Eine Ethnografie des europäischen Migrationsregimes
Aus dem Englischen von
Hans-Peter Remmler
Für Ponys
Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de
© der E-Book-Ausgabe 2020 by Hamburger Edition
eISBN 978-3-86854-979-9
© der deutschen Ausgabe 2020 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-339-1
First published in English under the title
»Migrants Before the Law. Contested Migration Control in Europe«
by Tobias Eule, Lisa Marie Borrelli, Annika Lindberg and Anna Wyss, edition: 1
© The Editor(s) (if applicable) and The Author(s), 2019
This edition has been translated and published under licence from Springer Nature Switzerland AG.
Springer Nature Switzerland AG takes no responsibility and shall not be made liable for the accuracy of the translation.
Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
Umschlagabbildung: © ullstein bild – Bonnes/IPON
1Einführung
Vorgehensweise
Europas Migrationskontrolle im Zustand der Dauerkrise
Methodologie
Terminologie
Kurzer Überblick über das Buch
2Im Inneren des Migrationsregimes
Nationale Migrationspolitik im ständigen Wandel
Wie Rechtsanwendung Migrationsrecht formt und erweitert
Das Rechtsbewusstsein prägt die Praxis
Migrationskontrolle als interaktives und relationales Phänomen
Fazit: Praktiken, Wahrnehmungen und Widersprüche innerhalb des Migrationsregimes
3Entscheidungsfindung und die Rolle des Rechts
Die Macht des Ermessens
Entscheidungsfindung – Anspruch und Wirklichkeit
Wo bleibt die konkrete Rechtsnorm?
Flickschusterei und die Aneignung des Gesetzes
Fazit: Entscheidungsfindung durch Flickschustern des Rechts
4Unlesbarkeit im Migrationsregime
Erfahrungen mit bürokratischen Absurditäten
Der Unlesbarkeitseffekt
Der Kampf um Zugang zu und Kenntnis über das Recht
Die Produktivität der Unlesbarkeit
Fazit: Die Unlesbarkeit staatlicher Macht
5Verschwendete Zeit, umkämpfte Zeit
Zeitzyklen im Migrationsregime
Das Ringen um die Herrschaft über die Zeit
Herrschaft über die Geschwindigkeit in Zeiten der Beschleunigung
Kontrolle und Entschleunigung
Fazit: Das Paradox der Zeitverschwendung
6Verantwortung in einem Migrationsregime der vielen Hände
Migrationsregime der vielen Hände
Verantwortung zwischen Gesetz und Politik
Der Zuständigkeits-Verschiebebahnhof
Verantwortung übernehmen
Fazit: Wer verspürt Verantwortung im Migrationsregime?
7Schlussbetrachtung: Ordnung schaffen vor dem Gesetz
Zusammenfassung der wichtigsten Themen
Offene Fragen und Perspektiven für künftige Forschung
Zum Schluss
Bibliografie
Anhang
Dank
Zu den Autor*innen
Zwei Sachbearbeiter*innen einer schwedischen Grenzpolizeieinheit, ein Polizist und eine Zivilangestellte, sowie Lisa, welche die Arbeit der Grenzpolizei als teilnehmende Beobachterin begleitet, treffen sich mit einer Familie – eine Mutter mit drei Töchtern – auf einer kleinen örtlichen Polizeistation. Da die Familie Albanisch spricht, wird ein Telefondolmetscher hinzugezogen. Eine der Töchter spricht allerdings einigermaßen gut Schwedisch, sodass der Übersetzer nur gelegentlich aushelfen muss. Pit, der für diesen Fall zuständige Polizist, stellt alle Beteiligten einander vor und gibt einen Überblick über die Situation: Die Asylanträge der Familie wurden abgelehnt, und eigentlich wird seit mehreren Monaten von der Familie erwartet, dass sie Schweden verlässt. Nun soll ergründet werden, wie die Familie zur Ablehnung ihrer Asylanträge und zu einer möglichen Rückkehr in ihre Heimat steht.
Ena, die Zivilangestellte, beginnt die Befragung. »Warum sind Sie immer noch hier? Sie haben kein Recht, hier zu sein. Das ist ein großes Problem. Soll ich den Fall durchgehen?« Langsam und in freundlichem Ton rekapituliert sie die aktuelle Situation und fragt, warum die Familie sich bisher geweigert habe, das Land zu verlassen. »Ich habe Ihre Akte gelesen und kann daraus ersehen, dass Sie gegen Ihre Ausweisung Widerspruch eingelegt haben. Dieser wurde jedoch abgelehnt.« Pit erläutert: »Sie haben Ihre Gründe gegen die Abschiebung bereits vorgebracht. Die sind in der Akte erfasst. Aber wenn es etwas Neues gibt … So funktioniert das bei der Migrationsbehörde. Wir respektieren Ihre Beweggründe, aber wir sind hier nur das ausführende Organ.«
Die Mutter sagt, sie sei dankbar für die vorherigen Telefonate mit Pit sowie für dieses Treffen. Sie sagt, sie kann verstehen, dass die Sachbearbeiter*innen lediglich »nach Recht und Gesetz« arbeiten. Pit und Ena erklären wiederholt, dass derzeit keine Hinderungsgründe gegen den Vollzug der Abschiebung sprechen und dass, sofern sich neue Umstände ergeben, diese der Migrationsbehörde gemeldet werden müssten. Die älteste Tochter erwähnt, dass sie etwas beim Migrationsgericht eingereicht hat, aber nicht wisse, wie es jetzt weitergeht.
Ena und Pit sagen der Familie, dass es nichts Neues in ihren Akten gibt. »Die uns vorliegenden aktuellen Informationen zeigen keine neuen Gründe [gegen die Abschiebung]. Vielleicht ist da etwas verloren gegangen.« So geht es immer hin und her. Pit rät der Tochter, die Akten nochmals zu prüfen und sicherzustellen, dass sie bearbeitet werden. Irgendwann beginnen die Mutter und zwei der Töchter, still zu weinen.
Die Sachbearbeiter*innen setzen die Befragung gemäß Protokoll fort. »Der Vorgang ist in Arbeit. Sie gehen auf Ihre Weise damit um und wir arbeiten auf unsere Weise, und im Moment gibt es keine Gründe, warum Sie nicht abgeschoben werden könnten. Deshalb planen wir Ihre Reise. Und Ihre aktuelle Haltung ist die, dass Sie nicht ausreisen möchten?«
»Wir haben nichts gegen die Polizei«, antwortet die Mutter, »aber wir haben Angst davor, wieder nach Hause zu gehen.«
»Wenn wir dennoch eine Rückreise [nach Albanien] planen und buchen und die Reisedokumente beschaffen, werden Sie dann kooperieren?«
Die Mutter und die älteste Tochter bleiben bei ihrer Haltung: »Wir haben nichts gegen Ihre Aufgabe oder gegen die Polizei.«
»Aber wenn wir Ihnen den Termin [des Rückflugs] ein paar Tage im Voraus mitteilen, werden Sie dann kooperieren?«
Die Mutter weint und erklärt, ihre jüngste Tochter sei behindert und die mittlere Tochter leide an Depressionen und habe Selbstmordgedanken.
