ATTILA ALBERT, Jahrgang 1972, ist in Deutschland und Ungarn aufgewachsen und begann mit 17 als Reporter zu arbeiten. Im Laufe seiner Karriere schrieb er für namhafte Zeitungen und Magazine im In- und Ausland und ist bis heute als Autor und Kolumnist tätig. Begleitend studierte er Betriebswirtschaft und Webentwicklung und absolvierte eine Coaching-Ausbildung in den USA. In Seminaren, Vorträgen und Einzel-Coachings im deutschsprachigen Raum begleitet er Menschen, die sich verändern und besser kommunizieren wollen. Seit 2013 lebt er in Zürich.
www.attilaalbert.com
© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020
© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020
Alle Rechte vorbehalten. Weiterverbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film und Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags.
Projektleitung: Anja Schmidt
Lektorat: Anne Nordmann
Covergestaltung: ki36, Editorial Design, München, Bettina Stickel
eBook-Herstellung: Christina Bodner
ISBN 978-3-8338-7475-8
1. Auflage 2020
Bildnachweis
Coverabbildung: Neguvora/shutterstock
Syndication: www.seasons.agency
GuU 8-7475 04_2020_01
Unser E-Book enthält Links zu externen Webseiten Dritter, auf deren Inhalte wir keinen Einfluss haben. Deshalb können wir für diese fremden Inhalte auch keine Gewähr übernehmen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seiten verantwortlich. Im Laufe der Zeit können die Adressen vereinzelt ungültig werden und/oder deren Inhalte sich ändern.
Die GU-Homepage finden Sie im Internet unter www.gu.de
www.facebook.com/gu.verlag
LIEBE LESERINNEN UND LESER,
wir wollen Ihnen mit diesem E-Book Informationen und Anregungen geben, um Ihnen das Leben zu erleichtern oder Sie zu inspirieren, Neues auszuprobieren. Wir achten bei der Erstellung unserer E-Books auf Aktualität und stellen höchste Ansprüche an Inhalt und Gestaltung. Alle Anleitungen und Rezepte werden von unseren Autoren, jeweils Experten auf ihren Gebieten, gewissenhaft erstellt und von unseren Redakteuren/innen mit größter Sorgfalt ausgewählt und geprüft.
Haben wir Ihre Erwartungen erfüllt? Sind Sie mit diesem E-Book und seinen Inhalten zufrieden? Haben Sie weitere Fragen zu diesem Thema? Wir freuen uns auf Ihre Rückmeldung, auf Lob, Kritik und Anregungen, damit wir für Sie immer besser werden können. Und wir freuen uns, wenn Sie diesen Titel weiterempfehlen, in ihrem Freundeskreis oder bei Ihrem online-Kauf.
KONTAKT
GRÄFE UND UNZER VERLAG
Leserservice
Postfach 86 03 13
81630 München
E-Mail: leserservice@graefe-und-unzer.de
Telefon: 00800 / 72 37 33 33*
Telefax: 00800 / 50 12 05 44*
Mo-Do: 9.00 – 17.00 Uhr
Fr: 9.00 bis 16.00 Uhr (*gebührenfrei in D,A,CH)
Unsere eBooks werden auf kindle paperwhite, iBooks (iPad) und tolino vision 3 HD optimiert. Auf anderen Lesegeräten bzw. in anderen Lese-Softwares und -Apps kann es zu Verschiebungen in der Darstellung von Textelementen und Tabellen kommen, die leider nicht zu vermeiden sind. Wir bitten um Ihr Verständnis.
Manche Beziehungen nerven furchtbar, lassen sich aber trotzdem nicht einfach beenden. Stressige Eltern, egoistische Kollegen, unzuverlässige Partner oder rücksichtslose Kinder können einen in den Wahnsinn treiben. Immer noch ein Problem, das sie dir zuschieben und das du für sie lösen sollst. Wer da nicht lernt, anderen Grenzen aufzuzeigen, geht auf Dauer unter.
„Niemand ist eine Insel”, hat mal irgendein Dichter geschrieben. Stimmt. Du musst dich aber auch nicht als Einflugschneise für jedes einzelne Problem der Menschheit anbieten.
