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© 2020 Ulrike Dietmann · www.ulrikedietmann.de
Verlag: spiritbooks · 70771 Leinfelden-Echterdingen · www.spiritbooks.de
Lektorat: Gabi Schmid · www.buechermacherei.de
Satz & Layout: Gabi Schmid · www.buechermacherei.de
Covergestaltung: OOOGRAFIK · www.ooografik.de
Illustrationen/Grafiken: #66008149, #66918353, #66917702, #66918348, #73408255, #2698066 | AdobeStock
Druck und Vertrieb: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg · www.tredition.de
978-3-946435-56-3 (Paperback)
Bookwire Bookwire GmbH, Kaiserstraße 56, 60329 Frankfurt am Main
978-3-946435-07-5 (E-Book)
Alle in diesem Roman vorkommenden Personen, Vereinigungen und Handlungen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Inhaltsverzeichnis
Titelei
Impressum
Gedicht
Ocho Rios, Jamaica, 7. Januar 2018
Kapitel 1 – Wer bist du, wenn alles zu Ende geht?
Kapitel 2 – Ich habe jetzt Engel in meinem Leben
Kapitel 3 – Wie ich nach Jamaica kam
Kapitel 4 – Jamaica – One Love
Kapitel 5 – Menschen, die lieben
Kapitel 6 – jamaicanische Wahrheit
Kapitel 7 – Wenn du der Liebe folgst
Kapitel 8 – The Rock – der Fels
Kapitel 9 – Unerwarteter europäischer Kolibri
Kapitel 10 – Es ist einfach schön, mit dir zu sprechen
Kapitel 11 – Abschied von Te Moana
Kapitel 12 – Bist du bereit vollkommen bedingungslos zu lieben?
Kapitel 13 – Stell keine Fragen
Kapitel 14 – Daniel – Der andere Mann
Kapitel 15 – Warum ich?
Kapitel 16 – Erlaube ich es mir?
Kapitel 17 – No problem
Kapitel 18 – Wenn das Herz sich öffnet
Kapitel 19 – In die Essenz kommen
Kapitel 20 – Ärger im Paradies
Kapitel 21 – Felicia – Die Liebe findet immer einen Weg
Kapitel 22 – Wake up and live – Wach auf und lebe
Kapitel 23 – Kann man nur einen lieben?
Kapitel 24 – Ich empfange die Geschenke des Himmels
Kapitel 25 – Was alles passiert in sieben Monaten
Kapitel 26 – Atmen und Lieben
Kapitel 27 – So küssen Engel
Kapitel 28 – Hab einen Tag mit den Engeln verbracht
Kapitel 29 – Soon Come
Kapitel 30 – Der Pferdemann
Kapitel 31 – Am Gefrierpunkt
Kapitel 32 – Ohne Wahrheit keine Liebe
Kapitel 33 – Ich bin eine Mutter
Kapitel 34 – Wenn Fische lieben
Kapitel 35 – One Love – ohne Zuckerguss
Mein Wunsch für dieses Buch
Über die Autorin
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Strahle für mich, Jamaica,
Lächle für mich, du Wunderbare, du Sanfte, du Reine.
Du bist das Land der Quellen, die nie aufhören zu fließen.
Sie kamen, sie stahlen ihr Gold, sie töteten ihre Kinder.
Sie landeten mit ihren Schiffen, sie benutzten sie, sie strahlte weiter.
Sie wollte fliehen, aber sie war eine Insel im Ozean.
Sie kamen, sie benutzten sie, sie strahlte weiter.
Sie schenkte ihnen ihr Herz, ihre Seele, ihren Körper.
Strahle weiter, meine Schöne, meine Pure, meine Reine.
Du bist das Land der Quellen, die nie aufhören zu fließen.
Wie der Regen nie aufhört, wie die Sonne aufgeht jeden Tag.
Sie kommen, sie beschmutzen deine Quellen, der Regen wäscht sie rein.
Sie morden, sie stehlen, deine Sonne geht wieder auf.
Strahle für mich, Jamaica,
Lächle für mich, du Wunderbare, du Sanfte, du Reine.
Sie kommen, du bleibst frei,
die Insel im endlosen Meer.
Jeder hat eine Wunde. Stimmt das? Haben wir eine Seele, die eine Wunde mit auf die Welt bringt? Manche sagen das. Meine Antwort ist meine Geschichte.
Ich bin Viola. Eine dieser Frauen, die alles richtig machen. Ich kümmere mich um andere, ich putze meine Zähne. Ich lächle grundsätzlich, wenn man mich anspricht.
Alles war gut, bis … die Wunde sichtbar wurde. Ich glaube, sie schafft es immer, irgendwann … und in diesem Moment werden wir zu dem Menschen, der wir sind.
Wenn deine Wunde noch nicht sichtbar wurde, lebst du vielleicht in diesem Kokon. Wie ich, früher einmal. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte zurückkehren. Aber so läuft das nicht.
Ich bin Viola, ich sitze an meinem Laptop. Mein energetisches System verarbeitet gerade die sechs Stunden Zeitverschiebung seit gestern, wo ich aus der CET (Central European Time) in die EST (Eastern Standard Time) gewechselt bin.
Ich bin in Ocho Rios, Jamaica, und hier riecht alles feucht. Gerüche können sich hier nicht verstecken. Die Luftfeuchtigkeit bringt sie zum Vorschein. Sogar das Holz riecht wie aufgerissene Erde. Nichts Verstecktes. Das ist gut, es gibt mir ein Gefühl von Sicherheit.
