer Cowboy!“ Pedro spitzte seine Lippen zu einem übertriebenen Kussmund. „Jemand umgekommen?“, wiederholte Javiers Partner und ließ der Frage einen kleinen Seufzer folgen. Ihm war die gedankliche Abwesenheit seines Freundes nicht unbekannt. Er hatte sich damit arrangiert. Da er keine Antwort erwartete, sah er sich selbst um. „Teure Lage“, sagte er und wies in Richtung der hübsch in die Landschaft gebauten Fincas, auf deren Außenwänden liebevoll gepinselte Schriftzüge zu lesen waren wie: Villa Bärbel, Haus Sonnenschein oder Finca Klaus & Moni. „Die Hütten wären heute nicht mehr zu bezahlen. Jedenfalls nicht von zwei armen Staatsdienern wie uns.“
Javier zuckte mit den Schultern. Er begann ein kleines Loch in den Boden zu graben.
„Was tust du da?“ Pedro schüttelte verständnislos den Kopf.
„Eine Bestattung“, murmelte Javier, als er den toten Schmetterling konzentriert in die kleine Grube bettete.
Pedro atmete durch. Er war wirklich aufrichtig erstaunt, und es gab wenig, was ihn nach zehn Jahren, vier Monaten und neunzehn Tagen an der Seite dieses seltsamen Kerls noch in Erstaunen versetzte. Doch er musste innerlich lächeln. Sein Kompagnon schaffte es immer wieder, ihn emotional zu berühren.
Javier malte ein Kreuz in die Luft und strich sich über seine kurzen schwarzen Haare. Sein trauriger Blick wanderte zum großen Blau über ihm. „Dieser lauwarme, nicht zu stürmische Wind wäre heute ideal, um in der Cala Agulla zu surfen“, stellte er nach einer Weile fest.
Pedro hob mahnend eine Hand. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“ Er sah Javier forschend in die Augen, dann winkte er ab. Diesmal klang sein Seufzer tief. Und das mitten in der Dienstzeit ohne Dienstkleidung. Wo soll das alles nur hinführen?, fragte er sich, verkniff sich aber weitere Kommentare.
Javier blinzelte. „Es soll bald schlechter werden. Sie kündigen ein Tiefdruckgebiet an. Mitten im Sommer. Unglaublich! Wir sollten diesen schönen Tag nutzen.“
Pedro hob matt die Arme. „Klar, was sollten wir auch anderes tun? Das kleine Lagerfeuer hier haken wir als Attraktion für die Urlauber ab“, meinte er lakonisch. Dann ging er kopfschüttelnd zu einem Kleintransporter, der bedrohlich nahe an Glut und Feuer parkte. Gänzlich unversehrt, so als ob der Wagen mit dem Feuergott per Du war. Auf ihm prangte der Schriftzug: „Mallorca Boot Service. Reparaturen aller Art“.
„Surfen in der Mittagspause, das wird ein weiterer Nagel im Sarg deiner Karriere“, murmelte Pedro und ging Richtung des Transporters.
Javier nickte. „Den Bootsmechaniker ereilte ein unangemeldeter, lukrativer Auftrag. Laut Nachbarn benötigte ein russischer Eigner raschen Ersatz für seinen erkrankten Yachttechniker. Die haben den Kerl glatt mit einem Hubschrauber abgeholt. Deshalb steht der Wagen noch da. Scheint ein Glückspilz zu sein, der Herr Handwerker. Also, keine Menschen unter den Opfern“, rief er froh und betonte dabei das Wort „Menschen“. Er deutete zu Stan und Olli. Gleichzeitig wirbelte er Sand und Staub mit seinen Flip-Flops auf, um das kleine Grab vor sich endgültig zuzuschütten. „Auf der Bahre liegt nur ein toter Hund.“
Pedro hob verständnislos die Arme. Dann riskierte er doch einen Blick. Stan und Olli schoben die Bahre gerade in den Wagen. In der Tat – da hing ein schlaffer Hundeschwanz, nur halbwegs von einer Decke verborgen.
„Gut, dass ich nur noch drei Monate habe, und dann gehe ich nach Madrid. Steige im Dienstgrad auf und werde reich! Eine Villa in der ersten Meereslinie.“ Pedro schnalzte mit der Zunge. „Mit Überlaufpool.“ Dabei zog er lachend an allen Türen des Kleintransporters. Eine davon sprang tatsächlich auf. Er hatte das nicht vermutet und setzte sich sofort hinein.
Javiers Handy brummte. Während er mit seiner Tochter Sofia telefonierte, nestelte er einen besonders spitzen Stein aus seinen Flip-Flops. Dann entdeckte er von Weitem einige Urlauber, die neugierig näherkamen. Er schickte sie energisch davon. Die Touristen nahmen keine großartige Notiz von ihm, denn ein Mann in einem bunten Hemd und mit zitronengelben Flip-Flops strahlte nicht gerade die strenge Aura der „Guardia Civil“ aus. Javiers Aufmerksamkeit gehörte wieder dem Handy, denn das, was er da hörte, gefiel ihm ganz und gar nicht. „Wasserschaden? Bei uns in der Wohnung?! Ruf den Hausmeister, und rühr nichts an, Sofia! Ich komme so schnell wie möglich.“
Der Wagen mit dem toten Vierbeiner rauschte mit Blaulicht an ihm vorbei. Stan und Olli waren Fans von Hamilton, Vettel und insbesondere von Alonso. Leider schlug sich das nicht in ihren Fahrkünsten nieder.
