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Horrorband eBook 1

KOVD Online

Titelseite

Impressum

Widmung

Vorbemerkung

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Der Autor

Literatur Guerillas

Horror eBook

Band 1

 

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Impressum

Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by KOVD Verlag, Herne

Illustration und Buchschmuck: B. Craig

Lektorat: H. Brehm

Korrektorat: A. Jost

 

ISBN: 978-3-96698-559-8

Nachdruck und weitere Verwendung

nur mit schriftlicher Genehmigung.

 

 

Meiner Oma zum Gedenken

Josefine Lutz

(1923-2005)

 

 

Vorbemerkung

 

Der folgende Roman spielt in der Welt von Sagunth.

Sagunth ist eine große Kleinstadt, wenn nicht sogar eine kleine Großstadt – je nachdem, wie man es sieht oder zu welcher Epoche wir die Stadtgrenzen übertreten. Irgendwo in Deutschland gelegen, fristen die Bewohner Sagunths ein weitestgehend friedvolles Dasein. Nur hin und wieder werden sie mit Problemen konfrontiert, wie man sie sonst nur in Büchern findet, die man gemeinhin der phantastischen Literatur zurechnet.

Als Bürger dieser Stadt fragt man sich daher schon so manches Mal, wieso es immer wieder und ausgerechnet Sagunth trifft. Warum nicht auch andere Städte des Landes?

Vielleicht liegt es daran, dass Sagunth sich dort befindet, wo die Grenzen zwischen Schein und Realität dünn sind. Wo es Wege gibt, diese zu durchbrechen. Es wird von Pfaden berichtet, die man beschreiten kann, um an ihrem Ende in einer anderen Wirklichkeit aufzuwachen. Dunkle Pfade meist, die man kaum wahrnimmt. Ohnehin ist nicht jeder Sagunther Bürger empfänglich für jene Eindrücke, die manch anderen so sehr in den Bann ziehen, dass man oftmals das Gefühl hat, die Stadt selbst sei für all jene abnormen und unerklärbaren Dinge verantwortlich.

Nur eines steht fest: Sagunth gibt es wirklich.

 

www.sagunth.de

 

 

 

»Die meisten Menschen (...) halten Wörter für Steine, große unbewegliche Gegenstände ohne Leben, Monaden, die sich nie verändern.«

 

- Paul Auster ›Stadt aus Glas‹

 

 

PROLOG

 

 

 

 

 

 

Das Spiel war ein Raum. Dieser befand sich unterhalb des Stadtkerns, durch einen Gang mit dem Kellergewölbe der Sakristei verbunden. Tom war darin so vertieft, dass er alles um sich herum vergaß. Der junge Novize hatte den unterirdischen Saal scheinbar nur durch einen betörenden Zufall entdeckt und war so fasziniert von den verschiedenen Anordnungen jener kryptischen Ornamente, dass er kein Gefühl mehr für Raum und Zeit verspürte. Wenn er es sich recht überlegte, konnte er den Fund als blankes Schicksal bezeichnen.

Tom war ein Spieler, da war er sich sicher. Kein solcher, der die Spielhöllen verrufener Stadtviertel frequentierte, nein. Er war einer, der es liebte, Rätsel zu lösen. Geduldsspiele aller Art hatten es ihm angetan. Hatte er einmal eines geknackt, so suchte er sich sogleich ein neues. Tom war regelrecht süchtig nach dieser Form der Beschäftigung. Für ihn war es mehr denn purer Zeitvertreib. Eher Berufung.

Die Platten mit den Ornamenten waren aus Quarz gefertigt. Äonenalte Öffnungen in der Wand dahinter ließen genügend Licht aus einer unbekannten Quelle scheinen, so dass das Quarzgestein zu funkeln und zu leuchten schien. Eine jede Quarzplatte mochte etwa fünfzehn mal fünfundzwanzig Zentimeter messen, und für sich genommen waren sie wunderschön.

Die vielfältigen Ausschmückungen und Verzierungen der lichtdurchlässigen Quarzplatten wollten auf den ersten Blick keinen Sinn ergeben. Linien, Formen und kleinere Bilder erweckten den Anschein, nicht zusammenzupassen. Doch an ein paar Stellen fehlten die Quarzplatten, und obwohl es keine Spielanleitung gab, hatte Tom es herausgefunden. Die Aufgabe war, die Platten so zu verschieben, dass die Ornamente richtig zusammengefügt waren.

