Dr. Anke König ist Professorin für Allgemeine Pädagogik mit Schwerpunkt Frühpädagogik an der Universität Vechta.
Dr. Ulrich Heimlich ist Professor für Sonderpädagogik mit dem Schwerpunkt Lernbehindertenpädagogik an der Ludwig-Maximilian-Universität München.
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1. Auflage 2020
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-034713-7
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pdf: ISBN 978-3-17-034714-4
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Vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 für Deutschland verbindlich gilt, entwickelt sich die Idee der Inklusion zu einem neuen Leitbild in der Behindertenhilfe. Sowohl im Bildungssystem als auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen sollen Menschen mit Behinderung von vornherein in selbstbestimmter Weise teilhaben können. Inklusion in Schule und Gesellschaft erfordert einen gesamtgesellschaftlichen Reformprozess, der sowohl auf die Umgestaltung des Schulsystems als auch auf weitreichende Entwicklungen im Gemeinwesen abzielt. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung wird in Deutschland durch ein differenziertes Bildungssystem und eine stark ausgeprägte spezialisierte sonderpädagogische Fachlichkeit bezogen auf unterschiedliche Förderschwerpunkte bestimmt. Vor diesem Hintergrund soll die Buchreihe »Inklusion in Schule und Gesellschaft« Wege zur selbstbestimmten Teilhabe von Menschen mit Behinderung in den verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern von der Schule über den Beruf bis hinein in das Gemeinwesen und bezogen auf die unterschiedlichen sonderpädagogischen Förderschwerpunkte aufzeigen. Der Schwerpunkt liegt dabei im schulischen Bereich. Jeder Band enthält sowohl historische und empirische als auch organisatorische und didaktisch-methodische sowie praxisbezogene Aspekte bezogen auf das jeweilige spezifische Aufgabenfeld der Inklusion. Ein übergreifender Band wird Ansätze einer interdisziplinären Grundlegung des neuen bildungs- und sozialpolitischen Leitbildes der Inklusion umfassen. Die Buchreihe umfasst die folgenden Einzelbände:
Band 1: Inklusion in der Primarstufe
Band 2: Inklusion im Sekundarbereich
Band 3: Inklusion im Beruf
Band 4: Inklusion im Gemeinwesen
Band 5: Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung
Band 6: Inklusion im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
Band 7: Inklusion im Förderschwerpunkt Hören
Band 8: Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung
Band 9: Inklusion im Förderschwerpunkt Lernen
Band 10: Inklusion im Förderschwerpunkt Sehen
Band 11: Inklusion im Förderschwerpunkt Sprache
Band 12: Inklusive Bildung – interdisziplinäre Zugänge
Band 13: Inklusion in Kindertageseinrichtungen
Die Herausgeber
Erhard Fischer
Ulrich Heimlich
Joachim Kahlert
Reinhard Lelgemann
Anke König & Ulrich Heimlich
In nur zwei Dekaden hat sich das System der Kindertagesbetreuung dynamisch gewandelt. Fast alle Kinder besuchen heute eine Kindertageseinrichtung (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018). Gründe dafür waren und sind ein veränderter Blick auf die Bildungs- und Entwicklungsprozesse junger Kinder, Veränderungen in den Lebens- und Arbeitsformen in der Gesellschaft sowie die Rechtsansprüche auf einen Kindergarten- und Krippenplatz.
Damit haben sich in den letzten Jahren die Erwartungen an die Kindertagesbetreuung stark erhöht. Diese wird zunehmend als zentraler Bildungsort für junge Kinder gesehen und hat damit die Grundschule als ersten außerfamiliären Bildungsort abgelöst. Gemessen an dem Ausbau und den Erwartungen hinkt die Anbindung an die Stützsysteme wie u. a. die Wissenschaft und Forschung in diesem Bereich stark hinterher (König 2020, im Erscheinen). Denn die pädagogischen Fachkräfte in den frühpädagogischen Einrichtungen verdanken ihre Ausbildung überwiegend dem System der Berufsbildung. Das zentrale Handlungsfeld der Frühpädagogik – die Kindertageseinrichtungen – gilt damit als letzte Bastion (Rauschenbach 2013) der Pädagogik, die nicht akademisiert ist. Entsprechend schwach sind Forschung und Theorieentwicklung in diesem Feld aufgestellt. Geprüftes Wissen ist aber für die Qualitätsentwicklung der Einrichtungen bzw. für eine veränderte Praxis unabdingbar. Daher kommt dem Zusammenführen von Theorien, der Auseinandersetzung mit der Weltaneignung junger Kinder sowie dem Transfer von Forschungsbefunden eine herausgehobene Rolle zu. Der Inklusionsdiskurs in der Frühpädagogik ist davon stark beeinflusst. Über die Plattform der »Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte« (WiFF) wurde hier ein enger Austausch von Praxis, Wissenschaft, Politik und Ausbildung angeregt.
Unter der Leitung von Anke König sind zu diesem Themenschwerpunkt interdisziplinäre Expertengremien durchgeführt worden und zahlreiche Expertisen sowie zentrale Wegweiser für Weiterbildnerinnen und Weiterbildner entstanden. Der vorliegende Band vereint einige ausgewählte Beiträge aus der Arbeit der WiFF und ist insofern als Quintessenz dieser Prozesse zu verstehen.
Die »Weiterbildungsinitiative Frühpädagogischer Fachkräfte« (WiFF) – die Ende 2008 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), der Robert Bosch Stiftung und dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) e. V. gegründet wurde – leitet ihre Arbeitsweisen aus den Herausforderungen ab: Forschung und Wissenstransfer in der Frühpädagogik zu verstärken. Sie leistet mit konzeptionellen Arbeiten bis heute einen Beitrag zu mehr Qualität im System der Frühen Bildung, beobachtet Entwicklungen durch empirische Studien, regt als Plattform den Austausch zwischen den Akteurinnen und Akteuren an und setzt Impulse über die Dissemination von Projektergebnissen.
