Beiträge zur Frühförderung interdisziplinär – Band 9
Inés Brock
Geschwister verstehen
Professionelle Begleitung von Kindern und Erwachsenen
Mit 9 Tabellen
Ernst Reinhardt Verlag München
Dr. Inés Brock, Halle/Saale, Erziehungswissenschaftlerin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, ist freiberuflich als Dozentin, Supervisorin, Familientherapeutin, Beraterin und Psychotherapeutin tätig.
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ISBN 978-3-497-02946-4 (Print)
ISBN 978-3-497-61324-3 (PDF-E-Book)
ISBN 978-3-497-61325-0 (EPUB)
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Inhalt
Einführung Geschwisterschaft
1Geschwister im Lebensverlauf
1.1Geschwister rund um die Geburt
1.2Geschwister in der Kindheit
1.3Geschwister in Pubertät und Adoleszenz
1.4Erwachsene Geschwister
2Geschwister als Förderer
2.1Geschwister und Lernen
2.2Geschwister und Gesundheit
2.3Geschwister und Konflikte lösen
2.4Geschwister und emotionale Entwicklung
3Geschwister – Geschlecht und Gender
3.1Schwestern
3.2Brüder
3.3Schwester und Bruder
3.4Homosexuelle Geschwister
4Geschwister und Geburtsrangfolge
4.1Erstgeborene
4.2Mittelkinder
4.3Letztgeborene
4.4Mehrkindfamilien
5Formen von Geschwisterschaft
5.1Stiefgeschwister
5.2Halbgeschwister
5.3Adoptivgeschwister
5.4Pflegekinder und Geschwister
6Geschwister als Zwillinge
6.1Eineiige Zwillinge
6.2Zweieiige Zwillinge
6.3Mehrlinge
6.4Zwillingsverlust
7Geschwister mit besonderen Bedürfnissen
7.1Behinderte Geschwister
7.2Chronisch erkrankte Geschwister
7.3Geschwister und seelische Erkrankung
7.4Geschwister verstorbener Kinder
8Geschwister und Grenzverletzungen
8.1Lieblings- und Schattenkinder
8.2Destruktive Geschwisterrivalität
8.3Gewalt unter Geschwistern
8.4Mobbing und Inzest
9Eltern von Geschwistern
9.1Mütter
9.2Väter
9.3Kinderreiche Eltern
9.4Trennung und Scheidung der Eltern
10Geschwister in Institutionen
10.1Geschwister in der Kindertagesstätte
10.2Geschwister in der Schule
10.3Geschwister in der Jugendhilfe und im Familiengericht
10.4Geschwister in der Fremdunterbringung
11Kinder ohne Geschwister – Exkurs Einzelkinder
Literatur
Sachregister
Einführung Geschwisterschaft
„eltern und kinder leben nur
ein halbes leben miteinander,
geschwister ein ganzes […]
niemand weisz folglich bessern
bescheid zu geben als vom bruder
der bruder […]“ (Jacob Grimm, Rede auf Wilhelm Grimm, 1860)
Unsere längste nahe verwandtschaftliche Beziehung ist die zu unseren Brüdern und Schwestern. Das Interesse an dieser engen Bindung, die oft mit widersprüchlichen Gefühlen verknüpft ist, stieg in der Öffentlichkeit und auch in der Wissenschaft in den letzten Jahren an. Sei es die Beschäftigung mit uns selbst in biografischer Reflexion, aber auch im sozialen Umfeld und in pädagogischen und psychologischen Praxisfeldern wächst die Aufmerksamkeit zur Bedeutung von Geschwistern. Das Leben in Familien entwickelt sich vielfältiger und Elternbeziehungen verändern sich. Dadurch werden auch die Beziehungen unter den Geschwistern beeinflusst. Mütter und Väter gestalten ihr Leben mit neuen Optionen, insbesondere Väter sind heute stärker in den Familienalltag involviert. Es werden in den letzten Jahren auch mehr Kinder geboren; so stieg die Rate inzwischen deutschlandweit auf 1,6 pro Frau. Familien entscheiden sich häufiger für ein drittes Kind. Auch planen die Eltern die Geburten bewusster und bereiten die älteren Geschwister auf die neuen Herausforderungen vor. Familienformen haben sich ebenfalls verändert; es gibt mehr Halb- und Stiefgeschwister.
Ein längeres Leben, flexible gesellschaftliche Bedingungen und die gleichberechtigte Wertschätzung von Jungen und Mädchen geben zudem den Beziehungen zu Schwestern und Brüdern einen wechselhaften Verlauf.
In dem vorliegenden Buch folgen die 11 Kapitel jeweils einem Themenblock, der sich an Lebenswirklichkeiten und Umgebungsfaktoren orientiert.
Geschwister im Lebensverlauf beginnt mit der Betrachtung der Zeit um die Geburt nachfolgender Geschwister. Die Älteren werden vorbereitet und einbezogen, Eltern beachten dabei die Bedürfnisse ihrer Kinder. In der Kindheit sind Geschwister enge Vertraute und Unterstützer aber auch Rivalen, die um Anerkennung ringen und sich voneinander zu unterscheiden versuchen. Eine große Intimität entsteht, sie verbringen miteinander mehr Zeit als mit den Eltern. In der Pubertät wandeln sich die Interessen und die Gleichaltrigen und Freunde gewinnen an Bedeutung. Dennoch werden mehr emotionale Geheimnisse miteinander geteilt. Gemischte Gefühle entstehen, wenn die ersten Geschwister ausziehen, um ein eigenes Leben zu führen. Trotz der Ablösung voneinander kann man sich nicht wirklich von seinen Geschwistern trennen. Sie bleiben im Inneren präsent und rücken näher, wenn sie Tanten und Onkel der eigenen Kinder werden. Später verbindet die gemeinsame Sorge und Pflege der Eltern, und wenn diese gestorben sind, gewähren Geschwister die engsten biografischen Verknüpfungen. Es entsteht häufig eine neue Verbundenheit.
Geschwister als Förderer sind häufig noch wenig betrachtet worden. Geschwister fördern die Sprachentwicklung und lernen voneinander durch Nachahmung und kooperatives Spiel. Sie können helfen, wenn Eltern überfordert sind und profitieren insbesondere auch in der körperlichen Entwicklung voneinander. Selbst die Gesundheit wird durch das Aufwachsen mit Geschwistern gefördert. Das betrifft die Immunabwehr ebenso wie die seelische Gesundheit. Sie lernen Konflikte alleine zu lösen, erwerben Frustrationstoleranz und entdecken sich selbst im Wettbewerb mit ihren Geschwistern. Die emotionale Entwicklung wird gefördert durch alltägliches Mitfühlen und durch die Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen. Dies alles sind Fähigkeiten, die im Zusammenleben von Menschen nützlich sind.