Tom war schon seit Stunden vertieft in die uralten Quarzsteintafeln, doch des Rätsels Lösung wollte sich ihm nicht zeigen. Er wusste, dass er ursprünglich andere Aufgaben zu erledigen hatte, doch die Faszination, die von diesem Raum ausging, war schier zu groß.

Beim Aufräumen der alten Lagerbestände war er auf den Gang gestoßen, von dessen Existenz er vorher nicht das Geringste gewusst hatte. Wäre das Regal nicht unter dem Gewicht des großen Kartons, den er daraufgestellt hatte, zusammengebrochen und somit nicht die Tür zu diesem Raum freigelegt worden, so wäre er nicht hier. Doch hatte sich ihm die Frage gestellt, ob es nicht sein Schicksal war, das ihn hierhergeleitet hatte. Sein ganzes Wesen war erfüllt von solchen Spielen, und dieses hier war zweifellos das bislang größte von allen. Vielleicht lag hier der wahre Grund verborgen, der ihn zu dem Entschluss getrieben hatte, Mönch werden zu wollen. Nicht nur der Glaube an sich, der ihm ohnehin eher einerlei war, obgleich er stets versuchte, diese Mischung aus Frust und Resignation zu verbergen. Vielmehr war es ihm, dass der schillernde Raum, in dem er sich befand, dieses Zimmer aus reinem Rosenquarz, das besagtes Quarzgestein ihn gerufen hätte. Ein Ruf, den er seit seiner Kindheit vernommen hatte. Dessen Herausforderungen er unnachgiebig in Form von albernen Geduldsspielen erprobt hatte, so lange, bis er reif genug gewesen war, ins Westvorstädter Kloster einzutreten, um dort das mächtigste Spiel von allen hinter einem alten Regal zu finden … Ohne einen weiteren Gedanken an etwaige Konsequenzen zu verschwenden, war er dem Gang gefolgt, bis er nach wenigen Minuten auf diesen Raum gestoßen war.

Wieder schob er ein paar Platten zusammen, in der Hoffnung, der vorherbestimmten Anordnung ein Stück weit näher zu kommen, so dass die darauf abgebildeten Ornamente ein neues Muster ergaben. Eine Form, bei der jede Linie, jeder Punkt und jedes Zeichen mit dem einer bestimmten weiteren Platte verbunden war.

Im Zimmer seines Elternhauses hatte sich der Novize eine wahre Bibliothek zusammengestellt, bestehend aus Rätselbüchern und diversen Knobelspielen durchdachtester Art. Da war etwa der berühmte Rubik’s Cube, den man auch Zauberwürfel nannte, den er mittlerweile in kürzester Zeit in die korrekten Stellungen bringen konnte, so dass alle Farben passten. Eine Disziplin, die er sogar blind beherrschte und für die er sich einmal bei der Sendung ›Wetten Dass?‹ beworben hatte. Der Schalk Gottes allein mochte wissen, warum die Produzenten ihn nicht in die Sendung eingeladen hatten. Von den hölzernen Geduldsspielen, von denen es eine Menge gab, hatte er alle mit Leichtigkeit lösen können: Die indische Knobelpyramide, Das Schachbrettpuzzle, Der Traum des Konstrukteurs oder das leicht verwirrende rhombische Dodecahedron. Auch den Teufelsknoten beherrschte er mit links. Doch dieses hier war einfach nicht zu knacken.

Mühsam schob er die Platten wie ein Wahnsinniger vor sich hin und her. Tauschte hier ein paar aus, veränderte dort die Anordnungen, und erst nach einigen Stunden errichtete er eine zufällige Stellung, bei der er einfach wusste, dass es die richtige war.

Und wie nun weiter?, überlegte er. Und schon, als ob der Raum ihn verstanden hätte, begann der Quarz sich auf geheimnisvolle Art vor seinen Augen zu verformen. Aus jeder Platte löste sich ein Segment, trat hervor, drehte oder veränderte sich sonst wie. Es entstand völlig willkürlich, ganz ohne Toms Zutun, ein eigenwilliges, neues Muster.