Ich bin gestern Abend eingezogen in dieses Cottage am Meer, wo mich nachts die Insekten mit Musik unterhalten. Ich habe das Cottage vor einem halben Jahr im Internet gefunden. Du kennst das, manchmal sagt das Leben: Jetzt! Ja! Und dann tust du es.
Ich bin hier im Haus einer Künstlerin. Sie lebt nicht mehr, physisch zumindest. Ihre Tochter betreut das Haus. Aber der Spirit von Annabelle ist zu spüren. Vollkommen lebendig. Die Grenzen zwischen den Welten sind durchlässig. Jeder Gegenstand in diesem Haus atmet Schönheit, auch der Schirmständer. Auf dem Tisch neben mir stehen Blumen, und auch sie riechen – sie riechen nach Purpur.
Weißt du, wie das ist, in der Gegenwart eines anderen Wesens zu sein, das einen berührt, unsichtbar? Davon erzählt meine Geschichte: Wie man hinter der Welt des Sichtbaren eine Welt des Unsichtbaren entdeckt.
Ich bin auf der Suche nach der Liebe. Wer ist das nicht? Nach einer Liebe, in der das Unsichtbare das Sagen hat. Es macht Angst, dem Unsichtbaren zu begegnen, aber es bringt auch Wunder hervor. Und auch Wunder haben einen Geruch. Ich kenne den Geruch von Wundern. Kennst du ihn? Hier in Jamaica kann man ihn riechen. Er ist feucht und getränkt von Sonne.
Annabelle, die frühere Bewohnerin, hat eine Kunstgalerie betrieben, ganz hier in der Nähe. Harmony Hall, mit Liebe ausgewählte Bilder von jamaicanischen Künstlern. Auch die Wände des Cottage sind voll davon. Eines der Bilder zeigt kleine Szenen aus dem Alltag und da sind auch Pferde drauf. Da muss ich sehr lachen, denn es waren Pferde, die das Unsichtbare in mein Leben gebracht haben.
Ich bin selbst eine Künstlerin, ein Mensch, der in Träumen lebt und ich könnte mich nirgendwo mehr zu Hause fühlen als im Haus von Annabelle. Weit weg von meinem Leben in Europa, wo die Gerüche nicht so nackt sind.
Ich bin auf der Suche nach einem Zuhause. Seit ein paar Jahren schon. Nachdem ich mein Zuhause verloren habe, meine Familie, meine Kinder, mein Pferd. Das ist meine Geschichte. Die Geschichte einer Reise, getrieben von Sehnsucht, und von einer Frage: Kann man die Liebe wiederfinden, wenn man sie einmal verloren hat? Oder gewinnt die Angst?
Ich habe das Zuhause verloren, die Sicherheit, alles, was bekannt und vertraut war. Seither ist die Angst meine Begleiterin.
Ich hadere nicht mit der Angst, sie ist mächtig und sie bestimmt meine Geschichte, aber sie bringt auch Wunder hervor. Sie hat mich nach Jamaica gebracht. In das Cottage von Annabelle in Ocho Rios.
Die Angst ist das Tor zur Wahrheit. Jeder von uns steht irgendwann vor dem Tor. Zur Wahrheit und dann zeigt sich unser größtes Geheimnis, unsere Wunde.
Meine Wunde ist das Alleinsein. Ich bin wie ein Pferd, das man von der Herde getrennt hat und das in Panik nach seinen Artgenossen sucht. Für manche Pferde ist das Alleinsein nicht so schwierig, andere gehen daran ein. Ich wäre fast daran eingegangen.
Ich werde die Liebe finden, die Liebe. One Love – One Heart, sagen die Jamaicaner, One Love – One Heart, singt Bob Marley. Es gibt nur eine Liebe. One Love. Ich will sie finden.
„Warum hat sich Hemingway eigentlich umgebracht? Ich meine, er schreibt unsterbliche Literatur, könnte stolz auf sich sein.“
„Bitte hör auf, solche Fragen zu stellen, das deprimiert mich.“
„Nein, das ist gut, das hilft mir, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Stell dir vor, du bist in guter Gesellschaft … Hemingway, mein Gott.“
„Wie hat er es gemacht?“
„Erschossen mit einer Flinte. Er nannte sie „meine glatte braune Geliebte“.
„Wieso weißt du so was?“
„Anregungen. Ich hol mir Anregungen.“
Das sind die Dialoge, die in dieser Nacht geführt wurden. Es war scheißkalt, es regnete, das Wasser lief einem das Gesicht hinunter. Aber wir waren da.
Frankfurt, auf dem Dach eines Hochhauses. Ein Wunder hatte dafür gesorgt. Ein Wunder, ja. Das war vor drei Jahren. Ein Wunder in Gestalt von Michi. Er war Hausmeister in diesem Banken- und Versicherungsturm und er hatte den Schlüssel zur Stahltür. Anders kommt man nicht auf diese Dächer.
Und! Nächstes Wunder: Michi war entschlossen wie wir. Sonst hätte es nicht geklappt.
Ich dachte nur: Noch nie in meinem Leben hat mir das Schicksal so in die Hände gespielt.
Alles war zu Ende gegangen. Ich kann dir leider nicht sagen, wie. Ich komme da nicht hin. Ich kann es nicht aufschreiben, auch heute nicht, drei Jahre später. Es ist zu … Ich kann es nicht. Später vielleicht. Nur das eine: Sie waren weg. Der Vater und seine beiden Kinder. Meine Kinder, mein Mann. Verstorben. Ein Unfall. Ich hatte nur den einen Gedanken: Ich will dahin, wo ihr seid, meine Familie. Aber das war nicht so einfach. Ich hatte keine Kraft. Ich hatte nicht genügend Kraft, um den Gang über die Regenbogenbrücke anzutreten. Ich hatte keine Kraft mehr zu leben und zu sterben erst recht nicht. Das war vor drei Jahren. Ich konnte nur beten, dass eine höhere Macht mir helfen würde.
