Die Autorin

Libby Page – Foto © Natalie Dawkins

LIBBY PAGE ist studierte Journalistin und hat für den Guardian und eine Wohltätigkeitsorganisation gearbeitet. Sie wollte schon immer Romane schreiben, und als die Nächte nicht mehr ausreichten, nahm sie sich
eine Auszeit von sechs Monaten und schrieb diesen Roman. Neben dem Schreiben ist Schwimmen ihre zweite große Leidenschaft. Libby Page lebt in London und hat sich vorgenommen, alle Freibäder der Stadt auszuprobieren.

Das Buch

Rettet unser Freibad! Hinter dem Flugblatt wittert Kate eine Story für ihre Zeitung. Als sie das von Schließung bedrohte Freibad besucht, lernt sie Rosemary kennen, deren Erinnerungen wie lebendige Geschichte sind. Rosemary schwimmt jeden Tag um sieben Uhr ihre Runden, seit über sechzig Jahren. Nichts liebt sie mehr, als von der Kühle des Wassers umfangen zu werden, sich sanft vom Beckenrand abzustoßen, um dann ihre gleichmäßigen Bahnen zu ziehen, bei denen sie sich endlich wieder alterslos fühlt. Rosemary sieht auf den ersten Blick, dass Kate etwas für die Rettung des Schwimmbads tun kann.
Und dass Kate dabei viel gewinnen wird. Die junge Frau würde nie zugeben, dass sie einsam ist. Rosemary ermuntert sie, und Kate taucht kopfüber ein in einen Sommer aus Freundschaft, Liebe und das Schwimmen im Freien.
Der Roman ist zuvor unter dem Titel Im Freibad erschienen.

Libby Page

Schwimmen mit Rosemary

Roman

Aus dem Englischen
von Silke Jellinghaus

Ullstein

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www.ullstein-buchverlage.de

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH,
Berlin 2019/Ullstein Taschenbuch.
© Elisabeth Page 2018.
Der Roman ist zuvor unter dem Titel Im Freibad erschienen.
Titel der englischen Originalausgabe: The Lido (Orion Publishing Group)
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, nach einer Vorlage von Louise Cand
Titelabbildung: © David Paire / Arcangel
Autorinnenfoto: © Natalie Dawkins
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Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2327-5

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Widmung

Für Alex Page
Meine schwimmende Schwester

Kapitel 1

Wenn man aus dem U-Bahnhof Brixton tritt, fühlt es sich an, als setzte man seinen Fuß in die große weite Welt. Die Welt ist ein Karneval aus Stahltrommeln, dem Rauschen des Verkehrs und dem Mann an der Ecke, der den Leuten »Gott liebt dich!« zuruft, selbst den weniger Liebenswerten.

»Karten für die Brixton Academy heute Abend!«, dröhnt ein Schwarzmarkthändler am Eingang des Bahnhofs. »Zu kaufen und zu verkaufen, Karten für die Brixton Academy!« Pendler schütteln die Köpfe, wenn ihnen Werbeleute Flyer oder Prediger Flugschriften in die Hand drücken wollen. Man drängt sich durch die Menge und geht an dem Rastafari vorbei, der vor Starbucks Räucherstäbchen und Platten verkauft. Auf der anderen Straßenseite steht das Kaufhaus Morleys, das zu keiner Kette gehört und das es schon seit Jahren gibt. Im benachbarten Schaufenster von TK Maxx strahlen in neonfarbenen Leuchtbuchstaben die Worte »Love Brixton«.

Heute blühen in den Kübeln am Blumenstand Frühlingsblumen: Narzissen, Tulpen und Pfingstrosen. Der Florist ist ein alter Mann mit dunkelgrüner Schürze, Erde unter den Fingernägeln und einer Goldkette um den Hals. Bei jedem Wetter verkauft er »Verzeihung« und »Ich liebe dich« zu vernünftigen Preisen. Wickle es in braunes Papier und binde eine Schleife drum.

Gleich nach dem Bahnhof kommt die Electric Avenue: Sie wimmelt von Menschen und Ständen, an denen man von Gemüse bis zu Ladegeräten für Handys alles kaufen kann. Der Geruch von süßen Melonen und Fisch hängt in der Luft. Die Fische liegen auf weißen Eisbetten, die sie im Laufe des Tages rosa färben, was einen daran erinnert, dass man auch niemals rosa Schnee essen sollte.

Die Standbesitzer rufen über die Straße Preise hin und her, Rabatte werden einander zugeworfen wie Frisbees. Fang es schnell auf und wirf es zurück.

»Drei für einen Zehner, dreifüreinzehner.«

»Nicht verpassen, drei für einen Fünfer, DREIFÜREINFÜNFER!«

»Drei für einen Fünfer? Bei mir gibt’s fünf für einen Fünfer!«

Eine junge Mutter mit Baby zieht einen Einkaufswagen über den Markt hinter sich her und umkurvt dabei die gefalteten Kartons und heruntergefallenen Bananenblätter. Sie geht langsam und bleibt hier und da stehen, um sich Gemüse genauer anzusehen. Dabei nimmt sie es in die Hand und wendet es hin und her wie ein Hundezüchter, der einen Welpen unter die Lupe nimmt. Das Erwählte wird gegen Münzen eingetauscht, die sie aus ihrer Handtasche fischt. Ein Mann macht ein Foto von einem Stand, die Augen durch die Kameralinse seines Handys hindurch fest auf die Farben des Gemüses gerichtet. Dann dreht er ab, um bei Iceland gefrorene Nahrungsmittel zu kaufen.

Auf der anderen Straßenseite geht Kate mit zügigen Schritten in die entgegengesetzte Richtung von ihrer Arbeit als Journalistin beim Brixton Chronicle nach Hause. Sie hat nicht die Zeit, Gemüse unter die Lupe zu nehmen. Vielleicht wüsste sie auch gar nicht, worauf sie dabei achten sollte. Möglicherweise ist es Frühling, aber Kate lebt unter einer Wolke. Sie folgt ihr auf Schritt und Tritt, und wie sehr sie ihr auch zu entkommen versucht, sie scheint sie nicht abhängen zu können. Kate schlängelt sich durch die Menschenmassen und kann es nicht erwarten, endlich zu Hause zu sein, die Tür hinter sich zuzuziehen und ins Bett zu fallen. Wenn sie nicht bei der Arbeit ist, verbringt sie die meiste Zeit im Bett. Auf der Straße versucht sie die Geräusche um sich herum auszublenden, damit sie sie nicht ausfüllen und überwältigen. Sie hält den Kopf gesenkt und die Augen auf den Gehweg gerichtet.