Javier sprang zur Seite und fluchte. Diesmal hatte ihn das messerscharfe Geröll erwischt. Blut verfärbte den rechten seiner Flip-Flops. Hinter ihm wurde der herrenlose Transporter von Pedro gestartet. Während Javier sein Handy in die Gesäßtasche schob, sah er den Ellenbogen von Pedro lässig aus dem mittlerweile heruntergekurbelten Fenster hängen.
„Weißt du, was ein ungutes Gefühl ist? Hier zu sein und keine Ahnung zu haben, was das alles eigentlich soll“, rief Pedro und wandte sich dem Wageninneren zu.
Das war das Letzte, was Javier von seinem Freund im Gedächtnis blieb. Plötzlich war der kleine Schmerz unter der Sohle verschwunden, und eine mächtige Wunde des Entsetzens riss Javier in mehrere Teile, obwohl er unversehrt blieb. Mit enormer Wucht explodierte der Transporter und ließ sich von den Flammen verschlingen, als wollte er dem abgebrannten Haus Konkurrenz machen. Die Schaulustigen mit Schwimmnudel und Badehandtuch wichen erschrocken zurück. Sämtliche Feuerwehrleute, die gerade mit Aufräumarbeiten beschäftigt waren, machten sich routinemäßig mit glänzenden, rußverschmierten Gesichtern für den nächsten aussichtslosen Einsatz bereit.
Heute war ein Tag für große Helden. Die Bars sollten sich für den Abend schon mal mit genügend hochprozentigem Nachschub für den Ansturm der „bomberos“ rüsten. Der Rettungsrennwagen alias Tiertransport drehte um und donnerte schonungslos durch die Touristenmenge, die schreiend auseinanderstob. Javier wollte auch brüllen, doch aus seinem aufgerissenen Mund entwich kein Ton. Er sah wie gelähmt den Löschbrigaden zu und wusste sofort, dass auch dieser Kampf gegen den Feuergott Loki verloren war. Er senkte den Kopf und trottete zu Pedros Motorrad. Er betrachtete es eine Weile und strich dann in Gedanken darüber, ließ sich von dem Getöse und Geschrei in seinem Rücken nicht stören.
Javier hatte dieses röhrende Ding nie gemocht, aber so war das Leben wohl. In diesem Moment würde er diese elendige Knatterkiste gegen nichts tauschen wollen. Der erste Regen des angekündigten Tiefdruckgebiets platschte plötzlich auf den Fahrersitz. Er stand nur da und zählte die Tropfen mit, solange er konnte. Nach vorn gebeugt hielt er sich an der Maschine fest und fühlte sich wie ein alter Bulle am Limit. Ein kleiner Schmetterling flog heran und verharrte ungeachtet der insektenfeindlichen Witterung mitten auf dem Tacho. Javier verscheuchte ihn nicht, als er sich auf die Maschine setzte und die lange Promenade Richtung Sportplatz „Es figural“ entlangfuhr. Von dort aus knatterte er rechts über die MA 10 in Richtung Artà/Manacor/Palma. Hinter ihm zogen besonders dunkle Gewitterwolken auf – es war ihm egal. Der blaue Schmetterling verabschiedete sich wie von unsichtbaren Fäden hin und her gezogen im Zickzackkurs in Richtung der herrlichen Gärten um die Villa March in Cala Ratjada. Dass ihm ein dunkelgrauer Ford Granada GT folgte, aus dem laute klassische Musik drang, bemerkte Javier nicht. Wie auch? Er weinte hemmungslos.
Der Flughafen Son Sant Joan in Mallorcas Hauptstadt Palma glich in den Monaten der Hauptsaison einem Ameisenhaufen. Selbst die Bindfäden, die gerade vom Himmel regneten, konnten der regen Betriebsamkeit nichts antun. Urlauber, die froh waren, den wieder mal reichlich verspäteten Hinflug hinter sich zu haben, schoben ihre unter der Last von schlecht gepackten Koffern ächzenden Gepäckwägen zu einer Armada von Bussen, die in Reih und Glied geparkt bereitstanden, um als Shuttle alle Vergnügungssüchtigen und Erholungsbedürftigen in die weit verzweigten Urlaubsressorts der Insel zu transportieren. Reiseführer in meist knittrigen Hemden und mit schiefen Firmenlogos am Revers dirigierten die orientierungslosen Touristen im ganzen Trubel und Geschrei dieses Verkehrsknotenpunktes. Einige Palmen links und rechts sollten wohl Inselflair vermitteln, angesichts ihrer schäbigen Stämme und abgebrochenen Palmwedel ein eher zweifelhaftes Unterfangen. Doch wer aus Dinslaken oder Schwerin stammte, für den verhießen Palmen in natura immer Ferienstimmung, gleichgültig, wie behäbig und armselig die Gehölze sich im Wind und Sprühregen auch bewegten. Andere Ankömmlinge, die privat bei Freunden oder im noblen Zweitwohnsitz unterkamen, schoben ihr exquisites Gepäck über die langen, flachen Rolltreppen des Vorplatzes am „Pauschalvolk“ vorbei. Diejenigen, deren Abflugzeit bereits alarmierend an den „Salidas“, den Anzeigetafeln, blinkten, präsentierten im Regen ein letztes Mal dem blassen „Frischfleisch“ ihre Urlaubsbräune und ernteten, was sie begehrten: neidische Blicke. Danach eilten sie samt Kind und Kegel in das Terminal. Dabei schworen sie sich, dass aus den Urlaubsflirts der vergangenen Wochen diesmal wirklich etwas Ernstes werden sollte.