Die Gründung der Plattform fiel mit dem Inkrafttreten der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK 2017) im Jahre 2009 zusammen. Darauf ist es zurückzuführen, dass die Plattform unmittelbar mit dieser Diskussion in der Frühpädagogik in Verbindung steht. Teilhabe und Partizipation werden als zentrale Strukturmerkmale für das Aufwachsen in heterogenen Gesellschaften gesehen. Kindertageseinrichtungen – als erste außerfamiliäre Institutionen – zeichnen sich durch altersübergreifende, offene Bildungsräume aus, die durch das Spielen und Lernen in sozialen Bezügen geprägt sind. Unterschiedliche Expertinnen und Experten sind sich heute einig, dass das Verständnis einer »Pädagogik der Vielfalt« (Prengel 2019) in der Frühpädagogik von hoher Bedeutung ist, um den unterschiedlichen Bedürfnissen der Kinder und derer Familien gerecht zu werden. In Kindertageseinrichtungen steht damit nicht nur die Heterogenitätsdimension Behinderung im Mittelpunkt, vielmehr spielt auch die Berücksichtigung der kulturellen, sozialen und sprachlichen Heterogenität von Kindern von Anfang an eine bedeutende Rolle. Insofern entwickelt sich in inklusiven Kindertageseinrichtungen derzeit ein breites Inklusionsverständnis, in dem die Unterschiedlichkeit der Kinder bewusst wahrgenommen und als Bereicherung für das pädagogische Konzept angesehen wird. Zum zentralen Prüfstein einer gelingenden inklusiven Arbeit in Kindertageseinrichtungen gerät dabei die Partizipation der Kinder. Auch für Kinder in den ersten Lebensjahren gilt der Grundsatz: »Nichts über uns, ohne uns!« Insofern stehen Kindertageseinrichtungen insgesamt vor der Aufgabe, Heterogenität als Ausgangspunkt des pädagogischen Handelns anzuerkennen und Partizipationsmöglichkeiten für Kinder in einer umfassenden Weise zu überdenken und weiterzuentwickeln. Erst auf diesem Weg kann aus Teilhabe auch wirklich Bildungsteilhabe werden.
Die Stärke des vorliegenden Herausgeberbandes liegt darin, dass auf der Basis eines gemeinsamen Grundverständnisses – Inklusion als »Pädagogik der Vielfalt« (Prengel 2019) – diskutiert wird. Mit den vertieften Analysen und Reflexionen der Autorinnen und Autoren werden unterschiedliche Facetten frühpädagogischer Praxis im Sinne einer inklusiven Pädagogik (vgl. Heimlich 2019) beleuchtet. Damit werden Anknüpfungspunkte offengelegt, um eine inklusive Frühpädagogik zu etablieren, aber auch um systemimmanente Strukturen und Handlungsmuster in der gegenwärtigen Praxis kritisch in Frage zu stellen. Die starke Verknüpfung von Inklusion mit den Aneignungsprozessen beziehungsweise den Interaktions- und Kommunikationsformen von jungen Kindern macht aus der vorliegenden Zusammenstellung eine Frühpädagogik der Vielfalt.
Mit dem ersten Beitrag »Bedeutungswandel der Kindertageseinrichtungen. Kulturelles Lernen als Basis für eine inklusive Frühpädagogik« ordnet Anke König zum einen den Stand zur Inklusion in der Frühpädagogik ein, zum anderen eröffnet sie mit dem Fokus auf das kulturelle Lernen eine bottom-up Perspektive. Sie stellt die Frage, wie Weltaneigung von und miteinander von Anfang an gelingt. Damit verbindet sie das Wissen über die frühen Beziehungs- und Interaktionsprozesse mit dem kulturellen Lernen und schreibt diesem klassische Bildungsmotive zu – im Sinne des Verhältnisses von ich und Welt.
Annedore Prengel legt in ihrem Beitrag »Pädagogik der Vielfalt – Ein Überblick« theoretische, historische und praktische Grundlagen inklusiven pädagogischen Handelns in der Frühpädagogik offen. Pädagogik der Vielfalt wird als gleichbedeutend mit Inklusiver Pädagogik gesehen bzw. international auch übereinstimmend mit Diversity Education und Inclusive Education.
Ulrich Heimlich stellt in seinen Beitrag »Kinder mit Behinderungen. Freies Spiel als genuiner Ort für Partizipation« die Bedeutung des Spiels für inklusive Settings in den Mittelpunkt. Er zeigt anhand unterschiedlicher Studien den Stand zum gemeinsamen Spiel von Kindern mit und ohne Behinderungen auf und unterstreicht das Potenzial kooperativer Peerbeziehungen. Der Beitrag verdeutlicht aber auch, dass Spiel nicht immer ein Selbstläufer ist, sondern mittels der sensiblen Unterstützung frühpädagogischer Fachkräfte inklusive Spielprozesse zum Teil erst ermöglicht werden.
Argyro Panagiotopoulou richtet ihr Augenmerk auf die migrationsbedingte Heterogenität in Kindergärten und Schulen. Ihr Beitrag »Inklusion und Migration. Zur Konstruktion von und zum Umgang mit ›migrationsbedingter Heterogenität‹ in Kindertageseinrichtungen und Schulen« hebt die Beteiligung von Politik, Kitas und Schulen bei der Herstellung von Differenz und Ungleichheit hervor. Kritisch beleuchtet werden die tiefgreifenden monolingualen Sprachpraxen in den Institutionen und die problematisierenden bildungspolitischen Debatten über Heterogenität, die der Idee einer inklusiven Pädagogik bzw. der Wertschätzung der Komplexität und Vielfalt individueller und familialer (u. a. migrationsbedingter) Lebensbedingungen entgegenstehen.
Mit dem Beitrag »Kinder in Armut und sozialer Benachteiligung. Konsequenzen für inklusive Kindertagesstätten« schließt Hans Weiß an die Diskussion an. Er verstärkt die Perspektive auf den gesellschaftlichen Diskurs zu Kindern in Armutslagen. Eindrücklich wird herausgearbeitet, wie stark Zuschreibungen der Lebenswirklichkeiten von sozial benachteiligten Kindern und Familien durch Verkürzungen geprägt sind. Er führt Ansätze auf, die zu einer veränderten Praxis führen.
