© 2020 Eberhard Wedler
© dieser Ausgabe 2020 Morisken Verlag München
Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat: Heribert Riesenhuber und Thomas Peters
Korrektorat: Theresia Riesenhuber
Satz: Peter Sommersgutter
Umschlag: Wolfgang Schütte, www.wolfe.de
Druck: Print Group Sp. z o.o., Stettin
ISBN: 978-3-944596-21-1 (Print)
ISBN: 978-3-944596-22-8 (E-Book)
www.Morisken-Verlag.de
Dieses Buch beruht auf wahren Begebenheiten und ist allen Bewohnern des Landes gewidmet, die trotz schwieriger Existenzbedingungen ein ethisch sehr wertvolles Leben führen.
Eberhard Wedler
Indio Laju
Der Weg nach oben
Der Ferienausflug
Rechtsprechung in der Provinz
Volksjustiz
Cecilio
Dein Freund und Helfer
Religion
Bruno
Cuco
Muttertag
Mit dem Motorrad unterwegs
Gisela
Der verlorene Sohn
Malco
Blinde Justiz
Günstige Gelegenheit
Entwicklungshilfe
Pesca blanca
Heiligabend
Justiz in den Bergen
Der Waschplatz
David
Der Papagei
El Brujo
Okarina
Abtreibung ist Mord
Generationenwechsel
Santiago
Mario
Im fremden Land
Schutzgeld
Gedanken zum Thema Mensch und Gewalt
Der Regen kommt ab Mittag. Dann wird es schwierig, den Fluss mit dem Geländewagen zu durchqueren. Denn wenn es oben in den Bergen regnet, kommen urplötzlich große Wassermassen aus den Gebirgstälern herunter, die den Fluss minutenschnell zu einem reißenden Ungetüm anschwellen lassen und eine Überquerung unmöglich machen. An diesem Tag kam ich aber noch vorher über den Fluss und an mein Reiseziel, ein Naturreservat. Obwohl es nicht weit entfernt vom nächsten Dorf liegt, befindet es sich in einer relativ unberührten Gegend.
Einige arme Siedler leben hier im Urwald von der Jagd und illegalen Grabungen nach Artefakten der großen präkolumbianischen Tairona-Kultur. Sonst bieten sich keine nennenswerten Möglichkeiten für ein normales Einkommen. Deshalb gab es auch für die Guerilla oder andere kriminelle Organisationen wenig Anlass, sich in dieser Region niederzulassen. Die Armut der wenigen Einwohner versprach kaum Ertrag aus Raub und Erpressung. Aber auch ohne diese »organisierte Gewalt« gelten in der Region die Gesetze des Urwaldes. Und die können fast ebenso hart sein. Gewalt gehört zum Alltag und ist ein fester, akzeptierter Bestandteil des täglichen Lebens.
Auch heute, kurz nach meiner Ankunft, wurde ich wieder daran erinnert. Während wir das Gepäck abluden, wurde ganz nebenbei erwähnt, dass unser Nachbar, der Indio Laju, erschossen aufgefunden worden war. Niemand regte sich sichtlich darüber auf, obwohl er doch ein langjähriger Nachbar gewesen war. Sogleich wurde schon wieder über andere Dinge gesprochen. Man befasste sich mit wichtigeren Dingen, wie der Unzuverlässigkeit des neuen Arbeiters, einem Problem mit der neuen Wasserleitung und man diskutierte den günstigsten Zeitpunkt für das Pflanzen der jungen Bäume.
Nach einiger Zeit kam das Gespräch doch noch einmal auf das Schicksal des Toten zurück. Man analysierte, dass er bei seinem Lebenswandel eigentlich schon lange »reif« gewesen war. Er habe bisher nur Glück gehabt. Keiner sprach auch nur davon, dass dieser Mann eine dominierende Persönlichkeit in der Region gewesen war und das Schicksal einiger Nachbarn durch Drogenhandel, Erpressungen und gewalttätige Aggressionen mitbestimmt hatte. Das war halt früher. Der Tod stürzte ihn aus seiner mit Mühe errungenen Stellung ins Vergessen.
Im Urwald kämpft man und erringt sich seinen Platz, solange man lebt. Mit dem Tod jedoch verliert man alle Bedeutung und es verbleiben kaum Erinnerungen. Wenn der Jaguar ein Wildschwein aus der Herde reißt, verfällt der Rest nicht in Trauer. Jedes ist nur froh, selbst davongekommen zu sein.