Das Kapitel Geschwister - Geschlecht und Gender beschäftigt sich mit dem Einfluss des Geschlechts auf die Geschwisterbeziehung. Schwestern untereinander entwickeln eine völlig andere Dynamik als Brüder. Die Identifikation mit demselben Geschlecht geschieht nicht nur über Vater und Mutter, sondern auch durch die gleichgeschlechtlichen Geschwister. Mädchen und Jungen entwickeln sich oft sehr unterschiedlich – in der Geschwindigkeit und in Talenten, Interessen und Persönlichkeitsmerkmalen. Deshalb sind auch gemischtgeschlechtliche Geschwisterpaare interessant, weil die Nähe und Vertrautheit und die Intimität spezifische Impulse geben für den Umgang und das Verständnis der „Anderen“. Wenn die Geschlechtspartnerorientierung einsetzt, können sich Brüder und Schwestern unterstützen und dies greift auch, wenn ein Kind sich homosexuell entwickelt. Für die Geschwister kann dies leichter zu verstehen sein als für die Eltern oder den Freundeskreis. So kann es eine Ressource in der Familie geben, die in der Identitätsdiffusion der Pubertät Orientierung gibt.
Das alte Thema der Geschwisterforschung Geschwister und Geburtsrangfolge wird differenziert betrachtet. Vor dem Hintergrund, dass sich die Literatur über viele Jahre ausschließlich der Geschwisterkonstellation gewidmet hat und dies dann in der wissenschaftlichen Community sehr kontrovers diskutiert wurde, werden hier einerseits die überzufällig häufigen Charaktermerkmale von Erstgeborenen, Mittelkindern und Letztgeborenen zusammengefasst. Andererseits können psychologische Zusammenhänge aufgezeigt werden, die den Geburtsrangplatz als einen wichtigen Anteil des Selbstbildes beschreiben. Auch die Spezifika von Kindern in Mehrkindfamilien, in denen sich größere Geschwistergruppen organisieren müssen, werden besprochen.
Unterschiedliche Formen von Geschwisterschaft rücken vor allem dann in den Fokus, wenn Familien zerbrechen, Patchworkfamilien gegründet werden oder die Kinder in andere Familien aufgenommen werden. Die vielfältigen Anforderungen an Mütter, Väter und Kinder in solchen Familienkonstellationen beschäftigen nicht nur die Eltern, sondern häufig sind auch Fachkräfte der Jugendhilfe und andere Unterstützungssysteme damit befasst. Stiefgeschwister, die nicht leiblich miteinander verwandt sind, können sich als Bereicherung wahrnehmen, aber öfter kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen und Konkurrenzen. Halbgeschwister sind durch ein Elternteil miteinander verbunden und wachsen oft wie leibliche Geschwister auf. Manchmal kennen sie einander aber auch gar nicht und entdecken sich erst viel später im Leben. Bei Adoptivgeschwistern gibt es zusätzlich zur nicht leiblichen Verwandtschaft die Sehnsucht nach dem Wissen um die eigene Herkunft, und dazu gehören nicht nur die Eltern, sondern auch mögliche leibliche Geschwister. Wenn Kinder in eine Pflegefamilie aufgenommen werden, kann es da bereits leibliche Kinder geben, was zu Rivalitäten bzgl. des Platzes in der Familie führt. Außerdem wirkt sich aus, ob Geschwister zusammen in eine Pflegfamilie kommen oder durch die Inobhutnahme getrennt werden.
Eine ganz besondere Form von Geschwisterschaft ist das Leben und Aufwachsen als Zwillinge. In diesem Abschnitt werden zunächst die Spezifika dieser Geschwisterkonstellation beleuchtet; dann wird auf Unterschiede von ein- und zweieiigen Zwillingen eingegangen. Trotz der dürftigen Forschungslage zu höheren Mehrlingen wird auch das Thema Drillinge betrachtet. Auch der Verlust eines Zwillings kann für Kinder und Eltern eine prägende Erfahrung sein.
Es gibt auch Geschwister mit besonderen Bedürfnissen. Dazu gehören Kinder mit Behinderung, chronischen Erkrankungen oder lebenszeitverkürzenden schweren Krankheiten. Sowohl für diese Kinder in der Familie als auch für ihre nichtbehinderten und gesunden Geschwister entstehen besondere Schwierigkeiten im Aufwachsen und auch im Lebensverlauf. Spannend ist es auch, die Einflüsse der Geschwister auf seelische Erkrankungen und deren psychotherapeutische Behandlung in den Blick zu nehmen. Eine schwere Hypothek für die Biografie ist zudem der Tod eines Bruders oder einer Schwester. Dabei kommt es auf den Zeitpunkt, die Umstände, die Situation der Familie und die Fähigkeit der Eltern an, ihre anderen Kinder nicht aus dem Blick zu verlieren.
Nicht immer stehen bei Geschwistern die Liebe und Nähe, die Bereicherung und Förderung im Vordergrund. Es gibt auch Geschwister und Grenzverletzungen, die sowohl von den Eltern ausgehen können wie bei den Lieblings- und Schattenkindern als auch unter den Kindern selbst zu gefährdendem Verhalten führen können. Eine destruktive Rivalität kann das gesunde Aufwachsen behindern. Dramatischer sind zudem körperliche Gewalt und systematisches Mobbing einzelner Kinder. Zwischen inzestuösen Annäherungen und sexuellem Geschwistermissbrauch gibt es fließende Übergänge, die oft schwer zu identifizieren sind.
Eltern von Geschwistern wird sich im Buch ebenfalls gewidmet. Denn Mütter sind mit anderen Anforderungen konfrontiert als Väter; sie verhalten sich gegenüber ihren Kindern anders als die Väter. Mädchen und Jungen nähern und entfernen sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten und mit verschiedenen Motivationen von ihren Eltern. Sie adressieren unterschiedliche Anliegen an Mutter oder Vater. Diesen familiendynamischen Wechselbewegungen wird hier nachgespürt. Eltern in kinderreichen Familien, die sich für eine große Familie entschieden haben, sind oft sehr zufrieden mit ihrer Partnerschaft, stehen aber auch vor besonderen Herausforderungen in der Organisation des Alltags. Wenn es zu Trennung oder Scheidung kommt, ist das für die gesamte Familie eine schwierige Lebenssituation. Dennoch stehen die Eltern in der Verantwortung, die Kinder und ihre Geschwister zu unterstützen.