Pit: »Dann ist es höchste Zeit, dass Sie dies der Migrationsbehörde melden. Wir werden Sie auf keinen Fall zurückschicken, wenn gute Gründe dagegensprechen. Wir beobachten Ihren Fall aufmerksam. Und Sie haben meine Telefonnummer.«
Ena ergänzt: »Wenn wir den Flug buchen und Sie sich nicht an die Anweisungen halten, werden Sie als untergetaucht geführt.«
An Lisa gewandt erläutert Ena: »Das ist ein emotionaler Job, aber wir versuchen, einen Dialog zu führen, um es allen Betroffenen so leicht wie möglich zu machen.«
Die älteste Tochter meldet sich zu Wort: »Das Sozialamt kümmert sich um meine Tochter. Was wird mit ihr geschehen?«
»Wir werden Sie wieder mit ihr zusammenbringen«, antwortet Ena, »und Sie werden gemeinsam als Familie reisen.«
Medikamente werden dokumentiert. Pit und Ena beschließen, dass sich die Familie zweimal pro Woche bei der örtlichen Polizei melden muss. Die älteste Tochter fragt, wann sie zurückkehren müssten und ob sie bis dahin noch zwei bis drei Monate Zeit haben. »Ja, Sie müssen nicht sofort ausreisen, das braucht alles seine Zeit. Aber Sie sollten anfangen, sich mental darauf einzustellen. Das ist das Beste.«
Die Mutter antwortet: »Das ist nicht das Beste.«
»Doch, das ist das Beste, denn wenn Sie eine andere Entscheidung [eine positive] über Ihr Bleiberecht erhalten, dann können Sie das als Bonus betrachten«, hält Ena dagegen.
Die Mutter bleibt bei ihrem Standpunkt: »Ich respektiere die Polizei und werde einen Antrag stellen und Gründe finden, warum wir bleiben können. Und wenn dieser Antrag abgelehnt wird, dann sind wir bereit zu gehen. Allen meinen Töchtern geht es nicht gut.«
Ena versucht, die Familie zu überzeugen: »Es gibt Menschen, die sich seit zehn Jahren illegal in diesem Land aufhalten. Aber auch die müssen nach Hause zurückkehren. Es ist besser, jetzt zu gehen als erst in zehn Jahren. Denn dann hat man angefangen, sich einzugewöhnen. Aber Sie haben recht, es ist nicht einfach.«
Die Mutter antwortet: »Ich möchte das nicht noch einmal diskutieren. Ich übernehme die Verantwortung.«
Mitten in diesem Hin und Her erhält die älteste Tochter einen Anruf. Ihr Anwalt teilt ihr mit, die Migrationsbehörde benötige weitere Dokumente, um ihren Fall bearbeiten zu können.
Pit antwortet: »Sie müssen ein wenig Druck machen [auf die Migrationsbehörde], hartnäckig sein, vielleicht auch ein wenig übertreiben, damit etwas vorangeht.«
Ein paar Unterschriften und Zusicherungen später ist das Treffen beendet. (Feldnotizen, Schweden 2017)
In ganz Europa1 steht die Kontrolle unerwünschter Migration im Mittelpunkt öffentlicher, politischer und wissenschaftlicher Debatten. Mobilität innerhalb Europas wurde zwar durch die Abschaffung der Grenzkontrollen im Schengen-Raum erheblich erleichtert. Allerdings bleibt die Mobilität von Personen, deren Einreise, Aufenthalt und Arbeit in einem bestimmten Land als rechtswidrig gelten, eine Herausforderung und Anlass für Debatten in Politik und bei Behörden, die bestrebt sind, die Kontrolle über unerwünschte Mobilität zu behaupten. Behörden und Migrant*innen interagieren in einem dynamischen Feld, in welchem Mobilität zur umkämpften Ressource wird. Dieses Feld ist in Europa durch einen eher »losen« politischen Rahmen, nationale Gesetze, diverse Organisationskultur sowie institutionelle Strukturen und Einzelpersonen geprägt, die sich am Rande von Recht und Staat bewegen. Anhand einer »multi-sited« Ethnografie der Migrationskontrolle in Europa über Polizeistationen hin zu Treffpunkten von Migrant*innen in Italien bis hin zu Grenzposten und Abschiebegewahrsamen in Schweden untersuchen wir diese Praktiken in acht europäischen Ländern: in Italien, Deutschland, Österreich, Lettland, Litauen, Dänemark, Schweden und der Schweiz.