Am Rande eines riesigen Elendsviertels, an einem steilen Berghang gelegen, lebte Paola mit ihren vier Kindern in einer Holzhütte. Sie hatte weder Wasser noch Strom und bestritt ihren Unterhalt mit Gelegenheitsarbeiten für Nachbarn. Da sie alleine lebte und niemand bereit war, ihre Kinder zu hüten, musste sie die Kinder alleine lassen oder alle mitnehmen, wenn sie das Haus verließ. Auch ihre Nachbarin Merli erzog ihr Kind alleine, so wie die meisten Frauen an diesem Ort. Da sie eine Stelle als Putzfrau hatte, musste sie ihr Kind oft alleine zu Hause lassen. Damit es das Haus nicht verlassen und verloren gehen konnte, band sie das Kind während ihrer Abwesenheit mit einem Seil an einen Pfahl. So hatte das Kind einen gewissen Bewegungsspielraum, war aber doch sicher verwahrt.
Oft genug wurde Paolas Abwesenheit von den Nachbarn genutzt, um in ihrem Haus nach etwas Essbarem zu suchen. Mehr besaß sie aber auch nicht. Die Kinder hatten alle verschiedene Väter. Sie waren das Ergebnis von Paolas Einsamkeit und ihrem Wunsch nach Wärme und Geborgenheit. Ein Umstand, der von den Männern gerne ausgenutzt wurde. Mit dem Beginn der Schwangerschaft waren sie stets sofort aus der drohenden Verantwortung geflohen. Zumal sie meist bereits Frau und Kinder zu Hause hatten.
Manuel war das älteste von Paolas Kindern. Als er sieben Jahre alt wurde, begann Paola, ihr Einkommen dadurch aufzubessern, dass sie kleines Gebäck zubereitete, das Manuel an den Bushaltestellen verkaufen konnte. So begann er, seine Familie mit zu ernähren. Zu Anfang musste er seine Schüchternheit überwinden, um die Busfahrer zu überzeugen, dass sie ihn bis zur großen Haltestelle der Überlandbusse mitnahmen, wo alle Straßenverkäufer den Reisenden ihre Waren anboten. Mit der Zeit aber bekam er Routine und erkannte bald, dass vor allem Frauen ihm gerne etwas abkauften. An einen Schulbesuch war nicht zu denken, denn er arbeitete jeden Tag der Woche. Wenn er Glück hatte, kam er vor der Dunkelheit nach Hause und konnte noch Fußball mit den Nachbarskindern spielen.
So vergingen die Jahre. Als Manuel älter wurde, versuchte er sich auch in anderen Beschäftigungen. Doch die Alternativen waren rar, mühsam und schlecht bezahlt. So kehrte er immer wieder zu seinem Geschäft an der Busstation zurück. Zumindest brachte es ihm so viel ein, dass seine Geschwister zur Schule gehen konnten. Auch konnte er Esteban bezahlen, damit er ihre Hütte mit Strom versorgte. Esteban war Spezialist für illegale Anschlüsse ans öffentliche Stromnetz. So besaßen sie nun eine Glühbirne und irgendwann konnten sie sich sogar einen alten Fernsehapparat leisten.
Eines Tages traf Manuel einen früheren Fußballkameraden, den er kaum wiedererkannte. Ronald trug schicke Kleidung, teure Tennisschuhe und fuhr auf einem neuen Motorrad. »Hast du bei der Lotterie gewonnen?«, fragte Manuel ihn. »Wie ich sehe, geht’s dir gut. Hast du vielleicht das große Los gezogen?«
»Von wegen Lotterie! In diesem Leben wird einem nichts geschenkt. Wenn du etwas haben willst, musst du es dir selbst holen«, antwortete Ronald.
»Und wo hast du dir dein Glück geholt?«, fragte Manuel.