Donja Amirpur stärkt mit ihrem Beitrag »Intersektionalität reloaded. Ableismus und Rassismus in der Frühen Kindheit« eine intersektionale Perspektive. Sie fokussiert auf den Ableismus und Rassismus, mit denen Eltern mit Migrationshintergrund konfrontiert werden. Anhand von Interviewdaten werden die Erfahrungen, die die Eltern mit dem Hilfesystem in Deutschland machen, problematisiert. Der Beitrag eröffnet eine kritische Diskussion zur gegenwärtigen Praxis des Fördersystems.
Michael Lichtblau und Timm Albers zeigen auf, dass inklusive Kindertageseinrichtungen keine Inseln sind. Der Beitrag »Inklusion und Übergang von der Kita in die Grundschule. Analyse aktueller Bedingungen und zukünftiger Entwicklungsaufgaben« schreibt dem Zusammenwirken im Netzwerk von Familie, Schule, Kita und Fördersystem hier eine besondere Rolle zu. Herausgestellt wird die Systemdifferenz zwischen Kindergarten und Schule, die eine Pädagogik der Vielfalt an der Schnittstelle erschwert. Forschungsbedarf wird in Bezug auf inklusive Transitionsprozesse markiert.
Petra Wagner setzt den Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung in Bezug zur Inklusion und eröffnet damit Ansatzpunkte für eine inklusive Handlungspraxis in den Kitas und einen Qualitätsentwicklungsprozess. Im Beitrag »Bildungsteilhabe und Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung« verweist sie auf Verkürzungen, die mit dem Begriff verbunden werden, und hebt das Differenzbewusstsein und die Diskriminierungskritik als zentrale fachliche Kompetenzen hervor. Mit dem Ansatz rücken sowohl institutionelle als auch individuelle Ausgrenzungserfahrungen in den Fokus und wird auf die Beendigung von Ungerechtigkeiten und Verletzungen hingearbeitet.
Auf die Umsetzung von Inklusion in der pädagogischen Praxis fokussiert auch der Praxisleitfaden von Ulrich Heimlich und Claudia Ueffing, der in ihrem Beitrag »Von der Theorie zu guter pädagogischer Praxis. Der Leitfaden für inklusive Kindertageseinrichtungen – Bestandsaufnahme und Entwicklung« vorgestellt wird. Das Instrument soll – in Ergänzung zu den Wegweisern der WiFF – den Praxistransfer zur Arbeit in inklusiven Kindertageseinrichtungen unterstützen.
Letztlich öffnet Daniela Kobelt Neuhaus mit ihrem Beitrag »Inklusive Vernetzung. Kindestageseinrichtungen im Sozialraum« den Fokus in das Gemeinwesen. Damit wird die Sozialraumorientierung im Sinne einer kooperativen regionalen Vernetzung in den Blick genommen. Hier sieht sie die Voraussetzung für inklusive Bildung. Dafür ist eine Kulturveränderung der Einrichtungen, aber auch der Kommunen notwendig. Beklagt wird der Projektstatus vieler Initiativen und der fehlende politische Wille, diese Transformationsprozesse nachhaltig anzugehen.
Wir wünschen allen Leser*innen eine anregende Lektüre und freuen uns, wenn wir damit einen Beitrag leisten, die Diskussion über Inklusion in unserer Gesellschaft lebendig zu halten.
Autorengruppen Bildungsberichterstattung (2018): Bildung in Deutschland. Berlin.
Heimlich, Ulrich (2019): Inklusive Pädagogik. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer.
König, Anke (im Erscheinen): Wissenschaft für die Praxis? Entfaltung einer modernen Arbeitsfeldforschung. In König, Anke (Hrsg.): Arbeitsfeldforschung in der Frühen Bildung. Weinheim.
Prengel, Annedore (2019): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. 4. Auflage. Wiesbaden.
Rauschenbach, Thomas (2013): Der Preis des Aufstiegs? Folgen und Nebenwirkungen einer frühpädagogischen Qualifizierungsoffensive. In: Felix Berth, Angelika Diller, Carola Nürnberg und Thomas Rauschenbach (Hrsg.): Gleich und doch nicht gleich. Der Deutsche Qualifikationsrahmen und seine Folgen für frühpädagogische Ausbildungen. München, S. 15–37.
UN-Behindertenrechtskonvention. Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen (Hrsg.) (2017). Berlin.
Zehn Jahre nach Einführung der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich in der Frühpädagogik ein breiter Inklusionsbegriff auf der Basis einer Pädagogik der Vielfalt (Prengel 2019; in diesem Band: Lichtblau & Albers; Prengel) herauskristallisiert. Mit der Forderung nach Inklusion ist der Anspruch verbunden, das Bildungssystem neu auszurichten und sozial gerechter zu gestalten. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (ebd.) intensivieren sich diese Bestrebungen. Teilhabe und Partizipation gelten als Schlüsselkomponenten einer pluralen Gesellschaft. Eine Frühpädagogik der Vielfalt zu verwirklichen und Kindertageseinrichtungen zu inklusiven Bildungsorten weiterzuentwickeln, ist eine zentrale Aufgabe. Denn auch in diesem pädagogischen Handlungsfeld gehören systemimmanente, institutionelle, aber auch persönliche Ausgrenzungen zum Alltag von Kindern, Familien und Fachkräften (in diesem Band u. a.: Panagiotopoulou, Weiß, Armipur) bzw. erfahren Kinder Ablehnungen und Verletzungen durch die pädagogischen Fachkräfte (Prengel 2013; König 2009, S. 206). Noch werden die damit einhergehenden institutionellen Schwachstellen zu wenig reflektiert und werden Handlungspraxen kaum daraufhin überdacht und verändert (u. a. in diesem Band: Heimlich, Heimlich & Ueffing; Kobelt Neuhaus; Wagner).
