Eine Erzählung
aus der Zeit des frühen Christentums
Mit Zeichnungen von
Henriette Sauvant
Abschied von Athen
Auf dem Schiff «Augusta»
Geheime Fracht
Ankunft in Stabiae
Einkäufe in Pompeji
Vesuvius regiert
Der Untergang
Die tote Stadt
Der tanzende Faun
Neue Ziele
Der goldene Titus
Fahrten nach Leptis Magna und Portus Augusti
Wiedersehen in Rom
Die Rückfahrt
Im Sturm
Ein neuer Herr
Eine seltsame Begegnung
Die Rückkehr
Veränderter Dienst
Am Tag der Löwenjagd
Betrogen und geschlagen
Auf dem Sklavenmarkt in Alexandria
Ankunft in Rom
Die großen Spiele
In die Freiheit
Wiedersehen im Haus des Andarius
Letzte Löwenfahrt
Begegnung in Alexandria
Nächtliches Alexandria
Milon holt seine Gäste
Das belauschte Gespräch
Es wird gebaut
Auch ein Sklave ist ein Mensch
Heimfahrt mit Hindernissen
Leier und Reigen
Über die Stadt Athen und ihre hellen Tempel auf dem Hügel der Akropolis senkten sich die Strahlen der späten Nachmittagssonne. In ungestümem Lauf jagte ein Jüngling durch die Gassen, bis er vor dem hohen, verschlossenen Tor eines Hofes ankam. Heftig hämmerte er mit der Faust gegen die hölzernen Bretter. Auf das dumpfe Poltern regten sich drinnen schlurfende Schritte. Eine Frauenstimme fragte:
«Wer ist der ungestüme Bote? Was gibt’s?»
«Ich bin’s, Tyrios! Schließe mir auf, Agaja!»
Das Tor knarrte. Der Bursche stand vor der alten Dienerin des Herrschaftshauses, die an seiner Aufgeregtheit sichtlich Spaß hatte.
«Warum so eilig? Beinah hättest du das Tor in Stücke zerschlagen. Bei der Arbeit geht’s weniger flink!»
«Wo ist Milon? Ich muss ihn sprechen. Ich habe eine wichtige Neuigkeit. Ich weiß, wo wir hingebracht werden!»
Die alte Dienerin deutete gegen den hinteren Garten.
«Er pflückt Trauben. Sage mir, Tyrios, was hast du erfahren?»
Den Schluss der Frage hörte der Jüngling schon nicht mehr, so eilig hatte er’s, seinem Gefährten Botschaft zu bringen, mit dem er bald die Stadt für immer verlassen sollte. Er fand ihn im Reblaub beim Pflücken der ersten reifen Trauben, die er sorgsam in einen Korb legte. Milon war Altersgenosse von Tyrios und wie dieser ein junger Sklave. Wirre dunkelblonde Haare gaben ihm ein wilderes Aussehen, als seine feinen Gesichtszüge zeigten.
«Milon, wir fahren nach Rom! Das Gepäck, das ich zum Hafen von Piräus brachte, musste ich auf ein Schiff tragen, das schon morgen die Segel setzt und übers Meer zur großen Stadt der Römer fährt. Es ist ein mächtiges Schiff und scheint kostbare Ladung zu bergen. Wachtposten verwehrten mir den Zutritt zum Hinterdeck.»
Tyrios schnappte nach Luft. Der schnelle Lauf, das hastige Sprechen hatten ihm den Atem vollends genommen. Milon reichte ihm eine große Traube. Zögernd fragte er:
«Dann schlafen wir heute Nacht zum letzten Male in Athen?»
Tyrios nickte lebhaft. Fast war er enttäuscht, dass Milon nicht in seine Freude einstimmte. Für eine Weile verstummten beide. Tyrios langte nach einer neuen Traube und schlürfte gierig den Saft der Beeren in seine durstige Kehle. Milon war über die unerwarteten Neuigkeiten aus Piräus erschrocken; doch ließ er sich nichts anmerken. Wortlos hob sich sein Blick über die Gartenmauer hinweg zum Hügel der Akropolis, wo die blendenden Sonnenstrahlen die hellen Marmortempel erglänzen ließen.
«Tyrios», presste er schließlich leise hervor, «würdest du für mich den Korb hier mit Trauben füllen und ihn zu Agaja tragen? Ich muss noch einmal auf die Akropolis steigen zu den Tempeln und Abschied nehmen von Alkides und von Athen.»
«Freust du dich denn gar nicht, von unsern alten Weibern wegzukommen, für deren Launen wir von früh bis spät arbeiten müssen? Oh, Milon, bald sind wir auf einem Schiff, fahren in die große, weite Welt! In Rom sollen wir Dienst in einem vornehmen Hause antreten, hat der Händler gesagt.»
«Füllst du bitte meinen Korb, Tyrios?», wiederholte Milon unbeirrt seine Frage.
«Ja, geh nur zu deinen Tempeln und Göttern! Du hast ihnen so viele Bürden Holz zum Opferfeuer hinaufgeschleppt, dass sie es dir wohl danken könnten!»
«Tyrios, wenn ich mich heute etwas verspäte, besänftige Agaja!»
«Das will ich wie üblich besorgen; auf ihren Liebling Milon kann sie ja nicht böse werden.»