Und dann … du kennst das. Plötzlich ist es da. Du weißt: Jetzt! Ja! Ein Wunder: Diese Facebook-Gruppe mit dem Namen „Wenn alles zu Ende geht“ auf meinem Bildschirm – einfach so aufgetaucht. Keine Ahnung durch welche Hobbys oder Cookies oder Apps sie mich gefunden haben. Keine Ahnung, in welcher Verfassung ich war, als ich auf „Beitreten“ klickte.
Das ging dann so: Michi war der Moderator. Erst mal abchecken, wer ich bin, wollte er. Per Facebook-Nachricht.
„Hey, Viola, wir sind auf dem Weg ins Paradies. Und du?“
Ich: „Na klar, ich auch.“
Michi: „Wir sind überzeugt, dass es jenseits der bekannten Wirklichkeit liegt.“
Ich (denke): Sekte? Drogen? Oder irgendeine sexuelle Obsession … Ich sage Michi ganz ehrlich, dass ich zu fertig bin für solche Dinge. Und da stellt sich heraus, dass es sich bei „Wer bist du, wenn alles zu Ende geht?“ um eine Gruppe von Lebensmüden handelt. Genau wie ich. Ich werde freigeschaltet.
Und dann das zweite Wunder: Sie haben einen konkreten Plan. Michi, der Moderator der Gruppe, hat den Schlüssel für ein Hochhausdach in der Frankfurter City und da gibt es eine Stelle, wo man hinunterfallen kann und auf einem Rasen landet, ein abgezäuntes Stück, wo man auch keinem auf den Kopf fällt. Ist das nicht genial?
Es tut mir leid, wenn ich hier solche Szenarien vor dir ausbreite. Ich will, dass du mich verstehst, wo ich herkomme, welchen Weg ich gegangen bin. Ich muss das alles einfach einmal aufschreiben, ich glaube, das ist der einzige Weg, um da rauszukommen.
Denn jetzt sitze ich hier im wunderschönen Jamaica. Und so viele haben schon meinen Text von gestern gelesen und so berührende und aufrichtige Kommentare und liebe Sätze geschrieben auf Facebook und vielleicht ist das Leben doch irgendwie machbar. Auch wenn es irgendwie …
Also in der Facebook-Gruppe von Michi habe ich erfahren, dass es gar nicht so einfach ist, in die andere Wirklichkeit überzuwechseln, sprich über die Regenbogenbrücke zu gehen wie Hemingway mit seiner glatten, braunen Geliebten.
Wer bist du, wenn alles zu Ende geht? Das war die Frage zur Begrüßung in der Facebook-Gruppe. „Ich bin Viola, ich bin Künstlerin und diese Reise ins Paradies läuft mir voll rein. Ich bin fertig mit allem hier und ihr habt einen stilvollen Abschied geplant. Ich sage: Ja.“
Es war scheißkalt, es regnete, wir waren zu fünft. Die Facebook-Gruppe „Wenn alles zu Ende geht“ hatte neunundfünfzig Mitglieder. Aber jetzt auf dem Dach waren es fünf. Michi, Alex, Hannah, Severin und ich.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Wie viele würden wir sein, wenn wir auf der anderen Seite ankamen? Meine größte Angst ist ja das Alleinsein und dabei ist die größte Angst das Allein-Sterben. Und würde ich auf der anderen Seite allein sein? Oder würde ich sie wirklich wiedersehen? Oliver und die Kinder?
Nein, ich würde nicht allein sterben. Das war das zweite Wunder: Ich würde nicht allein sterben. Die Wahrscheinlichkeit sprach dagegen. Wir waren fünf. Ich würde nicht allein die Himmelsleiter hochklettern.
Die Erinnerung an diese Nacht bringt jedes Mal mein System zum Einsturz. Ich weiß nicht, ob ich dir das wirklich zumuten kann, aber auch das ist eine Ausrede. Ich weiß nicht, ob ich das wirklich schreiben kann.
In Jamaica wird es um halb sechs dunkel und es geht schnell. Man weiß, dass es gleich so weit ist, wenn man das erste Insekt singen hört. Eben habe ich es gehört. Die Dunkelheit macht mir Angst. Nicht die Dunkelheit von Jamaica, die ist okay. Es ist die Dunkelheit der Erinnerung. Ich war das erste Mal hier in JA (Abkürzung für Jamaica, benutzt hier jeder) 2016, vor zwei Jahren. Das war kurz nachdem ich die Reise ins Paradies angetreten hatte, damals auf dem Hochhausturm. Aber erst jetzt habe ich angefangen, darüber zu schreiben. Ich muss mir einen Tee machen und meinen Verstand zurückrufen. Dieser Tee heißt Detox. Riecht nach frisch geerntetem Gras. Ich habe ihn gestern gekauft im? Progressive Foods, dem Supermarkt in Downtown Ocho Rios.
Progressive Foods, der Supermarkt, hat einen sehr gedämpften Geruch wegen der Klimaanlage. Die bringt hauptsächlich den Geruch der Putzmittel hervor. Trotzdem ist Progressive ein Paradiesgarten für jemanden wie mich. Warum? Weil dort niemand, fast niemand, dieselbe Hautfarbe hat wie ich. Das hat eine unglaublich beruhigende Wirkung auf mich. Die Menschen hier machen mir keine Angst. Sie haben nicht die Hautfarbe jener, unter denen mein Herz zermalmt wurde. Detox-Tee ist gut, er kommt aus dem Paradies.