Im Folgenden werden der Bedeutungswandel und die strukturelle Basis der Kindertageseinrichtungen anhand der amtlichen Statistik beschrieben sowie Problemfelder der Entwicklungen verdeutlicht. Nicht nur die quantitative Expansion, sondern vielmehr die späte Anerkennung, dass auch junge Kinder sich aktiv die Welt zu eigen machen, d. h. die Welt aus ihrer Perspektive ordnen und verstehen wollen, ist Anlass, die Bedeutung der Kindertageseinrichtungen als wichtige Bildungsorte für alle Kinder hervorzuheben (Maywald 2010).
In den letzten Jahrzehnten hat sich das Bild der Kita in unserer Gesellschaft rasant gewandelt. Trotz der starken Bildungsbestrebungen und des allgemeinen Anspruchs auf einen Kinder- bzw. Krippenplatz – seit den Jahren 1996 und 2013 – bleibt die Kita jedoch im Achten Sozialgesetzbuch (Kinder- und Jugendhilferecht) verankert und zählt in Deutschland damit formal nicht zum Bildungs-, sondern zum Sozialsystem. Zwar proklamiert die Kita einen eigenständigen Bildungsauftrag, dennoch bleibt Bildung hier bisher in weiten Teilen noch eine Leerformel. Denn die Funktion der Kita ergibt sich nach wie vor aus der familienbezogenen Sozialintegration und wird subsidiär, d. h. im Sinne einer Unterstützung, organisiert. Bildung kann also, muss aber nicht Mittel der »Hilfe« sein (Reyer 2015, S. 32). Kitas sind nicht nur Einrichtungen für junge Kinder, sondern immer auch für deren Familien. Sie werden in erster Linie – immer noch – als Institution gesehen, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen, und nicht als Bildungsorte junger Kinder.
Welchen massiven Veränderungsprozessen das Handlungsfeld in den letzten Jahren ausgesetzt ist, wird im Folgenden anhand der Zahlen der amtlichen Statistik deutlich.
Im Jahr 2018 besuchten 3,5 Millionen Kinder eine der ca. 56.000 Kindertageseinrichtungen (im Vergleich: Im Schuljahr 2017/18 gab es 15.000 Grundschulen) (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2019, S. 16). Zwischen 2007 und 2018 haben sich die Beteiligungsquoten um 20 % erhöht. Trotz ihrer enormen Expansion in den letzten Jahren sind Kindertageseinrichtungen im Vergleich zum Schulsystem kleinräumige Organisationseinheiten. Diese Besonderheit bringt es mit sich, dass sich die sozio-ökonomischen Verhältnisse des sozialen Umfelds unmittelbar in der Kita widerspiegeln. Die Heterogenität der Lebensverhältnisse ist also in den Einrichtungen relativ (vgl. Weiß in diesem Band). Die Quoten der Inanspruchnahme haben sich in den letzten Jahren insbesondere in den westlichen Ländern stark verändert. Diese liegen in der Altersgruppe der Drei- bis Sechsjährigen bei neun von zehn Kindern. 97 % der Fünfjährigen sind heute in einer Kindertageseinrichtung angemeldet (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, S. 73). Verändert haben sich die Institutionen insbesondere durch die Umsetzung des seit 2013 gültigen Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für Kinder unter drei Jahren. Damit haben die Kindertageseinrichtungen ihr frühpädagogisches Profil weiter ausgebaut. Darüber hinaus sind die Einrichtungen stetig größer geworden. Der Anteil an großen Einrichtungen – mit mehr als 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – hat sich zwischen 2007 und 2018 von 7 % auf 25 % erhöht (ebd. S. 62). Diese Entwicklungen markieren einen Institutionenwandel, der auch auf das Aufwachsen von Kindern Einfluss hat – denn Kinder besuchen immer früher und immer länger die Kita.
Während sich die Inanspruchnahme von pädagogischen Institutionen im Altersbereich der Drei- bis Sechsjährigen bundesweit ausgeglichen darstellt und heute zur Biographie der in Deutschland aufwachsenden Kindern gehört, zeigen sich bei der Betreuung der unter Dreijährigen sehr viel deutlichere Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern und in der Beanspruchung von Plätzen. So befinden sich in Ostdeutschland 2017 ca. 66 % der Einjährigen und ca. 85 % der Zweijährigen in einer außerfamiliären Betreuung, während das nur für ca. 29 % der Einjährigen und ca. 56 % der Zweijährigen in Westdeutschland zutrifft (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, S. 72). Aufgrund der begrenzten Kapazitäten an Betreuungsplätzen für Kinder ab dem zweiten Lebensjahr treten hier Segregationsmechanismen zutage. Insbesondere Kinder von Eltern mit mittleren (27 %) und hohen Bildungsabschlüssen (36 %) sind in den ersten Lebensjahren in einer Kindertageseinrichtung angemeldet (Rauschenbach & Meiner-Teubner 2019, S. 8).
Kinder mit Behinderungen und/oder Migrationshintergrund besuchen Kindertageseinrichtungen in der Regel seltener und später (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, S. 74). In den letzten Jahren hat sich die Quote der Kinder mit Migrationshintergrund erhöht. Hervorgehoben wird im Zuge der Zuwanderung von Schutz- und Asylsuchenden der Anstieg an Kindern, die zuhause vorrangig nicht Deutsch sprechen (Panagiotopoulou in diesem Band). Zwischen 2007 und 2017 hat sich deren Anteil um 54 % von 366.000 auf 563.000 Kinder erhöht. Vielsprachigkeit ist heute in den Einrichtungen Realität. Auch der Anteil an Kindern mit Behinderung stieg in den letzten Jahren in tendenziell inklusiven Einrichtungen weiter an und lag zuletzt bei ca. 70 % (ebd. S. 75).