Migrant*innen ohne legalen Aufenthaltsstatus machen zwar nur einen Bruchteil der gesamten migrantischen Bevölkerung in Europa aus, werden aber vielfach in den Mittelpunkt der öffentlichen und politischen Debatten gerückt, weil sie in den Augen vieler die staatliche Souveränität grundsätzlich infrage stellen. Migrationskontrolle – hier insbesondere Maßnahmen zur Abwehr unerwünschter Migrant*innen – weist spezielle Merkmale auf, die eine genaue Betrachtung verdienen und die sich in drei Aspekten zusammenfassend darstellen lassen. Erstens bedarf Migrationskontrolle besonderer Aufmerksamkeit, da die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltsstatus den Zugang einer Person zu vielen weiteren Leistungen begründet sowie die Möglichkeiten dieser Person bestimmt, Rechte innerhalb eines bestimmten Staatsgebiets wahrzunehmen. Migrant*innen mit prekärem Rechtsstatus sehen sich struktureller und rechtlicher Gewalt ausgesetzt, die sich einerseits in Zwangsmaßnahmen manifestiert, welchen sie ausgesetzt sein können.2 Andererseits zeigt sich strukturelle und rechtliche Gewalt aber auch in alltäglichen Bereichen wie unsicherer Entlohnung, mangelnder Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Unterbringung sowie in einer anhaltenden allgemeinen Unsicherheit.3In diesem Zusammenhang gilt es zu betonen, dass sich das Migrationsrecht zunehmend mit dem Strafrechtssystem,4 mit sozialen Sicherungssystemen und Wohlfahrtsstaatregimen5 sowie mit Fragen von Zugehörigkeit und Staatsbürgerschaft6 überschneidet. Oftmals geht es dabei auch um außerordentliche Gewaltanwendung, insbesondere in Fällen »administrativer« Ingewahrsamnahme und Abschiebung.7 Deshalb ist es von besonderem Interesse, wie migrantische »Illegalität« in der Praxis durch den Staat und dessen Gesetze hervorgerufen und legitimiert wird. Zweitens verfügen Staatsangestellte, die im Bereich der Migrationskontrolle arbeiten, über eine beträchtliche Macht als »Türhüter« des Staates und des Gesetzes: Sie treffen nicht nur Entscheidungen über Aufenthalt, Inhaftierung und Abschiebung, sie setzen diese Entscheidungen auch in die Praxis um. Es bedarf daher dringend der Untersuchung, wie Staatsangestellte diese Handlungsmacht verstehen, wie sie sie einsetzen und was ihr entgegengesetzt wird.8 Darüber hinaus ist Migrationskontrolle von »intrinsisch normativer Natur«9. Die Zwangsregulierung von Migration ist höchst umstritten, wird in Politik und Öffentlichkeit häufig diskutiert und basiert auf normativen Urteilen. Tatsächlich wird ein Bleiberecht abhängig davon verliehen, ob eine Person in der gesellschaftlichen Wahrnehmung ein Aufenthaltsrecht »verdient« – und ob dies der Fall ist oder nicht, hängt wiederum vom praktischen Handeln von Staatsangestellten und ihren normativen Entscheidungen über die Umsetzung des Rechts ab. Drittens machen die Häufigkeit von Gesetzesänderungen, die Vielschichtigkeit des Migrationsrechts und die vielen Hände, die an seiner Durchsetzung beteiligt sind, Migrationskontrolle zu einem exemplarischen Fall für die Untersuchung von Konfigurationen staatlicher Herrschaft in der heutigen Zeit.
Daher geht es in diesem Buch keineswegs »nur« um die umkämpfte Kontrolle von Migrant*innen mit prekärem Rechtsstatus. Die vorliegende Publikation ist auch ein Buch über Macht, Recht und die Randbereiche des Staates. Die Begegnungen zwischen Staatsangestellten und Migrant*innen mit prekärem Rechtsstatus spiegeln Machtungleichgewichte wider, die wir auch in anderen Begegnungen zwischen staatlichen Stellen und marginalisierten Bevölkerungsgruppen finden, etwa in Sozialämtern10 oder Polizeistationen11. Anhand von Migrationskontrolle können wir untersuchen, wie verschiedene Formen von Staatsmacht – von der Fürsorge bis hin zu Überwachung und Ausweisung – im heutigen Europa in Kraft gesetzt, kontrovers diskutiert und umgestaltet werden. Das Buch lässt sich daher auf zwei Arten lesen: zum einen als Beitrag zu zeitgenössischen politischen und wissenschaftlichen Debatten über (»illegale«, »irreguläre« oder prekäre) Migration, zum anderen als Auseinandersetzung mit Rechtspraktiken, dem Staat und der Gesellschaft an ihren Rändern.
Das einleitende Fallbeispiel veranschaulicht, wie sich einige dieser Themen während unserer Forschung gezeigt haben. Es beschreibt eine alltägliche, aber entscheidende Begegnung zwischen der schwedischen Grenzpolizei, die für die Durchführung von Abschiebungen zuständig ist, und einer Familie, die nach der Ablehnung ihres Asylantrags von der Abschiebung bedroht ist. Das Beispiel wirft eine Reihe von Problemen auf, die Gegenstand unserer Untersuchung sein werden. Es zeigt, dass Migrationskontrolle eine Frage von Anfechtung und Aushandlung ist, was (und darauf kommt es an) durch die unterschiedliche Nutzung von Recht geschieht. Migrant*innen sind zwar per Gesetz stark eingeschränkt, behalten aber durchaus eine gewisse Handlungsmacht: Die Familie im beschriebenen Fall hat eine endgültige Anordnung über die Abschiebung nach Albanien erhalten, macht aber klar, dass sie dieser Anordnung nicht freiwillig nachkommen wird. Vielmehr fechten sie die Entscheidung unter Einsatz ihrer spärlichen rechtlichen Möglichkeiten an, was ihnen zumindest einen gewissen Aufschub der erzwungenen Rückkehr verschaffen wird. Allerdings ändert dies nichts an der zutiefst ungleichen oder asymmetrischen Machtverteilung zwischen den beteiligten Akteur*innen. Die Polizei, welche befugt ist, die Familie zur Not auch gewaltsam festzunehmen und abzuschieben, scheint schlicht das Gesetz auf ihrer Seite zu haben. Dabei erkennen die Polizist*innen durchaus an, dass die Situation emotional belastend ist, und versuchen deshalb, die Familie davon zu überzeugen, dass das Befolgen der Anordnung besser für sie wäre als der irreguläre Verbleib in Schweden mit begrenzten Aussichten auf einen geregelten Aufenthalt. Die Abschiebungsanordnung ist somit nach wie vor eine Frage der Aushandlung, nicht der puren Vollstreckung. Darüber hinaus spielen neben den unmittelbar Betroffenen, also der Familie und den Polizist*innen, drei weitere Akteure eine entscheidende Rolle bei der Lösung des Problems: der Rechtsbeistand der Familie, das Migrationsgericht und die schwedische Migrationsbehörde. Die Aushandlungen beschränken sich daher nicht auf die persönliche Interaktion zwischen zwei Parteien (oftmals unter Vermittlung von Übersetzer*innen/Dolmetscher*innen), sondern überschreiten die Grenzen einzelner Behörden sowie die Trennlinie zwischen Staat und Gesellschaft. Wir bezeichnen solche Begegnungen als asymmetrische Aushandlungsräume12 und insofern auch als wesentliches Element des europäischen Migrationsregimes und des Migrationsrechts in der Praxis. In diesem Buch legen wir den Fokus auf die Dynamik innerhalb solcher asymmetrischen Aushandlungen über Mobilität, wobei wir uns besonders darauf konzentrieren, wie diese Aushandlungen von verschiedenen Akteuren gestaltet werden, die aufseiten des Gesetzes arbeiten, auf das Gesetz Einfluss nehmen oder gegen das Gesetz agieren. Auf diese Weise wollen wir zeigen, wie Migrationskontrolle in ihrer täglichen Umsetzung von Gesetzen durch eine Vielzahl von Akteuren bestimmt und infrage gestellt wird. Dabei nehmen diese Akteure ungleiche Machtpositionen ein und prägen mit ihrem Handeln auf der Grundlage ihrer jeweiligen Werte, Interessen und Überzeugungen das europäische Migrationsregime.