Gestern nachdem ich den Anfang des Buches geschrieben hatte, hatte ich den Einfall, einen Blog einzurichten und die Leser mitlesen zu lassen. Wow und jetzt alle diese Kommentare auf Facebook und auf der Seite des Blogs. Ich weine innerlich, weil ich mit meiner Geschichte nicht allein bin.
Mir fällt jetzt ein, dass ich tatsächlich in der Nacht bevor ich zum Flughafen fuhr, um nach Jamaica zu fliegen, von einer der Personen geträumt habe, die jetzt auf Facebook etwas geschrieben hat. In diesem Traum planten wir ein Theaterstück mit Pferden. Ich sage mir, diese Geschichte in meinem Traum ist eine Art Theaterstück mit Pferden. Ich bin Schriftstellerin und normalerweise schreibe ich über Pferde. Nur diesmal schreibe ich über mich. Aber ich … ohne die Pferde geht es nicht.
Was ist passiert in jener Nacht in Frankfurt auf dem Hochhausturm? Fünf Menschen waren dabei, den Weg über die Regenbogenbrücke zu gehen.
Severin, Anwalt, kurz vor der Scheidung, drei Kinder, wohlhabende Familie, gebrochenes Herz. Der Wind weht so stark, dass er in die Knie geht und sich an der hüfthohen Balustrade festhält.
„Wenn wir nicht aufpassen, werden wir weggeblasen, bevor wir uns selbst wegblasen.“ Das ist Severins Humor. Wer bist du, wenn alles zu Ende geht?
„Ich wollte nur eines auf der Erde“, hatte Severin auf FB gepostet, „meinen Lieblingsmenschen finden. Ich habe ihn gefunden, wir haben drei Kinder, aber jetzt ist sie weggegangen. Und ich werde nie wissen, warum.“
Zu diesem Post gab es keine Kommentare. Was soll man da auch schreiben? Das heißt nicht, dass der Post irgendeinen kalt gelassen hätte. Kein Kommentar eben.
Hannah, Karriereabsturz, hasst ihren Job (ein Job für den man zehn Minuten braucht, um ihn zu erklären, das spare ich mir jetzt), Burn-out, fünf Jahre Gesprächstherapie, tägliches Meditieren, wöchentlich zwei Cranio-Sakral-Behandlungen, ohne Wirkung. Wer bin ich, wenn alles zu Ende geht?
„Irgendwo wartet etwas Besseres auf mich“, hatte Hannah gepostet, „ich bin mir nur nicht mehr sicher, ob das hier auf der Erde ist. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht hier auf der Erde ist.“
„Ziemlich sicher reicht nicht“ hatte jemand kommentiert, der heute aber nicht mit auf dem Dach steht. Hannah dagegen schon. Sie ist vorsichtig mit ihren Versprechungen.
„Ich passe nicht in eine Welt, in der die Leute andauernd Versprechungen machen, die sie nicht halten“, hatte sie mir einmal privat geschrieben. „Ich habe meinen Job verloren, weil es mir um die Sache ging. Den anderen ging es zuerst um Macht.“
Hannah wog sicher an die einhundertfünfzig Kilo. Als ich sie zum ersten Mal sah, an diesem Abend auf dem Turm, dachte ich: Ja, Menschen mit Standpunkten haben es schwer in dieser Welt. Auch wenn Hannah vom Wind auf dem Dach nicht so leicht weggefegt wurde. Sie hatte schwarze Haare und eine schneeweiße Haut. In einem Märchen und mit 100 Kilo weniger wäre sie ein perfektes Schneewittchen gewesen. Eine Prinzessin. Es ist wirklich schade, dass die Menschen hier auf der Erde so wenig träumen. Sie hätte sicher einen Prinzen gefunden in einer Welt, in der mehr Platz für Träume war.
Dann bin da ich, mit meiner Angst vor dem Alleinsein, Schriftstellerin. Ich kann nicht mehr schreiben, seit meine Familie verschwunden ist, gestorben, verunglückt, genau genommen, seit jemand das wunderschöne Bild unserer Familie mit einem fetten kackbraunen Pinsel übermalt hat. Seither ist die Welt kein Märchen mehr, seit diesem Augenblick, kein Traum mehr. Und ohne Traum ist sie hässlich, kalt, böse und grausam. Jetzt nachdem ich aufgewacht bin aus dem Traum des Lebens, wird mir bewusst, wie viele Menschen immer in dieser kalten, hässlichen, grausamen Welt leben und nicht wie ich, in einen Traum schlüpfen können, als Schriftstellerin, als ich noch träumen konnte. Als ich noch schrieb. Nach dem Unfall konnte ich nicht mehr schreiben. Der Traum war weg. Ich muss den Traum wiederfinden.
Der Wind schmerzte, er trieb die Kälte in meine Poren, die Tränen in meine Augen. Er wühlte wie ein Messer in meinem Leib. Lange würde ich es nicht aushalten in dieser Scheißkälte, auf diesem Scheißturm. Ich würde gehen, in die eine oder die andere Richtung. Aber sicher nicht zurück in das kalte, hässliche, grausame Leben.