Mit Geschwistern in Institutionen endet die Auseinandersetzung mit den vielfältigen Themen, unter denen man Geschwister betrachten kann. Sowohl für Eltern und pädagogische Fachkräfte als auch für die Kinder selbst bedeutet die Institutionalisierung von Kindheit, dass sich Geschwister in Kindertagesstätten und Schulen gemeinsam aufhalten und orientieren müssen. Wenn Eltern sich ohne Einvernehmen über den Umgang mit den Kindern trennen oder hochkonflikthafte Scheidungen zur Einbeziehung der Jugendhilfe und des Familiengerichtes führen, müssen auch die Beziehungen der Geschwister betrachtet werden. Kinder in dysfunktionalen Familien und mit Eltern, die ihre Erziehungsaufgaben nicht erfüllen können und damit das Kindeswohl gefährden, benötigen Unterstützung durch eine Fremdunterbringung. Auch dabei sollte die Geschwisterdynamik eine wichtige Rolle bei Entscheidungen spielen.
Abschließend gibt es noch ein Kapitel zu Einzelkindern, denn einerseits sind Geschwisterkinder in ihrem Leben immer wieder auch mit Einzelkindern konfrontiert und außerdem haben Kinder, die alleine in einer Familie aufwachsen, oft die Sehnsucht nach Geschwistern, die sich auch in imaginären Brüdern und Schwestern zeigen kann.
Jede Leserin, jeder Leser des Buches kann sich den Kapiteln zuwenden, die ihn besonders betreffen oder interessieren. Geschwisterschaft und alle Aspekte, die unter den Kindern, für ihre Eltern und für psychosoziale Unterstützungsstrukturen relevant sind, werden zusammengefasst und auf Grundlage der aktuellen Forschungslage und unter Einbeziehung der Literatur betrachtet.
Vielen Dank an meine vier Söhne, die mich für das Thema sensibilisiert haben, und an meine Schwester, die mich sehr viel über uns hat nachdenken lassen.
Ich profitiere immer wieder von den Fallsupervisionen der Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutInnen, die meine Supervision in Anspruch nehmen. Danke auch an die ProbandInnen, die sich mit unterschiedlichen Fragestellungen haben von mir interviewen lassen und mir damit neue Erkenntnisse in meiner empirischen Forschung ermöglichten. Nicht zuletzt habe ich allen TeilnehmerInnen an Weiterbildungen und Seminaren und den Masterstudierenden, die sich für Geschwisterthemen begeistern ließen, zu verdanken, dass ich all dies in einem Buch zusammen bringen wollte. Möge der Reichtum des Themas, den ich empfinde, auch die LeserInnen erfassen.
Halle (Saale), Dezember 2019Dr. Inés Brock
1Geschwister im Lebensverlauf
1.1Geschwister rund um die Geburt
Für die erst- oder vorgeborenen Kinder ist es ein besonders bedeutsames Ereignis, die Geburt eines Geschwisterkindes zu erwarten. Die Zeit kurz vor und nach der Geburt ist jedoch mit ambivalenten Gefühlen behaftet. Diese Krise erfordert einfühlsames Verhalten der Eltern und kann eine anstrengende Übergangsphase für alle Familienmitglieder sein.
Wie diese Herausforderungen gemeistert werden, hängt an der Feinfühligkeit der Eltern. Insbesondere Väter bekommen für die älteren Geschwister eine besondere Rolle.
Kinder wissen heutzutage oft schon im Vorschulalter, dass die Babys im Mutterleib wachsen und geboren werden. Dadurch entsteht die Möglichkeit, die Vorbereitung auf die Ankunft des neuen Familienmitgliedes besser vorzubereiten und die Älteren darauf einzustimmen.
Schwangerschaft und Geburt
Die Vorbereitung auf die Geburt beginnt in der Schwangerschaft. Wenn die ersten Kindsbewegungen von außen spürbar sind und die Mutter sichtbar runder wird, interessieren sich ältere Geschwister für das Wachsen und Werden dieses neuen Familienmitgliedes. Werden all ihre Fragen kindgerecht beantwortet und werden Bücher zum Thema gemeinsam betrachtet, entsteht eine aufregende Normalität der Vorfreude.
„In diesem Prozess des Vertrautwerdens mit dem künftigen Kind und der Erzeugung eines familialen Imaginären spielen Ultraschallbilder für viele zukünftige Väter, die das Ungeborene nicht in ihrem Körper fühlen, sondern es lediglich von außen sehen und ertasten können, eine wichtige Rolle. An diesem Prozess sind nicht nur die Väter, sondern auch die Mütter, Geschwister, Großeltern, Tanten, Onkel, Freunde und Freundinnen beteiligt. Es entsteht ein kollektiver imaginärer Vorstellungsraum, in den das Kind hineingeboren wird und in dem ihm sein sozialer Ort zugewiesen wird.“ (Wulf, 2008, S. 70)
Je näher der Zeitpunkt der Geburt rückt, desto intensiver beschäftigen sich die Eltern auch mit den Bedürfnissen ihrer älteren Kinder. Basis des seelischen Gelingens des Erstkontaktes zwischen den Geschwistern ist die angeborene Fähigkeit, sich Neugeborenen vorsichtig und neugierig zu nähern. Schon bei Zweijährigen findet man die natürlichen biologischen Reaktionsweisen auf Säuglingsinteraktion. Bekannt ist, dass die „[…] mimische Reaktion im Umgang mit Säuglingen sogar schon bei sehr jungen Kindern beobachtet werden kann […] [es handelt sich] um eine genetisch verankerte, allgemein menschliche Fähigkeit.“ (Schäfer et al., 2008, S. 63). Wichtig ist den Kindern auch die Dokumentation des Ereignisses. Dies unterstützt die psychische Integration. „Medien, die kurz nach der Geburt aufgenommen wurden, weisen darauf hin, wie bedeutsam das Berühren und Anfassen für das Knüpfen einer Beziehung zum Neugeborenen nicht nur für Mutter und Kind, sondern auch für die Väter und Geschwisterkinder sind. Deren Gestaltung reicht vom ‚vorsichtigen Herantasten‘ bis hin zu ‚territorialer Aneignung‘.“ (Wulf, 2008, S. 133) Die Geschwister genießen insbesondere die Ankommenssituation und die ersten Reaktionen des Neugeborenen wie z.B. den Blickkontakt.