»Verzeihung«, sagt sie und weicht einer fülligen alten Dame aus, ohne aufzublicken.

»Entschuldigung«, sagt Rosemary und lässt Kate vorbei. Sie betrachtet den Rücken der jungen Frau, die weitereilt. Die Frau ist klein und hat einen mittellangen hellbraunen Pferdeschwanz, der im Rhythmus ihrer Schritte hinter ihr wippt. Rosemary lächelt und erinnert sich daran, wie es war, in Eile zu sein. Mit ihren sechsundachtzig geht sie selten schnell irgendwohin. Stattdessen nimmt sie ihre Einkäufe und geht langsam vom Markt in Richtung ihrer Wohnung am Rand des Brockwell Parks. Sie ist einfach, aber ordentlich gekleidet, trägt Hosen, bequeme Schuhe und einen leichten Regenmantel. Ihr dünnes, welliges graues Haar wird von einer Spange aus dem Gesicht zurückgehalten. Mit der Zeit hat sich ihr Körper so verändert, dass sie ihn kaum noch wiedererkennt, aber ihre Augen sind noch dieselben – leuchtend blau und lächelnd, selbst wenn ihr Mund nicht lächelt.

Heute ist Rosemarys Einkaufstag. Sie hat all ihre liebsten Geschäfte und Stände abgeklappert, Ellis begrüßt, den Früchte- und Gemüsemann, und ihre wöchentliche braune Tüte voller Lebensmittel abgeholt. Sie hat im Antiquariat vorbeigeschaut, das Frank mit seinem Partner Jermaine betreibt. Die drei haben eine Weile geplaudert, wobei sich Rosemary die Fensterbank mit Sprout, dem Golden Retriever der beiden, geteilt hat und dabei ihren Blick über die Regale wandern ließ. Vielleicht gab es etwas Neues oder etwas, das sie möglicherweise letzte Woche übersehen hatte. Sie kauft dort gern ein und liebt den muffigen Geruch der vielen Bücher.

Nach der Buchhandlung teilt sie sich mit ihrer Freundin Hope ein Stück Kuchen in ihrem Lieblingscafé in Brixton Village, dem überdachten Markt hinter der Electric Avenue. Für Rosemary und Hope heißt der alte Markt immer noch Granville Arcades, es war der einzige Ort, an dem Hope ihr sehnlich vermisstes karibisches Essen bekam, als sie mit zwölf nach Brixton zog. Jetzt ist der Markt voller Restaurants, Läden und Stände. Die Veränderung erschreckt sie immer wieder aufs Neue, aber sie mögen das Café, in dem die junge Barista schon weiß, was sie bestellen werden, und anfängt, den Kaffee zu machen, sobald sie sie durchs Fenster kommen sieht. Und der Kuchen schmeckt köstlich.

Sobald Rosemary das Village betritt, schlägt ihr der Geruch von Gewürzen entgegen und der Gesprächslärm all der Leute, die an den Tischen in den Gängen sitzen und reden – es sind dieselben Geräusche und Gerüche, an die sie durch ihre wöchentlichen Besuche gewöhnt ist. Der Markt ist zugig, und manche Restaurants bieten Decken an, die sich die Leute beim Essen um die Schultern oder auf den Schoß legen. Lichterketten hängen von der hohen Decke und erzeugen sogar im Frühling den Eindruck, man wäre auf einem Weihnachtsmarkt.

Hope und Rosemary trinken ihren Kaffee und plaudern. Hope erzählt stolz von ihrer Enkelin Aiesha und ihrer Tochter Jamila, die wie immer mit ihrer Arbeit schwer beschäftigt ist. Rosemary erinnert sich zärtlich daran, wie Jamila, ihr Patenkind, das Examen in Medizin bestand. Sie hat ihr damals Blumen geschickt und eine Karte, die mit den Worten »Liebe Frau Doktor …« begann.

Hope und Rosemary schwelgen wie jede Woche in Erinnerungen an die Zeit, als sie gemeinsam in der Bibliothek arbeiteten.

»Weißt du noch, wie Robert zum ersten Mal allen Mut zusammengenommen und dich zu einem Rendezvous eingeladen hat?«, fragt Rosemary lächelnd. Hopes Mann war, bevor er vor ein paar Jahren in den Ruhestand ging, Busfahrer. Als sie beide jung waren, kam er alle paar Tage nach seiner Schicht in der Bibliothek vorbei und blickte sich ungeduldig nach Hope und ihrer Sanduhrfigur um.

»Er hat ja auch lang genug dafür gebraucht«, sagt Hope. »Ich werde nie vergessen, wie du auf eine Leiter entschwunden bist und Bücher einsortiert hast, sobald er aufgetaucht ist, damit er mit mir sprechen musste.«

Die beiden Frauen lachen und kosten diesen Teil der Woche aus. Aber jetzt schmerzen Rosemarys Füße, und sie möchte gern nach Hause.

»Nächste Woche um dieselbe Zeit?«, fragt Rosemary, als sie sich trennen. Sie umarmt ihre Freundin und realisiert, dass Hope mit ihren achtundsechzig nun ebenfalls eine alte Frau ist. Sie drückt sie ein wenig fester. Für Rosemary wird Hope immer das fröhliche junge Mädchen bleiben, das mit achtzehn in der Bibliothek anfing und das sie unter ihre Fittiche nahm.

»Nächste Woche um dieselbe Zeit!«, antwortet Hope und tritt mit einem Winken auf die Straße, um Aiesha von der Schule abzuholen (der Höhepunkt ihres Tages).

Rosemary geht an den Schlangen vorbei, die an den Bushaltestellen warten, und überquert die Kreuzung mit dem alten Kino. Die Titel der aktuellen Filme stehen in weißen Lettern auf der schwarzen Tafel angeschrieben. Gegenüber ist ein großer Platz, auf dem ältere Männer auf Stühlen sitzen und rauchen, während Teenager auf ihren Skateboards um sie herumfahren.

Als sie sich weiter vom Bahnhof entfernt, werden aus Geschäften Reihenhäuser und Wohnblocks. Schließlich kommt sie vor dem Hootananny an, dem schmuddeligen alten Pub, der für seine Livemusik berühmt ist. Von den Bänken davor, auf denen Grüppchen sitzen und Bier trinken und rauchen, weht der Geruch von Marihuana herüber. Hier biegt sie links ab in die Straße, die sich um die Ecke des Parks windet und zu dem hohen Wohnblock führt, in dem sie wohnt.

Der Fahrstuhl, der oft kaputt ist, funktioniert, und sie ist erleichtert.