Attila Albert, Coach und Seminarleiter, zeigt dir, wie du dich endlich abgrenzt und auch mal die anderen leiden lässt: Grenzen setzen für Einsteiger und Fortgeschrittene mit praktischen Tipps und manch fiesem kleinen Trick. Denn ein entschiedenes Nein zu anderen ist ein fettes JA zu dir.
Einmal kommt der Tag, an dem es genug ist. Wieder mal steckst du in Schwierigkeiten, die dir andere angehängt haben. Kämpfst mit Problemen, die überhaupt nicht deine eigenen sind. Bei den einen sind es Geldsorgen, weil sie unbedingt wieder jemandem helfen mussten, der nicht so überlegt und sorgfältig plant wie sie selbst. Bei den anderen ist es Stress, weil sie wieder so viel für andere übernommen und erledigt haben, dass ihre eigenen Sachen liegen geblieben sind. Das Ergebnis: Todmüde im Kampf für andere, die das selbst sehr entspannt sehen: Du wirst schon klarkommen, DAS ist ja nun wirklich dein Problem.
Bei dir ist es vielleicht der Tag, an dem dir deine Mutter fünfzehn WhatsApp-Nachrichten geschickt hat, in denen sie stündlich ihre Ärgernisse auflistet: »Stell dir vor, meine Blähungen sind zurück!« Und du genau weißt, dass sie dich – wie immer – kurz nach Beginn der »Tagesschau« anrufen wird, um dir alle ihre Sorgen noch einmal ganz genau zu erzählen. Abschließen wird sie mit einem stillen, gleichzeitig irgendwie heimtückischen Vorwurf: »Hauptsache, dir geht es gut!«
Oder es ist der Tag, an dem dir deine »eigentlich total nette« Kollegin wieder einmal die Hälfte ihrer eigenen Aufgaben auf den Schreibtisch geschoben und gemeint hat: »Du kannst das einfach besser als ich!« Und du genau weißt, dass sie sich absichtlich blöd stellt, um pünktlich ihren Bus nach Hause zu bekommen und sich ausgeruht ihrem Garten oder irgendwelchen Hobbys zu widmen. Währenddessen du nach Feierabend noch da sitzt und ihre Arbeit erledigst, weil du wieder einmal nicht Nein sagen konntest. Ist doch ein tolles Dankeschön!
Oder es ist der Tag, an dem dir deine Teenagertochter eröffnet, dass sie ihre Ausbildung – mühsam von dir organisiert, weil sie in der Schule hauptsächlich mit Kiffen beschäftigt war – abbrechen und wieder bei dir einziehen will: »Ich muss mir erstmal überlegen, was ich im Leben wirklich will!« Bis sie das raushat, wahrscheinlich frühestens mit Mitte 30, wäre es ihr nur recht, wenn du weiterhin für kostenlose Verpflegung und Unterkunft sorgen würdest. Es hat sich ja nun mal schon so schön eingespielt zwischen euch in den vergangenen Jahrzehnten.
An diesem Tag spürst du etwas in dir aufsteigen, das kalte Wut und heiße Rachegefühle auf ähnlich köstliche Weise miteinander kombiniert wie Vanilleeis mit heißen Kirschen: »Es reicht, ich mach da nicht mehr mit!« Dieser Moment allein ist bereits ein Genuss, ein lang ersehntes Schlaglicht der Klarheit und des Entschlusses nach einer Ewigkeit an Selbst- und Fremdbetrug. Das vorliegende Buch aber wird dir helfen, noch einen Schritt weiterzugehen: dich nämlich endlich aus der belastenden Beziehung zu befreien und auch mal die anderen ein bisschen leiden zu lassen. Sie haben es verdient und brauchen es dringend, auch wenn sie es selbst noch nicht wissen. Es ist dein Beitrag zu ihrer Persönlichkeitsentwicklung, du hilfst ja gern, damit andere endlich zu Verstand kommen.