Erstgeborene
Erstgeborene Kinder reagieren nach der Geburt eines Geschwisterkindes mit einer normalen und verständlichen Eifersucht, die aber eher als Trauer um ein Alleinstellungsmerkmal in der Familie betrachtet werden sollte. So muss es nicht nur lernen, elterliche Zuwendung und Fürsorge mit dem Nachgeborenen zu teilen und auf mehr oder weniger Privilegien zu verzichten, es muss auch fähig sein, Bedürfnisse zurückzustellen und sich mit dem kleinen Geschwisterkind auseinanderzusetzen. Nicht selten reagieren deshalb Erstgeborene ambivalent oder auch abweisend bis destruktiv auf die Ankunft eines Geschwisters. Bemerkenswert erscheint, dass der Einfluss des Vaters sehr wirksam ist. Je mehr er sich mit dem älteren Kind beschäftigt, desto positiveres Verhalten des Erstgeborenen gegenüber dem Geschwisterkind ist zu beobachten. „Erstgeborene mit sehr engagierten Vätern sind positiver und einsichtiger gegenüber ihren zweitgeborenen Geschwistern eingestellt.“ (Schäfer et al., 2008, S. 20) So kann sich die natürliche Ordnung in der Familie neu sortieren. Eltern, die aus übertriebener Sorge um den Säugling, das erstgeborene Kind von ihm fern halten, verstärken eher die negativen Gefühle. Wenn das ältere Kind sich ausgeschlossen fühlt, verstärkt das die Rivalität und auffällige Verhaltensweisen. Gerade Eltern, die übermäßig ängstlich sind, dass das Ältere das Baby verletzen könnte, provozieren solche Attacken durch ihr ständiges Warnen, Reglementieren und Beobachten (Raphael-Leff, 2011, S. 392).
Der Übergang vom Erstgeborenen zum Geschwisterkind, zumindest in der unmittelbaren Übergangsphase, kann Verhaltensauffälligkeiten bei den Erstgeborenen hervorrufen, die durch vermehrte Stimmungsschwankungen, Weinerlichkeit, Schlafstörungen, zunehmende Aggressivität, aber auch durch emotionalen Rückzug gekennzeichnet sind.
Babyhafte Verhaltensweisen auf Seiten des Erstgeborenen wie vorübergehendes Einnässen, Nuckeln und der Wunsch nach Flasche oder Brusttrinken sind nicht als Regression, sondern als Probehandeln zu verstehen und verschwinden oft nach kurzer Zeit, wenn das Kind die Vorteile des Älterseins neu entdeckt. Fasziniert von der unbedingten Bedürfnisäußerung des Säuglings ist es eher die Neugier, wie sich wohl die Eltern verhalten werden, wenn es sich auch wieder wie ein Baby zeigt.
Wichtig ist natürlich auch der Altersabstand und die kindgerechte Möglichkeit, bei der Pflege zu helfen. In einem gewissen Maße hilft diese Beteiligung den größeren Kindern, sich wertvoll zu fühlen (Kap. 4.1).
Es gibt auch geschlechtsspezifische Unterschiede. Erstgeborene Schwestern profitieren besonders von der Geburt eines Geschwisters. Sie entwickeln oft eine positivere Beziehung zur Mutter und erlangen dadurch einen höheren IQ, als wenn sie Einzelkind bleiben würden. Bei Jungen werden eher negative Veränderungen beobachtet. Sie neigen dazu, eher schlechtere kognitive Leistungen zu zeigen und entwickeln eine weniger positive Beziehung zur Mutter. Hinzu kommt, „[…] dass Jungen besonders durch den Ausfall eines liebevollen, unterstützenden Vaters, […] in ihrer Entwicklung gefährdet sind.“ (Garstick, 2013, S. 40). Vermehrtes Rückzugverhalten der Erstgeborenen steht immer im Zusammenhang mit der Sicherheit der Bindung zu Mutter und Vater. Jedes Verhalten der älteren Kinder ist durch deren sozial-emotionale Entwicklung beeinflusst. Auch die Geschlechtszusammensetzung der neuen Geschwisterkonstellation wirkt sich auf die Bewältigung aus. „[…] Die Geburt eines Jungen veranlasst mehr problematisches Verhalten, wohingegen Brüder von kleineren Schwestern mehr aufmerksame Zuwendung einfordern.“ (Raphael-Leff, 2011, S. 389) Das Geschlecht des Erstgeborenen ist als Moderatorvariable zu betrachten: Mädchen profitieren in ihrer sozialen Kompetenz und Jungen zeigen sich häufiger emotional beeinträchtigt.
Neue Geschwister in Mehrkindfamilien
Die vorgeborenen Kinder in der Familie haben bei der Geburt des Geschwisters noch keine Vorstellung von dem, was sie erwartet – im Gegensatz zu den Eltern, die schon Vorerfahrungen einbringen können. Werden Ängste vor der neuen Situation und Trauer um den Verlust der alleinigen Aufmerksamkeit der Eltern anerkannt und ernst genommen und kann der Vater seine triangulierende Rolle annehmen und sich vermehrt den älteren Kinder zuwenden, dann gelingt diese Transitionsphase und die erweiterte Familie findet in eine neue Harmonie und Balance von der insbesondere die Kinder profitieren. „So könnten [die Eltern] Mädchen in die Betreuung des kleinen Geschwisters mehr einbeziehen […] während sie das nachgeborene Geschwister vor dem ausgeprägten Expansivdrang der Jungen stärker in Schutz nehmen würden.“ (Stöhr et al., 2000, S. 48)
Für Geschwister ist die Familienphase, in der ein neues Kind geboren wird, immer auch als normative Krise zu verstehen. Eine Krise, aus der sie gestärkt hervorgehen können, wenn sie angemessen und liebevoll begleitet wird. Bereits Geschwister zu haben bei der Geburt des dritten Kindes und weiteren ist ein protektiver Faktor, der die Bewältigung von emotionalen Irritationen unterstützt. Auch und gerade wenn die Eltern dann nicht hundertprozentig zur Verfügung stehen, können die Geschwister einander stärken. Die Mutter kann sich entlastet dem Baby zuwenden, der Vater schafft eigene Räume mit den Älteren und die Kinder werden in ihrer Autonomieentwicklung vorangebracht.
Streit, Neid und Auseinandersetzungen unter Geschwistern gehören zum Familienleben immer auch dazu. Oft ist gerade ein Kind, das gar nicht zu reagieren scheint, besonders belastet, da es nicht die Erlaubnis spürt seine widerstreitenden Gefühle auch zu zeigen.