Vor allem aber ist das, was wir in diesen asymmetrischen Aushandlungsräumen vorgefunden haben, kein allmächtiger Staat, der souveräne Herrschaft über Migrant*innen ausübt. Unser Fokus auf den Alltag in Behörden und verschiedenen nichtstaatlichen Organisationen, die mit Migrationskontrollpraktiken beauftragt sind, zeigt uns, dass auch diese Akteure häufig selbst Mühe haben, die Gesetze und Vorschriften, mit deren Durchsetzung sie betraut sind, zu verstehen und in der Praxis zu handhaben. Die Tatsache anerkennend, dass auch innerhalb des Staates Asymmetrien von Macht, Information und Wissen vorliegen,13 haben wir untersucht, wie Macht nicht trotz der, sondern gerade durch die Unlesbarkeit und Unvorhersehbarkeit des Rechtsvollzugs funktioniert.14
Zur Verdeutlichung dieser Dynamik ließen wir uns durch das literarische Werk Franz Kafkas inspirieren, dessen groteske Darstellung der Bürokratie bereits seit Langem Einfluss in wissenschaftlichen Arbeiten hat.15 Der »Kafkaeske Staat«16 wird oft dem idealtypischen weberschen Bürokratiemodell gegenübergestellt. Auch wenn es sich um zwei gleichermaßen idealtypische Darstellungen des Staates handelt, sind sie doch hilfreich, um die Spannung zu erfassen, welche sich zwischen dem realen Erleben durch Betroffene in bürokratischen Verfahren gegenüber einer ungewissen und unvorhersehbaren Ordnungsmacht und der anhaltenden Selbstdarstellung einer Verwaltung als Hüterin von Rationalität, Gerechtigkeit und Verlässlichkeit einstellt. In diesem Spannungsfeld zwischen zwei scheinbar widersprüchlichen Vorstellungen von Staatsmacht fanden wir Kafkas Parabel »Vor dem Gesetz« aus dem Jahr 1915 besonders hilfreich, um die besonderen Umstände von Begegnungen zwischen verschiedenen Akteuren an der Grenze zu verstehen. Die Parabel erzählt die Geschichte eines Mannes vom Lande, der versucht, durch ein offenes, aber von einem Türhüter bewachtes Tor in das Gesetz vorzudringen. Der Türhüter jedoch verwehrt dem Mann den Zugang – mit dem Hinweis, er würde ihn in Zukunft vielleicht eintreten lassen, könne dies aber vorerst noch nicht zulassen. Daraufhin setzt ein scheinbar sinnloses Warten »vor dem Gesetz« ein, welches damit endet, dass der Mann vor dem Tor stirbt, ohne jemals Zugang zum Gesetz erhalten zu haben. Bevor der Mann stirbt, fragt er den Wächter, warum niemand außer ihm jemals einzutreten versucht hat. Der Türhüter antwortet, dass das Tor ausschließlich für ihn gemacht wurde; niemand sonst hätte hier jemals Einlass finden können, und daher wird das Tor nach dem Tod des Mannes geschlossen. Die Parabel erzählt eine düstere Geschichte von Recht, das sich als höchst willkürlich, individuell und buchstäblich unzugänglich erweist. Aber warum hat der Mann nicht einfach die Warnung des Türhüters ignoriert und ist ohne Erlaubnis eingetreten? Wie wir ausführen werden, sind es gerade die Ungewissheit und Willkür der Auflagen und Auswirkungen des Gesetzes, welche die Hoffnung der Menschen aufrechterhalten, doch noch Gerechtigkeit zu erfahren, was dem Gesetz nicht zuletzt auch seine disziplinierende Kraft verleiht. Überdies halten wir einen weiteren Aspekt der Parabel für bedeutsam: Sowohl der Türhüter als auch der Mann vom Lande werden durch ihr Unterfangen definiert. Der Türhüter mag den Zugang zum Gesetz regeln, aber Sinn und Zweck des Gesetzes bleiben offenbar im Dunkeln, auch für den Türhüter selbst.
Der Mann vom Lande in Kafkas Geschichte erreicht also niemals sein Ziel, Zugang zum Gesetz zu erhalten, dennoch ist sein Leben von der bloßen Präsenz des Gesetzes geprägt. Ebenso erleben Migrant*innen an den Rändern des Staates Recht vielfach als unüberwindliche Kraft, welches die Macht besitzt, ihre Existenz für illegal zu erklären. Migrant*innen stehen dabei nicht einfach nur »vor dem Gesetz« – und damit außerhalb desselben –, sie geraten häufig in die Mühlen der Justiz, wenn sie versuchen, ihre Anwesenheit zu legalisieren; sie fühlen sich vom Gesetz gefangen und müssen gleichzeitig feststellen, dass es für sie unzugänglich bleibt. Wir werden im Verlauf des Buchs immer wieder auf Kafkas Parabel zurückgreifen, um die Begegnungen zwischen Akteur*innen des Migrationsregimes und dem »Gesetz« zu illustrieren.
Wie ist dieses Buch entstanden? Es begann mit der allgemeinen Erkenntnis, dass wir zwar eine reichhaltige wissenschaftliche und politikorientierte Literatur über Migration und Migrationspolitik haben, aber noch relativ wenig darüber wissen, ob und wie Migrationspolitik in der Praxis umgesetzt wird. Natürlich ist die Implementierungslücke zwischen Recht und Umsetzungsrealität sowie zwischen Zielen und Wirkungen von Gesetzen in der Migrationskontrolle bestens dokumentiert.17 Die Erklärungen für diese »Lücke« reichen von der unvollendeten Harmonisierung von Migrationskontrollpraktiken18 über die Nachfrage neoliberaler Märkte nach billigen und möglichst rechtlosen Arbeitskräften19 bis hin zum Widerstand der Migrant*innen selbst.20 In diesem Buch geht es nicht in erster Linie darum, diese Lücke zu erklären, sondern wir wollen untersuchen, was innerhalb dieser Lücke – also bei der Implementierung von Gesetzen vor Ort – geschieht. Unser Ansatz fußt auf der Tradition der Forschung zum Thema »Streetlevel-Bürokratie«21 und auf rechtssoziologischen Studien, die weniger die Diskrepanz zwischen Politik und Praxis thematisieren als vielmehr untersuchen wollen, wie Gesetze und Vorschriften erst durch die Praxis konkrete Gestalt annehmen.