Tom überlegte, wie diese Eigenart wohl konstruiert sein mochte. Es schien, als habe er einen geheimen Mechanismus in Gang gesetzt, ohne zu wissen, wie. Der Erfinder musste ein wahrer Genius gewesen sein. Während Tom das schabende Treiben der Quarzplatten beobachtete, versuchte er, das Alter dieses Raumes zu schätzen.

Bei Gott, er hatte nicht die geringste Ahnung. Der Raum erschien ihm alt, Hunderte oder gar Tausende von Jahren, doch die Funktionsweise musste eindeutig jüngeren Ursprungs sein. Die Konstruktion wirkte zu magisch auf ihn, zu wenig wissenschaftlich erklärbar, als dass sie etwas anderes sein konnte als Architektur und Mathematik. Doch auch vor Jahrhunderten mochte es Erfinder, Wissenschaftler oder Magier gegeben haben, die gar Seltsames hervorbrachten.

Eventuell war er ja auch selbst ein Magier, überlegte Tom. Immerhin war es für den Großteil der Menschen oftmals unmöglich, solche Spiele zu lösen. Man musste anders denken, den herkömmlichen Gedanken als solchen um sich selbst biegen. Nur so konnte man Rätsel knacken.

Daher war sich Tom sicher, dass der Ruf ihm gegolten hatte. Die Stimme, die er manchmal im Traum zu vernehmen geglaubt hatte, oder die zu ihm gesprochen hatte, während er sich wie in Trance seinen Spielereien gewidmet hatte. Es war dieselbe Stimme, die ihn hierher ins Kloster beordert hatte; da war er sich sicher. Die unsichtbare Stimme in seinem Inneren, die zu ihm sprach, während seine Hände dreidimensionale Rätsel lösten, und die er schon als kleiner Junge vernommen hatte.

Die obskuren Veränderungen hielten inne. Die unsichtbare Teufelshand stoppte in der Ausführung ihrer Tätigkeit. Manche der herausgetretenen Ornamente hatten sich gedreht und ihre nun dargebotenen Oberflächen schienen flüssig zu sein. Als wenn Tom sich im Wasser eines klaren Baches spiegelte, flimmerte sein Spiegelbild auf den Wellen aus Quarz hin und her.

Kurz überlegte er, ob er nicht lieber zurückkehren sollte. Die anderen würden gewiss schon nach ihm suchen. Andererseits war ihm klar, dass er soeben einen wichtigen Schritt zur Vervollkommnung des Rätsels gemeistert hatte. Und das Rätsel zu lösen, hieß, seinem eigenen Sinn im Sein zu entsprechen. Nein, er konnte nicht zurück. Er musste einfach weitermachen, als wenn es ein ihm natürlich auferlegter Zwang wäre, Rätsel zu lösen, anstatt sie unvollendet zu unterbrechen.

Er verging sich weiter an den Tafeln. Wie besessen fügte er sie in anderen Stellungen neu zusammen, und auch diese veränderten ihre Konstellation zueinander ganz ohne Mitwirkung seinerseits. Der Novize staunte nicht schlecht, als er bemerkte, wie sich nach und nach die Platten verbanden und somit rapide dezimierten. Dies gab ihm lediglich neuen Antrieb und er kam immer schneller voran, bis er mit einem Mal innehielt, da er ein Geräusch hörte.

Er lauschte aufmerksam und vernahm es bald darauf abermals. Wie ein riesiger koreanischer Ching, ein Tempelgong, der mit einem in dreckige Lumpen gewickelten, mächtigen Schlegel geschlagen wurde, ertönte es von nirgendwo her. Das dumpfe, hohle Schlagen ließ ihn schaudern. Es kam nicht aus dem Raum, in dem sich Tom aufhielt, und ebenso wenig kam es aus der Sakristei. Auf die eine oder andere Weise mochte es aber dennoch – er konnte es allerdings nicht mit Gewissheit sagen – von unten kommen. Gab es darunter noch einen Keller?

Das Pochen wiederholte sich, schien in einen monotonen Rhythmus zu verfallen. Tom assoziierte das Geräusch immer mehr mit dem asiatischen Gong, doch der seltsame Schlegel erschien ihm mittlerweile von menschlichen Hautfetzen umwickelt. Tönte dieses Donnern gar aus den Tiefen der Hölle zu ihm hinauf? Lachhaft!