Ein ausgewogenes Maß an Interventionen zwischen Grenzen setzen und Freiheit gewähren, gehört zu einem autoritativen Erziehungsstil, der Kinder seelisch gesund aufwachsen lässt. Wenn die Eltern erkennen, dass das Kind ärgerliche Gefühle zum Ausdruck bringt, sollte dies so reguliert werden, dass nicht eine überbeschützende Haltung gegenüber dem Baby dem wütenden Kind zeigt, dass dieses die Ursache seiner Wut ist. Die Wut richtet sich gegen die Eltern, die diese auch abfedern sollten, damit sie nicht auf das Baby umgeleitet wird.
„Selbst wenn sich die Geschwister auf das Neugeborene freuen, haben sie nach der Geburt oft erhebliche Schwierigkeiten, die bislang ungebrochene Aufmerksamkeit der Mutter mit dem Baby zu teilen. In dieser Situation kommt dem Vater die wichtige Aufgabe zu, den Geschwistern zu helfen, die neue Konstellation zu akzeptieren, und ihnen die Sicherheit zu vermitteln, dass die Aufmerksamkeitskonzentration auf das Neugeborene nicht bedeutet, dass seine Geschwister von ihren Eltern weniger geliebt werden.“ (Wulf, 2008, S. 85)
Frühgeborene Geschwister
Bei Kindern mit geringem Geburtsgewicht und insbesondere bei Frühgeburten zeigen die betroffenen Kinder aufgrund des vorgeburtlichen Stresses und dem belastenden Geburtserleben im Verlauf ein höheres Risiko, an Verhaltensauffälligkeiten, Angststörungen und kognitiven und emotionalen Störungen zu leiden. Die innerfamiliäre Balance ist zudem durch Ängste und die elterliche Verarbeitung von neonatologischen Krankenhausaufenthalten beeinträchtigt. Eltern von Frühchen haben deutlich mehr Stress und eine höhere Depressionsrate. Die besondere Verantwortung der Mutter erzeugt eine zeitlich hohe Beanspruchung über Wochen durch die Krankenhausbesuche. Bleibt die Mutter noch länger ebenfalls im Krankenhaus oder wird durch Abpumpen von Muttermilch, aufwendige Wege zur Klinik und die Einbeziehung in die Pflege auf der Intensiv- bzw. Neugeborenenstation – die fast überall inzwischen als fachlicher Standard gilt, der die Genesung und Reifung der Frühchen unterstützt – absorbiert, kann auch der Vater durch Erwerbstätigkeit, Betreuung der Geschwister und eigene Betroffenheit psychisch überfordert sein. Die latente Sorge um das Überleben und die Entwicklung des Frühgeborenen wirkt sich auch auf das Handling mit den Geschwistern aus. Diese Fokussierung auf dieses Kind kann dazu führen, dass die Bedürfnisse der vorgeborenen Kinder nicht mehr ausreichend wahrgenommen bzw. befriedigt werden. Wenn die komplikationsreiche Geburt eines Geschwisters zu einem kranken Baby führt, wird das ältere Kind zusätzlich belastet. Die Eltern sind oft so sehr mit den Sorgen um das Neugeborene beschäftigt, dass sie das zusätzlich bedürftige große Geschwisterkind nicht ausreichend unterstützen können. Es wächst die Gefahr eines vergessenen Familienmitgliedes (Raphael-Leff, 2011, S. 395).
Zu den Auswirkungen auf Geschwister liegt eine empirische Studie von Keuter (2001) vor. Die Untersuchung legt ihren Schwerpunkt auf die Beurteilung der Geschwistersituation und ihre individuellen Erfahrungen, Verhaltensweisen und Einstellungen bzgl. der Thematik Frühgeburt, ihre Auswirkungen auf das familiäre Gefüge und ihre Folgeerscheinungen für das Handeln und Agieren der Geschwister. Die Auswertung der Geschwistersituation erfolgt anhand der Schwerpunkte Aggression und Soziale Kompetenzen (Keuter, 2001). Dabei werden zwei Schwerpunkte in den Blick genommen:
■Aggression: Geschwister von frühgeborenen Kindern zeigen gleiche Tendenzen auf soziale Konfliktsituationen wie Geschwister von behinderten Kindern. Besonders die Brüder von Frühchen zeigen weniger nach außen gerichtete Aggression als durchschnittliche Gleichaltrige. Mädchen zeigen soziale Einstellungen und eine stärkere sozial-emotionale Belastung.
■Soziale Kompetenz: Geschwister von frühgeborenen Kindern weisen ein überproportional ausgebildetes Sozialverhalten in Hinsicht auf Verantwortung, Engagement und integrativer Liberalität gegenüber Hilfsbedürftigen und Behinderten auf (Kap. 7.1 und 7.2).
In den Familien, die bereits Kinder hatten, berichteten Frühchen-Eltern von Schlaf- und Essproblemen, Aufmerksamkeit suchendem Verhalten und Entwicklungsregressionen bei den älteren Geschwistern. Auf die Geschwister wirkt sich die psychische und physische Abwesenheit der Eltern aus. Werden sie über längere Zeit von Verwandten oder Freunden betreut, wenn die Eltern abwesend sind, verstärkt dies ihre Angst, die sie auch bei den Eltern spüren (Keuter, 2001). „Frühchen sind anspruchsvoller und beanspruchten mehr Aufmerksamkeit von ihren Eltern als reife Neugeborene, aber nach vier Jahren haben sich die Ressourcen wieder stabilisiert.” (Stjernqvist, 2014)
Geschwister bei der Geburt
Die Kinder, die die Geburt selbst miterleben durften, zeigen durchweg eine positive seelische Verarbeitung. Dabei fallen insbesondere gesunde Selbststeuerungsprozesse und eine altersgemäße Nähe-Distanz-Regulierung auf.
Laut Krutzky (1985) berichteten Mütter, dass sie sich während der Geburt selbst der Anwesenheit ihres Kindes nicht bewusst waren. Erst im Anschluss nahmen sie das Geschwisterkind wieder wahr und waren dann glücklich über dessen Anwesenheit und Teilhabe.
1.Eltern fanden, dass die Anwesenheit des Kindes zu einem Gefühl der Familieneinheit („familiy unity“) beitrug.
2.Die Anwesenheit des Kindes wurde als kleiner Teil eines größeren positiven Gefühls in Bezug auf das Geburtserlebnis wahrgenommen.