Rosemary hat den Großteil ihres Lebens in dieser Wohnung gelebt. Sie ist hier mit ihrem Mann George eingezogen, als das Haus neu gebaut war und sie frisch verheiratet waren. Die Wohnungstür öffnet sich direkt ins Wohnzimmer, in dem das Auffallendste das Bücherregal ist, das sich über die gesamte Länge der Wand rechts erstreckt.

In die Küche daneben passen ein Tisch, zwei Stühle und ein Fernseher, der auf der Waschmaschine steht. Als Rosemary ihre Einkäufe ausgepackt hat, durchquert sie das Wohnzimmer, öffnet die Türen und tritt auf den Balkon. Ihr marineblauer Badeanzug hängt an der Wäscheleine wie eine Flagge. Hier draußen stehen Pflanzen, ein paar Lavendel in Töpfen, nichts zu Extravagantes, es würde nicht zu ihr passen. Vom Balkon aus kann Rosemary den Brockwell Park sehen, der sich vor ihr ausbreitet. Es ist ein Ausblick, der sie weit weg trägt vom Lärm und den Menschenmassen in der Electric Avenue.

Der Frühling ist in vollem Gang, und der Park trägt ein neues grünes Kleid. Sie kann Bäume sehen, Tennisplätze, einen Garten und einen kleinen Hügel mit einem alten Haus, das einmal ein Landsitz war und nun für Veranstaltungen genutzt wird und um Eis und Snacks an Kinder mit klebrigen Händen zu verkaufen. Zwei Eisenbahnen schlängeln sich um den Park: die echte, die durch South London fährt, und eine Miniaturbahn nur für den Sommer und für sehr kleine Kinder. Die Sonne geht bereits unter, und Rosemary kann Menschen sehen, die nach der Arbeit einen Spaziergang machen und die länger werdenden Tage genießen. Jogger laufen den Hügel hinauf und wieder hinunter. Und in der Ecke des Parks, die direkt unter ihrem Balkon liegt, schließt ein flacher roter Backsteinbau seine Arme um ein makellos blaues Rechteck aus Wasser. Das Schwimmbad ist von Bändern gestreift, die die einzelnen Bahnen voneinander abtrennen, und sie sieht Handtücher hingetupft auf dem Deck. Schwimmer treiben im Wasser wie Blütenblätter. Es ist ein Ort, den sie gut kennt. Es ist das Freibad, ihr Freibad.

Kapitel 2

Jeden Morgen geht Kate auf ihrem Weg zur Arbeit an Unbekannten vorbei, die auf Busse warten oder aus Häusern zu geparkten Autos spurten. Aber es gibt auch bekannte Gesichter. Sie sieht sie jeden Tag, und ihre wechselnden Outfits und Frisuren, im steten Wandel wie das Wetter, markieren das Verstreichen der Zeit.

Auf der Hauptstraße begegnet sie einem sehr großen blonden Mann mit hoher Stirn, der bei jedem Wetter eine schwarze Lederjacke trägt. Je nachdem, wie früh oder spät sie dran ist, trifft sie ihn an einem anderen Punkt der Straße. Wenn sie ihm begegnet, solange sie noch am einen Ende der Hauptstraße ist, weiß sie, dass sie genügend Zeit hat, sich noch einen Kaffee zu holen. Wenn sie ihn am anderen Ende trifft, geht sie schneller, verfällt beinahe in einen Trab.

Dann ist da die junge Frau mit dem dunklen Haar und dem lebendigen Gesicht, die im Takt zu ihrer Musik mit dem Kopf nickt und manchmal auch mitsingt. Oft wird sie von einem jungen Mann in Doc Martens begleitet. Wenn er bei ihr ist, hängt sie sich ihre Kopfhörer um den Hals und unterhält sich mit ihm, untergehakt. Heute ist sie allein.

Als sie aneinander vorbeigehen, hätte Kate beinahe genickt, aber dann fällt ihr ein, dass sie diese Frau nicht kennt. Sie weiß ihren Namen nicht oder wohin sie jeden Morgen in die entgegengesetzte Richtung unterwegs ist. Sie sind sich nie vorgestellt worden, aber ihr Gesicht ist so vertraut wie der H&M auf der Hauptstraße, das Kino oder der Markt. Sie ist genauso sehr ein Teil von Brixton wie der Backstein, aus dem der Stadtteil erbaut ist.

Plötzlich bewölkt sich der Frühlingshimmel, und es beginnt zu regnen. Kate ärgert sich über sich selbst – sie hat ihren Regenschirm zu Hause stehen lassen. Der Schauer durchnässt sie schnell, und sie erreicht triefend den Brixton Chronicle. Auf der Treppe kommt ihr Jay entgegen, der Fotograf der Zeitung, und lächelt ihr zu. Er hat einen rotblonden Bart, sein lockiges Haar steht wie ein Glorienschein um seinen Kopf. Er ist groß und breit gebaut, aber mit weichen Konturen, und er nimmt im Treppenhaus den Großteil des Platzes ein. Sie haben bislang nicht viel zusammengearbeitet, begrüßen sich aber jeden Morgen und nicken oder winken, wenn sie einander in Brixton begegnen. Er scheint immer zu lächeln, und das bringt sie sogar an ihren schlechtesten Tagen ebenfalls zum Lächeln, auch wenn sie ihren Mund nicht ganz dazu bekommt, es zu zeigen.

»Morgen!«, sagt er, als sie auf der Treppe aneinander vorübergehen. Seine Stimme ist erfüllt vom Klang des starken Akzents von South London.

»Morgen! Bist du weg?«

»Ja, muss zu einem Auftrag« – er weist auf die Kameratasche auf seiner Schulter – »für eine Kritik. Ein Restaurant eröffnet in einem früheren alten Pub. Mein Dad sagt, er weiß noch, wie er da in meinem Alter immer was getrunken hat.«

»Okay, na ja, dann sehen wir uns später«, antwortet Kate. »Und vergiss nicht deinen …«

Bevor sie den Satz beenden kann, deutet er auf den Regenschirm, der hinten an seinem Rucksack hängt.

Sie nickt und macht sich auf den Weg nach oben ins Büro.

»Warst du schwimmen?«, fragt ihr Chefredakteur, als sie den nassen Mantel über ihre Stuhllehne wirft.

Phil Harris ist ein Mann, dessen Körper mit wenig Liebe behandelt worden ist. Seine Wangen weisen dauerhaft eine violette Schattierung auf. Sie haben dieselbe Farbe wie der Bordeaux, den er jeden Abend mit seiner Frau im nahe gelegenen Pub trinkt oder, wie Gerüchte besagen, manchmal auch mit Nicht-Seiner-Frau. Man kann die Steaks und Pommes um seine Hüften herum sehen wie einen Rettungsring aus Gummi, der ihn irgendwann in den Tod ziehen wird. Er ist nicht reich – er hat es nie die Leiter hinauf zu den landesweiten Tageszeitungen geschafft.