Bald darauf öffnete sich das große Tor. Der Junge schlüpfte durch und, es in den Angeln etwas aufstemmend, zog er es sachte hinter sich zu, damit das Knarren ausbliebe. Eigentlich durfte er das Haus heute nicht mehr verlassen, so hatte der Händler befohlen, der sie beide gekauft hatte. Behände durcheilte Milon Gassen und Straßen, die ihn in die Richtung der Akropolis führten. Als er den felsigen Hügel zwischen Zypressen und Olivengärten aufwärts wanderte, überglänzte ein abendlich goldfarbenes Licht die Tempel, die sich vom blauen Himmel wie eine leuchtende Stadt der Götter abhoben. Milon blieb einen Augenblick gebannt stehen. Ihm war, als sähe er die Akropolis zum ersten Mal in ihrer ganzen erhabenen Schönheit, jetzt, da er Abschied von Athen nehmen musste. In seiner Brust hämmerte das Herz vom schnellen Laufen. In das Pochen und Pulsen mischten sich Bewunderung und Abschiedsschmerz. Mit diesen Säulen und Bauten war er groß geworden. Dort drüben an der Mauer hatte er jedes Frühjahr mit einem Stein ein heimliches, nur ihm bekanntes Zeichen eingeritzt, damit er wusste, wie viel er Jahr für Jahr gewachsen war. Im Weitergehen verlangsamte er unwillkürlich seine Schritte, wie um die Zeit des Abschieds auszudehnen. Als er zum letzten Aufgang kam, der zu den großen Hallen der Propyläen hinaufführte, blickte er rückwärts auf die Stadt mit den dämmernden Gassen. In der Ferne glitzerte das Meer, das ihn morgen in unbekannte Zukunft tragen sollte. Bedächtig, beinahe feierlich erstieg er die letzten Stufen, die ihn zu den wuchtigen Säulen hinauf brachten. Milon achtete nicht auf die Menschen, die an ihm vorübergingen. Er trat zu einer Säule, die das Licht des Tages getrunken hatte, und schob beide Hände aufwärts durch ihre Rillen. Er fühlte die rückstrahlende Sonnenglut. Da presste er auch die Stirn an den warmen Stein. Er schloss die Augen, flüsterte Worte und wusste nicht was.
Plötzlich hörte er seinen Namen rufen. Erschrocken löste er sich von der Säule. Vor ihm stand eine hohe Gestalt in weißem Überwurf. Es war Alkides, der junge Priester. Milon hatte sich vor längerer Zeit mit ihm angefreundet, da er als Holzträger für die Opferfeuer dreimal die Woche hier oben diente, wie sein Herr es ihm anbefohlen hatte.
«Ist dir elend, Milon? – Du bist verspätet. Das abendliche Opfer ist vorüber. Komm mit mir, begleite mich in die Stadt zurück!»
«Ehrwürdiger Alkides, ich bin verkauft worden … Es ist das letzte Mal, dass ich zur Akropolis komme … Abschied zu nehmen. Morgen muss ich auf einem Schiff Griechenland verlassen. Ein römischer Händler … Italien!»
Erstaunt, ja ungläubig blickte der junge Priester auf Milon, fasste ihn am Arm.
«Wie ist das möglich? Was hat sich zugetragen, dass dein Herr dich so plötzlich weggeben will? Hast du seinen Zorn entfacht?»
«Nein, edler Alkides. Mein Herr ist unterwegs auf einer Reise nach Eleusis unglücklich vom Pferde gestürzt und auf der Stelle gestorben. Seine Frau, meine Herrin, verkauft nun Haus und Sklaven und zieht zu ihrem Sohne nach Olympia. Tyrios und ich sind gestern von einem Römer erworben worden.»
Milon hatte im Erzählen das Haupt gesenkt, und Alkides bemerkte, wie Verzweiflung sich über das Antlitz des Jünglings legte, der ihm so oft bei den Verrichtungen des Opfers die niedere Arbeit abgenommen hatte. Er fühlte, wie schwer ihm der Abschied von Athen fallen musste. Einen Augenblick sann er nach, dann machte er einen ungewöhnlichen Vorschlag:
«Komm, Milon, lass uns zum Tempel der Göttin gehen, um für dich den Abschiedssegen zu erflehen!»
Als sie die letzten Stufen zum Eingangstor gemeinsam erstiegen, rötete der Glanz des Abends die Säulenhallen. Stumm schritten die beiden weiter hinauf zum Parthenon-Tempel. In der Vorhalle breitete Alkides seine Arme aus und sprach für Milon ein Gebet. Danach setzten sie sich draußen auf die oberste Stufe des Tempels zu Füßen einer der riesigen Säulen. Das Bild des sinkenden Sonnenwagens lag vor ihnen.
«Erzähle», sprach Alkides, «wie kam es, dass du so weit weg ins römische Land verkauft worden bist? Fand sich hier in Athen kein neuer Herr für dich?»
«Gestern brachte der Sohn meiner Herrin einen Händler von Piräus herauf. Der kauft junge griechische Sklaven, um sie nach Rom zu bringen. Sein Schiff liegt im Hafen zur Abfahrt bereit. Er schien gute Preise zu bieten. Tyrios und ich wurden vom Fleck verkauft. Du weißt ja, edler Alkides, Sklaven werden nicht befragt, was mit ihnen zu geschehen habe. Morgen früh werden wir abgeholt. Mir selber ist bange vor den Römern. Wie ich hörte, tragen sie in ihrem Wappen als Zeichen den Wolf. Es heißt, fast alle Völker der Erde seien ihnen untertan. Alkides, du musst es wissen: Wie ist es mit den Römern? Vielleicht kannst du meine Furcht zerstreuen?»