Die Dynamik innerhalb oft unsicherer und langwieriger bürokratischer Verfahren bei Personen mit prekärem Rechtsstatus bietet einen idealen Ausgangspunkt, um die Anwendung von Migrationsrecht eingehend zu erforschen. Bei unseren früheren Untersuchungen in Deutschland22 haben wir erhebliche Unterschiede bei den getroffenen Entscheidungen (Wer darf bleiben?) sowie innerhalb von Entscheidungsprozessen (Was braucht es, um entscheiden zu können, wer bleiben darf?) zwischen vier verschiedenen Ausländerbehörden und sogar innerhalb ein und desselben Amts festgestellt. Diese Unterschiede nehmen zu, je prekärer sich der Rechtsstatus eines Migranten darstellt. Während die Verfahren und Ergebnisse bei EU-Bürger*innen in allen vier untersuchten Behörden recht ähnlich ausfielen, war es fast unmöglich, den Ausgang von Fällen abgelehnter Asylbewerber*innen, arbeitsloser Arbeitsmigrant*innen oder geschiedener Migrant*innen vorherzusagen. Die umkämpfte Kontrolle von Personen mit prekärem Rechtsstatus wurde daher zum Schwerpunkt unserer jeweiligen Forschungsprojekte, welche die Grundlage für dieses Buch bilden.
Nicht die Untersuchung einer bestimmten Art von Institution in einem Staat ist unser Thema, sondern es sollen mehrere Akteure und Behörden in acht europäischen Staaten verglichen werden, wobei die rechtssoziologische Perspektive auf die Rechtsanwendung, die unseren früheren Studien zugrunde lag, erhalten bleibt. Anstelle der üblichen kapitelweisen Bearbeitung einzelner Länder durch verschiedene Autor*innen ist dieses Buch ein durch und durch kollektives Unterfangen. Der kollektive Ansatz gewährleistet eine detaillierte Interpretation und höhere Zuverlässigkeit unserer individuell generierten Daten. Ebenso ermöglicht diese enge Zusammenarbeit, unsere verschiedenen Blickwinkel auf die Mikrodynamiken umkämpfter Migrationskontrolle kritisch zu analysieren, was mit einer konventionellen, monoperspektivischen Untersuchung (die entweder Staaten oder Migrant*innen im Blick hätte) nicht zu erreichen wäre. Der intensive Austausch und die Zusammenarbeit innerhalb unseres Forschungsteams machen den besonderen Charakter dieser Arbeit aus.
Theoretisch stützt sich unsere Herangehensweise auf den aktuellen Stand der Migrationsforschung sowie Studien zu Polizeiarbeit und staatlicher Kontrolle, aber auch zu Streetlevel-Bürokratie. Es geht darum, das Wesen (und die Grenzen) der Migrationskontrolle als dynamisches Wechselspiel zu erklären. Dieses Wechselspiel wird sowohl durch die Mobilität von Migrant*innen innerhalb Europas als auch die staatlichen Bemühungen, diese Mobilität nachzuvollziehen und zu kontrollieren, bestimmt. Unter diesem Gesichtspunkt entsteht das europäische Migrationsregime durch »kontinuierliche praxisgestützte Ausbesserungsarbeiten«23. Es ist keineswegs das Produkt eines einheitlichen Plans. Wir untersuchen, wie das Migrationsregime in der Praxis funktioniert, wie Recht Handlungsmacht verleihen und einschränken kann und wie Macht wiederum über das Gesetz hinaus ausgeübt wird. In vielen früheren Arbeiten zur Analyse von Staatsmacht wurde die Rolle des Rechts entweder als bloße Strategie von Regierungen vernachlässigt oder kritiklos als fester Ordnungsrahmen vorausgesetzt, welcher der staatlichen Souveränität Schranken auferlegt. Im Gegensatz dazu nehmen wir die Rolle des Rechts als Instrument, welches Macht sowohl im Namen des Staates als auch gegen den Staat kanalisiert, ernst und untersuchen, wie Recht durch informellen Wissenstransfer, Gerüchte und unterschiedliche Aneignungen funktioniert. Dies hat konkrete Auswirkungen auf die Lebensperspektiven von Migrant*innen mit prekärem Rechtsstatus und prägt das formale Vorgehen staatlicher Akteur*innen. Die Unlesbarkeit des Staates steigert, wie wir aufzeigen werden, einerseits dessen Macht, lässt andererseits aber auch Raum für Akteur*innen, um seinen Verfahren etwas entgegenzusetzen.
Das Buch kann auch als Studie über Recht und Staat gelesen werden, die sich insbesondere darauf fokussiert, wie Staaten mit Migration, einer wesentlichen Herausforderung ihrer Souveränität, umgehen. Migration ist schon für sich genommen ein interessantes Phänomen, vor allem ist sie aber Thema heftiger politischer Auseinandersetzungen und infolgedessen ein Feld enormer rechtlicher Innovation und einer der wenigen Bereiche, in denen staatliche Eingriffe offenbar kontinuierlich zunehmen. In diesem Sinne möchten wir behaupten, dass der von uns gewählte Ansatz eine Perspektive liefert, durch die wir das Recht und den Staat selbst besser verstehen können. Aus unserer Analyse ergibt sich ein Bild des Staates, das sich aus einem breiten Spektrum von Akteuren und Praktiken zusammensetzt, die einerseits substanzielle Macht über bestimmte Personen ausüben, die aber gleichzeitig von rechtlichen Unklarheiten und widersprüchlichen Aufgaben und Interessen geprägt sind. Malkki24 erinnert uns daran, dass eine Art symbiotischer Beziehung zwischen den Konzepten der (erzwungenen) Migration, Geflüchteten und dem Staat besteht; verwenden wir das eine, laufen wir Gefahr, das andere zu konkretisieren und zu essenzialisieren. Wie Hoag25 betont, müssen wir uns als Anthropolog*innen des Staates vor der Annahme hüten, es gäbe den einen konkreten und idealen Weg, auf dem Recht und Bürokratie zu »funktionieren« hätten. Das Ziel dieses Buches ist es daher nicht, praxisübliche Verfahren gegenüber geschriebenen Gesetzen und Vorschriften zu bewerten oder normative Urteile darüber zu fällen, was in der Ausführung staatlicher Kontrolle »richtig« oder »falsch« sei. Vielmehr untersuchen wir die verschiedenen Formen, in denen sich Recht manifestiert und auf den Alltag von Staatsangestellten, nichtstaatlichen Akteuren und die Zivilbevölkerung auswirkt.26 Ein Fokus auf Migrationskontrollpraktiken und die große Vielfalt subnationaler und transnationaler gesellschaftlicher Akteure, die in Kämpfe über die Bewegungsfreiheit von Migrant*innen involviert sind, bietet auch die Möglichkeit, zu untersuchen, wie selbst alltägliche Praktiken staatliche Effekte (re)produzieren.27
Der theoretische Rahmen des Buches stellt die Vorstellung von einem »rationalen Staat« westlicher Prägung infrage. Wir beziehen unsere Inspiration aus der Rechts- und Politikanthropologie und der Soziologie, insbesondere aus der Arbeit von Philip Abrams28, Veena Das29, Akhil Gupta30, Timothy Mitchell31, James C. Scott32. Auf diesen konzeptuellen Grundlagen aufbauend begreifen wir informelle alltägliche Praktiken als produktives Element, welches staatliche Herrschaft nicht nur untergraben, sondern sie vielmehr auch verstärken kann. Diese theoretischen Ansätze stellen das Bürokratiemodell und den Staat im Sinne Webers grundsätzlich infrage – auch wenn ironischerweise eine solche webersche Idealvorstellung vom Staat gerade im Selbstverständnis von Bürokrat*innen weit verbreitet bleibt.33 Dieses Selbstverständnis beeinflusst die Praxis, auch wenn es häufig im Kontrast zu den Alltagserfahrungen der Staatsangestellten steht, die nicht selten das Gegenteil des weberschen Ideals widerspiegeln. Im vorliegenden Buch beleuchten wir Vorstellungen, Praktiken und Bemühungen von Streetlevel-Bürokrat*innen, denn gerade durch ihre konkreten Alltagstätigkeiten (Schreibarbeit, Zwangsausübung, Grenzkontrolle) und die alltäglichen Kämpfe um Macht und Handlungsspielräume (untereinander, mit anderen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren sowie mit der Zivilbevölkerung) manifestiert sich der Staat in seiner materiellen, abstrakten und ideellen Form.