Dann war da noch Alex, Mitte zwanzig, schön wie eine Renaissance-Madonna. Sie hatte sich unsterblich verliebt in eine Frau, die zwanzig Jahre älter war und verheiratet. Wer bin ich, wenn alles zu Ende geht? Die Geliebte hatte Alex gesagt, dass sie sich nicht würde scheiden lassen. Keine gemeinsame Zukunft. Grausam und hässlich, das Leben. Wer bin ich, wenn alles zu Ende geht?
„Es ist ein Wunder, dass mir ein Mensch begegnet ist, den ich so lieben kann“, postete Alex. „Das ist mehr, als ich vom Leben je erwartet hätte. Ich weiß genau, dass das nie wieder passieren wird. Der Rest meines Lebens wäre eine Enttäuschung.“
Keine Kommentare!
Es ist nicht so, dass die Teilnehmer der Facebook-Gruppe nicht schreiblustig gewesen wären. Es wurde viel gepostet, wenn es um letzte Kochrezepte, letzte Kirchenchorauftritte und den letzten Kinobesuch ging. Aber wenn die Wahrheit zu Wort kam, wenn es um die Frage ging: Wer bist du, wenn alles zu Ende geht? Dann wusste jeder, dass hier jedes Wort vergeblich war.
Das ist wohl der Unterschied zwischen einem Menschen, der zögert und einem, der entschlossen ist. Für den, der entschlossen ist, lässt sich die Wahrheit in einem Satz zusammenfassen und sie macht stumm. So lange einer noch redete, würde er am Leben bleiben. So lange einer redete und Kochrezepte postete, war die Welt nicht hässlich, kalt und grausam.
Alex war selbst im hässlichen, scheißkalten Sturm eine Erscheinung. Sie leuchtete von innen. Sie hielt sich an den einhundertfünfzig Kilo von Hannah fest. Das Bild werde ich nie vergessen. Es sah aus, als hätte die Hannah ihren persönlichen Engel dabei, der im Sturm plötzlich einen Körper bekommen hatte.
Und dann war da noch Michi, Anfang sechzig, Glatze, Schnurrbart, und Augen wie der Anführer eines Wolfsrudels. Michi ist ein so guter Mensch, dass man an der Menschheit verzweifeln muss, die dafür gesorgt hatte, dass er nicht mehr hierbleiben wollte. Es ist immer ein schlechtes Zeichen, wenn die Besten gehen. Das verstand ich erst richtig, als ich ihn in dieser Nacht zum ersten Mal persönlich sah. Man musste nur in seine Augen schauen und man konnte dort in eine Seele blicken, die zu schön war, zu rein, zu zerbrechlich für diese hässliche, grausame Welt. Wenn ich noch hätte träumen können, hätte ich ihn zu einer Romanfigur gemacht. Vielleicht wäre es mir gelungen, ihn in den Traum zurückzuholen, den man hier auf der Erde finden kann. Für Michi hätte ich es getan. Michi hielt dem Wind stand. Er war ein Fels. Nur seine Seele war zerbrochen. Wer bist du, wenn alles zu Ende geht?
„Ich wollte den Menschen immer nur dienen. Aber Diener werden mit Füßen getreten. Sie werden benutzt und ausgelacht. Jeder ist heute ein Herr. Diener gibt es nicht mehr. Dies ist mein letzter Dienst.“
Das hatte Michi gepostet. Keine Kommentare.
Wer bist du, wenn alles zu Ende geht? Das frage ich dich. Ja, dich. Was ist deine Wahrheit, zu der es nichts zu kommentieren gibt? Und wie stehst du im Sturm auf dem Hochhausdach? Woran zerbricht deine Seele? Vielleicht hast du jetzt und heute keine Antwort, aber irgendwann wirst du eine haben. Es wird ein guter Moment sein, denn dann wirst du wissen, dass alles zu Ende geht. Und dann wird etwas Neues anfangen. Was auch immer das ist. So war es zumindest für mich.
Was mit Severin, Hannah, Alex und Michi passiert ist, weiß ich bis heute nicht. Denn an diesem Abend verließ ich die kalte, hässliche, grausame Welt. Es geschah ein Wunder, mit dem ich niemals gerechnet hätte. Das ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht hätte erträumen können. Davon erzähle ich dann im nächsten Kapitel. Jetzt brauche ich aber erst noch einen Detox-Tee.
Nur das eine noch: Ich habe das Gefühl, dass ich Michi, Alex, Severin und Hannah wiedersehen werde, meine Gefährten im Sturm. Wenn der richtige Zeitpunkt da ist.
Ich bin verwirrt und überrascht. Eben habe ich auf den Blog geschaut und dort ein paar sehr berührende Kommentare gefunden und auf Facebook noch einmal eine Menge Kommentare.
Marietta Tango schreibt: „Ich weiß nicht, was Viola passiert ist, dass sie alle(s) Liebe verloren hat. Mir ist es jedenfalls auch so ergangen … Der ganze Schmerz. Ich fühle ihn bis heute. Immer wieder wirft er mich zurück auf mich selbst.“
Oder Nirupa: „Und da jede Wunde uns verschließt, zeigen sie sich nun, Schicht um Schicht, um gesehen und gefühlt zu werden … Das Leben sagt: Komm heim, komm endlich heim …“
Ich staune, wie sehr die Leser schon nach den ersten Seiten des Romans das ganze Thema sehen und fühlen. Ich schreibe schon mein Leben lang, viele Bücher, und immer war das Schreiben etwas sehr Einsames. Ich und die Geschichte. Der Leser weit weg. Und jetzt plötzlich … Es ist ein merkwürdiges Gefühl. Ich bin nicht mehr allein mit meiner Geschichte. Ich habe die Leser eingeladen und jetzt sind sie da. Danke, liebe Leser. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich staune.