Fragend schaute Milon auf den Priester, als ob seine Zukunft auf dessen Lippen ruhe.
«Junger Freund», begann dieser, «gerne hätte ich dir vergönnt, hier in Athen bleiben zu dürfen. Lieber ein Sklave in Athen als ein Freier in Rom! Wir Griechen sehen in den Römern unsere stolzen Besieger, denen wir Tribut zahlen müssen. Die Gunst der Götter ist von uns gewichen, da sie uns besiegten. Unsere Tempel haben sie in Rom nachgebildet und Götterbilder darin aufgestellt, die sie uns raubten. Unser Dienst an den Göttern ist bei ihnen ein äußerliches, abergläubisches Treiben geworden. Sei aber nicht bange, Milon: So die Göttin des Schicksals deinen Weg nach Rom lenkt, geh ihn getrost. Wo du auch sein wirst, die vielen Opferfeuer, die du hier an den Altären mitgefeiert hast als wackerer Holzträger, werden dir auch in Rom weiterleuchten. Die Tempel und Säulen der Akropolis bleiben in deinem Innern aufgerichtet. Wenn du einmal in schwere Bedrängnis und Trübsal gerätst, dann schließe deine Augen; lass in dir die Tempel Athens im Bilde aufleuchten. Mut und Zuversicht werden sich in dein Herz senken; denn über allem Menschlichen walten die ewigen Götter!»
Alkides hielt inne. Seine Hände tasteten in die Falten des Priesterkleides und brachten eine bronzene Schaumünze zum Vorschein mit dem Haupt der Göttin Athene.
«Hier, Milon, nimm dies als Andenken; dann trägst du immer ein Stück Athen mit dir.»
Als ob er eine große Kostbarkeit mit seiner Hand umschlösse, presste Milon das Geschenk gegen seine Brust:
«Ich danke dir, Alkides! Du machst mir den Abschied schwer und leichter zugleich. Leuchtet nicht dieselbe Sonne über Athen und Rom? Kreisen nicht dieselben Sterne über der weiten Erde?»
«So ist es», bestätigte Alkides.
«Ich sehe, du wirst nicht verzagen im fremden Lande. Lass uns jetzt gemeinsam den Weg zur Stadt hinunterschreiten und im Wandern Abschied nehmen. Es beginnt zu dunkeln. Schon glänzen die ersten Sterne. Sieh dort drüben, der Abendstern! Das Gestirn der Göttin Aphrodite steht über dem Meere, ein gutes Vorzeichen für deine Fahrt!»
Als Milon in der Abenddämmerung heimkehrte, fand er das Hoftor unverschlossen. Sachte stieß er es auf, doch Agaja, die auf das Heimkommen des Ausreißers harrte, nahm das leise Knarren wahr. Ihre aufgeregte Stimme wurde laut. Sie eilte aus dem Hause. Kaum erblickte sie Milon, stürzten ihr die Tränen in die Augen:
«Tyrios ist schon fort, nach Piräus. Der römische Händler war hier und wollte auch dich gleich mit auf das Schiff bringen.»
«Er hat uns doch auf morgen früh bestellt, warum die plötzliche Eile?», entgegnete Milon erschrocken.
Agaja fasste seine Rechte, presste sie zwischen ihre alten, abgearbeiteten Hände und redete beschwörend auf ihn ein:
«Milon, der Händler war sehr zornig, weil er dich nicht vorfand. Ich fürchte, man wird dich morgen früh auspeitschen, wenn du verspätet aufs Schiff kommst. Ich rate dir, Milon, geh nicht nach Piräus, geh nicht zu den Römern! Verlasse heimlich Athen, flieh in die Berge zu meinem Bruder, der über Delphi die Schafherden weidet. Dort sucht man dich nicht. Du kennst den Weg. Dort bist du sicher vor Häschern. Du kannst wieder Schafhirte sein, wie du es als kleiner Knabe warst. Später, wenn alles vergessen ist, kehrst du wieder nach Athen zurück als freier Mann!»
Agaja bewegte zitternd die Lippen, auch als sie nicht mehr sprach. Sie heftete ihre sorgenden Augen auf den Jüngling, sein Einverständnis erwartend. In der stummen Pause fiel Milons Blick über die Gartenmauer auf den Stern, der über dem Meere glänzte. Er hörte des Alkides Abschiedsworte:
«Das Gestirn der Aphrodite, ein gutes Vorzeichen für deine Fahrt!»
Ja, er hatte Abschied von Athen genommen. Er wollte den Weg gehen, der ihm vorgezeichnet war: mit Tyrios über das Meer nach Rom! In einer plötzlichen Regung strich er der guten Agaja über die weißen Haare, hielt ihren Kopf zwischen seinen Händen, sprach fest und bestimmt:
«Agaja, die Welt öffnet sich vor mir! Ich werde das Schiff noch heute Abend besteigen und mit der römischen Wölfin fahren. Liebe Agaja, du warst mir stets wie eine Mutter. Ich werde dich auch in fernen Ländern nicht vergessen. Geh hin und wieder hinauf zur Akropolis, bete für mich beim Parthenon!»