»Ich arbeite für Mario.«
»Mario, der Drogenboss? Ist das nicht illegal und gefährlich?«
»Illegal schon, aber gefährlich ist es nicht. Mein Junge, wie ich sehe, bist du sehr naiv! Glaubst du, dass es für uns einen anderen Weg nach oben gibt als den illegalen? Sieh doch deinen Nachbarn Juan an! Er ist jetzt sechsundfünfzig Jahre alt und arbeitet noch immer für einen Hungerlohn bei dem Ausbeuter Franco. Hinzu kommt, dass er dort schlecht behandelt wird. Was er verdient, reicht gerade, um seine Familie zu ernähren. Am Wochenende betrinkt er sich mit billigem Schnaps und reagiert seinen Frust an seiner Frau ab, indem er sie verprügelt. Am Sonntag schläft er seinen Rausch aus und dann geht’s weiter wie immer. Glaubst du etwa, dass ich solch ein Leben führen möchte? Außerdem, was heißt das schon: illegal? Illegal ist es, wenn du dich nicht an die Gesetze hältst, die von den Reichen gemacht wurden.«
»Das ist deine Interpretation«, meinte Manuel, »aber du lebst gefährlicher!«
»Und wenn schon! Ich weiß, dass ich Recht habe«, antwortete Ronald wütend. »Und wenn ich früher draufgehe, habe ich wenigstens eine Zeit lang gelebt und nicht nur dahinvegetiert.«
»Und Alberto, arbeitet er auch für Mario?«
»Nein, Alberto klaut Handytelefone. Natürlich muss er manchmal die Besitzer mit dem Messer überzeugen.«
»Also auch kriminell!«
»Ich sagte es dir schon, es gibt keinen anderen Weg. So hat er immerhin ein besseres Einkommen. Die Handys verkauft er im Gemischtwarenladen von Don Jorge. Der legt eine neue SIM-Card ein und verkauft das Handy billig an die Leute im Viertel. Glaubst du etwa, dass einer von hier sich ein neues Handy leisten kann? Auf diese Weise haben alle etwas davon. Es ist sozusagen eine Umverteilung unter den Armen, eine Art von Sozialismus.«
»Ich glaube, die Idee vom Sozialismus war etwas anders, aber irgendwie kann ich dich verstehen«, meinte Manuel.
»Und du?«, fragte Ronald. »Willst du immer unten bleiben oder doch eine der wenigen Gelegenheiten nutzen, die wir haben, um etwas aus dem Dreck aufzusteigen?«
»Ich werde es mir überlegen«, sagte Manuel und verabschiedete sich.
Wochen vergingen und noch immer ging ihm das Gespräch durch den Kopf. Aber es war nicht einfach, eine Entscheidung zu treffen. Die Argumente leuchteten Manuel ein, aber trotz Armut und Elend hatte Paola immer versucht, ihre Kinder zu ordentlichen und ehrlichen Menschen zu erziehen. Doch dann trat ein Ereignis ein, das die Situation veränderte.
Wie jedes Jahr gab es zu Beginn der Regenzeit eine Denguefieber-Epidemie, die vor allem die unterernährten Einwohner der Elendsviertel traf. Diesmal war die Epidemie besonders heftig und auch Paolas Kinder wurden krank. Lisa, die Zweitjüngste, bekam sehr hohes Fieber und Blutungen. Paola ging mit ihr zur Klinik, doch an der Tür wurde sie abgewiesen, da sie kein Geld hatte. So versuchte sie, ihrem Kind mit Hausmitteln zu helfen. Doch die Krankheit schritt unerbittlich weiter fort und Lisa starb.
Das war ein Schlüsselereignis für Manuel, der seine Schwester sehr geliebt hatte. Gleich am nächsten Tag suchte er Ronald auf und bat ihn, ihn seinem Chef Mario vorzustellen. Dieser unterhielt sich eine Weile mit Manuel und sagte ihm dann, er werde sich melden.
Schon nach ein paar Tagen kam Ronald wieder bei Manuel vorbei und teilte ihm mit, dass der Chef ihn sprechen wolle. So bekam Manuel seinen ersten Auftrag. Es war eine einfache Sache: Er sollte per Bus ein Päckchen zu einer bestimmten Adresse in der nächsten Stadt bringen. Manuel bekam sogar Fahrgeld und zog los. Dem ersten Auftrag folgte bald ein zweiter und Mario erkannte, dass Manuel ein zuverlässiger Bursche war. So wurden die Aufträge, die er für ihn hatte, nach und nach umfangreicher und komplizierter, was sein Einkommen steigerte. Er konnte seiner Mutter einen Kühlschrank kaufen und bald hatte auch er sich ein Motorrad erspart.
Manuel gewann das Vertrauen Marios, der ihm nun auch organisatorische Aufgaben erteilte. Entsprechend stieg das Einkommen. So war Manuel in der Lage, ein kleines Haus aus Ziegelstein in einem weniger gefährlichen Teil des Viertels zu kaufen. Für die Familie war es ein echter Wohlstand.