Ich komme gerade zurück von einem Spaziergang über das Gelände von Te Moana. Ich und mein kleines Notizbuch, immer dabei, falls mich der Blitz der Eingebung trifft. Und was habe ich gemacht? Ich habe die Formen der Blätter aufgezeichnet. Vielleicht hast du ja einen Gummibaum zu Hause. Du musst es dir so vorstellen: Hier gibt es den Gummibaum in unvorstellbaren Varianten. Es gibt hier Blätter so groß wie Handtücher, gefaltet wie ein Faltenrock. Und Büsche, an denen unzählige solcher grüner Faltenröcke empor sprießen.
Daneben steht dann eine Palme mit einem Stamm wie ein Streichholz, hoch wie Giraffenhals und oben drauf sitzt ein Büschel von Fächern, die in alle Richtungen explodieren wie ein Silvesterfeuerwerk. Und hinter ihr eine Palme mit einem rotbraunen Stamm und Blättern, jedes Blatt so groß, dass man darauf Boot fahren könnte.
Nirupa schrieb, „Komm heim, komm endlich heim“. Ja, dieses „Komm heim“, das habe ich gefühlt auf dem Spaziergang durch den Garten von Te Moana, nachdem ich all diese wunderschönen Formen aufgezeichnet habe. Am Ende aber war es ein Blatt, nur so groß wie ein Daumen. Ein kleines, längliches Blatt, das auf dem Boden lag, neben anderen heruntergefallenen Blättern.
Es ragt heraus durch seine neongrüne Farbe. Diese Farbe, das Leuchten in dieser Farbe hatte eine seltsame Wirkung auf mich. Als hätte jemand einen Farbtopf in meinem Inneren ausgeschüttet. Etwas wird berührt: Das bin ich.
Ich erinnere mich, dass ich als Kind dieselben Gefühle hatte für die Tapete in meinem Kinderzimmer, eine Frau mit einem Regenschirm, Mary Poppins, in unzählige Male über die ganze Wand verteilt. Die Farbe war Pink. Ihr Regenschirm war pink. Wenn ich diese Farben sehe, öffnet sich eine Tür für mich.
Als würde ich aus der Haut der einen Welt heraustreten und in die Haut einer anderen eintreten. Und dann habe ich das Gefühl von Heimat. Die Heimat ist ein verborgenes Reich hinter der Oberfläche, und man kann sie betreten durch ein neongrünes Blatt im Garten von Te Moana. Dort gibt es keinen Schmerz mehr und ich muss auch nicht sterben, um dorthin zu gelangen.
Mein Leben lang suche ich nach diesem Tor. Wenn ich es finde, ist alles gut.
In Jamaica gibt es viele Tore. Hier gibt es viel Schönheit. Hier verschwinde ich als Mensch, der Wunden hat und in einer hässlichen, grausamen Welt lebt. Die Schönheit hier in diesem Paradiesgarten, sie umarmt mich, sie ist so großzügig. Und sie tröstet mich.
Vor drei Jahren in jener Nacht auf dem Hochhausturm in Frankfurt bin ich durch ein solches Tor gegangen. Jetzt, wo ich hier bin, kehrt die Erinnerung zurück. Ich werde noch einmal hindurchgehen, diesmal mit Worten. Die Worte werden mich beschützen. Ich bin durch dieses Tor hindurch gegangen und ich habe eine unbekannte, neue Welt kennengelernt. Sie hat mich verwirrt und verzaubert und ich konnte nicht mehr zurück.
Die Menschen sagen, wenn der Schmerz zu groß wird, kommt Hilfe, die man nicht erwartet.
Ich stehe am Rand des Daches. Ich bin bereit. Der Wind bläst so stark hier oben, dass ich genau weiß, wenn ein Stoß kommt, nimmt er mich mit. Ich gebe mein Leben in die Hände des Windes. Jetzt in diesem Augenblick. Es liegt nicht mehr in meiner Hand. Ich fühle ihn jetzt wieder, diesen Augenblick. Er ist ganz da. Die Kälte, das Wasser, das über mein Gesicht läuft. Ich brauche ein Taschentuch, meine Nase läuft. Hat jemand ein Taschentuch? Ich sehe die anderen nicht mehr. Michi, Severin, Hannah, Alex. Wo sind sie? Ich kann mich jetzt nicht darum kümmern. Jeden Moment kann ich diese Welt verlassen. Ich weiß jetzt, wie es ist. Ich habe losgelassen. Es ist Freiheit. Es ist dasselbe Gefühl wie … der Anruf.
Ein Arzt, der Englisch sprach mit einem starken Akzent. Ich fühlte, dass er überarbeitet war, sehr müde und er musste mir etwas sagen, das man nicht gern anderen sagt. Es kostet viel Kraft, Menschen solche Nachrichten zu überbringen. Ich erkannte es an der Müdigkeit seiner Stimme. Ich fühlte, dass er einsam war, dass da niemand war in seinem Leben, der ihn tröstete, wenn er solche Nachrichten überbringen musste. Nachrichten, die andere Menschen einsam machen, so einsam, dass sie nicht überleben können. Ich weiß nicht mehr genau, was er sagte. Ich wusste sofort, dass es keine Hoffnung gab. Dass es endgültig war. Dass sie nicht zurückkehren würden auf die Erde.