Es geht uns nicht um einen Ländervergleich verschiedener Staatsapparate. Vielmehr sind wir bestrebt, Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten in der Dynamik, den Auseinandersetzungen und Kämpfen um Kontrolle und Ermöglichung von Mobilität herauszuarbeiten, die in diesen unterschiedlichen nationalen Kontexten stattfinden. Dabei tragen wir den Unterschieden zwischen den untersuchten Ländern ebenso Rechnung wie denjenigen in den jeweiligen Behörden, organisatorischen Kontexten und konkreten Schauplätzen unserer Untersuchung. Wir müssen uns daher Klarheit über die Vergleichbarkeit der Daten verschaffen. Wie lassen sich so viele Handelnde vergleichen, die in zutiefst unterschiedlichen nationalen, regionalen, historischen und kulturellen Kontexten agieren? Ist die Situation nicht überall anders, ist die Rechtsgrundlage nicht überall eine andere? Die Untersuchung der Besonderheiten des jeweiligen organisatorischen, historischen, kulturellen und politischen Kontextes sowie der politischen Veränderungen auf nationaler, lokaler und internationaler Ebene ist zweifellos von bedeutendem analytischem Wert. Da ein konventioneller Vergleich in erster Linie Unterschiede zutage fördern würde, konzentrieren wir uns aber nicht allein auf nationale oder subnationale Unterschiede in den rechtlichen Rahmenbedingungen und Verfahren der Migrationskontrolle. Ebenso vergleichen wir nicht einfach nur Staaten oder Regionen mit geringer Zuwanderung (wie etwa Litauen und Lettland) mit Ländern, in denen Migrant*innen in größerer Zahl ankommen. Vielmehr konzentrieren wir uns auf das, was über diese unterschiedlichen Kontexte und Akteure hinweg konstant bleibt. So können wir signifikante Ähnlichkeiten in der Art und Weise ermitteln, wie verschiedene Akteure – von Vertreter*innen des Staates bis hin zu Migrant*innen und ihren Unterstützungsnetzwerken – unterschiedliche Praktiken, Vorstellungen und Herausforderungen im Zusammenhang mit einem abstrakten Migrationsrecht und dessen Interpretation erleben.
Anstatt intensiv einen oder wenige symbolische Fälle zu beleuchten, wollen wir anhand zahlreicher Beispiele Ähnlichkeiten im täglichen Ringen um die Implementierung von Recht im Bereich der Migration aufzeigen. Bei der Vielzahl von Akteuren und Orten fanden wir vor allem eines heraus: Beständig ist allein die Unbeständigkeit, oder auch: Durcheinander und Unvollkommenheit, wohin man schaut. Gemäß unseren Beobachtungen erfolgt die Implementierung von Migrationsrecht vielfach nur lückenhaft, und was dies angeht, regiert weitgehend der Pragmatismus.34 Wir stießen auf erhebliche und kontinuierliche Schwankungen bei der Anerkennung rechtlicher Grundlagen und deren Nutzung sowie bei den Akteur*innen, die mit der Überprüfung, Unterstützung oder Umsetzung der Bedingungen in der Migrationskontrolle befasst sind.35 Wichtig ist auch die Feststellung, dass Migrant*innen trotz verstärkter staatlicher Kontrollbemühungen durchaus über Handlungsfähigkeit verfügen und die ihnen zur Verfügung stehenden rechtlichen Möglichkeiten zu ihren Gunsten zu nutzen versuchen. Unsere Untersuchung ermöglicht es uns, eine breite Palette von Momentaufnahmen und, wo immer möglich, Langzeitbeobachtungen darüber anzustellen, wie verschiedene Akteur*innen mit, durch und vor dem Gesetz interagieren. Auf diese Weise bilden wir möglichst umfassend ab, was wir in der Gesamtheit als Migrationskontrolle in Europa wahrnehmen.
Anhand des Konzepts des »Migrationsregimes« konnten wir unsere Untersuchung auf alle Akteure ausdehnen, die innerhalb asymmetrischer Aushandlungsräume involviert sind. Wir konzentrieren uns dabei auf das »situative« Handeln von migrantischen, staatlichen und nichtstaatlichen Akteur*innen. Wir fokussieren mithin weniger auf Aspekte, die uns helfen individuelle Migrationsrouten oder -biografien zu kontextualisieren. Auch gehen wir nicht vertieft auf die historischen, politischen, kulturellen und organisatorischen Besonderheiten des jeweiligen nationalen Kontextes ein, ohne dabei behaupten zu wollen, diese Unterschiede seien irrelevant. Unsere Arbeit versteht sich vielmehr als ergänzende Studie zu anthropologischen, soziologischen und rechtswissenschaftlichen Ansätzen, die derlei Nuancen und Variationen anhand eines Vergleichs diverser Standorte und Regionen aufzeigen. In unseren Beschreibungen geht es hingegen insbesondere um Berichte über Interaktionen und Auseinandersetzungen auf unterster Ebene, die in Räumen asymmetrischer Aushandlungen vor dem, mit dem und gegen das Gesetz stattfinden und die nach unserer Überzeugung letztlich das Migrationsregime in Europa entscheidend prägen und gestalten.