Lilly donnerte ihre Reisetasche auf den Boden des Parkhauses direkt gegenüber dem hochfrequentierten Flughafengebäude Palmas. Zahlreiche Autovermietungen hatten hier ihre kleinen Abfertigungsbüros angesiedelt. Die Frau in den engen Jeans und mit halblangen Haaren wie Coca-Cola (so beschrieben ihre Söhne ihre Haarfarbe) stemmte die Hände in ihre Hüften und nahm sich vor, nicht wie ein zickiges Mädchen mit dem Bein auf den Boden zu stampfen. Um sie herum eilten Männer mit Filzhüten von Cerruti und auberginefarbene Krawatten und Anzügen aus Fil-à-fil, die Lilly besonders verabscheute, zu ihren Mietautos der gehobenen Preiskategorie. Sie schlüpfte aus dem dünnen, lachsfarbenen Wollpullover, weil der aufkommende Stress sie schwitzen ließ. Unter dem viel zu warmen Oberteil trug sie eine Bluse aus Seide, die Falten warf. Ihre beiden Söhne hatten es sich bereits auf dem Rücksitz des gemieteten Wagens gemütlich gemacht. Ein blonder Lockenkopf mit braunen Augen nebst Stupsnase und ein brauner Schopf, dessen grüne Augen von Sommersprossen umgeben waren, blickten nun erwartungsvoll aus den heruntergekurbelten Seitenfenstern nach draußen.
„Was ist los, Mutti?“, fragte der neunjährige Luca, und sein knapp zwei Jahre älterer Bruder Henry grinste, denn er wusste, was nun kam.
Lilly hob mahnend den Zeigefinger und deutete streng auf Luca. „Nenn mich nicht Mutti, klar? Ich bin eure Erzeugerin und stopfe eure Mäuler mit Unmengen an Nahrungsmitteln!“ Sie schürzte ihre Lippen. „Solch freundliche Menschen wie ich werden auch gerne Mutter gerufen.“ Das nachgeschobene Wörtchen „alleinerziehend“ sagte sie deutlich leiser.
Henry lenkte ein. „Okay, Mutter, chill mal und steig endlich ein.“ Er legte verspielt eine Hand an sein Segelohr und summte: „Ich kann es schon hören. Das Meer ruft nach mir.“
Lilly blickte auf den Wagen. „Das Ding ist viel zu klein. Ich habe eine Kategorie höher bestellt. Wie sollen wir in diesem Schuhkarton unser ganzes Gepäck unterbringen?“ Sie deutete auf das orangefarbene Containerhäuschen, das mit grellem Licht und bunter Aufmachung dem ganzen tristen Treiben hier unten im zugigen Parterre scheinbar etwas mehr Glanz verleihen sollte. „Dieser permanent gutgelaunten Tante da drinnen werde ich jetzt mal den Marsch blasen!“
Luca und Henry sahen sich an und schmunzelten. Die Angestellte der Autovermietung war wirklich nicht zu beneiden. Vor allem als der nächste georderte Wagen einfach nicht kam und Lilly bereits überlegte, den Laden in Kleinholz zu zerlegen. Aber die gut geschulte, dauerlächelnde Mittzwanzigerin hob nur die Hände und flötete: „Ich grade Sie nun mal up.“
Lilly hielt in ihren Tiraden inne. Fischhaut!, schoss es ihr durch den Kopf. An dieser Frau im Kostüm und einwandfreier Friseur perlte einfach alles ab, was an Emotionen und Tiraden ihrer Kunden auf sie einprasselte. Als ob die Angestellte Lillys Gedanken lesen konnte, knipste sie ihr unerträglich hübsches Lächeln noch eine Stufe heller und deutete mit dem Stift in ihren perfekt manikürten Fingern salopp in eine Richtung. „Das ist heute Ihr Glückstag.“
Um die Ecke schnurrte ein roter, tiefergelegter Mercedes der Oberklasse. Ein Mann mit blankpolierter Glatze stieg gelenkig aus. Er überreichte Lilly den Autotransponder. Schlüssel waren gestern. Lilly blickte perplex auf die Limousine. Den beiden Jungs entfuhr ein „Wow“, und rasch sprangen sie begeistert ins Wageninnere. Der haarlose Mann lächelte und sprach ein paar Brocken Spanisch mit der niemals unglücklichen Angestellten. Es war wohl ein erfolgreicher kleiner Flirt, dachte sich Lilly, denn der Kohlkopf schlenderte wie ein Gewinner zu einem „Thirtysomething“-Pärchen, das gerade sein kleines Cabriolet leerräumte. Lilly hörte noch die einstudierten Wortfetzen: „Alles ist in Ordnung gewesen? – Ich wünsche Ihnen einen guten Heimflug. Ich hoffe, wir sehen uns im Herbst wieder. Adios.“
Jemand stupste Lilly vorsichtig ans Schulterblatt. Die Angestellte hielt ihr lächelnd die Papiere entgegen. Lilly nickte unleidig. Solche Ausgaben ihrer Geschlechtsgattung machten sie geradezu angriffslustig. Aber Lilly konnte ihrer Abneigung ja nicht einfach damit Luft machen, indem sie der porentiefreinen Dame einen Kinnhaken oder den Schlüsselersatz ins Gesicht drückte. Also versuchte sie, ebenfalls möglichst lieblich zu lächeln.