3.Eltern, die ein Kind während der Geburt teilnehmen ließen, würden bei der nächsten Geburt wieder so handeln. (Krutsky, 1985)
Interessant ist auch eine japanische empirische Studie aus dem Bereich der Hebammenwissenschaft. Naoko Kuramoto hat beim World Congress der WAIMH (World Association of Infant Mental Health) 2009 ein Poster dazu präsentiert. Insbesondere vor dem Hintergrund der Wichtigkeit der emotionalen Interaktion zwischen Mutter und Kind für dessen Stabilität ist es wesentlich die Mutter-Kind-Interaktion während des Geburtsprozesses zu beobachten, mit dem Fokus auf Veränderungen auf Seiten des Kindes. Kuramoto gibt für Hebammen die Empfehlung, Abläufe und Beobachtbares zu erklären und beschreibt die Bedeutung von freiem Bewegungsraum und Einbeziehung des Geschwisterkindes. Eltern bestätigen die positive Bewertung der Anwesenheit der älteren Geschwisterkinder und sehen darin einen wichtigen ersten Schritt für eine intensive Nähe und Verbundenheit mit dem Neugeborenen. Wenig Eifersucht war in den kommenden Wochen zu beobachten. Über Begeisterung und Stolz, bei der Geburt dabei gewesen zu sein, berichten die älteren Kinder (eigene Studie in Brock, 2014). Zusammengefasst könnte man konstatieren, dass zunächst nichts gegen die Präsenz von Geschwistern bei der Geburt spricht, außer vielleicht die Tatsache, dass wir es nicht mehr gewohnt sind, Kinder an existenziellen, aber natürlichen Lebensprozessen teilhaben zu lassen. Die Geschwister haben die Fähigkeit, sich nur das zuzumuten, was sie auch verarbeiten können, wenn man sie altersentsprechend in den Prozess einbindet. Alles Geheimnisvolle, Unverständliche und Unausgesprochene ist viel bedrohlicher für die kindliche Seele. Kinder können den Geburtsprozess auf ihre Weise verstehen, wehren seelische Belastungen ab und können von der Erfahrung profitieren, bei der Geburt auch dabei gewesen zu sein bzw. die Begrüßung des Neugeborenen mitzuerleben.
1.2Geschwister in der Kindheit
Wenn Kinder einen Bruder und/oder eine Schwester bekommen haben und die Zeit der Neuorientierung in der Familie nach ca. zwei Jahren erfolgreich abgeschlossen ist, beginnt zumeist eine Phase der Geschwisterbeziehung, die von Intimität und Nähe gekennzeichnet ist. Geschwister sind – soweit sie in der frühen Kindheit bereits vorhanden sind – neben den Eltern wichtige Primärobjekte mit einer für das Kind horizontalen Triangulierungsfunktion.
„Knapp 30% der Interaktionen der jüngeren Geschwister sind Imitationen, und gegenseitige Imitationen spielen eine wichtige Rolle in der Kommunikation, was die Reziprozität der Beziehung und das gegenseitige Interesse betont […] Geschwister entwickeln unter guten Bedingungen eine enge reziproke und emotional befriedigende Beziehung, die andere Verständigungsebenen beinhaltet, als die Eltern-Kind-Beziehung. Sie können dies jedoch nicht alleine leisten, sondern benötigen die einfühlsame Unterstützung der Eltern. Dann kann die Geschwisterbeziehung als eigenes hilfreiches Beziehungsmodell neben der vertikalen Beziehungsstruktur bestehen und sich entwickeln, was auch den Übergang in soziale Gruppen erleichtert.“ (Döll-Hentschker, 2018, S. 763)
Ab 18 Monate nach der Geburt entwickelt sich eine von den Eltern unabhängige Geschwisterbeziehung, in der begonnen wird, auch Konflikte alleine zu regulieren. Prosoziales Verhalten ist sogar stärker ausgeprägt bei Abwesenheit der Mutter. Diese reziproken Interaktionen von Geschwistern bereiten jüngere Geschwister auf die Erfahrungen mit Kind-zu-Kind-Interaktionen vor und unterstützen dadurch die Möglichkeit, kommunikative Fertigkeiten als Grundlage für Gleichaltrigenbeziehungen zu entwickeln (Kramer & Conger, 2009, S. 13).
Der natürliche und entwicklungspsychologisch empfehlenswerteste Altersabstand sind drei bis vier Jahre. Auf der einen Seite ist die hohe Bedürftigkeit des Kleinstkindes mit dem Eintritt ins Kindergartenalter geringer geworden, es kann sich in Gleichaltrigengruppen sozial orientieren, hat stabile Bindungen zu mehreren Bezugspersonen aufgebaut und kann durch seine kognitive Entwicklung besser verstehen, dass ein Säugling nicht so lange warten kann, bis seine Bedürfnisse erfüllt werden, wie es selbst. Das ältere Geschwisterkind beschäftigt sich durch sein wachsendes Interesse an Zusammenhängen der Umwelt längere Zeitabschnitte alleine, kann sicher laufen und braucht deshalb den Kinderwagen kaum noch. Es gibt weniger Plätze die das Baby ihm rauben kann. In der emotionalen Entwicklung beginnt es sich in andere hineinversetzen zu können, Empathie zu entwickeln und kann sich an seinen erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten freuen, die ihn vom Baby unterscheiden. Auch unter biologischen Gesichtspunkten ist dieser Altersabstand normal. Der Stoffwechsel benötigt die Muttermilch nicht mehr. Insbesondere in naturnahen Völkern und in der Menschheitsgeschichte war dies die beste – das Überleben sichernde – Nahrung in den ersten drei Lebensjahren. Auch die Mutter ist körperlich – und heute würde man zusätzlich sagen seelisch – soweit in der Lage, in ein neues Kind zu investieren (Schmidt, 2018, S. 29). Der Altersabstand ist jedoch noch nicht so groß, dass die Interessen und Entwicklungsstände der Geschwister so weit auseinander liegen, dass es nur noch wenige Berührungspunkte im Spiel gibt. In Mehrkindfamilien bilden die mittleren Kinder da oft eine Brücke für das gemeinsame Spiel. Bei mehr als sieben Jahren Spacing – wie es im Englischen genannt wird – ist das erste Kind bereits die wesentlichste Zeit seiner Kindheit als Einzelkind aufgewachsen. Das führt einerseits dazu, dass die Umstellung entsprechend größer ist. Andererseits kann es aber auch mehr Verständnis entwickeln, gelegentlich mithelfen und auch später Betreuungsaufgaben und „Babysitting“ übernehmen. Neben den Eltern und Großeltern betreuen tatsächlich ältere Geschwister ihre jüngeren am häufigsten.