Um den unterschiedlichen Bedarfen in Bezug auf Bildungsteilhabe und Partizipation gerecht zu werden, ändern sich auch die Qualifikationen der pädagogischen Fachkräfte. Insbesondere in Kindertageseinrichtungen mit großen pädagogischen Teams und Kindern mit Eingliederungshilfe finden sich zunehmend Fachkräfte mit einer heilpädagogischen Qualifikation (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2019). Auch andere Funktionsstellen beginnen sich in den Einrichtungen zu etablieren, insbesondere hat sich eine Zusatzqualifikation zur Sprachförderung durchgesetzt (Geiger 2019). Diese Differenzierungen von Funktionsstellen in der Kindertagesbetreuung bestehen nicht flächendeckend, sondern sind von der Größe der Einrichtung, von Träger und Region (ebd.) abhängig.
Der Bedeutungswandel der Kita wird durch ihre Sichtbarkeit im Bildungssystem akzentuiert. Inzwischen hat die Kindertageseinrichtung die Grundschule als ersten außerfamiliären Bildungsort abgelöst (Autorengruppen Bildungsberichterstattung 2018, S. 73) und ist damit zu einem wichtigen Glied in der Bildungskette geworden. Die Zunahme an Projekten der Bildungsforschung im Handlungsfeld Kindertageseinrichtung steht hiermit in direktem Zusammenhang (König 2018). Dabei haben die Ergebnisse der Bildungsforschung und die veränderte Perspektive auf das Aufwachsen junger Kinder in den letzten Jahren gleichermaßen dazu beigetragen, den Bildungsort neu auszurichten.
Die Forschung zu den Effekten der Frühen Bildung war international zunächst vor allem darauf gerichtet zu klären, wie sich die außerfamiliäre Betreuung auf die Kinder auswirkt. Unterschiedliche Untersuchungen verweisen dabei auf den positiven Einfluss außerfamiliärer Bildung und Erziehung auf die akademischen Fähigkeiten der jungen Kinder (Melhuish 2015). Neuere Untersuchungen stellen den Zusammenhang zwischen der Qualität bzw. der Art der Erfahrung, die Kinder in der außerfamiliären Betreuung machen, und der positiven Entwicklung der Kinder heraus (u. a. Anders 2013; Sylva et al. 2014; Melhuish 2015; Siraj et al. 2016). Dabei wird hervorgehoben, dass nicht der Besuch der Einrichtung allein, sondern die Anregungen, die Kinder in den unmittelbaren Beziehungs- und Interaktionsprozessen erfahren, einen hohen Einfluss auf ihre Entwicklung haben (Siraj et al. 2016; Spieß 2004). Auch dem Zusammenspiel von häuslicher und außerfamiliärer Betreuung kommt in den Studien zur Entwicklung in der frühen Kindheit große Bedeutung zu. Entsprechende hohe Qualität wird mit Effekten für die gesamte kindliche Entwicklung verbunden. Einzelne Studien sehen dabei insbesondere bei Kindern mit sogenannten sozio-ökonomischen Risiken ein besonderes Potenzial. Längsschnittstudien, wie das »Effective Pre-school, Primary and Secondary Education Project« (EPPSE 3-16) zeigen heute Effekte der frühkindlichen Bildung und Erziehung bis in die Adoleszenz (Sylva et al. 2014; OECD 2011).
Iram Siraj (2016) fasst den Stand der Studien wie folgt zusammen:
»Effective educators need to be able to engage young children in meaningful activities which promote their conceptual understanding of the world. To achieve this, however, they first must develop positive adult-child relationships (Howes et al. 2008; Pianta et al 2007).«
Sensible und responsive Interaktionserfahrungen gelten für die kindliche Entwicklung als Prämisse, um Kindern Weltaneigung zu ermöglichen. Insbesondere die Kategorie »Sustained Shared Thinking« (SST) hat in den letzten Jahren die Ausrichtung der Frühen Bildung beeinflusst (Siraj-Blatchford et al. 2002). SST als pädagogisches Handlungsformat wurde u. a. in das englische Curriculum »Early Years Foundation Stage« (EYFS) integriert. Dieses Interaktionsformat basiert auf empirischen Zusammenhängen im Rahmen der EPPSE-Studie. Grundlegend dafür waren die Kategorien: Zeigen (demonstrating), Erzählen (telling) und Dialog (dialogue) (Siraj-Blatchford 2009, S. 78) (König, im Erscheinen).
Diese empirischen Befunde haben das Anliegen verschärft, die informelle Lernwelt der Kindertageseinrichtungen in den letzten Jahren stärker zu differenzieren. Damit geriet auch der sozialpädagogische Ansatz in die Kritik. Denn international werden traditionell sozialpädagogische und schulorientierte Ansätze für die Frühpädagogik unterschieden. Diese Ausrichtungen stehen im Kontext historischer bildungspolitischer Entscheidungen in den einzelnen Ländern (Scheiwe 2009). Im Laufe der Nullerjahre entstanden zwar verschiedene Initiativen, um eine Handlungsdidaktik auch für die frühkindliche Bildung und Erziehung zu entwickeln (z. B. Kasüschke 2010; Deutsches Jugendinstitut/Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte 2011), letztlich konnte sich diese in Theorie und Praxis aber nicht etablieren, und das obwohl unterschiedliche Studien belegen, dass es an bewussten dialogisch-entwickelnden Interaktionsprozessen in den Einrichtungen mangelt (Tietze 1998; Siraj-Blatchford 2002; König 2009; Hopf 2012; Vermeer 2016; Cusati Müller et al. 2019).
Mit Fokus auf die sozio-kulturellen Theorien sollen die Ergebnisse der empirischen Bildungsforschung nochmals reflektiert und Ansatzpunkte für eine inklusive Frühpädagogik ausgelotet werden. Diese Theorien eröffnen ein Verständnis dafür, wie Kinder als Teil der Gesellschaft, unterschiedlicher Gruppen bzw. der Familie innerhalb der Generationenfolge lernen. Darüber hinaus zeichnen sich weitere grundsätzliche Annahmen zur Entwicklung junger Kinder ab, die in letzter Zeit den Blick auf das Aufwachsen verändern. So weisen heute die soziologische Kindheitsforschung, die sich seit den 1990er Jahren im Kontext der New Childhood Studies etabliert hat, und die historische Pädagogik hinsichtlich der Bedeutung der Individualität für den Entwicklungsprozess (Baader 2018) eine erstaunliche Ähnlichkeit auf. Damit verliert die Sicht auf Kinder ihre stark deterministischen Züge. Vielmehr wird das erkennende Subjekt hervorgehoben, wie es u. a. bereits Friedrich Fröbel mit der Selbsttätigkeit beschrieben hat.