Wenig später kurvte Lilly noch etwas unsicher mit der klobigen Limousine aus dem Parkhaus und fuhr einige Meter parallel zum Flughafenterminal. Sie sah den Glatzkopf mit einem kleinen Wagenheber und einer Luftpumpe, die mehr einem Maschinengewehr ähnelte, hektisch zu einem Pkw der Autovermietung rennen. Dieser stand im absoluten Halteverbot, und ein stämmiger Deutscher im Trikot von Schalke 04 deutete wild gestikulierend auf seinen platten Hinterreifen, was die Männer der Flughafenpolizei nicht zu stören schien. Seine Frau im Spencer-Jäckchen griff sich gerade dramatisch an den Hals und schien nach Luft zu ringen. Die Ordnungsbeamten zückten unbarmherzig ihre Blöcke. Was wohl Strafzettel auf Spanisch heißt?, überlegte Lilly beim Vorüberfahren.
Die Kinder betrachteten die unzähligen Busse, die wie kleine, rollende Käfige die Heerscharen von Urlaubern in die Kettenhotels transportierten. „Krasser Schlitten“, jubelte Henry und wusste, dass seiner Mutter solche Autos zutiefst missfielen. „Jetzt sind wir Jetset“, grinste Luca. Lilly musste nun doch lächeln, als sie den Kreisverkehr passierte, um auf der Autobahn gleich wieder die erste Ausfahrt rechts zu nehmen. Oben im nächsten Ring rollte der Wagen auf die MA 10 Richtung Manacor. Im Moment sah Mallorca wirklich nicht nach Postkartenmotiven aus: Baustellen, Fabrikhallen, geköpfte Palmen, lose Endstücke von Staubsaugern, ein herrenloser Frauenschuh, eine Toilettenbrille, verwitterte Plakate, auf denen man gerade noch „Venta“ oder „Mas Que...“ entziffern konnte.
Hinter ihr raschelte es. Luca nestelte einige Papiere aus einem braunen Umschlag. Lilly suchte das Radio. Sie fand es nicht.
„Oh Mann, Mutti-Mutter“, stöhnte Henry und schnallte sich ab. „Du lebst echt in der Steinzeit.“ Er beugte sich nach vorn und drückte auf eine Oberfläche. Diese hob sich sacht wie ein Regal einer sündhaft teuren Einbauküche, und die schicke Musikanlage kam zum Vorschein. Lilly fand keinen Anschaltknopf und vernahm abermals das geplagte Stöhnen ihres Sohnemannes. Der Junge wischte flott mit dem Finger übers Display, und spanischer Pop ertönte. Über das Anzeigendisplay flimmerte ein gepunkteter Schriftzug: „AMARAL“. Ob Gruppe oder Titel wussten sie nicht, aber es war ein schönes Lied. Luca hob ein Papier in die Höhe und deutete auf die Buchungsbestätigung. „Unsere Finca heißt …“ Der Junge kniff die Augen zu. Lesen gehörte sichtlich nicht zu seinen Stärken. „Catalina“, murmelte er und blickte danach so triumphierend hoch, als habe er gerade das Abitur bestanden.
Lilly griff ein wenig zu forsch nach hinten. Schnell hatte sie den Umschlag und die Buchungsbestätigung auf dem Beifahrersitz abgelegt.
„Hey!“, protestierte ihr Sohn.
„Nur zur Sicherheit. Die Unterlagen sind wichtig, sonst fallen unsere Ferien aus.“ Lillys Stimme flatterte ein wenig, doch diese Unsicherheit bemerkten ihre Kinder nicht, denn die beiden hatten gerade einige inseltypische Windmühlen entdeckt. Sie blickte kurz zur Seite und schob ein kleines Foto, das einen Mann mit grünen Augen in liebevoller Umarmung mit ihr zeigte, zurück in den Umschlag. Das Bild war an ein Schreiben geheftet, auf dem „Anerkennung der Vaterschaft“ stand. Mit einem flüchtigen Blick in den Rückspiegel vergewisserte sie sich, ob eines ihrer Kinder das Schreiben bemerkt hatte. Nein, die beiden alberten herum. Kein Grund zur Beunruhigung. Lilly atmete erleichtert aus und drehte das ihr unbekannte, aber gefällige Lied auf Reglerstufe 5. Laute Musik?! Die Kinder wunderten sich. „Muss wohl an Mallorca liegen“, grinste Henry. Dann sangen alle drei engagiert, aber talentfrei mit „Moriría por vos“.