Wahrscheinlich hast du viele Jahre bis zu dieser Einsicht gebraucht und nickst mit Blick auf diverse Personen in deinem Leben: »Ja, ich habe inzwischen eine ordentliche Abschussliste. Aber bei mir ist es eher eine Art Schriftrolle – sehr, sehr lang.« Übereile hier nichts. Du hast es nicht zwingend mit egoistischen, rücksichtslosen, berechnenden Menschen zu tun, auch wenn sie zugegebenermaßen alles dafür tun, dass es auf dich so wirkt. Du warst einfach ein bisschen zu nett, zu nachgiebig, zu hilfsbereit und hast dafür schon einen hohen Preis bezahlt.
So war es für eine Bekannte von mir sicher keine besonders gute Idee, höflich zu bleiben, als dieses verunglückte Tinder-Date tatsächlich die Nerven hatte, sie erst auf LinkedIn zu stalken, dann ihre Büronummer über Google herauszufinden und sie während ihrer Arbeitszeit anzurufen, um ihr am Telefon eine zweite Verabredung aufzudrängen. »Mach das noch einmal, und ich bin bei der Polizei«, wäre eine angemessene Reaktion gewesen. Der Mann konnte froh sein, dass er sich außerhalb der Reichweite einer ordentlichen Ladung Pfefferspray befand.
Eine Kollegin hätte sich auch nicht nur still ärgern sollen, als ihr Partner mal wieder ihr Handy borgen musste, weil er »gerade kein Guthaben mehr« hatte, sondern ausflippen: »Habe ich eigentlich ein Kind geheiratet? Das nächste Mal ziehe ich dir das Ding über den Kopf!« Manche Beziehungen zerstören sich in der Einheit von erbettelten Geldscheinen.
Es war auch nicht hilfreich von einem Freund in meiner Nachbarschaft, Verständnis zu heucheln, als die griesgrämige ältere Dame unter ihm sich mal wieder beklagte, dass sie angeblich »jeden Schritt« von ihm höre, obwohl er bereits auf Fußspitzen durch seine Wohnung trippelte, die nun wahrlich nicht billig war. Eine passende Ansage wäre stattdessen gewesen: »Wirklich komisch! Den Fernseher müssen Sie auf Rockkonzert-Lautstärke drehen, um etwas zu verstehen, aber wenn ich auf Socken zum Kühlschrank gehe – das geht durch?«
Natürlich haben wir alle die Schlaumeier unter unseren Freunden, die ganz erstaunt tun: »Was, solche Probleme hast du? Da hätte ich schon längst den Kontakt abgebrochen!« Oder: »Also, ich würde mir das nicht bieten lassen.« Aber du weißt längst, wie lebensfremd diese Kommentare sind. Daher jetzt mal Klartext: Die meisten Probleme haben wir doch mit Menschen, denen wir gar nicht entkommen können und, ehrlicherweise, oft auch nicht wollen: Partner, Verwandte, Freunde, Chefs, Kollegen und Nachbarn. Wir können nicht ohne sie, aber leider eben oft auch nicht mit ihnen. Das nervige Ergebnis: keine Chance auf Flucht!
Wer nicht lernt, ihnen bei Bedarf freundlich, aber bestimmt ihre Grenzen aufzuzeigen, kann sich zwar trennen, fängt dann aber beim Nächsten wieder von vorn an. Wie viele Stars haben uns vorgeführt, dass auch der achte oder neunte Ehepartner seine Macken hat, und da ist die absehbare Entwicklung bei Heidi Klum noch gar nicht eingerechnet. Bei deiner Scheidung sind eventuell nicht mal Juwelen oder eine Villa am Meer drin. Die Tochter einer Bekannten hat inzwischen zwölf Praktika im Lebenslauf, die allesamt »nichts waren« – »unmögliche Firmen!« – und muss nun eben wieder nach einem Job suchen. Wer jedes Mal, wenn wieder ein Nachbar nervt, umziehen will, sollte wohl praktischerweise gleich in einem Lkw wohnen. Warum da nicht lieber diejenigen zurechtrücken, die du schon kennst, und mit denen du im Grunde arbeiten kannst?