Eines Tages bat Mario Manuel zu sich. »Junge, ich glaube, du brauchst einen Revolver«, sagte er.
»Wieso das? Vor so etwas habe ich Angst und ich kann überhaupt nicht damit umgehen«, antwortete Manuel.
»Man lernt alles im Leben, wenn es sein muss. Und es muss sein. Die Situation hat sich geändert. Wir haben Konkurrenz. Die Uraba-Bande ist in unser Gebiet eingedrungen und will uns aus der Region vertreiben. Wir müssen uns wehren oder wir verschwinden morgen aus dem Geschäft.«
Mit einem unguten Gefühl ging Manuel nach Hause. Am Tag darauf traf er sich mit Ronald. »Ich glaube, ich werde aussteigen. Es wird mir zu gefährlich.«
»Lieber Freund«, sagte Ronald lächelnd, »aussteigen ist unmöglich. Das gibt es nicht in diesem Unternehmen. Du weißt zu viel und wenn du aussteigst, bist du eine Gefahr für Mario. Dann werden dich seine Leute erledigen. Es gibt keinen Weg zurück oder zur Seite, sondern nur nach vorn. Halte durch! Der Weg nach oben hat seinen Preis.«
Am nächsten Tag ging Manuel zu Mario, der ihm eine Pistole und Munition überreichte. Einer seiner Leute ging mit Manuel in den Wald, um ihn im Gebrauch der Waffe einzuweisen. Nach einer Weile gefielen Manuel die Schießübungen sogar und er gewöhnte sich an die Waffe. Sie erweckte ein faszinierendes Gefühl in ihm. Sobald er sie in der Hand hielt, fühlte er, wie er aus seiner Bedeutungslosigkeit heraus aufstieg und sich zu einer bedeutenden Persönlichkeit entwickelte. Die Waffe gab ihm Macht und Größe.
Nach ein paar Tagen traf er seinen Freund Alberto. »Hast du das von Ronald gehört?«, fragte dieser.
»Nein«, antwortete Manuel. »Was ist passiert?«
»Die Uraba-Bande hat ihn in einen Hinterhalt gelockt und erschossen.«
Manuel hatte das Gefühl, dass sich in seinem Inneren alles zusammenzog, und sein Kopf wurde schwer. Er dachte an Ronalds letzte Worte ihm gegenüber: »Der Weg nach oben hat seinen Preis.«
Endlich kamen die langersehnten Sommerferien. Der Vater hatte den beiden Töchtern einen Ausflug ins südliche Nachbarland Ecuador versprochen, falls sie gute Noten aus der Schule heimbrächten. Als er die Ergebnisse sah, musste er sein Versprechen einlösen. Frühmorgens fuhr die ganze Familie, einschließlich des Opas, mit dem Pickup von Vaters Firma in Richtung Süden. Wetter und Straßen waren hervorragend, sodass sie gegen Abend die Grenze hinter sich lassen konnten und noch vor Mitternacht die reservierte Ferienwohnung in den Bergen erreichten.
Die Landschaft war herrlich und die Nachbarn wirkten freundlich – endlich ausspannen und die Alltagssorgen vergessen! Nach drei Tagen aber wurde es Opa etwas übel und man begann, sich um ihn zu sorgen. Vollkommen zurecht, denn nur zwei Tage später verstarb er. Ein schwerer, schwarzer Schleier legte sich auf die Familie und die Ferienstimmung war erstickt. Was nun?
Nachdem man sich von dem ersten Schock erholt hatte, überlegte die Familie gemeinsam, welche Schritte zu unternehmen seien. Opa müsse in seine Heimatstadt überführt werden, so die einhellige Meinung. Aber wie? Der Vater erkundigte sich bei den Behörden, was man in solch einem – wie er vorgab – hypothetischen Fall tun müsse und wie viel das koste. Man sagte ihm, dass erst einmal langwierige Untersuchungen durchgeführt werden müssten. Für die Überführungskosten wurde ihm ein Betrag genannt, der die finanziellen Möglichkeiten des Vaters weit übertraf. Wieder die Frage: Was nun?
Schließlich meinte der Vater, dass es nur eine Möglichkeit gäbe: Man müsse Opa nach Hause schmuggeln. Nach etwas Zeit gewöhnte sich die Familie an diese Idee und der Vater zog los, um im nächsten Supermarkt einen großen Karton – die Verpackung eines Fernsehers – zu besorgen. Gott sei Dank war der Opa sehr klein, sodass er in Hockstellung gut hineinpasste.