Manchmal schaltete Simon innerlich schon drei Stunden vor Arbeitsbeginn ab. Simons Vater kam 1981 als Tennislehrer in eine der zahlreichen neueröffneten Hotelanlagen der Cala Ratjada. Diese Hafenstadt hatte das zweifelhafte Vergnügen, schon frühzeitig als Touristenhochburg auserkoren worden zu sein. Von wem auch immer. Simons Vater war das mehr schlecht als recht. Doch schon nach einigen erfolgreichen Saisons, vornehmlich beim weiblichen Zielpublikum, zog es den Lebemann in weißen Tennissocken wieder zurück auf die schwäbische Alb. Sohnemann Simon äußerte sich damals nur wie folgt: „Papa, du bist ein liebevoller Totalausfall – ich bleibe hier.“ Und er blieb bis heute in diesem romantischen Städtchen der Insel, das sogar ein öffentliches Kino beherbergte. Bei 35 Grad Außentemperatur den Terminator in irgendeiner außerirdischen Gluthölle des nicht minder heißen Vorführsaals (35 Personen maximal) zu bewundern, davon machten nur wenige Feriengäste Gebrauch. So war die Leinwand meist exklusiv den Ortsansässigen vorbehalten, die gerne schweißgebadet Hollywood-Blockbuster und Arthouse-Filme aus Skandinavien sahen, während die „Alemanes“ am wenige Kilometer entfernten Strand vor sich hinrösteten. Simon besuchte die Schule der kleinen Gemeinde im Nordosten Mallorcas und mutierte langsam, aber sicher zum „Spanier“ oder genauer gesagt zum „Mallorquiner“ – sofern das mit seinem Aussehen überhaupt möglich war.
Der strohblonde Mann mit den grünen Augen und den strammen Bauchmuskeln, die von täglichen Sit-ups auf dem kleinen Heimtrainer vor dem Flachbildfernseher zeugten, verließ seine Männerbude, ein kleines anonymes Apartment unterhalb des „Castell de Capdepera“. Als Einzelgänger benötigte er keine geräumige Bleibe. Ihm genügte ein Raum mit offener Wohnküche. Hier konnte er ganz wunderbar neben der Zeit leben. Er bedauerte es manchmal, keine Klimaanlage zu besitzen, wollte aber nicht klagen. Es gab wirklich Schlimmeres als tropische Nächte. Das wusste er aus eigener Erfahrung. Von irgendwoher schallte aus einem Radio eine weibliche Stimme, die „Goodbye Summer“ sang. Er mochte das Lied, und als der Moderator Danielle Bradyberry als Sängerin preisgab, wollte er sich den Namen merken und beizeiten nach einem Album suchen. Er blickte erwartungsvoll zum Himmel und streckte sich, um den schmerzenden Rücken zu dehnen. Er würde sich demnächst wohl eine neue Matratze leisten müssen. Auf den Bizeps seines linken Armes war eine kleine „27“ tätowiert. Er warf einen verächtlichen Blick darauf. Die 26er kümmerten sich damals um die Geldgeschäfte. Die 27er waren für Mord und Totschlag verantwortlich, und die 28er hatten das Sagen und lieferten das Sexvergnügen. Er gähnte herzhaft und verscheuchte das kleine gemeine Tier in seinem Kopf, das ihn an seine Vergangenheit erinnern wollte. Nachbarn trotteten mit halbvollen Bierdosen zu ihren „unwanted services“, den nicht gewollten Dienstleistungen, die jedoch für einen reibungslosen Ablauf der heimischen Tourismusmaschinerie unabdingbar waren. Putzkolonnen, Horden von Zimmermädchen und Brigaden von Gärtnern streichelten noch einmal die dösenden Katzen in ihren Hauseingängen, bevor sie ein monotoner, unterbezahlter Zehn-Stunden-Arbeitstag erwartete. Simon blickte ihnen gelangweilt nach. Plötzlich ertönte Geschrei, und in den Zug der Hilfsarbeiter kam plötzlich Bewegung.
Unweit stand eine Frau von Mitte dreißig in Trainingshose und „Sailor Moon“-Top im vierten Obergeschoss auf einem französischen Balkon und kletterte so unsportlich über die Brüstung, dass man fast schon darüber lächeln musste, wäre die Situation nicht so fürchterlich abartig. Die Menschen unten schrien nach oben und reckten ihr die Hände entgegen, was über den Status von verzweifelten Gesten nicht hinauskam, da zwischen dem Erdboden und dem Balkon umgerechnet zwanzig Meter lagen. Alle Schaulustigen versuchten mit gemeinsamen Rufen und Bitten die verwirrte Frau von ihrem Vorhaben abzubringen. Die Verzweifelte stand nun auf dem schmalen Sims und blickte nach unten. Beide Hände hatte sie wie ein Skiflieger nach hinten gestreckt, um sich am Geländer des Balkons festzuhalten. Ihre strähnigen Haare hingen lose in ihrem Gesicht. Der Regen schien sie noch fettiger glänzen zu lassen. Es war ihr egal, dass sie von Weitem vermutlich wie ein abgenutzter Wischmopp aussah. „Nicht, Maria. Du wirst einen neuen Job finden. Denk an den Kleinen!“, hörte Simon die zahllosen Rufe. Er betrachtete die Szene zwischen Hoffen und Bangen emotionslos aus der Ferne. Dann zwängte sich ein Mann hektisch durch die Menge und hielt einen vor Schreck regungslosen Jungen hoch. Der Kleine wirkte wie eine batteriebetriebene Handpuppe. Die Frau starrte das Kind an, drehte sich dann unendlich müde wirkend um und ließ sich ohne Rücksicht auf Prellungen über den Balkon ins Innere zurückfallen. Der Mann und das Kind rannten ins Haus.