Dann spürte er es.

Seine Nerven waren angespannt. Ein unbehagliches Gefühl erklomm all seine Glieder. Zunehmend, gemeinsam mit dem Schlagen des nicht vorhandenen Gongs, durchfuhr ein angstbegründetes Zittern seinen Körper.

Mit lautem Krachen fiel die Tür zum unterirdischen Gang hinter ihm zu. Jener Gang, der – so fuhr es ihm durch den Kopf – nicht ohne Grund von einem großen Regal verborgen gewesen war. Der Knall, den die zugeschlagene Tür erzeugt hatte, hallte von den geisterhaften Quarztafeln wider, die man eigentlich nicht mehr als solche bezeichnen konnte. Es war ein quarzfarbener See, der Tom umgab. Die Spiegelfläche des Quarzgesteins glättete sich immer weiter, breitete sich auf dem Fußboden aus, glitt über die Decke hinweg; und bald sah Tom nichts anderes mehr als ein wellenschlagendes Meer aus flüssigem Quarz. Er selbst schien darin zu schweben, und er fuhr heftig herum, weil er meinte, in dem Quarzwasser eine Bewegung ausgemacht zu haben.

»Bei Gott«, sagte er, »das geht nicht mit rechten Dingen zu. Dies ist ein Ort des Teufels. Hexerei.«

Dann begann er zu beten. Das Licht wurde trüb und sogleich wieder heller. Der Novize verspürte ein seltsames Gefühl der Taubheit in seinen Ohren, durch den Lärm des immer noch schlagenden, unsichtbaren Gongs verursacht.

Unmittelbar vor Tom teilte sich das Quarzwasser. Er konnte einen Schacht sehen, ein Tor, eine Treppe aus den Untiefen des Meeres hinaus. Das Dröhnen des Gongs kam von dort, aus diesem Loch, das in das Nichts führte. Dann wurde er in dieses Grab hineingezogen.

Das Schwarz stülpte sich über ihn, und in der augenblicklich herrschenden totalen Finsternis war es von einer Sekunde auf die andere totenstill. Das Hämmern des Gongs war abrupt beendet worden, und in der Dunkelheit hörte Tom lediglich das leise Plätschern der Quarzessenz.

Dann verstand er. Das Quarzwasser, das Quarzgestein, die Ornamenttafeln – was es auch immer sein mochte – lebten. Der gesamte Raum war eine Lebensform, eine unbekannte Spezies, und diese schälte sich aus der Dunkelheit heraus, sodass er die wahre Form dieser unbekannten Rasse erkennen konnte.

Es waren drei. Von ihnen ging ein dämmrig weißes Licht aus. Anbetungswürdig war der erste Begriff, der Tom in den Sinn kam. Diese Wesen waren Götter.

Es handelte sich bei ihrem Erscheinungsbild zwar um das von Menschen, doch war ihre Haut von einer spiegelnden, mit Mustern versehenen Beschaffenheit.

Dieselben Ornamente, wie sie auf den Quarztafeln vorhanden gewesen waren. Ansonsten besaßen sie keine Furche, keine Runzel, kein Haar, absolut kein äußeres Merkmal, anhand dessen man sie voneinander hätte unterscheiden können. Tom dachte an Maschinen, Roboter, künstlich hergestellte Apostel der absoluten Reinheit. Engel, die ihn seit jeher riefen?

»In welcher Stätte der Sterblichkeit sind wir?«, erkundigte sich eines der Wesen bei Tom. Die Aura des Bösen haftete an ihnen.

»Erteile uns Bericht, Sterblicher«, forderte das Etwas, doch Tom brachte keinen Laut über seine Lippen.

Der Novize hatte einen Zustand erreicht, den die Buddhisten auf aller Welt erträumen: Er war absolut frei von jeglichem Gedanken. All seine körperlichen Funktionen schienen dabei zu versagen, und die Welt um ihn herum schenkte ihm keinen Beweis seiner Existenz.

»Ist dir überhaupt bewusst, wer hier vor dir steht?, fragte eine andere Gestalt. Die Ornamente auf dem haar-, poren-, und geschlechtslosen Wesen schienen beim Sprechen zu pulsieren. Toms Haare standen zu Berge und innerlich flehte er seinen ehemaligen Gott um Hilfe an, obwohl er wusste, dass es diesen niemals gegeben hatte.