Nun hatten sie es eilig und die Ferien waren kein Thema mehr. Der Karton wurde auf die Ladefläche des Pickups geladen und am Nachmittag ging es los. Das große Hindernis war natürlich die Grenze, welche sie am Abend erreichten. Als der Grenzbeamte fragte, was im Karton auf der Ladefläche sei, antwortete der Vater, dass es sich nur um schmutzige Wäsche und Andenken handele. Der Grenzer winkte das Auto tatsächlich durch und alle atmeten auf. Damit war der schwierigste Teil der Reise überstanden und sie beschlossen, den Rest der Reise bis nach Hause durchzufahren.
Gegen Mitternacht aber bekamen alle Hunger und wollten die nächste Raststätte ansteuern. Zum Glück fand sich eine. Die Familie stellte das Auto vor dem Restaurant ab und ging müde und hungrig hinein. Nach einer Stunde kamen sie zufrieden und gestärkt für die Heimfahrt heraus. Als sie zum Auto zurückkehrten, warfen sie einen kurzen Blick auf die Ladefläche … und waren wie gelähmt, als sie merkten, dass der »Fernseher« in der Zwischenzeit gestohlen worden war. Von Opa fehlte jede Spur! Tags drauf zeigte der Vater den Verlust bei den Behörden an. Doch Opa blieb für immer verschwunden. Nachdem die Familie sich irgendwann an den Gedanken gewöhnt hatte, meinte Vater, er hätte nur zu gerne das Gesicht der Diebe gesehen, als sie den vermeintlichen Fernseher auspackten.
Antonio lebte in einer kleinen Provinzstadt, die über eine sehr schlechte Schotterstraße, über vierzig Kilometer lang, mit dem nächsten Ort verbunden war. Fast alle Einwohner hier lebten von der Landwirtschaft. Die ländliche Routine machte den Alltag recht eintönig. Abwechslung gab es nur am Wochenende, wenn sich die männliche Bevölkerung bei Danildo einfand. Sein Lokal war ein sehr großer, an zwei Seiten offener Raum, in dem zehn Billardtische verteilt standen. Hinter einem vergitterten Verschlag waren unzählige Kästen mit Bier aufgestapelt und an einer Wand befand sich eine Latrine. So hatte man hier alles, was man brauchte, und konnte sich bei überlauter Musik die Langeweile vertreiben.
Da viele Gäste schon am Morgen loslegten, war eine Mehrzahl der Spieler am frühen Abend natürlich schon betrunken. Mit routinemäßiger Sicherheit gab es daher an jedem Wochenende Streit und bisweilen auch Prügeleien. Da Antonio nicht der Kräftigste war, musste er oft einiges einstecken, was seinen Männerstolz sehr verletzte. So ging er jedes Mal wutgeladen nach Hause, wo seine besorgte Frau Lisa ihn schon an der Tür erwartete. Sie sah ihn still und traurig an und wusste, was kam. »Was siehst du mich so blöde an? Dumme Kuh! Hast du nichts Besseres zu tun, als hier herumzustehen und mir auf die Nerven zu gehen?«
»Ich habe gar nichts gesagt«, antwortete sie.
»Werd nicht frech!«, schrie er sie an und begann, sie zu verprügeln. Nachdem er all seinen Frust abgeladen hatte, zog er sich ins Schlafzimmer zurück und schlief sofort ein. Lisa blieb weinend auf einem Stuhl im Wohnzimmer zurück.
So ging es schon seit Monaten und sie wusste nicht, was sie tun konnte, um aus dieser Situation herauszukommen. Natürlich bekam die Nachbarschaft mit, was sich regelmäßig im Haus des Paares abspielte. Gloria, eine resolute Nachbarin, konnte sich nicht mehr zurückhalten: »Du musst etwas unternehmen«, redete sie auf Lisa ein.
»Aber was kann ich denn tun?«, erwiderte Lisa.
»Zeig diesen Rohling wegen häuslicher Gewalt an!«
»Das traue ich mich nicht, ich habe Angst vor ihm.«
»Du musst es tun, wenn du aus dieser Quälerei herauskommen willst!«, drängte Gloria. »Weißt du was? Ich gehe mit dir zur Polizei und sage als Zeugin aus.«
Nach einigem Zögern stimmte Lisa zu und sie gingen beide zur Polizei. Nachdem das Protokoll aufgenommen war, machte sich der Inspektor sofort auf den Weg, holte Antonio aus dem Bett und brachte ihn hinter Gitter.