Recherchen zu Migrant*innen mit prekärem Rechtsstatus zeigen, dass diese oft zwischen verschiedenen rechtlichen Status wechseln.36 Wenn man den »fragmentierten Migrationsrouten«37 folgt, wird deutlich, dass diese »Statusmobilität«38 die Begegnung mit einer Vielzahl staatlicher und nichtstaatlicher Akteure impliziert. Geflüchtete, die sich unerlaubt in einem Land aufhalten, versuchen für Behörden unsichtbar zu bleiben und in einem »Raum der Nicht-Existenz«39 zu leben; sie laufen ständig Gefahr, in eine Polizeikontrolle zu geraten, und müssen daher Wege finden, Begegnungen mit staatlichen, aber auch nichtstaatlichen Kontrollinstanzen zu vermeiden. Andere, die versuchen, ihren Rechtsstatus zu regularisieren oder Schutz zu erhalten, treten aus dieser Unsichtbarkeit heraus und begeben sich in rechtliche Verfahren. Sie werden zu »Asylbewerber*innen«, und während der oft langwierigen Asylverfahren interagieren sie mit Entscheidungsträger*innen, Sozialarbeiter*innen und Sicherheitspersonal in Asylunterkünften, mit Rechtsberater*innen und natürlich mit anderen Migrant*innen in ähnlicher Lage. Wird ihr Asylantrag abgelehnt, werden sie zu »abgelehnten Asylbewerber*innen« und stehen fortan in ständiger Gefahr, inhaftiert oder abgeschoben zu werden. Um eine Abschiebung zu vermeiden und nach alternativen Möglichkeiten zu suchen, sind viele unserer Gesprächspartner*innen in andere Länder des Schengen-Raums ausgewichen und unterliegen damit automatisch dem Dubliner Übereinkommen. Diese »Dubliner«40 können ein weiteres Asylverfahren einleiten, werden aber oft in das für ihren Antrag zuständige Land zurückgeschickt (siehe Kapitel 2). Einige Personen haben eine befristete Aufenthaltserlaubnis, wieder andere haben eine Aufenthaltserlaubnis in einem Land erhalten, sind aber in ein anderes ausgereist, wo sie wieder in eine ungeregelte rechtliche Situation geraten.41 So ähnelt ihre Migrationsbewegung oft einem zyklischen Muster, das diverse Standorte, Akteure und rechtliche Status einschließt. Diese Komplexität erfordert eine gemeinsame Betrachtung verschiedener Perspektiven, Standorte und Akteure.
Auf ihren »unterbrochenen Migrationsrouten«42 treffen Menschen mit prekärem Rechtsstatus nicht nur auf Migrationsbehörden, sondern auch auf Grenzschützer*innen, Polizist*innen, Strafvollzugsangestellte, Mitarbeiter*innen im Abschiebegewahrsam und bei privaten Sicherheitsdiensten, Richter*innen, Rechtsberater*innen und eine Reihe ziviler Organisationen, die verschiedene Kontrollfunktionen ausüben oder Beratung und humanitäre Dienstleistungen anbieten. In diesem Zusammenhang gilt es zu untersuchen, wie diese Begegnungen die Auswirkungen von Migrationskontrolle beeinflussen, wie Akteur*innen in unmittelbarem Kontakt zu Migrant*innen ihre Entscheidungen treffen, wie Entscheidungen kommuniziert, (falsch) interpretiert und von Migrant*innen und Rechtsberater*innen angefochten werden, wie sich Rollen herauskristallisieren und ineinanderfließen und wie sie von den Beteiligten jeweils verstanden werden. Eine solche Analyse kann nach unserem Verständnis angesichts des internationalen Geltungsbereichs der Gesetze und Vorschriften, der Organisationen – und der Wege von Migrant*innen – nicht auf den nationalstaatlichen Kontext beschränkt bleiben.
Somit unterscheidet sich unser Buch von der bislang verfügbaren Literatur durch den gemeinsamen Forschungs- und Schreibprozess, seine ethnografische Breite, die relationale Sicht auf Migrationskontrolle, basierend auf rechtssoziologischen und -anthropologischen Perspektiven, sowie durch seine Betonung von Ähnlichkeiten angesichts rechtlicher und organisatorischer Unterschiede. Die einzelnen Kapitel spiegeln diese Vorgehensweise wider. Sie bringen diverse Aspekte der Fachliteratur zusammen (Kapitel 2), sie untersuchen die Rolle des Rechts bei der Entscheidungsfindung (Kapitel 3), sie beobachten die Folgen von Chaos und Formlosigkeit bei der Ausführung staatlicher Kontrolle (Kapitel 4), sie beschreiben die Kämpfe um Zeit und Beschleunigung (Kapitel 5) und sie werfen die Frage nach Verantwortung innerhalb des Migrationsregimes auf (Kapitel 6).
Der Rest dieses Kapitels dient hingegen der Klärung einiger Fragen, die von unseren Kolleg*innen wiederholt angesprochen wurden – man könnte den zweiten Teil dieses Kapitels auch mit der Überschrift »Antworten auf Fragen, die uns auf Konferenzen gestellt wurden« versehen. Zuerst kommen wir auf die vielfach gestellte Frage nach der Bedeutung der »Flüchtlingskrise« zu sprechen. Zweitens wollen wir unseren methodischen Ansatz erläutern, einschließlich Fragen des Forschungszugangs und der wissenschaftlichen Ethik. Als Drittes werden wir kurze Erklärungen zu zentralen Begriffen liefern, die wir im Text durchgehend verwenden. Der vierte und letzte Abschnitt soll einen kurzen Überblick über den Rest des Buches geben.
Ab dem Sommer 2015 werden die deutschen Polizeibehörden gegenüber Migrant*innen, die das Land durchquerten, um andere Ziele zu erreichen und ihren Asylantrag zu stellen, zunehmend nachsichtiger. Als Tobias Staatsangestellte in einer norddeutschen Stadt beobachtet, die sowohl als Ziel als auch als Durchgangsstation für Asylbewerber*innen bekannt ist, hat die Polizei ihre Kontrollaktivitäten an Verkehrsknotenpunkten wie dem Hauptbahnhof schlicht und einfach eingestellt. Sie koordiniert sogar Bemühungen, Flüchtende auf Fähren nach Schweden und Norwegen zu bringen, arrangiert provisorische Unterkünfte und vermeidet zugleich eine Registrierung der Geflüchteten in Deutschland. Nach Informationen der Lokalpresse schätzt die Landesverwaltung, dass insgesamt rund 60000 Asylbewerber*innen, mutmaßlich ohne legalen Aufenthalt in Deutschland, mit freundlicher Unterstützung durch die Polizei auf Fähren nach Schweden gebracht wurden – immerhin fast 40 % aller Asylbewerber*innen, die 2015 nach Schweden kamen (Feldnotiz, Deutschland 2015).