»Rede endlich!«, wiederholte das Ding die Aufforderung.

»Reden, ja«, stotterte Tom der Quelle seiner Angst entgegen.

»Seht, seht«, sagte das dritte Monster, das bisher geschwiegen hatte. »Ein Aquädukt der Worte. Die Silben sprudeln nur so aus ihm hervor.«

»Ja«, sagte der andere, »der Mensch kann sprechen.«

»Ich, ...« Tom war verzweifelt. »Ich, ich habe nur die Tafeln verschoben.«

»Das wissen wir. Also: Warum hast du uns gerufen?«

»Ich wusste nicht ...«

»Die Ornamentik scheint ihm nicht geläufig zu sein«, sagte das eine Wesen.

»Er ist unter unserer Würde«, fügte das andere hinzu, und das dritte schallte fordernd:

»Dann sag uns: Was ist dein Opfer?«

»Mein Opfer? Welches Opfer?«

»Alles hat seinen Preis. Und dieser ist hoch.«

»Und was«, Toms Gesicht war blass vor Angst, »was verlangt ihr?«

»Dich.«

»Mich?«

»Komm mit uns und Du wirst alles haben, was du dir jemals erträumt hast. Und noch mehr: Alles, wovon du nicht einmal träumtest, es überhaupt nur träumen zu können.« Das Wesen schien zu lachen. »Reinheit, Wissen, Geist – dies wird Dein sein, wenn du einwilligst und deine irdische Existenz aufgibst.«

Sprachlosigkeit überfiel den Novizen. Er hatte keine Ahnung, wovon diese Wesen sprachen. Nur das Letzte hatte er verstanden.

»Und wenn ich nicht einwillige?«

Das Wesen schien zu lächeln. Ein diabolisches, wissendes Grinsen, bei dem die Ornamente auf der spiegelglatten Haut wie Adern pulsierten. Das teuflische Schmunzeln erzählte Tom davon, dass er die Antwort auf seine Frage gar nicht wissen wollte.

»Nun gut«, sagte er. »Ein vernünftiger Preis, ihr habt recht.«

»Dann komm.«

Der Novize sah sich ein letztes Mal zwischen den Wellen des Meeres aus Quarz um. Sein Blick glich dem eines Sterbenden, der sich für den letzten Abschied von seinen Freunden vorbereitet. Doch da waren keine Freunde. Nur jene, von denen er nichts wusste.

Als sich ihre Hände um die seinigen schlossen, begann er zu schreien.

Das Meer um Tom herum löste sich auf, verfiel in einen Strudel aus Konturen und Farben. Millionen Tropfen von Wasser sprangen herum, hüpften vor Toms Augen im Kreise und verschwanden schließlich im Jenseits.

Ein Gefühl bestehend aus unerreichbaren Wonnen nahm von ihm Besitz.

Seine Sinneseindrücke schwanden, fielen zurück in den Mutterbauch, den er einst bewohnt hatte, und es dauerte nicht lange, da war er allein.

Er sah sich spiegelnde, wie Sirup strömende Essenzen auf ihn zutreiben. Sie drangen in sein Fleisch ein, umschlossen seine Haut, bis seine Augen verblendet wurden.

Die vollkommene Blüte, die Reife, der Quarz, sein Blut und etliche zusätzliche Gerüche umstürzten seine Nase.

Es nahmen die Belanglosigkeiten zu, und mit schwindender Intensität, nachdem er das wahre Odeur ein letztes Mal wahrgenommen hatte, versagte sein Geruchsorgan.

Er hörte ein schabendes Geräusch, als alle Unebenheiten seines Körpers von ihm glitten, spürte den brennenden Herd seiner Haare, lauschte dem grässlichen Schnauben seines Atems, bis auch dieser nicht mehr war.

Oxidierenden Quarz auf seiner Zunge vermochte er gerade noch zu schmecken, bis auch dieses Gefühl verschwand.

Schmerzen verspürte er während der Prozedur keine. Aber das Gefühl des Nicht-mehr-fühlen-Könnens. Die Taubheit aller Sinneseindrücke.