Die Idee zu diesem Buch entstand aus den Gesprächen, die ich in den vergangenen neun Jahren als Coach mit Klienten geführt habe. Mehrere haben mir gestattet, ihre Geschichte hier in anonymisierter Form zu erzählen, damit andere davon lernen können, wofür ich ihnen sehr zu Dank verpflichtet bin. Du findest ihre Erfahrungen in den nachfolgenden Kapiteln, die verschiedene Aspekte unseres Themas – Grenzen ziehen, damit du nicht völlig überrannt wirst – behandeln. Diese Beispiele sollen dir ganz praktisch zeigen, warum das für dich wichtig ist und was du zukünftig anders machen kannst. In früheren Jahren war ich lange als Journalist tätig, wo ich ebenfalls unterschiedlichste Lebensgeschichten und -erfahrungen kennenlernen durfte, die hier auch in der einen oder anderen Form reflektiert sind.
Du wirst feststellen, dass dieses Buch auch einige ernste Themen behandelt, aber immer mit Humor, und das ist die erste Lektion: Lass dir von den anderen nie mehr die Laune vermiesen, sondern entdecke den Spaß daran, die Grenzen in deinem Leben neu zu ziehen – und zwar so, wie es dir am besten passt. Es gibt immer eine Lösung, diesmal darf sie den anderen wehtun.
»Niemand ist eine Insel«, hat ein Dichter geschrieben, und das stimmt. Du musst dich allerdings auch nicht als Einflugschneise für alle Probleme der Menschheit anbieten. Freu dich also auf unsere gemeinsame Reise mit dem Ziel, dir ab sofort nicht mehr alles bieten zu lassen. Ein entschiedenes Nein zu anderen ist ein fettes Ja zu dir selbst!
Attila Albert
Du bist reingelegt worden. Eltern, Geschwister, Kinder, Partner, Kollegen und Nachbarn sind gar nicht so nett, wie alle sagen. Deine Lektion: Lass dir nicht mehr einreden, du müsstest ständig für andere da sein.
Du hast wahrscheinlich schon gemerkt, dass man dich damals nach der Kinder- und Schulzeit völlig unvorbereitet ins Leben geschubst hat: Was da auf dem Stundenplan stand, verdient im Rückblick eine glatte Note 6 – ungenügend praxistauglich. Vor allem unsere Mitmenschen sind eine Lektion in Ernüchterung, und diese späte Erkenntnis hat ihren Preis.
Lass dir nicht mehr einreden, dass es alle »eigentlich« gut meinen.
Da hast du vielleicht im Unterricht die Feinheiten der Differentialrechnung durchlitten, aber wie man zwischen guten und schlechten Partnern, Freunden und Kollegen differenziert, hat dir nie jemand beigebracht. Mancher wurde mit der Ermahnung erzogen, »edel sei der Mensch, hilfreich und gut«, nur um im Berufsleben feststellen zu müssen, dass das wahre Karrieremotto oft lautet: »Eklig sei der Mensch, das hilft ihm sehr gut.« Da ist es kein Wunder, dass Goethe es selbst nie in eine höhere Managementposition geschafft hat.
Wie sich inzwischen wahrscheinlich auch für dich herausgestellt hat, sind selbst die besten Mütter nicht immer nur gütig, die lieben Geschwister nicht immer nur hilfsbereit, Kinder nicht immer nur dankbar. Das Gerede vom »Teamspirit« am Arbeitsplatz kannst du sowieso vergessen. Manche würden doch ohne ein Zögern für die Position des Vize-Abteilungsleiters morden, einige selbst, um endlich Nachrücker im Betriebsrat zu werden.
Pech für alle, die naiverweise nur an das Gute geglaubt haben und sich nun mit Schwierigkeiten herumschlagen müssen, die sie sich mit ein bisschen mehr Realitätssinn nie eingefangen hätten. Da kann es nur heißen: Aufgewacht im Märchenland!