Nach diesen Worten löste er seine Hände von Agajas Haupt und fuhr fort:
«Damit der römische Händler nicht zu böse wird, binde ich sogleich meine kleine Habe in das Reisetuch, das du mir gegeben hast, und eile unverzüglich zu dem römischen Schiff.»
Wie auch Agaja leise für sich jammerte, sie spürte, Milon war fest entschlossen, und so half sie mit, seine geringe Habe einzupacken, der sie Früchte und Honigbrot beifügte.
Als Milon nach einer kurzen Weile das Hoftor öffnete, fiel sein langer Schatten hinaus auf die Pflasterung der Gasse. Agaja hob die Ampel gegen sein Antlitz, sich sein Bild ein letztes Mal einzuprägen, und legte ihm zärtlich eine Hand auf die Schulter. Sie hatte an ihm in ihren alten Tagen einen Sohn gefunden und ihm während sieben Jahren ihre Liebe gegeben.
«Ich werde früh morgens ans Meer hinunterkommen und deine Abfahrt segnen!», sprach sie bestimmt.
Milon wehrte es ihr nicht, und so fügte sie bei:
«Dein Schiff werde ich finden. Schaue nach mir aus; es soll dir Glück bringen!»
Es war ein weiter Weg, den Milon in der Nacht bis ans Meer zu gehen hatte. Als leichtfüßiger Läufer kam er bald auf die breite Straße, die die Stadt Athen mit dem Meere verband. Noch befanden sich im dämmrigen Dunkel Eselskarren und beladene Maultiere unterwegs, die Waren vom Meerhafen hinauf in die Stadt brachten. Hinter sich vernahm Milon plötzlich das Rattern eines größeren Gefährtes. Ein Pferdegespann, begleitet von vier fackeltragenden Läufern, fuhr einen vornehmen Wagen in Richtung Piräus. Eine günstige Gelegenheit mitzuhalten, dachte Milon, und er eilte kurz hinter dem Wagen her. So kam er viel rascher vorwärts, weil er immerzu dem Schimmer der Fackeln folgen konnte. Milon fühlte sich glücklich im leichten Laufen, da er ohne besondere Anstrengung mit den geübten Fackelträgern Schritt zu halten vermochte. Ihm war plötzlich, die Lichter gäben ihm selbst das Geleit, und wiederum sah er vorne den Abendstern über dem Meere glänzen, dem er entgegeneilte. Athen im Rücken und im Feuerlauf in ein neues Leben! – Das Traben der Pferde über die Pflasterung fuhr ihm in die Glieder und berauschte ihn. Jubel durchzog seine schnell atmende Brust. Immer wieder musste er von Zeit zu Zeit einen Sprung hochauf in die Luft nehmen. Vergessen war sein Sklavensein, das ihn bis jetzt noch kaum bedrückt hatte unter der Obhut der guten Agaja. Vergessen, dass Rom die Wölfin im Wappen führte. Vor ihm unbekannte, ferne Ufer, in sich den Mut, sich in die Welt zu wagen.
Der Hafen von Piräus war noch nicht zur Ruhe gekommen, als Milon, sein römisches Schiff suchend, am dunklen Gestade umherirrte. Schiffsleute kehrten aus Weinstuben zurück auf ihre Schiffe. Zwei Betrunkene torkelten fluchend durch die Finsternis, weil sie ihr Boot nicht fanden. Vorbeihuschende Fackeln erhellten für Augenblicke einzelne Gesichter. Wo sollte Milon, der nicht einmal den Namen des gesuchten Schiffes kannte, es jetzt in der Nacht finden? Als wiederum ein Fackelträger ihm entgegenkam, redete er ihn an:
«Kannst du mir sagen, wo ich das römische Schiff finde, das morgen nach Rom ausfährt?»
Der Angesprochene, ein älterer Seemann, antwortete:
«Die Römerschiffe fahren zumeist im vorderen Hafen ab, da sie größer sind als die Fischerboote, die hier im hinteren Hafen anlegen. Geh nach vorne!»
So begab sich Milon weiter meerwärts; doch war nur langsames Gehen möglich, da man auf Schritt und Tritt über Steine, Pflöcke und Taue stolperte. Von hinten nahte eine Gruppe Männer mit Fackeln.
Denen schließe ich mich an, dachte Milon.
Er ließ die Schar Seeleute an sich vorüberziehen. Ihm fiel auf, wie stumm diese meist jungen Leute daherkamen, eine Schar von Sklaven, mit Gepäck, wohl an die dreißig. Plötzlich gewahrte er in ihrer Mitte seinen Freund Tyrios, den er längst auf dem römischen Schiff wähnte. Im Augenblick war er neben ihm her und flüsterte: «Tyrios, ich bin da!»
Der Angesprochene wendete rasch den Kopf. Ein Freudenschimmer überflog sein Antlitz. Mit gedämpfter Stimme antwortete er:
«Milon, den Göttern sei Dank, dass du gekommen bist! Halte dich dicht bei mir. Der Händler kommt mit den Aufsehern kurz hinter uns nach. Er ist schlecht gelaunt, weil du und zwei andere nicht zu Hause vorgefunden wurden. Nun muss er morgen früh nach den Vermissten aussenden. Vorher kann das Schiff nicht ausfahren. Den Kaufpreis hat er für alle schon bezahlt.»