Doch auch wenn der Anerkennung des Subjekts – zu Recht – eine zentrale Rolle für den pädagogischen Prozess zukommt, mag ein solches Verständnis auch einem »romantisierenden Kindheitsmythos« (Baader 2004) Vorschub leisten, wie ihn etwa das Schlagwort »Kinder als Akteurinnen und Akteure ihrer Entwicklung« zum Ausdruck bringt, wenn dieses Verständnis nicht in einen breiteren sozio-kulturellen Kontext eingebettet wird, welcher der Komplexität des Aufwachsens Rechnung trägt. Die Agency der Kinder bzw. ihre Wirkmacht erweist sich stets als Zusammenspiel der Möglichkeiten, die sich in sozialen Gruppen für den Einzelnen eröffnen (Beutin, Flämig & König 2018; Flämig & Beutin 2020). Hier liegt die entscheidende Schnittstelle, um Pluralität und Heterogenität in Kindheiten überhaupt erst zu erkennen und deren Mechanismen zu verstehen (Baader 2018, S. 25). Auch die neuere Entwicklungspsychologie, die an den dynamischen Interaktionismus anschließt, stellt Entwicklung als das Ergebnis eines Zusammenspiels der sozialen, psychischen und biologischen Systemebenen dar (Krettenauer 2014, S. 16). Sozio-kulturelle Theorien ermöglichen darüber hinaus, die Entwicklung des Individuums in Verbindung mit der Aneignung von Kultur zu betrachten und damit zu erklären, wie sich Kultur an die nachfolgende Generation vermittelt. Damit eröffnen sich zentrale Ansatzpunkte für die Pädagogik – nämlich vor dem Hintergrund der Bildsamkeit des Menschen (Tenorth 2011), d. h. zu lernen und eine eigene Persönlichkeit zu entfalten. Das Aufwachsen in einer bestehenden sozialen Welt, in von Menschen etablierten kulturell organisierten Umwelten, ist ein komplexer Prozess (Ahnert & Haßelbeck 2014, S. 29). Daher besteht eine der zentralen Leistungen junger Kinder darin, sich diese vorstrukturierte Welt zu eigen zu machen. Die älteren sozio-kulturellen Theorien – u. a. von Vygotskij – gehen noch davon aus, dass sich die evolutionären und kulturellen Entwicklungslinien erst im Laufe der Zeit einander anpassen. Insbesondere Michael Tomasello (2006) hat mit seiner Forschung zur evolutionären Anthropologie in den letzten Jahren hier neue Impulse gesetzt, indem er auf ein Zusammenspiel von evolutionären und kulturellen Dynamiken von Anfang an hinweist. Junge Kinder unterstellen ihrer Mitwelt von Anfang an Intentionalität. Dies erzeugt eine ungewöhnliche Schubkraft – die Michael Tomasello als sogenannten Wagenheber-Effekt der menschlichen Kultur bezeichnet (Nungesser 2011, S. 673). Für das frühpädagogische Handeln sind diese Erkenntnisse von zentraler Bedeutung, denn das kulturelle Lernen eröffnet jungen Kindern unmittelbar Möglichkeiten, von und mit anderen Menschen zu lernen. Das zeigt aber auch, wie eng Kinder mit den sie umgebenden sozialen Gruppen verbunden sind. Folgende Fähigkeiten bieten dafür die Voraussetzung (Ahnert & Haßelbeck 2014, S. 32):
• Gemeinsame Aufmerksamkeit, das sogenannte Joint Attention: Hier wird die Aufmerksamkeit von Erwachsenen und Kind gemeinsam auf einen Gegenstand gerichtet. Durch Blickkontakt, Zeigegesten, Körperbewegungen und sprachliche Äußerungen wird versichert, dass ein gemeinsamer Fokus besteht. Mit dem Joint Attention wird die dyadische zu einer triadischen Interaktion erweitert.
• Verstehen kommunikativer Absichten: Kinder verstehen sich und andere als intentionale Individuen. Daher können sie sich in andere hineinversetzen und erkennen deren Absichten. Das zeigt sich z. B. bereits früh im sogenannten prosozialen Verhalten.
• Imitation durch Rollentausch: Kinder lernen durch andere. Das Kind verwendet beispielsweise sprachliche Äußerungen, wie sie der Erwachsene einsetzt, um Aufmerksamkeit zu erzielen. Es versetzt sich damit nicht nur in die Rolle des Erwachsenen, sondern setzt den Erwachsenen zugleich in die eigene Rolle.
• Kooperation: Wenn Kinder mit anderen kommunizieren, gelingt es ihnen, die Perspektiven der anderen zu erkennen und unterdessen auch eine gemeinsame intersubjektive Perspektive einzunehmen.
Diese Fähigkeiten ermöglichen grundlegende Ansatzpunkte für das pädagogische Handeln. Die entsprechenden Untersuchungen zeigen, wie stark junge Kinder von Anfang an getrieben sind, die Welt zu verstehen und einzuordnen. Bildung vollzieht sich in der Wechselwirkung zwischen Ich und Welt (Dörpinghaus, Poenisch & Wigger 2009). Hierbei wird Interaktion als zentrale Kategorie der Dynamisierung von Bildung und Lernen erkennbar. In dieser Hinsicht überschneiden sich die Ergebnisse der Bildungsforschung mit denen der evolutionären Anthropologie. Denn auch die Bildungsforschung zur Frühen Kindheit hebt die Prozessqualität und damit kooperative bzw. dialogische Handlungsmuster als effektive Interaktionen hervor und formuliert so den Anspruch an Kindertageseinrichtungen als Bildungsorte. Insbesondere die empirischen Befunde von Tomasello – die die evolutionären und kulturellen Entwicklungslinien zusammenführen – betonen die Stärken solcher Handlungsmuster aufgrund ihrer Bedeutung für die kulturelle Entwicklung des Menschen. Diese lassen sich darüber hinaus mit philosophischen Ansätzen zur Intersubjektivität u. a. von Jürgen Habermas verbinden:
»Auf der horizontalen Ebene übernehmen die Beteiligten mit der Blickrichtung auch die Intention des jeweils anderen, sodass eine soziale Perspektive entsteht, aus der beide in vertikaler Richtung ihre Aufmerksamkeit zugleich auf das angezeigte Objekt richten. Auf diese Weise gewinnen sie von dem gemeinsam identifizierten und wahrgenommenen Gegenstand ein intersubjektiv geteiltes Wissen« (Habermas 2009).