Und jetzt auf dem Dach, im Wind, in der Scheißkälte, war es dasselbe: Ich konnte nichts tun. Der Wind hatte jetzt das Sagen. Ich stand mit den Knien gegen die Balustrade gedrückt, mein Oberkörper war wie ein Grashalm im Wind. Ich fühlte diese Freiheit. Ich war eins mit dem Wind. Der Wind bestimmte jetzt über mich. Ich wurde immer weicher. Ich wartete auf den Augenblick, wo ich allen Halt verlieren und fallen würde. Fallen, fallen …
Der Wind ließ nach. Warum? Warum jetzt? Verdammt. Ich war doch bereit gewesen. Warum nahm er mich nicht mit? Warum musste ich mich wieder um alles selbst kümmern? Warum konnte ich nicht einmal eine so simple Sache wie Schwups-über-eine-Balustrade auf einem verdammten Hochhausdach hinkriegen?
„Wir können etwas für dich tun“, hörte ich eine Stimme in meinem Rücken. Michi? Severin? Eine männliche Stimme „Aber du musst uns deine Zustimmung geben“, fuhr die Stimme fort.
„Ich bin mit allem einverstanden“, erwiderte ich angepisst. „Ich bin wirklich so was von fertig mit allem hier! Ich will weg.“ Ich glaube so angepisst hatte ich noch nie mit jemandem geredet.
„Wie ich das hasse“, hörte ich die Stimme. „Es dauert Jahre, die ganze Scheiße wieder aufzuräumen. Das Loch, das das hier reißt. Oh, Mann. Warum haben sie wieder mich hierher geschickt?“
Ich war verwirrt. Wer redete so mit mir? „Nein, ich werde mich jetzt nicht auf irgendein Psycho-Spiel einlassen. Ich will runter hier!“
Der Wind, der Verdammte, er zog sich zurück. Ich konnte sogar ein Stück wolkenlosen Himmel sehen, direkt über mir. Und ich schwöre: Dort war jemand. Irgendein verschwommenes Wesen, das … Es konnte sprechen und ich hörte es sagen: „Bring sie verdammt noch mal dazu, den Vertrag zu unterschreiben, du Verlierer.“
„Mir reicht es“, sage ich. „Ich werde ganz sicher keinen Vertrag unterschreiben, bevor ich tot bin.“
Ich weiß, der Typ, der da mit mir redet, steht immer noch hinter mir, aber ich werde mich nicht umdrehen.
„Wie ich das hasse“, höre ich ihn jetzt wieder und habe das Gefühl, dass er mir gleich auf die Schulter tippt. „Unterschreib“, sagt er. Aber er ist wirklich ein Verlierer. Das höre ich an seiner Stimme. Niemand würde wegen ihm einen Vertrag unterschreiben.
Dann passiert etwas sehr Merkwürdiges. Ich verstehe, wenn du dich fragst, ob du mir hier noch folgen kannst, bei dem, was jetzt kommt.
Das Dach, das Hochhaus, die Kälte, der Wind, die Dunkelheit, sie sind verschwunden. Ich bin irgendwo. Wo, weiß ich auch nicht so genau. Wie ich hierhergekommen bin, weiß ich auch nicht. Es ist hell. Es ist warm und es ist lautlos. Auch wenn es Geräusche gibt, so sind sie doch lautlos. Irgendwo zwischen Himmel und Erde, so fühlt es sich an.
Ich unterschreibe einen Vertrag. Ich weiß, was drin steht, ohne dass ich ihn gelesen habe. Das ist hier so: Man weiß einfach. Es steht drin, dass ich ab sofort mein Leben in die Hände der Engel übergebe. Ich schaue mich um: Sie sind wunderschön: Engel. Sie sind weiß, sie sind Licht und sie haben Flügel. Sie haben keine fest umrissene Form, keinen Körper wie wir Menschen. Ich kann sie zwar als fest umrissene Form wahrnehmen, aber ich weiß auch, dass das nur die Brille ist, mit der ich auf sie schaue. Sie sind Licht. Ich unterschreibe.
Ich bin so froh, dass ich hier sein kann. Hier bin ich nicht allein. Ich habe sogar das Gefühl, dass ich nie wieder allein sein werde. Jetzt wo ich sie getroffen habe. Es ist ein unglaublich schöner Augenblick und ich möchte immer dortbleiben. Ich bin so neugierig.
Ich sehe jetzt den Engel, der bei mir auf dem Hochhausdach war. Ich erkenne ihn an seinem traurigen Gesicht, auch wenn ich das Gesicht nicht gesehen habe. Es ist das Gesicht, das zur Stimme passt. Er ist es, der mir den Vertrag überreicht hat.
„Wer ist für sie zuständig“, höre ich jemanden fragen. Um mich herum steht eine ganze Versammlung. Sie wirken wie eine Versammlung von medizinischen Spezialisten, die herausfinden wollen, was mein Problem ist.
„Sie kommt aus einer alten Linie“, höre ich einen sagen. „Sie ist wirklich völlig fertig.“
Ich habe das Gefühl, dass ich von denen, also von den Engeln um mich herum, gescannt werde. Und es ist als würde ich den Engel vom Dach seufzen hören, obwohl das natürlich ganz lautlos abläuft. Als würde er sich denken: Okay, schwieriger Fall.
„Verdammt“, höre ich mehrere rufen und sie drehen sich weg als hätten sie etwas sehr Abscheuliches gesehen.