Einige Schaulustige klatschten voller Erleichterung, andere verteilten sich bereits in alle Richtungen. Zuspätkommen konnte sich keiner leisten. Simon schüttelte den Kopf, vielleicht um das, was hinter ihm lag, abzuschütteln, vielleicht wegen des ganzen Irrsinns auf der Schattenseite der Sonneninsel, vielleicht aus Unverständnis, sich klaglos solchen Knochenjobs hinzugeben, vielleicht wegen der vielen Suizidversuche von denen, die nicht mehr Schritt halten konnten oder wollten oder vielleicht auch nur, um die Regentropfen aus seinem Gesicht wegzuwischen. Gegenüber hatte jemand „Hier kommt keiner lebend raus“ an eine Häuserwand gepinselt. Er lächelte angesichts der Nässe, die ihm sanft entgegenschlug. Wenn die Sonne bereits um kurz nach acht Uhr wie von Sinnen brannte, blieb seine Kasse leer. Dann hieß es für ihn entweder gelangweiltes Starren aufs Meer oder Trübsal blasen. Doch feucht drückende Witterung wie heute versprach stets mehr. Das unfreundliche Wetter dürfte nur nicht stärker werden. Denn die meisten Urlauber scheuten sich aus Kostengründen, sich Regenkleidung zuzulegen, und nur die wenigsten packten mit Voraussicht, dass sich selbst der Hochsommer von seiner „Nichtschokoladenseite“ zeigen könnte, auch einen Friesennerz ein. Simon betrieb nämlich einen Fahrradverleih, genauer gesagt hatte er seine Existenzgrundlage mittlerweile den aktuellen Kundenwünschen angepasst. Neuerdings bot er auch Motorräder und sogar Autos im hauseigenen Portfolio an.
Das Geschäft mit den „coches“ lief unter der Hand im Deal mit seinem ehemaligen Lehrmeister Antonio, seines Zeichen Inhaber der Autoreparaturwerkstatt „Autobalearia Ratjada“ drei Straßen weiter. Dort hatte der kleine Simon einst eine Lehre zum Schrauber absolviert, bevor er ins Verleihgeschäft übersiedelte. Zu viel Sonne war nie lukrativ fürs Geschäft. Dann lag das zahlungskräftige Publikum nur dösend am Strand. Er verfluchte die endlosen Sommermonate auf der Insel. Doch was sollte einer wie er machen? Im sogenannten Paradies Mallorca weint der Himmel eben äußerst selten. Wenn bereits in der Vorsaison alle schweißgebadet herumliefen, konnte er das Minus der mageren Monate ab Oktober kaum reinholen. So gesehen war jeder Regentag ein Geschenk des Himmels und ein ganzes Tiefdruckgebiet ein Hauptgewinn in seiner Kasse.
Wie jeden Donnerstag kaufte er sich auf dem Weg zum Auto die geliebte „Ultima Hora“ und seine Mallorca Zeitung. Nachdem er sich die Fahrzeit rüber ins kleine Hafenstädtchen Cala Ratjada mit Luke Byran „Strip it down“ verkürzte, steuerte er summend den beigen Kleinwagen mit Spoiler auf den Stammparkplatz gegenüber seines Betriebs. Man muss wissen, dass es nur wenige Kilometer waren, die Simon zu absolvieren hatte, doch er mochte das Autofahren nicht sonderlich, vermutlich mochte er sein derzeitiges Leben auch nicht. Und Cola verabscheute er noch innbrünstiger, und trotzdem holte er sich jeden Tag noch rasch eine Dose zuckerreduziertes Softgetränk aus dem EROSKI Markt, in dem Shade jeden Tag um diese Zeit vom „Kiss of Life“ sang. Simon konnte diesen Ohrwurm nicht mehr hören. Er stöhnte genervt und flüchtete. Sechszehn Schritte weiter löste er das Vorhängeschloss und schob die rostigen Sicherheitsgitter beiseite, um seinen Laden im Souterrain zu öffnen. Alles geschah in einer gespenstisch routinierten Abfolge. Diese identischen Rituale: Alle im Inneren des Geschäftes stehenden Fahrräder nach draußen schieben, danach die Motorräder, und zum Ende hin wuchtete er dann die Action Bikes auf den kleinen reservierten Platz unter der Sonnenmarkise. Manchmal hasste er diese Furchen seines Alltags. Man hätte ihn mitten in der Nacht wecken können, das hier konnte er auch mit geschlossenen Augen und zur Not mit einer gefesselten Hand und einer Eisenkugel am Fußgelenk. Doch heute war alles anders. Er konnte nicht fassen, was er da in der Ecke seines Ladens entdeckte. Das durfte nicht wahr sein! Wie konnte er sowas übersehen haben? Er hatte noch nie etwas übersehen. Einzelgänger wie er durften nichts übersehen, sonst fielen sie rasch aus der Bahn. Deutsche Gründlichkeit, die hatte er intus, und darauf war er stolz. Dieses „mañana mañana“ hatte er noch nie leiden können. Aber jetzt spürte er, dass dieser Tag nicht so glatt und unaufgeregt ablaufen würde wie die vergangenen 3476 und mehr.