Sie schüttelt den Kopf. »Nein, bin nur in den Regen gekommen. Ich kann gar nicht schwimmen.«

Das ist eine Lüge. Sie kann schwimmen. Wenn sie aus Versehen in einen Pool fallen würde, könnte sie es bis zum Rand schaffen. Sie weiß, wie man Arme und Beine bewegen muss, um sich über Wasser zu halten. Sie ist nur einfach nicht mehr geschwommen, seit sie ein Teenager war. In der Schule hatten sie Unterricht, aber sobald man ihr selbst die Entscheidung überließ, entschied sie, damit aufzuhören. Das geschah in der Pubertät, in der sich für viele Mädchen ihre Körper anfühlen wie unbequeme Kleidung, die man gern abschütteln würde. Sie erinnert sich an die Transformation: Aus dem kichernden Haufen wurde ein gehemmtes Grüppchen am Beckenrand, in dem die Mädchen die Arme um sich schlangen, um die Peinlichkeit ihrer perfekten und doch so grässlichen Körper zu verdecken.

»Das könnte ein Problem werden«, sagt Phil. »Wir haben nämlich für dich einen Job im Freibad. Dafür ist es natürlich nicht nötig zu schwimmen, aber es könnte dir dabei helfen, tiefer in die Story einzutauchen, weißt du, zu verstehen, worum der ganze Wirbel gemacht wird …«

Kate schmeckt Chlor auf der Zunge und die Furcht, vor ihren Klassenkameradinnen halb nackt zu sein. Ohne weitere Erklärung wirft Phil ein Flugblatt über den Zeitungsstapel, der ihre beiden Schreibtische trennt. Es landet auf ihrer Tastatur. Vorne ist das Schwarz-Weiß-Foto eines Schwimmbads unter freiem Himmel abgebildet. Ein hohes Sprungbrett steht am Rand, und ein Mann ist mitten im Sprung eingefangen, die Arme ausgestreckt wie die Flügel einer Schwalbe. Im Innenteil befindet sich ein Farbfoto des Schwimmbads, wie es wohl heute aussieht: leuchtend blaues Wasser und Kinder, die eifrig mit den Beinen strampeln und die Arme zur Seite ausstrecken.

»Rettet unser Freibad!« steht in großen, handgeschriebenen Buchstaben auf dem Flugblatt. Sie liest den Text im Innenteil: »Unser Freibad, das im Jahr 1937 eröffnet wurde, ist in Gefahr. Die Stadtverwaltung hat mitgeteilt, dass die Haushaltslage angespannt ist. Nun liegt ein Angebot der Immobilienfirma Paradise Living vor, die unser geliebtes Freibad in ein privates Fitnessstudio umbauen will. Wollen wir das zulassen? Wenn Sie unsere Kampagne unterstützen möchten, wenden Sie sich bitte an die Mitarbeiter des Brockwell-Freibads.«

In säuberlicher Schrift ist der Text mit »die Schwimmer vom Brockwell-Freibad« unterzeichnet. Das ganze Ding sieht aus, denkt Kate, als wäre es mit einer Schere und einem Kopierer zusammengeschustert worden. Es ist ein zutreffender Verdacht.

»Darüber soll ich schreiben?«, fragt sie.

Derzeit berichtet sie für den Brixton Chronicle über entlaufene Haustiere, Straßenbauarbeiten oder Baugenehmigungen. Sie schreibt die Artikel, die weiter hinten stehen, aber nicht ganz hinten, wo die Sportseiten sind. Die Artikel, die nicht gelesen werden. Es sind keine Storys, die sie ihren Tutoren aus dem Journalismus-Studium zeigen würde. Ihre Mum sammelt sie dennoch in einem Album, was es nur noch schlimmer macht.

»Wenn du berühmt bist, wirst du froh darüber sein, dass ich sie alle aufgehoben habe«, hat sie einmal gesagt, und Kate versank noch tiefer in der Scham, die sie trägt wie einen Mantel.

»Ja«, antwortet Phil, »ich glaube, da steckt was Gutes drin. Weißt du, dass Paradise Living in Brixton schon vier Wohnblocks gebaut hat? Die Wohnungen kosten Millionen. Sie denken, wenn sie aus dem Brockwell-Freibad einen privaten Fitnessclub machen, werden sich die Wohnungen noch leichter und für noch mehr Geld verkaufen.«

Er dreht sich zu Kate um.

»Also, du hast gesagt, du willst eine echte Geschichte«, fährt er fort. »Hier ist deine Geschichte.«

Geschichten waren Kates Freunde, bevor sie wusste, wie man mit Menschen umgeht. Sie spürte sie auf, versteckte sich zwischen ihnen in der Bibliothek und vertiefte sich in ihre Seiten. Sie schlüpfte in die Gestalt der Hermine Granger oder der George aus den Fünf Freunden oder in die von Catherine Morland aus Northanger Abbey und versuchte, einen Tag lang sie zu sein. Als sie auf die weiterführende Schule kam, waren ihre Freunde die Figuren, denen sie auf Buchseiten begegnete. Sie saßen mit ihr in der Bibliothek, wo sie ihre Sandwiches heimlich hinter Büchern aß, damit die Bibliothekarin es nicht bemerkte. (Die Bibliothekarin bemerkte es immer, tat aber so, als bemerke sie es nicht.)

Nun erzählt sie anderen Leuten Geschichten. Auch wenn sie jemanden nur zu seiner entlaufenen Katze interviewt, findet Kate das interessant. Oft sind die Leute überrascht von den Fragen, die sie ihnen stellt. »Was ist Ihre erste Erinnerung an Smudge?«, »Wie anders wäre Ihr Leben verlaufen, wenn Sie Milo nicht gekauft hätten?«, »Wenn Bailey sprechen könnte, aber nur einen Satz sagen dürfte, was, glauben Sie, würde er sagen?«

Normalerweise werden ihre Interviews auf die Kerninformationen gekürzt: »Die dreijährige Tigerkatze Smudge wird von Familie Oliver seit dem 3. September vermisst. Belohnung ausgesetzt.« Aber sie behält ihre Geschichten im Kopf und blättert sie durch wie die Seiten in einem geliebten alten Buch.

Diese Story ist wie ein Ball, den ihr Chefredakteur ihr zugeworfen hat, und sie wird ihn nicht fallen lassen.