«So laufe ich jetzt mit dir und schleiche mich ein mit euch allen.»
«Das geht nicht», versetzte Tyrios, «unsere Namen sind auf einer Wachstafel aufgeschrieben worden. Sobald wir zum Schiff kommen, melde dich beim Händler an. Wir mussten lange warten in der Stadt beim Marktplatz, bis alle zusammengebracht waren. Nun bist du uns gar zuvorgekommen. Pass auf! Wir nähern uns dem Schiff. Die vordersten Fackelträger sind stehen geblieben.»
Ein breit ausladendes Segelschiff ragte aus dem Dunkel empor, vom Fackelschein dürftig beleuchtet. Rufe erschollen, eine Leiter wurde herabgelassen. Die Sklavenschar erstieg auf angelegten schiefen Balken den Schiffsbauch, indes vorn ein Aufseher einen jeden nach der Wachstafel verzeichnete.
«Jetzt ist der Augenblick», sagte Tyrios zu Milon, «dass du dich hinten beim Händler und Schiffsherrn anmeldest. Ich komme mit dir.»
Die beiden begaben sich unauffällig an das hintere Ende der Sklavenschar. Tyrios trat mit Milon zu dem römisch gekleideten Kaufmann und grüßte ergeben.
«Edler Herr», redete er ihn an, «hier ist mein Gefährte aus dem Hause des Midias, der eben auf einem Botengang unterwegs war, als du uns beide abholen wolltest. Nun ist er in aller Eile zum Hafen gekommen und bittet um Verzeihung für die ungewollte Säumnis.»
Nach Sklavenart warf sich jetzt Milon vor seinem neuen Gebieter nieder. Vor Erstaunen über die Höflichkeit und Wortgewandtheit des Tyrios blieb dem Händler der Mund offen. Er vergaß, seine Lederpeitsche zu ziehen, die ihm im Gürtel steckte, und meinte schließlich:
«Und wo sind die zwei anderen?»
Prompt erwiderte Tyrios:
«Darüber ist mir nichts bekannt.»
«Verdammte Kerle!», zischte der Händler. «Dieser da lasse sich auf der Wachstafel eintragen!»
Mit einer winkenden Gebärde des Händlers waren sie entlassen. Erleichtert begaben sich beide zum Einstieg, um sich den letzten Sklaven anzuschließen.
Vom Verdeck des Schiffes mussten sie sich alsbald über eine Art von Treppe in das Schiffsinnere hinablassen, wo ein nackter Holzboden und gähnende Finsternis die Sklaven zur Nachtruhe erwartete. Das mitgebrachte Kleiderbündel diente als Kopfkissen. Beim Aufsuchen eines freien Platzes hielten sich Milon und Tyrios bei der Hand, um einander nicht zu verlieren. Bei jedem zweiten Schritt stießen sie an Menschenkörper. Da und dort setzte es einen Fausthieb und einen Fluch, wenn ein Nachtwandler einem Liegenden auf den Magen trat. Endlich hatten alle sich in die Kreuz und Quere gelagert. Das Reden und Fluchen verstummte. Erste Schnarcher gaben ihre Geräusche von sich. Der Geruch von Schweiß und Pech durchdrang stickend die Luft. Milon flüsterte Tyrios zu:
«Unsere Reise beginnt in der Unterwelt; fehlt nur der Höllenhund Kerberos mit den drei Köpfen und dem Schlangenschwanz!»
Die ungewohnte, missliche Lage vermochte nicht, den beiden Jünglingen den Humor zu nehmen. Milon nestelte aus seinem Bündel zwei Honigbrote, die Agaja ihm eingepackt hatte, und reichte eines seinem Gefährten:
«Hier, nimm etwas Götterspeise, so weißt du auch, dass der Hades uns noch nicht verschlungen hat!»
Nach einer Weile flüsterte Tyrios:
«Milon, hast du die Buchstaben lesen können, die auf das Schiff geschrieben sind? Du hast doch bei Alkides die griechischen und die römischen Zeichen gelernt.»
«Ja, ich sah sie wohl, aber ich weiß nicht, was der Name bedeutet. Das Schiff heißt ‹Augusta›. Vielleicht ist es der Name einer römischen Göttin. Vielleicht führt sie uns vom Hades ins Elysium, in die Welt der Seligen.»
Eintönig plätscherten die Wellen ans Schiff; bald breitete sich Schlaf über die müden Sklavenaugen.
Am frühen Morgen herrschte in Piräus ein reges Treiben. Mit der ersten Morgendämmerung war von der «Augusta» ein Aufseher mit zwei Gehilfen an Land gegangen, um oben in Athen die vermissten Sklaven abzuholen. Als sie mit ihnen zurückkehrten, stand die Sonne schon hoch am Horizont. Eine günstige Brise wehte, sodass sich die aufgezogenen Vorsegel meerwärts blähten. An eine Kette gefesselt erstiegen die beiden Verspäteten die Schiffsleiter. Oben wurden sie mit Peitschenhieben empfangen. Der Schiffsherr schnaubte vor Wut und gebot, dass die Geprügelten für die ganze Dauer der Meerfahrt unten im dunklen Schiffsraum angebunden würden. Milon erschauerte bei dem Gedanken, dass er jetzt der Dritte an der Kette sein könnte. Voll Mitleid sah er die Unglücklichen auf einer Leiter ins Dunkle hinuntersteigen.