„Was tust du hier?“ Er blinzelte ein wenig, um sich zu vergewissern, dass er nicht träumte.
„Wir würden gerne ein Tandem mieten. Haben Sie sowas auf Lager?“
Simon fuhr herum. Zwei füllige Rheinländer in zu kurzen Hosen und zu beigen Socken in braunen Birkenstockschuhen standen fragend an der Türschwelle. Seine harsche Handbewegung war selbst ihm fast ein wenig zu rüde. Die beiden Frohnaturen wichen erschrocken zurück und trollten sich wortlos, was bei Bewohnern des Rheinlandes ja eher selten der Fall ist. Simon wischte sich den Schweiß von der Stirn. Danach wandte er sich wieder dem Mädchen mit dem rußverschmierten Gesicht zu, das in der Ecke kauerte. Er empfand ihren Anblick als kolossal schön. Wie hatte diese aparte Königin ihn nur finden können?, schoss es ihm durch den Kopf. Er war doch wenig königlich. Simon schätzte das zusammengekrümmte Wesen auf knapp zwanzig. Es erinnerte ihn an die Schauspielerin, die er gestern in „Der Name der Rose“ in einem auf Wiederholungen fokussierten Fernsehkanal gesehen hatte. Der junge Priester Adson hatte sich in die dunkelhaarige Schönheit verliebt. Simon beugte sich vorsichtig nach vorn. „Wie heißt du? Bist du in Ordnung, verstehst du mich?“
Das Mädchen blickte ihn beinahe feindselig an. Dann nickte sie nach einer halben Ewigkeit. Er streckte ihr seinen Softdrink hin. Sie ergriff das Getränk und leerte es in einem Zug. Eine Rumtreiberin, das erkannte Simon sofort, und sollte er es freundlicher ausdrücken müssen: „Eine von den Unmengen an jugendlichen Arbeitslosen, die einfach untergetaucht, weg waren und nach denen keiner sah. Als ob sie vom Radar der Gesellschaft verschwunden wären.“ Doch für ihn war sie mehr, sogar mehr als eine „princesa“, sie war eine Königin.
„Wie heißt du?“, wiederholte Simon.
Das Mädchen atmete tief durch. Dann sprang es plötzlich auf und wollte an ihm vorbeilaufen. Doch Simon hielt das flinke Wesen gedankenschnell fest. Sie wehrte sich nur sehr schwach. Ihr Körper zitterte entkräftet. Simon legte behutsam seine Hand auf ihren Kopf und drückte sie sanft an sich. Sie roch nach Verbranntem. Ihre langen Haare, ihr T-Shirt. Simons Blick fiel auf seinen Schreibtisch. Dort las er auf der Titelseite der MZ: „Der Feuerteufel wütet weiter auf der Insel. Wann passiert das nächste Unglück?“ Er drückte das Mädchen ein wenig dichter an sich. Zu dicht. Sie schob ihn weg. Er blickte nachdenklich nach draußen, wo sich die ersten Touristen nach dem Frühstücksbuffet rauchend die Beine vertraten, und hörte Wortfetzen wie: „Kann man nicht meckern bei dem Preis“ und „Kaffee können die Spanier einfach nicht“. Einer der Urlauber in einem T-Shirt mit dem Aufdruck „Stolzer Hengst, allzeit bereit“ winkte zu ihm rüber. Er hatte gestern für einen halben Tag ein Fahrrad gemietet und ihn noch um fünf Euro gedrückt. Simon winkte zurück. Kundenbindung war alles in seinem Geschäft. Ein bis zwei Wochen buchten alle, und am besten kämen sie zwei- bis viermal zu ihm. Und der Jackpot wäre, eine Woche am Stück das Rad an einen von den Typen dort draußen zu vermieten. Mit Kaution versteht sich. Die behielt er dann zurück, indem er bei der Rückgabe Mängel auflistete, die vorher schon da waren, aber vom Mieter meist übersehen wurden. Er winkte noch einmal zum Hengst. Dann fingerte er nach dem Schild am Fenster und drehte es rasch um. „Cerrado – Geschlossen“, baumelte von einer Seite zur anderen und wollte partout nicht stillstehen. Genauso wie sein Herz, das ihm bis zum Hals und höher schlug. Es übertönte alles, sogar das Geschnurre von Shade. Und das hieß was!
Auf die Vergangenheit gibt es keinen Kredit. Sie mussten hier wegziehen. Lieber heute als morgen. Dieses sich immer knapp über Wasser halten zu können zermürbte! Und das hatte wenig mit dem aktuellen Wasserschaden zu tun. Denn in seinen Straßen ging es so langsam zu wie in Portitxol, dem ehemaligen Fischerdorf und heute einem der angesagten Hot-Spots Palmas nahe am Hafen. Marode Lagerhallen hatten agile Inselplaner durch Szenerestaurants ersetzt, in denen nun Köche agierten, die für ihn eher wie Top-Models aussahen. Trendpasta stand in diesen Tempeln des Zeitgeistes auf der Speisekarte, wenn es überhaupt noch einen Zeitgeist und eine Speisekarte gab. Javier hatte bis heute nicht herausbekommen, wie diese exklusiven Nudeln, die einem gutbetuchten Publikum kredenzt wurden, schmeckten. Sie waren ihm zu teuer, und Gerichte via Instagram zu betrachten und mittels Twitter zu bestellen, war wirklich nicht seine Welt.