Kapitel 3

Ohne Schwimmer wirkt ein Schwimmbad verloren. Es ist noch früh, und der Bademeister rollt die Abdeckung zurück, schläfrig und geräuschlos zieht er an der Plane. Von ihrem Platz auf dem Balkon aus sieht Rosemary den Dampf von der Wasseroberfläche aufsteigen, als wäre das Wasser etwas Lebendiges, das atmet. Der Himmel ist zwar blau, aber die Luft ist noch kalt. Sie legt die Hände um ihre Schüssel mit Porridge und sieht zu, wie der Bademeister in seinen Fleece­pulli schlüpft und hineingeht, als seine Aufgabe erledigt und das Wasser freigelegt ist.

Es ist still, bis die beiden Stockenten kommen und beim Landen über die Wasseroberfläche flattern. Sie haben das Becken für sich. Rosemary beobachtet sie morgens gern, diese beiden Vögel, wie sie die Leere des Beckens genießen, während Sonnenschein wie Konfetti über das Wasser ausgeschüttet wird.

Schließlich kommen die ersten Schwimmer. Sie sind leise, teilweise aus Schläfrigkeit und teilweise aus Respekt vor der Stille und den Enten. Sie kennen die Enten gut und schwimmen um sie herum, bis die beiden beschließen, dass es Zeit ist, sich zu verabschieden. Dann rennen sie am Wasser entlang und fliegen über die Freibadmauer davon.

Der Bademeister überwacht das Becken von seinem Hochstuhl aus wie ein Schiedsrichter beim Tennis. Den Schwimmern bei ihrem Auf und Ab zuzusehen ist seine Morgenmeditation, genau wie Rosemarys. Sie isst ihren Porridge auf, geht hinein und nimmt ihre Schwimmtasche von ihrem Platz neben der Tür.

Jeden Morgen kommt Rosemary um sieben Uhr im Freibad an. Wenn sie umgezogen ist, stößt sie die Tür der Umkleide auf und tritt hinaus in die Kälte. Sie würde rennen, wenn sie könnte. Stattdessen geht sie zum Beckenrand, ihre Füße kommen ungefähr drei Minuten nach ihrem Verstand dort an. Ihr Körper ist nicht so stark wie ihr Wille. Das Altwerden zwingt sie zur Ungeduld.

Als sie auf die Leiter zugeht, betrachtet sie die anderen Schwimmer, ein Becken voller Arme, die die Wasseroberfläche durchstoßen. Nur die Brustschwimmer haben wiedererkennbare Gesichter.

Als sie sich die Leiter hinunterlässt, fühlt sich Rosemary wie ein Baum im Wind. Ihre Äste knarzen. Sie lässt los und wird vom Wasser aufgenommen, sie lässt sich von seiner Kühle umfangen und gibt sich Zeit, mit der Temperatur vertraut zu werden, bevor sie sich sanft vom Rand abstößt. Sie beginnt ihre gleichmäßige Bahn durch das Becken. Sie ist sechsundachtzig, aber im Wasser ist sie alterslos.

Rosemary hat ihr ganzes Leben in Brixton gelebt. Sogar im Krieg gehörte sie zu den wenigen Kindern, die zurückblieben. Abgesehen von den wenigen Malen, als die Feuerwehr das Wasser absaugte, um im Viertel Feuer zu löschen, blieb das Freibad geöffnet, und sie schwamm, sooft sie konnte. Zuerst hatte sie Schuldgefühle, weil sie im Wasser war, während ihr Vater und die Väter ihrer Freunde kämpfen mussten. Ein paarmal kam sie nur knapp mit dem Leben davon, wie damals, als Bomben in den Park hinter dem Freibad und auf die Dulwich Road davor fielen. Sie weiß noch, wie sie am Tag nach dem Einschlag in den Park ging und Familien mit rot geweinten Augen durch den Schutt stapfen sah. Nachbarn griffen ein und halfen ihnen, Besitztümer aus ihren zerstörten Wohnungen zu bergen.

Aber alldem zum Trotz gab es das Freibad. Und als die Monate ins Land zogen, wurde es unmöglich, den ganzen Tag zu trauern – es fühlte sich an, wie allzu lange in Sonntagskleidern herumzusitzen. Schließlich musste sie zappeln und sich die Bluse aus dem Bund ziehen und die Schuhe von den Füßen kicken und wieder ein Teenager sein. In diesen Jahren war es im Freibad still. Die Kinder von Brixton waren zum Großteil aus der Stadt in die Sicherheit ländlicher Gebiete evakuiert worden. Da die Männer fort waren und die Frauen arbeiteten, waren Bademeister schwer zu finden. Oft hatte sie das kühle blaue Wasser für sich allein.

Über die Freibadmauer hinweg hört sie einen Bus von der Haltestelle abfahren. Man hört auch die Züge, die am Herne Hill abbremsen, um dann schwungvoll um die Kurve in Loughborough Junction einzufahren. Rosemary hat ihr Leben zwischen den Mauern dieser Namen aufgebaut. Da sind die Hügel: Tulse Hill, Brixton Hill, Streatham Hill, ­Herne Hill. Dann die »Dörfer«: Dulwich, West Norwood, Tooting. Die Namen schmecken auf ihrer Zunge so vertraut wie Zahnpasta.

Früher kannte sie auch alle Ladenfronten, aber es wird schwieriger, diese im Kopf zu behalten. Manchmal glaubt sie, dass jemand ihr Streiche spielt. Jedes Mal, wenn ein ihr bekanntes Geschäft durch ein unbekanntes ersetzt wird, muss sie das alte aus der Karte in ihrem Kopf kratzen und es durch das neue Immobilienbüro oder Café ersetzen. Es ist nicht leicht, den Überblick zu behalten, aber sie bemüht sich. Würde sie diese neuen Geschäfte nicht kennen, wäre sie verloren in einer neuen Stadt, die nicht mehr die ihre wäre. Sie wünschte, es gäbe irgendeine Anerkennung für all das Wissen, das sie im Laufe ihres Lebens angesammelt hat. Wenn sie sich all die gespeicherten Zahlen und Namen und Straßen aus dem Kopf schlagen könnte, wäre sie vielleicht in der Lage, etwas Nützliches zu lernen, wie eine neue Sprache oder Stricken. Stricken wäre im Winter sicher nützlich.