Wie immer, wenn ein größeres Schiff ausfahren will, versammelte sich eine Menge von Neugierigen in der Schiffsnähe. Rufe ertönten, letzte Kommandos zum Lösen der Taue wurden erteilt. Als das Schiff schon ablegte, eilte ein altes Weib herbei, schwarz gekleidet und hager. Sie goss beim Schiff aus einem kleinen Tongefäß etwas Öl ins Wasser und murmelte Worte in einer halb singenden Weise. Dazu schlug sie beschwörende Zeichen vor sich in die Luft und über das Wasser. Sie flehte zu den Göttern des Windes für gutes Geleit. Das geweihte Öl, das sie ins Wasser goss, sollte den Meergott Poseidon gnädig stimmen, dass er sturmfreie Fahrt gewähre. Dann trat die Alte einige Schritte vom Ufer zurück, beschattete mit der Hand die Augen vor den hellen Morgenstrahlen und rief mit kreischender Stimme zum Römerschiff hinauf:
«Milon! Milon!»
Da löste sich oben aus dem Schiffsvolk die Gestalt eines Jünglings, der behände am hinteren Mast mannshoch emporkletterte und mit einem hellen Tuch winkte, indem er es über seinem Kopf im Halbkreis hin und her flattern ließ.
Das letzte Segel ward aufgezogen, der Anker gelichtet, und sachte glitt die «Augusta» hinaus, dem offenen Meere zu. Die Alte schluchzte einen Augenblick auf, lief einige Schritte dem Schiffe nach, der Ufermauer entlang und flüsterte:
«Armer Milon, wo werden sie dich hinbringen? Deine Agaja wird dich nie mehr sehen.»
Das weiße Tuch erlosch auf dem Schiff. Da sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, setzte sich die Trauernde auf ein Gewirr von Schiffstauen nieder und jammerte still in sich hinein. Jedes Mal, wenn sie das Haupt erhob und auf das Meer schaute, war die «Augusta» ferner und kleiner geworden. Ein Fischerweib, das eben mit einem ledernen Beutel voller Fische vorüberging, die sie in Athen verkaufen wollte, erkannte in der Alten eine ihrer Kundinnen. Sie trat zu ihr:
«Agaja, was tust du hier im Piräus und weinst? Wollen deine Füße dich nicht mehr heimtragen? Komm, Agaja, ich geleite dich. Wir haben denselben Weg.»
Etwas beschämt, dass eine Bekannte sie hier in ihrer Erbärmlichkeit erkannte, erhob sich die Alte. Die Anteilnahme des Fischerweibes an ihrem Schmerz besänftigte sie, und sie erklärte:
«Ich habe unsere Knaben Milon und Tyrios zum Schiff gebracht. Sieben Jahre habe ich Milon auferzogen wie mein eigen Kind. Nun hat ihn unsere Herrin nach Rom verkauft. Dort fährt er auf dem Schiff dahin. Ich selber bin als Dienerin bei meinem verstorbenen Herrn alt geworden und kehre wieder zurück nach Delphi, woher ich stamme, zu meinem Bruder.»
Während sie sich auf den Weg machten, fuhr Agaja fort:
«Gerne geh ich mit dir zusammen nach Athen zurück. Lass mich zuvor in meinem kleinen Ölgefäß etwas von dem Wasser des Meeres mitnehmen, auf dem Milon jetzt seine weite Reise tut. Ich werde es täglich mit betenden Händen umschlingen.»
Mit diesen Worten begab sie sich wenige Schritte ans Ufer hin, tauchte das Gefäß ein und schob es wie ein kostbares Andenken unter ihren Arm. So wanderte Agaja mit dem Fischweib Richtung Athen. Von Zeit zu Zeit hielt sie an, um auf dem Meere das immer ferner schimmernde Segelschiff zu erspähen, bis es sich im letzten Glitzern der Wellen auflöste.
Tagelang war die «Augusta» unterwegs und segelte mit guten Winden um die Küsten des Peloponnes. Milon und Tyrios wurden mit einigen anderen Sklaven angelernt, an Masten und Tauen hochzuklettern, um die Segel bei wechselnden Winden anders zu legen oder einzuziehen. Dadurch bekamen sie auch Zutritt zum ständig bewachten Hinterdeck, wo die großen, rätselhaften Ballen, mit Tüchern und Stricken zusammengebunden, lagen. Niemand wollte wissen, was sie verhüllten. Verschiedene Vermutungen wurden geäußert. In einem war man sich einig, dass es kostbares Raubgut der Römer war, das sie aus Griechenland entführten. Waren es doch kaiserliche Soldaten, die sowohl am Tage wie in der Nacht Wache hielten.
Eines Abends, als Tyrios und Milon auf ihren Holzpritschen lagen im Innern des Schiffes, flüsterte Tyrios seinem Freund zu: «Die Nacht ist vom Mond erhellt, da ist’s mir nicht ums Schlafen. Wollen wir versuchen, auf das Hinterdeck zu schleichen, um zu erforschen, was sich in den Ballen für geheime Fracht befindet? Ich bin mehr als neugierig, was in diesen Tüchern und Fellen verhüllt mit uns übers Meer fährt.»