Die Stärke kulturhistorischer Ansätze besteht darin, das Generationenverhältnis bzw. die generationenübergreifende Wissensweitergabe und damit auch das Lernen in unterschiedlichen Kulturen in den Fokus zu rücken. Sie bieten Anknüpfungspunkte für frühpädagogische Konzeptionen. Forschungsarbeiten von Barbara Rogoff et al. (2014) schließen hier an. Rogoff reflektiert die Weitergabe über die Generationen in indigenen Kulturen und stark individualisierten Leistungsgesellschaften, wie den USA und Europa. Dabei zeigt sie, dass in vielen Kulturen die sogenannte Co-Education, d. h. das Lernen durch Beobachten und Mitwirken (ebd.) eine besondere Rolle spielt. Rogoff weist aber auch darauf hin, dass das Kooperieren insbesondere im Kontext einer stärkeren akademischen Ausbildung in den Hintergrund tritt (ebd.), sodass in vielen individualisierten Leistungsgesellschaften die von Tomasello herausgestellte zentrale Fähigkeit der Kooperation als wichtiger Lernweg vernachlässigt wird. Die Möglichkeiten kulturellen Lernens sind abhängig vom Zusammenwirken der unterschiedlichen sozialen Gruppen. Daraus ergeben sich Implikationen für eine inklusive Frühpädagogik.
»Das Thema Inklusion in der Frühpädagogik stellt die soziale Zugehörigkeit und Partizipation der jungen Generation in ihren frühen Lebensjahren in das Zentrum der wissenschaftlichen und praxisbezogenen Auseinandersetzung um angemessene Bildungskonzeptionen« (Prengel 2014, S. 16).
Inklusive Ansätze geben Antwort auf die Differenziertheit des Aufwachsens junger Kinder. Sie setzen dabei auf eine gemeinsame Erziehung und Bildung aller Kinder statt auf Segregation (u. a. Prengel 2014; 2016). Die Kindertageseinrichtungen bieten dafür eine relativ gute Voraussetzung, da hier in Deutschland traditionell altersübergreifend gearbeitet und das Leistungsprinzip zunächst formal als nachrangig betrachtet wird. Das Alter bestimmt hier den Zeitpunkt des Übergangs von der Krippe in die Kita bzw. in die Grundschule. Die Schnittstelle zur Grundschule wird – trotz unterschiedlicher Reformmodelle, wie z. B. die flexible Schuleingangsphase und die zahlreichen Impulse zur Inklusion – gegenüber der Kita als stark segregierend wahrgenommen (Lichtblau & Albers in diesem Band). Die Rückstellungsquote von der Einschulung liegt derzeit zwischen 6,5 % und 8 % eines Jahrgangs (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, S. 83). Werden die Altersgruppen der Sechs- und Siebenjährigen bzgl. der Eingliederungshilfe verglichen, dann zeigt sich am Übergang – auch wenn das nur eine kleine Teilgruppe ausmacht – ein radikaler Anstieg von 6 % auf 32 %. Auch bezüglich der Kinder mit nichtdeutscher Familiensprache wird ein Anstieg von 20 % auf 25 % konstatiert (ebd.). Zuletzt ist zwar die Direkteinweisung in die Förderschule zurückgegangen (– 0,6 %) und liegt derzeit bei 3 % der Kinder eines Jahrgangs. In die Förderschulen werden aber noch immer 21.700 Kinder direkt eingeschult. An der Schnittstelle zur Schule greifen Leistungsprinzipien, die im Rahmen u. a. von Sprachfördermaßnahmen auch den Tagesablauf der Kindertageseinrichtungen beeinflussen und auf die Praktiken in den Einrichtungen einwirken (Panagiotopoulou in diesem Band).
Annedore Prengel hat mit ihrer Pädagogik der Vielfalt (2019) ein Bildungsverständnis geprägt, das auf dem menschenrechtlich und demokratisch motivierten Theorem der egalitären Differenz beruht. Die Pädagogik der Vielfalt bietet zentrale theoretische Anknüpfungspunkte, um eine inklusive Pädagogik unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Heterogenitätsdimensionen einer Gesellschaft zu entwickeln (Prengel 2014; in diesem Band). An welche Grundbedingungen soziale Zugehörigkeit und Partizipation in den jungen Jahren gebunden ist, wurde mit der WiFF-Expertise »Bildungsteilhabe und Partizipation in Kindertageseinrichtungen« (Prengel 2016) explizit aufgegriffen und diskutiert. Bildungsteilhabe und Partizipation stehen für eine demokratische Ausrichtung von Bildungsinstitutionen. Bildungsteilhabe fokussiert auf ökonomische, soziokulturelle und geschlechtliche Gleichheit beim Zugang zu Bildungsinstitutionen. Partizipation stellt die Ungleichheit im Generationenverhältnis in Frage – »also die Macht der älteren und Ohnmacht der jüngeren Generation« (ebd. 13). Das kulturelle Lernen lässt sich mit einer relationalen und generationentheoretischen Perspektive verknüpfen. Hier zeigt sich das Potenzial, um Partizipation im unmittelbaren pädagogischen Handeln in den Kindertageseinrichtungen zu ermöglichen. Die Wechselseitigkeit der Interaktionen, die gemeinsame Aufmerksamkeit und die Kooperation sind dafür kennzeichnend. Inhaltlich zeigt sich Partizipation durch »das Anhören« und »die Einflussnahme der Kinder« im Interaktionsprozess (ebd. S. 60). Weitergabe und Aneignung sind zentrale Aspekte kulturellen Lernens. Dieses Lernen trägt damit Züge des impliziten, expliziten, aber auch intentionalen Lernens (Liegle 2017). Dieses können Kinder sowohl mit Erwachsenen als auch mit Peers erfahren. Annedore Prengel (2016) und Ulrich Heimlich (2017) zeigen auf, dass das Spiel der Kinder eine besondere Rolle einnimmt, um Partizipation zu erleben. Angeknüpft wird dabei an die Forschung zu »Peer-Culture« (Corsaro 2015) und zur Ko-Konstruktion (Youniss 1994). Die herausgestellten Handlungsmuster sind auch im Spiel keine Selbstverständlichkeit – darauf weist die empirische Bildungsforschung hin (Heimlich in diesem Band). Um inklusive Frühpädagogik umzusetzen, bedarf es gut ausgebildeter pädagogischer Fachkräfte, die nicht nur einen sensiblen pädagogisch-praktischen Habitus ausgebildet haben, sondern auch über wissenschaftlich-reflexive Kompetenzen verfügen, um die eigenen Praktiken und Routinen, aber auch das System der Bildung und Erziehung differenziert zu durchdringen (u. a. Helsper 2001). Insgesamt gilt es dabei, auch Frühe Bildung neu einzuordnen und zu verstehen.