Rosemary schwimmt mit regelmäßigen Brustzügen, taucht den Kopf ins Wasser und hebt ihn wieder, lässt sich die Ohren voll Wasser laufen. Sie sieht ihre zerknitterten Finger vor sich im Wasser, könnte aber nicht sagen, wie viele Falten dem Wasser geschuldet sind und wie viele ihrem Alter. Ihre Falten überraschen sie immer wieder. Junge Mädchen haben keine Falten. Sie ist ein junges Mädchen, das am Morgen seine Runden schwimmt unter den aufmerksamen Blicken der großen alten Uhr und des Bademeisters, der mit seiner Pfeife spielt. Sie schwimmt, bevor sie in die Bibliothek zur Arbeit geht – wenn sie es rechtzeitig schaffen will, muss sie sich schnell umziehen. Ihr Haar wird ihr auf den Rücken tropfen, während sie zwischen den Bücherregalen auf und ab geht.

»Bist du schon durch den Channel geschwommen, Rosy?«, fragt George, wenn sie am Abend nach Hause kommt.

»Arbeite noch dran.«

Doch nun ist die Bibliothek geschlossen, und George ist nicht da. Sie hält auf der Nichtschwimmerseite an und lehnt sich gegen den Rand, bevor sie langsam auf die Leiter zugeht. Sie stellt sich dieses Freibad als ein privates Fitnessstudio exklusiv für Mitglieder vor, und obwohl sie an das kalte Wasser gewöhnt ist, erschauert sie. Als sie hinausklettert, ist sie nicht mehr jung, und sie spürt schmerzhaft ihre Knie. Als sie jung war, ist ihr nie aufgefallen, dass sie Knie hatte. Jetzt gehören diese zu dem Teil ihres Lebens, den sie verabscheut, genauso wie ihr kostenloser Fahrausweis für Senioren. Sie bezahlt ihre Busfahrkarte trotzdem jedes Mal, aus Prinzip.

Kapitel 4

Kates Heimweg führt sie durch die Wohnanlagen an der Hauptstraße. Wenn sie an den Wohnungen und Wohnstraßen vorbeikommt, denkt sie gern über die Geschichten in den Gebäuden nach. Gelegentlich blickt sie vom Boden auf und in die Fenster hinein.

Eine Familie isst im vorderen Zimmer zu Abend. Das Flackern des Fernsehers lässt Ausdrücke von Überraschung, Niedergeschlagenheit und Langeweile auf ihren Gesichtern erkennen. Ein junges Mädchen übt auf einer alten Geige, und überraschende Bach-Klänge wehen vom fünften Stock eines Hochhauses herunter.

Im Stockwerk darunter raucht ein Paar auf dem Balkon einen Joint, den sie hin- und herreichen. Sie sind voll bekleidet, haben aber nackte Füße, die ganz nah beieinanderstehen und einander fast berühren, so wie ihre Körper. Der süßliche Geruch ist das Erste, was die Frau aus der Wohnung nebenan bemerkt, als sie von der Arbeit nach Hause kommt. Sie öffnet die Balkontür, wirft ihren Mantel aufs Sofa, legt sich darauf, die Hände über dem Bauch gefaltet, und atmet tief durch.

In der Küche einer Erdgeschosswohnung isst ein älteres Paar sein Abendessen. Sie sitzen nebeneinander und sehen beide aus dem Fenster einen Fuchs, der durch den Gemeinschaftsgarten schleicht. Als sie mit Essen fertig sind, halten sie unter dem Tisch Händchen.

In einem großen Townhouse ist eine Familie über die Zimmer verteilt, jeder in seinem eigenen Staat, aber unter einer gemeinsamen Flagge. Nebenan verkleiden sich zwei Mädchen, die eine als Prinzessin und die andere als Spiderman. Prinzessin und Spiderman halten sich an den Händen und hüpfen auf dem Bett.

Hinter manchen Fenstern sind die Geschichten traurig, hinter anderen gibt es Gelächter und Liebe, nicht laut oder auffallend, sie liegen leise in den Zimmern wie Teppiche.

Während Kate geht, stellt sie sich vor, dass irgendwo in der Stadt jemand wie sie allein in seiner Wohnung sitzt und Erdnussbutter direkt aus dem Glas löffelt. Sie fragt sich, ob irgendeiner von diesen Fremden sie verstehen würde, wenn sie ihnen erzählte, dass die Sache, die sie ihrer Familie nicht sagen kann … dass sie an manchen Tagen einfach nicht aufstehen will und dass sie vergessen hat, wie es sich anfühlt, glücklich zu sein.

Natürlich würde sie niemals zugeben, dass sie einsam ist. Wenn man erst Mitte zwanzig ist, darf man nicht einsam sein. Die Zwanziger sind dazu da, Freundschaften fürs Leben zu schließen und wilde Affären zu haben und verantwortungslose Urlaube zu machen, in denen man den allergrößten Spaß hat, indem man Schnaps von den Bäuchen der anderen trinkt. Sie verfolgt auf Facebook, wie die Menschen Geburtstage feiern und ausgehen, und es hat wirklich den Anschein, als hätten sie die beste Zeit ihres Lebens. Sie scheinen auf dem Display ihres Telefons förmlich aufzuleuchten. Es scheint, als würde das ganze Leben anderen Leuten aufgetischt, und für Kate bliebe kein Krumen mehr übrig. Zumindest fühlt es sich so an. Sie erzählt niemandem, dass sie sich oft wie ein trauriger, verfilzter Teddybär vorkommt, den man vergessen unter einer Bank oder in der U-Bahn findet. Sie möchte nur von jemandem aufgehoben und mit nach Hause genommen werden.

Kate wohnt in einer WG mit vier anderen – zwei Studenten und zwei, die irgendwas machen, sie weiß nicht genau, was. Sie kommen zu unterschiedlichen Zeiten nach Hause und machen die Türen zu ihren Zimmern zu, gelegentlich begegnen sie einander auf dem Weg zum einzigen Bad. Es sind Leute, die sie bei heißem Sex stöhnen hört und deren Schamhaare sie aus dem Duschabfluss gezupft hat, aber sie weiß nicht, wo sie alle vor ihrer Ankunft in diesem Haus herkamen oder was ihre Lieblingsfilme sind. Im Grunde kennt sie sie überhaupt nicht.

Und sie kennen ganz sicher Kate nicht. Aber was gibt es über sie auch schon zu wissen? Geschwister: ja, eine ältere Schwester, Erin. Eltern: eine Mutter, einen Stiefvater und einen Vater, der mit seiner Freundin auf Antigua wohnt und nur zu besonderen Gelegenheiten anruft (Geburtstage, Weihnachten und bestandene Abschlussprüfungen).