Dieses unbeschreibbare Nichts der absoluten Leere von Sein, Nicht-Sein und Bewusstsein, einer empfindungslosen Sinnesempfindung gleich; dieser allumfassende, spürbare Mangel an allem war schlimmer, als jeder Sinnesreiz es jemals hätte sein können. Und dieser Eindruck war das Einzige, das er bis zum Schluss verspürte. Bis all seine Unreinheiten von ihm entfernt wurden. Bis er selbst sich in eine einzige quarzfarbene Spiegelfläche verwandelt hatte, woraufhin dieser letzte Sinn von ihm abfiel, auf dem Boden der Gefühle zertreten wurde und starb.

Keine Sehkraft, keine Geruchswahrnehmung, kein vernehmbares Geräusch, kein Geschmack. Allgemeine Taubheit.

Tom war rein, sauber, glatt.

Er war seinem Kindheitsruf gefolgt.

Und die Reinheit, die vor kurzem noch ein junger, motivierter Novize gewesen war, wusste, dass sie einen nicht mehr gutzumachenden Fehler begangen hatte.

 

EINS


 

 

 

 

 


1


Für Rose stand eines fest: Männer wollten stets nur das eine. Sicher, sie selbst wollte es zu Zeiten ja auch, doch nicht, bevor sie vor Gott verheiratet war. Ein eisernes Gebot, eine nicht umzukehrende Regel in ihren Prinzipien.

Sie war jung, hübsch und wollte am liebsten einen Mann lieben lernen, um ihn heiraten zu können, gäbe es da nicht ein Problem: ihre Religiosität, die offenbar viele Männer davon abschreckte, mit ihr eine Partnerschaft einzugehen.

Schon oft hatte sie mit Männern über Gott diskutiert, doch die meisten wollten nicht einmal akzeptieren, dass sie an ihn glaubte.

Immer wieder kam diese stechende Frage, wo Gott denn nur sei, und Rose konnte sie nicht beantworten. Einmal hatte sie gesagt: »In meinem Herzen«, wurde danach jedoch nur ausgelacht.

»Rosalinde, kommst du?« Die stechende Stimme ihrer Mutter. Sie wartete bereits unten, während Rose sich noch nicht einmal fertig angezogen hatte.

»Rosalinde!« Oh, wie Rose es hasste, so genannt zu werden. Sie schämte sich für ihren Namen, und jeder wusste das. Ein jeder hatte diesen Spleen akzeptiert, weswegen man sich auf Rose geeinigt hatte. Jeder außer …

»Rosalinde! Wir wollen los!« … Mutter.

»Ja!«, rief sie. Schnell stülpte sie sich ihren Pullover über den Kopf, streifte ihn über ihre Brüste und betrachtete sich noch einmal im Spiegel. Sie sah gut aus.

Rose war vierundzwanzig Jahre alt und wohnte noch immer bei ihrer Mutter. Wo sollte das nur hinführen? Wie lange sollte sie diese Situation weiterhin erdulden?

»Rosalinde! Muss ich dich holen kommen?« Und Gott immer wieder um Kraft bitten.

»Ja, Mama. Ich bin doch schon da.« Sie rannte die Treppe hinunter und stand schließlich vor ihrer Mutter, die sie ausgiebig musterte. »Na endlich. Es ist Zeit, komm.«

Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zur Klosterkirche, wie jeden Sonntag, und jedes Mal spielte sich auf dem Weg dorthin die gleiche Szenerie ab. An der Straßenecke, dort, wo die Martins wohnten, trafen sie auf Gerald, den alle immer nur Garry nannten, und der im Café Limburg an der Hauptstraße als Kellner jobbte.

Er war ein athletisch gebauter Mann in den besten Jahren, gerade gut genug für Rose. Er stand am Gartenzaun und zwinkerte der hübschen Frau zu, während diese ihn aufgeregt anlächelte. Ihre Mutter allerdings zog sie am Hemdsärmel und wechselte beschämt die Straßenseite, woraufhin Garry grinste und sich abwandte, weswegen Rose ihre Mutter anfauchte. Sie hasste so etwas. Warum konnte ihr Verhältnis zur Welt nicht normal sein wie bei anderen Frauen ihres Alters auch?

Sie verachtete sich, wenn sie so dachte.