«Wir könnten durch die hintere Luke hinaufsteigen, die der Steuermann benutzt», schlug Milon vor. «Er sitzt aber auch zur Nachtzeit, wenn nicht alle Segel eingezogen sind, am Steuer. Er könnte uns bemerken beim Aussteigen.»
Tyrios erwiderte:
«Einer von uns müsste zuerst nur den Kopf zur Luke hinausschieben, um den Steuermann eine Weile zu beobachten. Er geht doch auch am Tage, bei Windstille, öfters hin und her und sitzt gern weiter vorn beim Wächter. Komm, Milon, wir wollen eine erste Erkundung unternehmen. Meine Haare sind dunkel. Ich strecke meinen Kopf ohne viel Gefahr, gesehen zu werden, zur Luke hinauf.»
Tyrios kroch von seiner Lagerstatt in den hinteren Schiffsraum, Milon ihm nach. Da es im Schiff alleweil irgendwo knackte und ächzte im Holzwerk, achtete niemand darauf, wenn die beiden gelegentlich im Vorwärtstasten an ein Brett oder an einen Pfosten stießen. Ein schwacher Schimmer verriet die Luke des Steuermanns. Tyrios stemmte sich aufwärts. Milon gewahrte, wie er sich plötzlich hinaufschwang. Nach einer kurzen Weile streckte Tyrios den Kopf durch die Öffnung hinab und flüsterte: «Komm nach! Der Steuermann ist weiter vorn beim Wächter!»
Als sich nun auch Milon hinaufschwang und in der kühlen, frischen Nachtluft auf Deck kauerte, überzeugte er sich ebenfalls, dass der Wächter und der Steuermann weiter vorn auf den Planken saßen und plauderten. So schien keine Gefahr zu bestehen, die geheimen Schätze anzuschleichen und zu erforschen. Die beiden drängten sich zwischen die mächtigen Ballen. Sie begannen, die Knoten der festverschnürten Stricke zu lösen, die grobes Gewebe und Lederhäute um die verborgenen Gegenstände zusammenhielten. Zwischendurch vergewisserte sich Tyrios, ob von Steuermann und Wächter keine Störung ihres Unternehmens zu befürchten sei. Milon hatte einen länglichen Ballen von mäßiger Größe erwählt, und den knüpften sie nun auf. Als von einem rundlichen Vorsprung die letzte Hülle sich löste, wäre ihnen beinahe ein leiser Aufschrei entfahren. Beim Glanz des Mondes erblickten sie das ernste, weiße Antlitz einer Marmorstatue, einer göttlichen Frau.
«Aphrodite», flüsterte Milon, «in schmutzige Tücher gehüllt, geraubt und entführt von den Römern!»
Die mondumschimmerte Schönheit des Antlitzes ergriff all seine Gefühle. Selbstvergessen umschlang er ehrfürchtig den kalten Stein. In seiner Erinnerung sah er Aphrodite, die Göttin der Schönheit, in einem kleinen Tempel Athens, von Säulen umgeben, Blumen zu ihren Füßen. Mitleid, Schmerz und Zorn stiegen in ihm auf, das Bild der Gottheit so frevelhaft erniedrigt zu sehen.
Indes hatte Tyrios bei einem andern Ballen die eine Hand unter die Hüllen schieben können und meldete:
«Auch hier, ein Kopf, ein Arm. Ich glaube, das Schiff ist voll geraubter Götter. Ich habe gehört, der römische Kaiser liebe es, in den Gärten seiner Villen und Paläste Götterfiguren aufzustellen.»
Stumm betrachteten die beiden eine Weile das marmorschimmernde Bildnis der Göttin, das Milon nun völlig von den Tüchern befreit hatte. Antlitz und Blick richtete die liegende Figur starr aufwärts zu den nächtlichen Gestirnen und dem hellen Mond.
«Aphrodite muss in Griechenland bleiben», sprach plötzlich Milon in das leise Rauschen der Wellen. «Was glaubst du, Tyrios, sind wir beide stark genug, sie unbemerkt über Bord ins Meer zu werfen, hier vor der Küste Griechenlands? Kein Römer soll ihre Gestalt mit höhnischem Blick entweihen!»
«Ich bin dabei!», flüsterte Tyrios, «doch wenn man uns entdeckt, wird es uns schlimm ergehen! Lass mich vorerst nach Wächter und Steuermann Ausschau halten!»
Behende wie eine Katze kroch Tyrios zwischen den verhüllten Figuren hindurch und kam bald mit dem Bescheid zurück:
«Die beiden liegen auf Schaffellen und reichen sich wechselweise den Weinkrug, lachen, grunzen und reden dummes Zeug. Sie sind vollauf beschäftigt. Wir können’s wagen.»
Das Standbild hatte nicht ganz die Größe eines natürlichen Menschen, und da die beiden Burschen sehr kräftig waren, gelang es ihnen ohne viel Mühe, es aufzurichten, wobei die untergeschobenen Tücher verhinderten, dass es auf dem Schiffsboden ein Geräusch gab. Einen Teil der schmutzigen Hüllen warf Tyrios vorab über Bord. Für ihn war das ein willkommener Streich. Für Milon jedoch schimmerte um das Götterbild etwas von erlebter Opferheiligkeit, und ihm war, als ob er für Griechenland und seine Götter eine gute und wichtige Tat verrichte: Aphrodite dem Meer und den Küsten des Peloponnes zu übergeben. Er entsann sich, wie Alkides ihm von der Göttin der Schönheit erzählt hatte, wie sie aus den Schaumfluten des Meeres aufgetaucht sei und Griechenlands Künstler zu schönen Werken inspiriert hätte.