»Alles Gute zum Geburtstag, K.!«

»Danke, Dad! Scheint bei euch immer noch die Sonne?«

»Darauf kannst du wetten. Regnet es bei euch immer noch?«

»Darauf kannst du wetten.«

»Ich vermisse dich.«

»Okay. Tschüss, Dad!«

»Tschüss, Kate!«


Kate und Erin sind bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater Brian in einem Vorort von Bristol aufgewachsen. Ihre Mutter arbeitete in einer Kreativagentur, sie zog sich knallbunt an und erzählte gerne Witze. Brian war deutlich ruhiger. Er war Historiker und auf eine bestimmte Zeitspanne im Mittelalter spezialisiert, die sich Kate nie merken konnte. Er trug schwere Wollpullover und eine runde Brille. Als er von Erin erfuhr, dass solche Brillen unter ihren Schulfreunden in Mode gekommen waren, amüsierte ihn das sehr. Er zog ein, als Kate sieben war und zu jung, um irgendetwas infrage zu stellen. Ihr Leben war etwas, das ihr passierte, nicht etwas, von dem sie wusste, dass sie es selbst beeinflussen konnte. Erin, sechs Jahre älter als sie, war argwöhnischer, wie eine Katze, die um einen Besucher einen großen Bogen macht. Aber mit der Zeit hatten die vier zu der ungezwungenen Selbstverständlichkeit einer Familie gefunden. Sie hatten ihre festgelegten Rollen und spielten sie gut: Kates Mutter nahm sie mit in neue Ausstellungen und fragte sie, was sie über die Bilder dachten. Brian las laut aus der Zeitung vor, bot Hilfe bei den Hausaufgaben an und steckte Erin gelegentlich Geld zu, damit sie mit ihren Freundinnen ausgehen konnte. Auch Kate und Erin hatten ihre Rollen: Kate die schüchterne kleine Schwester, die ihre Nase immer in ein Buch steckte, Erin unnahbarer, sie kommandierte Kate herum und teilte hin und wieder Zuwendung aus wie Kekse an einen braven Hund. An ihrem ersten Tag in der weiterführenden Schule brachte ihre ältere Schwester ihr bei, wie man seine Schuluniform anziehen musste, um nicht mit der Rocklänge oder der Anzahl von Streifen auf der Krawatte anzuzeigen, dass man eine Streberin oder eine Unruhestifterin war.

Kate ging in Bristol auf die Universität, zum einen, weil es billiger war, zu Hause zu wohnen, aber hauptsächlich, weil sie sich nicht bereit fühlte auszuziehen. Nach ihrem Abschluss zog sie nach London, um einen Master in Journalismus zu machen, dann geriet sie an ihren Job bei einem Lokalblatt in Brixton.

Als sie nach London zog, ging Kate davon aus, dass sie viele Leute kennenlernen würde. Aber jetzt ist sie seit zwei Jahren hier, und es ist immer noch nicht passiert. Das Einzige, was sie hat, sind Mitbewohner, die wie beim Jenga-Spielen schmutziges Geschirr in der Küche aufstapeln und finden, dass schwarzer Schimmel die perfekte Badezimmerdekoration ist.

Ihre Freunde aus Bristol blieben dort und wollten nie nach London kommen. Sie sagten, sie seien gerne da, wo sie jeden kannten, und wenn sie ausgehen wollten, reichte ihnen Bristol aus. Sie fanden London teuer und wussten nicht, wozu es gut sein sollte, hinzufahren. Mit teuer hatten sie recht, aber Kate konnte es sich nicht leisten, dauernd nach Bristol zu fahren. Vor ungefähr einem Jahr hat sie damit aufgehört. Niemand scheint es bemerkt zu haben, und sie hat seitdem nicht mehr mit ihren Freunden in Bristol gesprochen.

Kates Einsamkeit fühlt sich manchmal an wie eine Magenverstimmung, ein anderes Mal wie ein dumpfer Schmerz hinter den Augen oder wie ein Gewicht, das ihre Gliedmaßen zu schwer macht für ihren Körper. Sie liest in der U-Bahn gern Time Out und stellt sich vor, welche der Sachen sie unternehmen könnte – vielleicht zum Speed-Dating nach Shoreditch gehen oder zu einer Silent Disco oben auf einem Gebäude in der City oder lernen, wie man eine Hose häkelt. Aber dann fällt ihr ein, dass Speed-Dating bedeutet, seinen Namen und seinen Job vor dreißig Fremden aufzusagen, dass Silent Discos allein weniger Spaß machen und dass eine gehäkelte Hose weniger lustig ist, wenn man selbst die Einzige ist, die darüber lacht.

Also geht sie stattdessen jeden Abend direkt nach Hause. Nur wenn der Kühlschrank gähnend leer ist, macht sie einen Zwischenstopp im Supermarkt und nimmt ihr liebstes Fertiggericht mit und den Wein, der gerade im Angebot ist. Sie kommt nach Hause, wartet drei Minuten, bis ihr Essen in der Mikrowelle heiß ist, dann schließt sie die Zimmertür hinter sich.

Ihr Zimmer ist nicht groß, aber groß genug für ein Doppelbett und einen kleinen Schreibtisch. Sie hat kein Bücherregal, also stapeln sich ihre Bücher zu einsturzgefährdeten Stapeln an einer Wand. Auf ihrem Schreibtisch stehen ein Laptop und eine dürre Topfpflanze, die ihre Mutter ihr zum Einzug geschenkt hat. »Sei glücklich in deinem neuen Zuhause!«, steht auf dem Schildchen in Form einer Biene, das immer noch an dem Blumentopf hängt.

Sobald sie im Zimmer ist, öffnet sie den Wein und sieht sich Dokumentationen an mit Titeln wie Der Junge, der seinen Arm absägen möchte. Und sie weint, denn sie weiß auf seltsame Weise ganz genau, wie es sich anfühlt, wenn man aus seinem eigenen Körper krabbeln will, und da das nicht geht, ihn stattdessen abhacken und fortschweben möchte. Oder vielleicht liegt es nur am Wein. Jeden Abend trinkt sie ein Glas zu viel, weil es sie so schön benebelt, was besser ist, als bewusst die Angst im Nacken und die Wolke über sich zu spüren.

Sie bleibt lange auf und starrt in den Schein ihres Laptop-Bildschirms in der Hoffnung, dort Trost zu finden, eine Verbindung zu Menschen, deren Gesichter ebenfalls von ihren Computern erleuchtet werden. Wenn sie auf der Suche danach zu müde wird, klappt sie den Laptop zu und legt ihn neben ihr Bett. Manchmal weint sie weiter, und ihr Kissen wird um ihr Gesicht herum ganz nass. Sie versucht dabei leise zu sein, damit ihre Mitbewohner sie nicht hören, aber manchmal hört sie sich keuchend nach Luft schnappen, als würde sie ertrinken. Wenn sie so laut weint, fragt sie sich, ob ein Teil von ihr vielleicht gehört werden will: Damit jemand an ihre Tür klopft, sie in den Arm nimmt und ihr sagt, dass alles gut werden wird. Aber es kommt nie jemand. Wenn sie sich leer geweint hat, liegt sie mit offenen Augen im Dunkeln und fühlt sich ganz taub. Irgendwann schläft sie ein.