Vier Straßen weiter, gleich hinter der großen Parkanlage, trafen sie auf die Klosterkirche. Ein hässlicher Neubau, der bestand, seit die alte Kirche im Krieg zerstört worden war. Das restliche Kloster stand noch, doch die Kirche war ein Gebäude, das die altehrwürdigen Gemäuer des eigentlichen Klosters geradezu entweihte. Ein Schandfleck in ganz Westvorstadt, dem kleinen, unscheinbaren Vorort von Sagunth.

Westvorstadt war das überflüssigste Örtchen, das man auf den Landkarten der veralteten Schulatlanten, den Archiven der Stadtbibliothek oder der Universitäten in Sagunth finden konnte. Die Universität hatte sich vor geraumer Zeit einen Namen gemacht, indem sie diverse medizinische Forschungen ihrer Professoren revolutionierte. Allerdings lösten diese ethische Diskussionen in Politik und Bevölkerung aus, von denen Rose aber so gut wie nichts mitbekommen hatte. Sie war froh, nächstes Jahr an dieser Universität studieren zu dürfen. Als Fach hatte sie sich Theologie ausgesucht.

Westvorstadt besaß, wie jeder andere Vorort einer Stadt, diverse Einrichtungen wie etwa das CinCin. Ein kleines Kino, in dem, laut Rose’ Mutter, nur unchristliche Filme gezeigt wurden, welche an Perversion der dargestellten Handlungen alles übertrafen, was Rose in ihren vierundzwanzig Lebensjahren jemals zu Gesicht bekommen hatte.

Des Weiteren wären die hässlichen, schäbigen Docks des kleinen Hafens zu erwähnen, der gleichzeitig den Schandfleck darstellte, welcher den der Trunksucht verfallenen Männer zur Befreiung ihrer Lust diente, sowie die Fabrik einer amerikanischen Firma namens Dream Circles Enterprises Inc., die sich aus unerfindlichen Gründen hier niedergelassen hatte. In dieser Fabrik arbeitete der Großteil der ärmeren Bevölkerung Westvorstadts, der Teil, der eben nicht am Hafen beschäftigt war oder täglich in die benachbarte Großstadt pendelte.

Der Ort hatte sich nie von Sagunth abgrenzen können. Wie ein verkümmertes Blümchen fristete Westvorstadt ein Schattendasein neben seiner riesigen Nachbarmetropole. Sagunth war groß und mächtig, voller Studenten und gut bezahlter Jobs und Kultur und Lebensenergie. Westvorstadt indes war nichts weiter als ein trostloser Ort, dessen jährlicher Höhepunkt der große historische Jahrmarkt war. Das Rathaus war beschaulich, letzte Woche war ein neuer Bioladen eingeweiht worden, es gab eine Videothek und zwei Supermärkte. Die freiwillige Feuerwehr befand sich direkt neben dem Gemeindehaus, in dem sich die Jugend regelmäßig traf, um von einer Diskothek zu träumen, wie es sie in Sagunth gab.

Westvorstadt besaß sogar eine Touristenattraktion, auch wenn diese kaum besucht wurde. Touristen interessierten sich nicht für die hässliche Burgruine, so dass sich Rose stets fragen musste, von was der Inhaber des Souvenirladens eigentlich lebte.

Westvorstadt war in erster Linie nichts weiter als ein Vorort, verstand sich aber ob des Namens gerne als eigene Kleinstadt. Dass ein Großteil der Häuser mit dichten Walmdächern, kleinen Ecktürmen, sich übereinander wölbenden Dachstuben und weiteren altbautypischem Ambiente versehen waren, trug nur zum Erfinden diverser Sagen und Geistergeschichten bei. Düsternis, Verfall, Schimmelbewuchs und unnatürliche Verwinkelungen schienen in Westvorstadt eher normal als grotesk. Ein Großteil der Gebäude war einfach unglaublich alt, und es war ein Wunder, dass die Stadt nicht aus ihren ächzenden Nähten platzte.

Rose hingegen wohnte mit ihrer Mutter in einer der wenigen Neubausiedlungen. Es fiel einem schwer zu glauben, dass Westvorstadt eine sehr alte, verrufene und von vielen gemiedene Kleinstadt war. Das Neubauviertel befand sich etwa fünfzehn Gehminuten von dem modernen Kirchengebäude entfernt. Rose zählte die bekannten Gesichter, meist ältere Herrschaften, die sich in das große Kirchenschiff drängten.