«Aus griechischen Fluten stammst du, in griechische Fluten kehre zurück!», flüsterte Milon bei sich selbst.
Wie die Marmorgöttin nun leicht mit dem Schiffe schwankend in ihrer weißen Schönheit im Mondlichte stand, war er nahe daran, vor dem Bild in Anbetung niederzusinken; doch er fürchtete den Spott des Tyrios. Kräftig umschlossen jetzt die Jünglingsarme die Statue. Vorsichtig, halb schiebend, halb drehend, jedes Geräusch durch die Tücher dämpfend, brachten sie sie an den Schiffsrand heran. Sachte kippten sie die Figur über die Brüstung. Einen Augenblick lag sie in der Waage; dann stürzte sie abwärts in die nächtlichen Fluten. Beim Gleitsturz über den Schiffsrand schlug der Marmorsockel, auf dem die Göttin stand, aufs Holz. Ein lautes Poltern fuhr durch das Schiff zum Entsetzen der beiden Burschen. Wächter und Steuermann sprangen auf. Sie eilten zum Hinterdeck, von wo der Lärm gekommen war. Noch eben konnte Tyrios Milon niederreißen und mit ihm ins Dunkle zwischen die anderen Ballen kriechen. Das mitgezogene Tuch breitete er blitzschnell über sich und seinen Freund. Da standen auch schon Wächter und Steuermann ihnen so nah, dass sie ihre Füße hätten berühren können. Aufgeregt meinte der Wächter:
«Was mag dieser Lärm gewesen sein? Es dröhnte, als ob ein Mast bräche, und geht doch kein Wind.»
Der Steuermann antwortete:
«Kein Mensch hat diesen Lärm verursachen können. Ist wohl eine der Steinfiguren zur Seite gekippt? Aber dann müsste der Wellengang doch viel stärker sein und da liegen sie alle wie … – beim Orkus? Was ist hier? Ein leerer Platz! Lag da nicht heute Abend noch eine der Statuen? – Beim Orkus, hier spukt’s, die ist weg! Ich will ein Licht holen und die Sache näher untersuchen.»
Mit abergläubischem Schreck fiel der Wächter ein:
«Ich gehe mit dir ein Licht holen, hier hat sich was Unheimliches ereignet!»
Also eilten die beiden nach vorn, um dort unter Deck, wo stets zwei Ampeln brannten, Licht zu holen. Diesen Augenblick benutzten Tyrios und Milon, um in der Steuermannsluke zu verschwinden, wobei sie nicht vergaßen, den Rest der Tücher über Bord zu werfen, um alle Spuren ihrer Tat zu verwischen.
Als sie unten in Sicherheit lagen, schlugen ihre Herzen bis zum Hals. Tyrios war von unbändiger Freude über das gelungene verwegene Abenteuer erfüllt, sodass er vor Übermut seinem Freund noch einige Rippenstöße mit Faust und Ellenbogen versetzte. Milon war, als sich seine Aufregung langsam beruhigte, von tiefem Glück durchdrungen, die Göttin der Schönheit für Griechenland gerettet zu haben.
Droben auf dem Hinterdeck irrten noch eine Weile zwei Gestalten mit einem schwankenden Licht umher, leuchteten jeden Winkel aus und hielten wiederum am leeren Platze der entflohenen Göttin an. Scheu umherblickend meinte der Wächter:
«Sie ist weg und bleibt weg! Ich glaube, hier lag Aphrodite, die als besonders kostbar bezeichnet wurde. Mir ahnt nichts Gutes für unsere Überfahrt. Mit Korn und Öl, mit Wein und Hölzern bin ich oftmals übers Meer gefahren, doch nie mit Götterbildern. Mir bangt um unsere Ankunft in Italien.»
Der Steuermann fügte bei:
«Beim Orkus und dem Höllenhund Cerberus, das ist nicht mit natürlichen Dingen zugegangen. Wer weiß, ob uns nicht jede Nacht so einer aus den Tüchern auf und davon geht! Mir ist schon bange für morgen Abend. Lass uns wieder nach vorne gehen; das Steuer ist befestigt und bedarf keiner Wartung. Komm, lass die Ampel brennen. Ich fülle einen frischen Krug mit Wein.»
«Einverstanden», meinte der Wächter; «aber das versprich mir, dass von dieser Sache niemand etwas erfährt. Ich meine, eine Göttin mehr oder weniger, darauf kommt’s nicht an, und es wird wohl keiner merken, wenn’s bei dieser einen bleibt. Hilf mir, jene hölzerne Bank von da drüben hierher zu stellen auf den leer gewordenen Platz. So wird auch dem Schiffspatron die Flucht Aphrodites verborgen bleiben. Wenn man in Rom die Tücher abnimmt: wir wissen von nichts!»
Dabei blieb es. Wo Aphrodite geruht hatte, wurde eine roh gezimmerte Bank hingestellt. Abgetakelte Segeltücher fanden darauf Platz, die zuzeiten wieder gehisst wurden, wenn es lauere Winde gab, und niemand bemerkte die Flucht der Göttin.