Kapitel 5

Die Kinder vom Schwimmkurs haben keine Angst. Rosemary sieht ihnen dabei zu, wie sie sich wie Kaulquappen die Bahnen auf und ab schlängeln. Sie sind jung genug, um völlig unbefangen zu sein, wenn sie am Rand stehen und darauf warten, ins Wasser zu springen. Sie drängeln und schubsen einander und ziehen ihre leuchtend bunten Badekappen tiefer über die Ohren.

Während sie vom Café aus zusieht, macht sie die geborenen Sportler aus: Es sind die, deren Körper zu lang für sie wirken und deren Oberkörper spitz zulaufen wie Eiswaffeln. Einige Kinder sind kleiner und haben Bäuchlein, die ihre Badeanzüge ein wenig ausbeulen, aber der Mut, mit dem sie ins Wasser springen, erstaunt Rosemary. Auf den Pfiff des Trainers hin hechten sie alle hinein wie umkippende Flaschen, in dem Vertrauen darauf, dass das Wasser sie mit einem Lächeln empfangen wird, dass ihre Körper reagieren und wissen werden, was zu tun ist, wenn sie untergehen. Rosemary wünschte, sie hätte so viel Vertrauen in ihren Körper. Sie kann sich nicht immer darauf verlassen, dass er tut, was sie ihm befiehlt.

»Sind Sie Rosemary?«

Rosemary wendet sich vom Schwimmbad ab und blickt zu der kleinen jungen Frau auf, die neben ihr steht. Sie hält ein Notizbuch und einen Stapel Papier in der Hand. Ihre Kleider in unterschiedlichen Schattierungen von Grau und Schwarz sehen aus, als wären sie ihr übergestülpt worden, und ihr Haar ist zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gebunden.

»Ich hoffe, es ist Ihnen recht, wenn ich mich zu Ihnen setze?«, fragt die junge Frau. »An der Kasse hat man mir gesagt, dass Sie eine gute Adresse sind, wenn man über das Freibad sprechen möchte.«

»Ich bin Rosemary, ja. Was wollen Sie über das Freibad wissen?«

»Mein Name ist Kate Matthews, und ich arbeite für die Lokalzeitung. Wir möchten über die mögliche Schließung des Bads berichten. Haben Sie das hier gemacht?«

Sie hält das »Rettet unser Freibad!«-Faltblatt in die Höhe.

Rosemary errötet. Das Handschriftliche und Kopierte ist ihr peinlich – sie sieht jetzt, wie dilettantisch es aussieht. »Ja. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen weiterhelfen kann.«

Plastik schleift über Stein, als Kate einen Stuhl zurückzieht und sich setzt. Sie folgt mit ihren Augen Rosemarys Blick zum Becken.

»Sie sind so süß«, sagt Kate. »Und richtig gut.« Zusammen drehen sie sich um und sehen zu, wie die Kinder den Anweisungen ihres Trainers folgen, zu »ziehen« oder »stärker mit den Beinen zu stoßen«. Obwohl sie so klein sind, sind sie schnell wie Fische.

»Ich möchte gern helfen«, sagt Rosemary.

Das Wasser schäumt weiß von bewegten Füßen und Armen. Die Gruppe kommt zum Ende der Bahn, und die schnellsten Kinder ziehen sich schon aus dem Wasser und hüpfen am Rand auf und ab. Der letzte Schwimmer nähert sich dem Rand mit noch heftigerem Beinschlag als seine Mitschüler.

»Ich konnte hier nicht einfach sitzen und nichts tun. Aber wie ich höre, hat Paradise Living viel Geld geboten, und die Kommunalverwaltung kann es sich einfach nicht leisten, Nein zu sagen.« Sie schweigt und blickt aufs Wasser. Die Sonne spiegelt sich auf der Oberfläche und fängt die Kinder ein, die eifrig auf und ab schwimmen. »Paradise Living.« Rosemary lacht. »Sie haben eindeutig wenig Ahnung vom Paradies.«

»Ich habe von denen gehört«, sagt Kate, »unsere Zeitung hat schon öfter über sie geschrieben, über irgendwelche todschicken neuen Wohnblocks, die sie gebaut haben.« Sie macht eine Pause. »Ich würde Sie gern interviewen, Rosemary«, sagt sie.

»Wozu wollen Sie mich interviewen?«, fragt Rosemary.

»Für die Zeitung. Ich glaube, es wäre schön, wenn wir neben dem Artikel ein Porträt von Ihnen bringen könnten. Das würde unsere Nachricht um eine menschliche Geschichte bereichern. Jemand, der seit Jahren herkommt, berichtet, was ihm das Freibad bedeutet. Der Geschäftsführer hat mir verraten, dass Sie die treueste Schwimmerin des Freibads sind.«

Rosemary lächelt bei dem Gedanken an Geoff, den Geschäftsführer des Freibads, den sie inzwischen gut kennt. Dann sieht sie Kate an und fragt sich, ob sie ihr trauen kann. Sie hat ein natürliches Misstrauen gegenüber Journalisten, auch wenn sie noch nie wirklich mit einem gesprochen hat. Diese junge Frau sieht nicht so aus, wie sie sich eine Journalistin vorgestellt hat. Sie sieht aus wie ein Kind.

»Wie lange kommen Sie schon in dieses Freibad?«, fragt Kate.

»Oh, schon immer.«

Rosemary kann sich an keine Zeit erinnern, in der das Freibad nicht Teil ihres Lebens war. Es gehört genauso zu ihrem Tagesablauf wie die Tasse Tee auf dem Balkon.

»Schwimmen Sie?«, fragt sie Kate.

»Ich gebe Ihnen das Interview, wenn Sie schwimmen gehen.«

»Okay«, sagt sie langsam. »Wann passt es Ihnen für das Interview?«

Als sie sich verabschiedet haben und Rosemary auf dem Weg zurück in ihre Wohnung ist, fragt sie sich, wieso sie die arme Frau zu dieser Vereinbarung gezwungen hat. Aber irgendetwas an Kate hat in Rosemary den Verdacht geweckt, dass sie das Schwimmen bitter nötig hat.