Die Forderung nach einem inklusiven Bildungssystem stärkt nicht nur einen menschenrechtsbasierten Ansatz in Erziehung und Bildung, sondern entspricht einem für das 21. Jahrhundert auf Vielfalt ausgerichteten Bildungssystem. Das Recht auf Bildung wurde historisch noch nie so deutlich für alle proklamiert wie in den neueren Texten der Vereinigten Nationen. Dies entfaltet eine starke Dynamik, Gesellschaften im 21. Jahrhundert auf der Basis von Vielfalt, Teilhabe und Partizipation weiterzuentwickeln. Mit der Anerkennung der Kindertageseinrichtungen als wichtige Bildungsorte zeichnet sich ein Bedeutungswandel für diese ab. Deutlich wird – mit Fokus auf die Heterogenität – aber auch, wie sich Bildsamkeit nicht nur durch die Eigenkonstruktion der Subjekte vollzieht, sondern wie pädagogische Praktiken diese nicht nur unterstützen, sondern auch zu verhindern vermögen:
»Entscheidend ist ihm [Bernfeld] zufolge die Frage: ›Wie ist das Kind?‹ Die ›großen Pädagogen‹ aber verwechseln für ihn Beobachter und Beobachtetes: ›Sie sehen nicht das Kind, wie es ist, sondern im Grund nur das Kind und sich selbst, eins aufs andere bezogen. Und wenn sie selbst von sich abstrahieren könnten, es interessierte sie gar nicht, wie das Kind an und für sich ist, sondern einzig, wie man aus ihm etwas anderes bilden könnte. Das Kind ist Mittel zum theologischen, ethischen, sozialutopischen Zweck‹ (1967, S. 36 f.)« (Bühler-Niederberger & Sünker 2006, S. 28).
Eine inklusive Pädagogik erkennt die Eigenkonstruktion der jungen Kinder an, die die Welt aus ihrer Perspektive ordnen und verstehen. Kindern dafür im pädagogischen Alltag Resonanz und Mitwirkung zu ermöglichen, d. h. an sozio-kulturelles Lernen anzuknüpfen, das wird mit inklusiver Bildung und Erziehung deutlicher als je zuvor in der Pädagogik.
Ahnert, Lieselotte & Haßelbeck, Hendrik (2014): Entwicklung und Kultur. In: Ahnert, Liselotte (Hrsg.): Theorien der Entwicklungspsychologie. Heidelberg, S. 26–59.
Anders, Yvonne (2013): Stichwort: Auswirkungen frühkindlicher, institutioneller Bildung und Betreuung. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 16, S. 237–275.
Amirpur, Donja (2020): Intersektionalität reloaded. Ableismus und Rassismus in der Frühen Kindheit. In: König, Anke & Heimlich, Ulrich (Hrsg): Inklusion in Kindertageseinrichtungen. Stuttgart.
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2018): Bildung in Deutschland 2018. Berlin.
Autorengruppe Fachkräftebarometer (2019): Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2019. Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte. München.
Baader, Meike Sophie (2018): Kinder als Akteure oder wie ist das Kind als Subjekt zu denken? Historische Kontexte, relationale Verhältnisse, pädagogische Traditionen, neue Perspektiven. In: Bloch, Bianca; Cloos, Peter; Koch, Sandra; Schulz, Marc & Smidt, Winfried (Hrsg.): Kinder und Kindheiten. Frühpädagogische Perspektiven. Weinheim, S. 22–39.
Baader, Meike Sophie (2004): Der romantische Kindheitsmythos und seine Kontinuität in der Pädagogik und in der Kindheitsforschung. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 3, S. 416–431.
Beutin, Anna; Flämig, Katja & König, Anke (2018): Hilfearrangements in integrativen Kindertageseinrichtungen. Ethnographische Annäherungen an Teilhabe von Kindern im integrativen Alltag. In: Bloch, Bianca; Cloos, Peter; Koch, Sandra; Schulz, Marc & Smidt, Winfried (Hrsg.): Kinder und Kindheiten. Frühpädagogische Perspektiven. Weinheim, S. 165–176.
Bühler-Niederberger, Doris & Sünker, Heinz (2006): Das Kind im Blick. Sozialisationsforschung, Kindheitssoziologie und die Frage nach der gesellschaftlich-generationalen Ordnung. In: Andresen, Sabine & Diehm, Isabell (Hrsg.): Kinder, Kindheit, Konstruktion. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven und sozialpädagogische Verortungen. Wiesbaden, S. 25–52
Bruner, Jerome (1997): Wie das Kind sprechen lernt. Göttingen.
Corsaro, William H. (2015): The Sociology of Childhood. London.