Geschwister sind in der Kindheit enge Vertraute und Unterstützer, aber auch Rivalen. Dies kann unterschiedliche Qualitäten haben abhängig davon, wie die Persönlichkeiten und Temperamente sind und ob es sich um Schwestern oder Brüder handelt (Kap. 3.1–3.3.). Schon im Kindergartenalter verbringen sie mehr Zeit miteinander als mit den Eltern (Leaper & Friedmann, 2007). Die Beziehungsqualität wird gefördert, wenn die entsprechenden Freiräume den Geschwistern auch zugestanden werden und sich die Eltern nur dann einmischen, wenn es dramatische Auseinandersetzungen gibt. Gelingensfaktoren sind im Kasten zusammen gefasst.
Eigene Räume für Geschwisterkinder
–eigene Kisten, Regale und eigene (Spiel-)Sachen
–Rückzugsorte zum Träumen und Alleinsein
–eigene Freunde, Recht mit denen allein zu sein
–Individuelle Aktivitäten – alleine mit Mutter oder Vater, Oma oder Opa
–eigene Freizeitaktivitäten und Hobbies
In vielen Familien in Deutschland ist es fast zur Norm geworden, dass jedes Kind ein eigenes Zimmer haben sollte. Für das soziale Wesen Mensch ist es aber keineswegs normal, nachts oder längere Phasen alleine zu sein. Die Eltern teilen sich auch ein Schlafzimmer und genießen diese Nähe. Körperliche Nähe ist eine gesundheitsförderliche Komponente für subjektives Wohlbefinden und sogar für die Gesundheit, weil es das Immunsystem stärkt. Aufwachsen mit Geschwistern bedeutet, dass die Kinder miteinander Geheimnisse teilen und auch unbeobachtet Nähe und Intimität erleben dürfen. Insbesondere für die psychosexuelle Entwicklung und die kindliche Sexualität sind Geschwister die besten Übergangsobjekte und Experimentierpartner. Im gemeinsamen Spiel insbesondere in Rollenspielen fördern die gemeinsamen Interaktionen viele entwicklungsspezifische Aspekte der frühen und mittleren Kindheit (Kap. 2.4).
Kleinere Geschwister fühlen sich von ihren großen Geschwistern in der Kindheit besonders in Krisensituationen und bei Konflikten mit anderen Kindern beschützt und suchen bei ihnen einen Mutterersatz. Die Geschwistergruppe bietet Sicherheit und Schutz, wenn die Eltern keine Zeit haben (Israel et al. 2008, S. 187). Geschwister können sichere Bindungspersonen untereinander sein, auch wenn dies öfter die älteren für die jüngeren sind. Aber alle Kinder, die eine Bindung zu ihren Geschwistern haben, fühlen sich in ihrer Gegenwart sicherer, können sich leichter von der Hauptbezugsperson trennen und spielen weiter, wenn die Mutter sich entfernt. Gerade wenn Auseinandersetzungen mit den Eltern passieren, wenden sie sich an ihre Brüder und Schwestern (Coles, 2003). Im Fall, dass die Eltern latent überfordert sind mit der Sorge um ihre Kinder oder sie sogar vernachlässigen, intensiviert sich die Bindung der Geschwister untereinander (Milevsky, 2011, S. 66). Sich umeinander zu kümmern, füreinander da zu sein, gelingt auf der horizontalen Ebene, wenn das Bedürftigkeitsgefälle nicht zu groß ist. Ältere Geschwister können, wenn die Eltern dysfunktional agieren, für ihre jüngeren Geschwister wichtige Bezugspersonen werden. Es kann aber auch zu einer Überforderung führen, wenn kindliche Bedürfnisse der Älteren völlig in den Hintergrund treten.
„Ein subtiler Mechanismus ist die Parentifizierung eines Kindes. Hierbei findet eine Rollenumkehr statt, d.h. das Kind wird zum Erwachsenen gemacht und der Erwachsene nimmt die Kinderrolle ein. Dadurch wird das parentifizierte Kind dauerhaft überfordert und es geht einher mit einem erzwungenen Verzicht auf die eigene Kindheit“ (Petri, 2006, S. 125f.).
Jedoch gibt es einen unbewussten Gewinn für das Kind. Es hat eine herausgehobene Stellung unter den Geschwistern und ist unentbehrlich in der Familie. Diese Machtposition führt unabwendbar zur Dominanz über die Geschwister, was wiederum Aggression und Rivalitätskämpfe auslösen kann (Frick, 2009). In beiden Fällen, Partnerersatz und Parentifizierung, werden die Grenzen zwischen der horizontalen und vertikalen Symmetrie aufgehoben. Die psychoanalytische Literatur verweist darauf, dass wir Menschen eine innere Erwartung in uns tragen, Mutter und Vater zu haben – mit den entsprechenden inneren Repräsentanzen. In der inneren Welt des Individuums gibt es auch die Erwartung, Geschwister zu haben. Diese innere Repräsentanz ist zum Ende der Kindheit gefüllt und gleicht einem realen Objekt, unabhängig davon, ob die Geschwisterbeziehung harmonisch oder konflikthaft ist (Lewin & Sharp, 2009).
1.3Geschwister in Pubertät und Adoleszenz
In der Pubertät haben gleichgeschlechtliche Geschwister oft eine wärmere und engere Beziehung zueinander. Zu Beginn der die Identität und das Körperbild verändernden Entwicklung kann es durch die Verunsicherung gerade bei nahe beieinander liegenden Geschwistern auch wieder zu verstärkter Rivalität kommen – jetzt nicht mehr um die Zuneigung und Aufmerksamkeit der Eltern, von denen man sich ja abgrenzen will, sondern um die Akzeptanz und Rolle in der Peergroup. Eine insgesamt positive Qualität der Geschwisterbeziehung nimmt unter Schwestern stärker ab, wohingegen Brüder untereinander weniger emotional eingefärbte Auseinandersetzungen haben. Gemischtgeschlechtliche Paare liegen dazwischen (Coles, 2003). Da alle kritischen Lebensereignisse und Phasen leichter bewältigt werden können, wenn es starke Geschwisterbindungen gibt, fällt es Jugendlichen mit Geschwistern leichter als Einzelkindern, die Irritationen der Pubertät und die Loslösung von den Elternobjekten zu vollziehen. Dennoch gibt es in den meisten Fällen auch zunehmende Revierstreitigkeiten, um Eigentum und um Rückzugsräume. Wenn die jüngeren Geschwister noch nicht in der Pubertät sind, kann die Eifersucht des Älteren auch diffiziler sein, das „Kleine“ darf sich noch kindlich verhalten, was der Pubertierende natürlich keinesfalls mehr zeigen will, obwohl auch in diesem Alter das Bedürfnis nach Anlehnung noch vorhanden ist. Im jüngeren Geschwister wird das Kindliche in einem selbst abgewehrt und gleichzeitig wird es innerlich beneidet, weil es das tun darf, was man sich selbst nicht mehr erlaubt.