„Sie ist vollkommen verseucht.“
„Bis in die letzte Pore.“
„Gibt's nicht oft.“
„Kommt nicht oft vor.“
„Er hat sie dran gekriegt.“
„Und wie!“
„Schauderhaft“
So geht es in einer Tour. Du musst verstehen, dass die Engel nicht so reden, also nicht wie mit einer menschlichen Stimme und menschlichen Worten. Es kommt nur so bei mir an. Sie meinen es aber schon so. Es übersetzt sich nur so in meinem Kopf. Auf alle Fälle sehen sie etwas in mir, das sie schockiert, als hätten sie einen bösartigen Krebs festgestellt. Irgendwie beruhigt es mich, denn ich habe Vertrauen zu ihnen. Und vielleicht finden sie ja die Lösung. Ich bin einfach nur glücklich, hier zu sein. Es ist nicht mehr kalt und der Schmerz ist verschwunden.
„Was ist passiert“, höre ich sie reden.
„Sieh ihn dir an. Er hat sie bekommen.“
Ich weiß nicht, wovon sie reden. Wer ist Er? Und wie hat er mich bekommen?
Plötzlich herrscht eine große Aufregung. Sie scheinen etwas wahrzunehmen, was ich nicht sehen kann. Ich habe aber das Gefühl, dass es mit mir zu tun hat.
Ich höre sie wirklich „Oh, mein Gott!“ rufen sie, obwohl sie das natürlich nicht so ausdrücken würden. Oder vielleicht doch? Sie arbeiten schließlich für ihn, dachte ich zumindest immer.
„Sie ist ein Festessen für ihn. Eine wie sie zu kriegen.“
Also ich weiß nicht. Ich soll ein Festessen sein? Und für wen?
„Sie ist vollkommen verseucht. Wir sind dem nicht gewachsen.“
Es wird immer mysteriöser, finde ich. Der Engel vom Dach ist erleichtert. Er ist nicht der Einzige, der hier ein Problem hat. Aber warum bin ich so ein Problem? Selbst für die Engel?
Sie geben eine Akte herum. Energetisch, du weißt schon: energetisches Akte-Herumreichen. Und sie machen einen Stempel drauf, der so etwas wie höchste Schwierigkeitsstufe bedeutet. Auch wenn ich das nicht lesen kann, ich weiß es, so wie man hier alles irgendwie weiß. Jetzt ist es amtlich. Alle schütteln den Kopf.
Ich sehe, wie die Akte auf dem Schreibtisch von Erzengel Michael landet. Woher ich weiß, dass er es ist? Man weiß es eben, wenn man ihn sieht. Ich habe ihn sofort erkannt, obwohl ich ihn noch nie gesehen habe und auch nur vage von seiner Existenz wusste.
Er scannt die Akte. Erzengel Michael! Ich habe Ehrfurcht vor ihm. Er ist unglaublich schön. Sein Licht ist schön, strahlend, ungefähr als würde man die schönsten Farben der Welt, purpur, türkis, tiefviolett und das Grün der Palmblätter nehmen und dann von diesen Farben nur die Essenz verwenden, das Licht. Dann käme man an das heran, was Michael ist. Am eindrucksvollsten sind seine Flügel. Sie sind wie die Flügel einer Million Schwäne, beschienen vom Licht der Morgensonne. Die anderen Engel stehen ehrfürchtig um ihn herum, wie ich ja auch.
„Ich werde euch etwas lehren mit diesem Fall“, sagt er zu ihnen. „Sie ist wertvoll für uns. Sie braucht eine besondere Fürsorge. Versteht ihr das?“
Sie nicken.
Diese beiden Sätze bleiben bei mir hängen: „Sie ist wertvoll für uns. Sie braucht eine besondere Fürsorge.“
Und dann höre ich ein grässliches Brüllen. Es kommt aus der Tiefe. Das Licht zieht sich zurück und auch die Engel sehen plötzlich aus als würden sie frieren. Dann sehe ich Ihn. Zuerst nur wie eine Zusammenballung von dunkler Energie, dann blitzt für einen winzigen Augenblick eine Fratze auf. Ich kann es nicht wirklich beschreiben, denn in diesem Augenblick fühle ich nichts. Er ist hässlich, mehr kann ich nicht sagen, an ihm ist nichts Liebenswürdiges. Ich höre Ihn lachen.
Am nächsten Morgen wache ich auf. Ich liege zu Hause in meinem Bett. In der Wohnung, in der ich mit meiner Familie gewohnt habe und die jetzt leer ist. Nur die Möbel, die Kleider, die Laptops, die Gegenstände, die zu ihrem Leben gehört haben, sind noch da. Ich habe sie in die Regale gelegt. Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin. Ob mich jemand hierhergebracht hat, Menschen oder Engel. Meine nassen Kleider liegen auf dem Boden.
Etwas ist anders. Ich bin anders. Ich bin nicht mehr allein. Ich habe jetzt Engel in meinem Leben. Ich habe den Erzengel Michael, der sich meiner angenommen hat. Für den ich wertvoll bin. Und ich habe einen Vertrag mit ihnen unterschrieben, in dem steht, dass ich ab sofort ihren Anweisungen zu folgen habe. Das ist der Deal. Sie beschützen mich und ich folge ihren Anweisungen.
Ich frage mich, ob das verständlich ist für andere Menschen, für dich, Leser*in. Hast du Engel in deinem Leben? Haben sie dir einen Vertrag angeboten? Hast du unterschrieben?
Warst du schon mal an so einem Ort, wo du wusstest, was los ist, auch wenn du es eigentlich nicht wissen konntest? Dann verstehst du mich vielleicht.
Vielleicht verstehst du es auch nicht. Wie sollst du auch, wenn du es noch nicht erlebt hast? Es ist nicht wichtig.
An all dem ist nur eines wichtig: Ich bin nicht mehr allein.