Im Dezember 2015 befragen Lisa und Annika schwedische Grenzpolizist*innen in einer Stadt, die eine direkte Bahnverbindung nach Dänemark und eine Fährverbindung zu der deutschen Stadt hat, in der Tobias seine Feldforschung betrieb. Für viele Asylbewerber*innen war die Stadt damit zu einer wichtigen Anlaufstelle in Richtung Schweden geworden. Im Herbst 2015 hatte die Polizei zusammen mit dem schwedischen Migrationsamt, Refugees Welcome, dem Roten Kreuz und diversen anderen NGOs bei der Registrierung (oder bewussten Vermeidung der Registrierung) von Asylbewerber*innen geholfen und weitgehend die gleichen Aufgaben wie die genannten Organisationen wahrgenommen, wenngleich ihre offiziellen Aufgaben und Ziele eigentlich ganz andere waren. Eine Polizistin meint:
»Damals (im Spätsommer 2015) gab es eine Entscheidung auf Bundesebene, nachsichtig mit den Ankommenden umzugehen, auch wenn ihnen Ausweispapiere oder Aufenthaltsgründe fehlten – wir ließen sie sogar ihre Reise fortsetzen, wenn sie denn weiterreisen wollten. Im September gab es eine Art Zwischensituation: Wir erhielten klare Anweisungen von oben, als Bindeglied zwischen den Flüchtenden und der schwedischen Migrationsbehörde zu fungieren sowie zwischen Behörden und den damals sehr aktiven NGOs zu vermitteln. Und das haben wir dann auch getan: Wir waren am Hauptbahnhof, halfen Flüchtenden bei allen möglichen Dingen, brachten sie hierhin und dorthin, verteilten Sandwiches – und verzichteten auf Kontrollen. Dann kam im November 2015 die Entscheidung, die Grenze zu schließen und die Kontrollen wieder aufzunehmen« (Feldnotiz, Schweden 2015).
Im April 2016 hörten wir, wie ein dänischer Polizist in Kopenhagen über die gleichen Ereignisse vom vergangenen Sommer dachte. »Dänemark ist von jeher ein Transitland für Migrant*innen, die nach Schweden wollen. Das ist schon seit Langem bekannt. Aber wir dürfen keine Kontrollen an der dänischen Grenze durchführen, weil wir zum Schengen-Raum gehören. Es gab verschiedene Vorschläge, wie man mit dem Problem umgehen könnte, aber wir dürfen keine systematischen Grenzkontrollen durchführen. Wir können es nicht allen recht machen … Entweder wir verstoßen gegen die Schengen-Regeln, oder wir werden ein Transitland nach Schweden« (Interview, Dänemark 2016).
Unsere Untersuchungen fielen in eine Zeit, die als »Krise« der europäischen Migrationskontrolle betrachtet wird. Es existiert eine florierende »Krisenliteratur«, die – und das ist besonders wichtig – die menschlichen Tragödien ebenso beleuchtet wie die Produktivität dieser ausgerufenen Krise für Regierungen und diverse Interessengruppen.43 Das vorliegende Buch fokussiert nicht auf die proklamierte Krise, zeichnet aber die dieser Situation zugrunde liegende Dynamik und die systemischen Unregelmäßigkeiten der europäischen Migrationskontrolle nach, welche diesem »Ereignis« weit vorausgehen, sich aber mit dem Anstieg der Ankunftszahlen noch verstärkt haben. Auch wenn viele unserer Gesprächspartner*innen bei Behörden und NGOs den »Sommer der Migration«44 als Krise bezeichneten, war ihnen durchaus klar, dass Ausnahmesituationen für sie eigentlich eher der Normalfall sind. Die oben zitierten Fälle aus der Praxis und Aussagen von Polizist*innen in Deutschland, Dänemark und Schweden lassen auf eine Reihe verschiedener Gründe für den wahrgenommenen »Kontrollverlust« schließen: plötzliche Nachsicht überlasteter deutscher Polizist*innen, drastische Änderungen der politischen Vorgaben zur Aufnahme von Asylbewerber*innen angesichts der außerordentlichen Zahl der Neuankömmlinge in Schweden und die Kompromisse, die sich aus Widersprüchen zwischen dem europäischen Rechtsrahmen und der Alltagsrealität ergeben, wie das Zitat des dänischen Polizisten zeigt. Keines der obigen Beispiele erzählt jedoch etwas radikal »Neues« über das alltägliche Gelingen oder Scheitern der Migrationskontrolle als solcher. Die deutsche Polizei ist gegenüber Transitmigrant*innen seit jeher nachsichtig – wie sonst hätten es Asylsuchende überhaupt jemals nach Schweden oder Dänemark schaffen können? Ebenso stellt praktisches Handeln oft einen Kompromiss zwischen Rechtsgrundsätzen und dem »wirklichen Leben« dar, und legislative Änderungen des Migrationsrechts sind nicht selten drastische und plötzliche Reaktionen auf politische Entwicklungen. Ja, die Dinge stellten sich anders dar als früher – aber war das wirklich alles völliges Neuland?
Eine ähnliche Frage warf ein schwedischer Grenzpolizist auf, den wir im Dezember 2015 befragten. Er erinnerte sich an einen gemeinsamen internationalen Lehrgang, an dem Polizeivertreter*innen aus allen Schengen-Mitgliedstaaten teilgenommen hatten und bei dem die Krise in aller Munde war. Dieses Treffen relativierte allerdings auch für den schwedischen Polizisten die Wahrnehmung dessen, was tatsächlich eine Ausnahmesituation darstellte:
Die Deutschen drehten damals völlig durch in Sachen Migration. Sie sagten, es gäbe Tausende und Abertausende, die hierherkommen, da wandte sich eine Italienerin um und meinte bloß: »Was zum Teufel ist eigentlich dein Problem? Bei uns läuft das seit 15 Jahren so, und jetzt seid ihr eben an der Reihe.« Dann drehte sie ihnen wieder den Rücken zu. Sie meinte einfach: »Was soll das Ganze, hör gefälligst auf zu jammern!« Und da wurde uns klar, wenn bei uns seit September jeden Tag zwischen 200 und 900 Menschen am Hauptbahnhof ankamen, dann hatte Italien in den letzten 15 Jahren Tag für Tag vielleicht 1000 Neuankömmlinge gehabt (Interview, Schweden 2015).
, auf Ineffizienzen sowie das hohe Maß an kontinuierlichen »radikalen« Reformprojekten innerhalb der Streetlevel-Bürokratie hingewiesen.