„Denn was der Jugendliche bei seinem kleinen Geschwister nicht ertragen kann, ist einfach die Tatsache, dass es ein Kind ist und damit genau den Status verkörpert, dem er gerade mit solcher Mühe zu entkommen versucht.“ (Rufo, 2006, S. 139)
Die Pubertätskrise ist eine Identitätskrise, in der widerstreitende Kräfte von Progression und Regression zu einem Ambivalenzkonflikt werden.
„Die Werteordnung der Eltern und der Gesellschaft wird auf den Kopf gestellt und durch neue Identifikationsobjekte und durch eine eigene Vorstellungswelt ersetzt. Dabei kann es auch zu einer forcierten Abgrenzung von den Geschwistern kommen, die als Fessel an die alten Familienstrukturen erlebt werden.“ (Petri, 2006, S. 56)
Die Pubertät beschreibt in erster Linie die Zeit der körperlichen Veränderungen und Hormonschwankungen (ca. 10-12 bis 15-17 Jahre). Stimmungstiefs, Affektdurchbrüche und eine allgemeine Labilisierung des Selbst- und Körperbildes benötigt nicht nur robuste und Entwertungen standhaltende Elternobjekte, sondern kann auch den Geschwisterkontakt destabilisieren. In der darauf folgenden Adoleszenz (18-21 Jahre) hingegen besteht die zentrale Entwicklungsaufgabe darin, eine gereifte Ich-Struktur zu stabilisieren. Autonomiewünsche sind weitestgehend erfüllt, und eine selbstbestimmte Lebenspraxis jenseits des Elternhauses kennzeichnet den Übergang ins Erwachsenen-Ich. Diese innerpsychischen Prozesse sind gegenwärtig nicht immer mit 21 Jahren abgeschlossen, weil (Berufs-)Biografien und prekäre finanzielle Bedingungen die Ablösung vom Elternhaus erschweren. In der Adoleszenz, wenn eine Konsolidierung der Identitätsdiffusion einsetzt, regulieren sich die Abgrenzungen und Rivalitäten unter den Geschwistern im Allgemeinen ebenfalls wieder. Es kommt jedoch zu gemischten Gefühlen, wenn ältere Geschwister ausziehen, um ein eigenes Leben zu führen. Es können Verlassenheitsgefühle und Ärger übers Zurück-gelassen-Werden dominieren. Manche später geborene Geschwister genießen jedoch auch diese letzten Jahre mit den Eltern allein.
Trotzdem die Peergruppe an Bedeutung gewinnt, bleiben Geschwister Kameraden, Vertraute und Unterstützer. „Für die meisten Jugendlichen ist der Rückhalt oder das Füreinander-dasein eine zentrale Komponente des Geschwisterdaseins. An zweiter und dritter Stelle folgen die Aspekte Unterhaltung und Gesellschaft“ (Watzlawick, 2008, S. 176; Hervorhebungen im Original). Da eine tragfähige, warme Geschwisterbeziehung ein Schutzfaktor in Transitionsphasen ist, stärkt sie auch in der Pubertät das Selbstvertrauen und ist auch in der Adoleszenz noch sehr wirksam und wirkt sich auf psychologisches Wohlfühlen und akademischen Erfolg aus. Selbst wenn die Intimität während dieser Lebensphase entsprechend sinkt und diese eher eine zentrale Rolle unter Freunden einnimmt, bleibt eine enge Geschwisterbeziehung ein entwicklungsunterstützender Vorteil (Milevsky, 2011, S. 46). Insbesondere zunehmende Schamgrenzen sind für Geschwister in der Pubertät eine Herausforderung, die vom familiären Klima insgesamt beeinflusst wird. Sie entwickeln sexuelle Neigungen, lernen ihre sexuellen Gefühle zu managen und beginnen die Etablierung einer sexuellen Identität. Wenn erotische und sexuelle Verhaltensweisen erprobt werden, brauchen die Jugendlichen private Räume, Respekt und auch Information (Parker & Stimpson, 2002, S. 280). Diese wiederum werden sehr gerne auch von Geschwistern angenommen. Der sexuell weiter entwickelte Bruder oder die Schwester haben jedoch auch weniger Interesse, Zeit mit ihren Geschwistern zu verbringen. Das weniger reife Geschwisterkind – was nicht zwingend das jüngere sein muss – wird mit widerstreitenden Gefühlen zurückgelassen und fühlt sich unangemessen zurückgestoßen. Das narzisstische Gleichgewicht wird mit Beginn der Pubertät verschoben, die Älteren erfahren möglicherwiese eine Entidealisierung durch die Jüngeren, und das kann die Krisenhaftigkeit des Erlebens verschärfen. Adam-Lauterbach beschreibt zudem, dass es „[…] mehr Rivalität zwischen Erst- und Zweitgeborenen gibt als zwischen anderen Geschwisterpositionen, was die Annahme, dass Erstgeborene stärker unter narzisstischen Konflikten leiden, unterstreicht.“ (Adam-Lauterbach, 2013, S. 67)
Jugendliche wollen keinesfalls wie ihre Mutter oder ihr Vater sein, aber sie können durchaus die ältere Schwester oder den Bruder anhimmeln und bewundern. In dieser Verleugnung der Verschiedenheit entwickeln sie Verschmelzungswünsche, die wiederum die älteren als bedrohlich erleben und zurückweisen. „Demgegenüber entwickeln Jugendliche aufgrund des adoleszenten Narzissmus ein ebenso starkes Bedürfnis nach Einmaligkeit und Abgrenzung bis hin zur Verleugnung der Verbundenheit.“ (Sohni, 2011, S. 77)
Gerade in der Pubertät kann auch eine gegenseitige erotische Anziehung vorkommen, die auf die Intimität und Vertrautheit aus der Kindheit aufbaut. Das kann einerseits Konflikte zwischen Bruder und Schwester verschärfen, die einen Abwehrcharakter inzestuöser Bestrebungen darstellen. Andererseits „[…] finden sexuelle Triebwünsche in dieser Entwicklungsphase im eng vertrauten Geschwister ein gefahrloses und vorübergehendes Übergangsobjekt, das die anfänglich angstbesetzte reife Objektwahl erleichtert“ (Petri, 2006, S. 58). Wenn dabei die Missbrauchsgrenze nicht überschritten wird (Kap. 8.4Kap. 3.3Petri, 2006, S. 64