Nach einem Monat kam es zur Gerichtsverhandlung. Richter Perez kannte Antonio sehr gut, da sie sich immer beim Billard trafen. Er hörte sich beide Seiten an und kam zu dem Schluss, dass es so nicht weitergehen könne. Antonio bekam zwei Monate Arrest. Da aber das kleine Gefängnis der Stadt total überfüllt war, beschloss der Richter, dass Antonio die Strafe als Hausarrest absitzen müsse, jedoch mit der Auflage, dies getrennt von Lisa in einem anderen Zimmer zu tun. Richter Perez ermahnte Antonio nochmals und sagte dann, dass sie sich in zwei Monaten beim Billard wiedertreffen würden.
Und da gab es Leute, die behaupteten, im Lande gäbe es keine Gerechtigkeit! In der Zeitung konnte man indes lesen, dass die Überfüllung der Gefängnisse den Gerichten große Schwierigkeiten bereitete. Aus der Not heraus bekam so selbst ein überführter Mörder Hausarrest.
Indes fühlte sich Antonio arg gedemütigt von dem Urteil. Nach einigen Tagen und mit einer erheblichen Menge Alkohol im Blut maßregelte er seine Ehefrau erneut mit einer kräftigen Tracht Prügel. Es dauerte nicht sehr lange, bis Lisa in der nicht unbedeutenden Landesstatistik der getöteten Frauen ihren Platz fand.
Ana lebte in einer Kleinstadt an der Küste. Ihr Mann starb früh und das Einzige, was er ihr hinterließ, war ein Grundstück am Rande der Stadt. Sie hatte kein Geld, um dort ein Haus zu bauen. Aber sie behielt das Stück Land als Andenken an ihren Mann und als finanzielle Reserve für die Zukunft ihrer Kinder.
Eines Tages schlug ihre Nachbarin Alarm: »Ana, gehen Sie schnell zu Ihrem Grundstück! Da läuft etwas Schreckliches!« Als Ana zum Grundstück kam, sah sie Menschen, die dort behelfsmäßige Hütten aus Stangen bauten. Sofort wusste sie, was passierte: Grundstücksbesetzungen waren hier im Land sehr geläufig. Meist werden sie vor anstehenden Wahlen von politischen Kandidaten organisiert, die versprachen, dass mit jeder Stimme, die man ihnen garantierte, nach gewonnener Wahl das abgesteckte Gelände als Gegenleistung legal abgesichert werde. Solche Aktionen sind mittlerweile Routine und zahlreiche Personen beteiligen sich regelmäßig an den Besetzungen. Wenn die Wahl gewonnen wird, steigt der Wert des abgesteckten Grundstücks und man kann es wesentlich teurer weiterverkaufen. Die meisten der Besetzer kommen aus Elendsvierteln und versuchen hier ihr Glück. Wenn sie die Papiere des eroberten Stücks Land bekommen, merken sie oft, dass sie kein Geld haben, um eine Hütte darauf zu errichten. Also verkaufen sie. Am Ende werden diese Grundstücke von Menschen besiedelt, die nicht zur Schicht derer gehören, die vorher das Gelände besetzt hatten.
All das wusste Ana. Aber sie beschloss, ihr Land nicht aufzugeben. Sie bezahlte einen Anwalt, der sich um ihre Angelegenheit kümmern sollte. Gemeinsam gingen sie zum Gelände und sprachen mit den Besetzern. Doch sie wurden ausgelacht. »Haut ab, hier habt ihr nichts mehr zu suchen!« Der Anwalt riet ihr, die Angelegenheit aufzugeben und verabschiedete sich.
Also ging Ana zur Polizei und erstattete Anzeige. Der Polizeichef kommandierte ein paar seiner Leute ab, die Frau zum besetzten Gelände zu begleiten. Dort angekommen sprachen die Polizisten mit den Besetzern. Sie sagten ihnen, dass sie dieses Gelände illegal besetzt hatten und es sofort verlassen müssten. Die Leute lachten nun auch die Polizei aus und empfahlen, sie in Ruhe zu lassen. Da wandten sich die Polizisten an Ana: »Einigen Sie sich mit ihnen, hier ist nichts zu machen.« Dann verließen auch sie das Gelände.