Und schon strömten neben den jungen Erfrischenden ein nicht in Würde alterndes, auf „ewig 35“ gepimptes, greises Volk hierher auf die Piste, bereits Falten am Hals, aber unverdrossen in neongelben Turnschuhen und mit bunten Freundschaftsbändchen am Handgelenk. Glutenfreies Essen und Kaffee in Mehrwegbechern verscheuchten diejenigen, die schon immer hier lebten, trieben den Alltag aus den ehrwürdigen Häusern und erbauten Luxusimmobilien für vermögende Madrilenen oder Katalanen. Die reichen Deutschen bevorzugten eher die ersten Meereslinien. In den letzten Monaten hatte Javier die hässlichen Schwestern von Airbnb und Konsorten entdeckt. Sie nannten sich „serviced apartments“ und zogen keine Urlauber an, die in vorgeheuchelter Privatsphäre kostengünstig die schönsten Wochen des Jahres verbringen wollten, sondern digitale Nomaden, die für drei Tage, drei Wochen oder drei Monate eine Bleibe zum Arbeiten und Wohnen suchten. Diese sterilen Auswüchse eines Daseins in der Fremde passten in sein Viertel ungefähr so gut wie von der Polizeibehörde gestellte kratzende Dienstkleidung an seinen Körper.
Javier stand kopfschüttelnd im Monti-Sion-Viertel und lehnte an der Wand seines in die Jahre gekommenen Hauses. Er betrachtete die vielen kleinen Pfützen vor der prachtvoll verzierten Eingangstür aus verwittertem Holz. Unermüdliche Rinnsale brachen sich ihren Weg ins Freie. Erst das Inferno und nun die Sintflut, dachte Javier. Was für ein Tag!
„Brauchst du noch eine schriftliche Einladung, Papa? Ich ertrinke hier oben. Du hattest versprochen, dich zu beeilen.“ Sofia steckte ihren Kopf aus dem zweiten Obergeschoss und ballte ihre kleine Faust mit den schlecht lackierten, aber gut abgekauten Fingernägeln. „Der Hausmeister ist und bleibt ein Schwachkopf. Er kriegt null auf die Reihe.“
„Du kannst nicht alles haben. Versprechen und dann auch noch einhalten.“
Javier blickte schmunzelnd nach oben und hob beschwichtigend eine Hand, um den unflätigen Flüchen seiner reizenden Tochter Einhalt zu gebieten. Vergebens. Die junge Frau schoss eine Salve nach der anderen ab, und der ihrer Meinung nach debile Hausmeister konnte dem Herrgott danken, nicht vor Ort zu sein. Javier zog sich die blutverkrusteten Flip-Flops aus und warf sie kurzentschlossen in einen Mülleimer. Ein Schlüssel platschte in eine kleine Pfütze neben ihm. „Hast du wie immer vergessen. Oh Mann, warum muss ausgerechnet ich so einen lebensuntauglichen Vater haben?“, hörte er Sofia schimpfen. Er bückte sich lächelnd und vergaß für einen Moment die Trauer um seinen besten Freund. Seine Tochter konnte sich so herrlich über die ganze Welt aufregen, und das beinahe täglich. Dann sperrte er die Haustür auf und schlurfte durch die kleinen Bäche die Treppe hoch. Oben ertönte laute Musik. Er verzog das Gesicht. Der Song lief seit Wochen und nannte sich „Sinner“ von Deaf Havana. Ihr aktuelles Lieblingslied.
Als er die triefnasse Wohnung betrat, zog sie ihn mit beiden Händen herein. Javier lächelte. Er konnte ihr diesen Wunsch wieder mal nicht abschlagen. Dabei hasste er diese Tanzerei. Gemeinsam hopsten sie im Chaos umher, das sie umgab. Aber eigentlich war das keine Ausnahmesituation für die beiden. Chaos, oh ja, das kannten sie. Chaos war der Name ihres Alltags. „Was passiert, passiert!“ Vater und Tochter, einander nahe, verbunden, tief verwurzelt, wollten sich das Leben nicht vermiesen lassen. Und Pedro hätte zu ihrem Tanz geklatscht. Javier war sich sicher. Deshalb legte er noch eine halbwegs gelungene Pirouette auf glitschigem Untergrund hin. Sofia gluckste begeistert, und ihr Lachen drang durchs ganze Haus.
In einem Wagen gegenüber drehte eine Hand am Radio gerade die 9. Sinfonie von Gustav Mahler leiser und parkte mit der anderen Hand am Lenkrad gekonnt in eine wirklich sehr enge Lücke ein. Danach griff der Fahrer in eine Papiertüte mit aufgedruckten kitschigen Früchten mit Gesichtern, zog eine Mandarine heraus und riss ihre leicht fleckige, orangefarbene Haut ab, dass die Schalen auf die Fußmatte fielen, die bereits mit Sand, Essensresten und zerknitterten Verpackungen von Schokoriegeln übersät war, was den Parkhelden nicht zu stören schien.