»Eigentlich wollte ich eine gute Mitarbeiterin sein, auf die sich unsere Chefin verlassen kann«, sagte mir eine Klientin, die gerade wegen »ungenügender Leistung« heftige Punktabzüge bei ihrer Beurteilung und Jahresprämie erhalten hatte. »Ich habe mich pausenlos um all das gekümmert, was sie mir auf den Schreibtisch geschoben hat. Nur, um mir nun vorwerfen lassen zu müssen, dass ich wahrscheinlich nicht gut genug organisiert bin. Anders wäre es ja gar nicht zu erklären, dass ich mit meiner Arbeit ständig zu spät dran sei.«
Natürlich hilft man gern einmal. Aber doch nicht ständig.
Ein anderer Klient, der regelmäßig und unverschuldet mit einem überzogenen Konto kämpfte: »Mein Bruder hat Geldprobleme, seit ich denken kann. Ich mühe mich ab, meine Finanzen in Ordnung zu halten – nur, um dann wieder einspringen zu müssen, wenn er seine Stromrechnung nicht zahlen kann oder es für die Miete nicht reicht. Logischerweise hilft man gern, gerade innerhalb der Familie. Aber wie oft denn noch, wenn es immer so weitergeht und er selbst gar nichts dazulernt?«
Seine Geschichte erinnerte mich an all die RTL-Episoden mit Peter Zwegat, in denen er wieder einmal 45 Serien-Minuten herumgerannt war, um einen ruinierten Schuldner vor der Zwangsräumung zu retten, nur, um am Ende dessen fröhlichen Ruf zu hören: »Ach, die Gläubiger haben zugestimmt? Prima, dann können wir ja wieder shoppen gehen!« Manchen Leuten ist einfach nicht zu helfen. Blöderweise, das erkennt man irgendwann, sind es oft die, für die wir eigentlich alles tun wollten. Das Versprechen der ewigen Liebe, Freundschaft oder gemeinsamen beruflichen Projekte wird dadurch auf Dauer ziemlich teuer.
Das Erwachsenwerden hat natürlich seine Vorteile, das hast du mit spätestens 30 erkannt. Das erste eigene Auto, eine Wohnung beziehungsweise ein WG-Zimmer, wenn du dich für einen »kreativen« Beruf entschieden hast, und auch, dass du deine Krankenpflichtversicherung nun selbst bezahlen darfst.
Am schwierigsten ist es mit Menschen, die man gar nicht loswerden kann.
Gleichzeitig ist es verbunden mit einer Serie unangenehmer Erfahrungen: Wieso bricht dir deine erste große Liebe das Herz, obwohl es doch monatelang hervorragend lief und jeder Bravo-Fotoroman etwas ganz anderes versprochen hatte? Waren die eigenen Eltern immer schon so egoistisch, selbstmitleidig und überhaupt unvollkommen? Wieso denken in der Firma eigentlich immer alle nur an sich, aber keiner jemals an dich? Kurz: Wieso sind die anderen Menschen nicht so, wie man es doch eigentlich erwarten dürfte?
Zwar hat man sich bereits von jungen Jahren an vor allerlei Gefahren des realen Lebens gefürchtet. Nachts in einer dunklen Seitenstraße überfallen zu werden, wie man es bei »CSI: Miami« immer gesehen hat, nach mehreren erfolglosen Bewerbungen verarmt unter einer Brücke zu enden oder selbst niemals so berühmt zu werden wie die Kardashian-Schwestern.
Doch nichts hat uns vor der wahren Bedrohung des Alltags gewarnt: vor Menschen, die uns ausnutzen, verletzen oder anderweitig in den Wahnsinn treiben, und gegen die man nicht einmal etwas machen kann, weil man sie einfach nicht loswird oder ihnen unvorsichtigerweise ewige Treue zugesagt hat.
Es liegt an dir
Man hat dich gelehrt, dass alles gut wird, dabei aber einen entscheidenden Nachsatz weggelassen: vielleicht nicht für dich, wenn du nicht lernst, Grenzen zu ziehen und für deine Rechte einzustehen. Eigentlich sollte das Pflichtstoff der ersten Klasse sein, noch vor dem ABC, mit einem intensiven Auffrischungskurs in der Abiturstufe.
Was ist eine Grenze überhaupt? Eine Linie, an der du für alle klar erkennbar mitteilst: »Freiwillig bis hierher, aber nicht weiter.« An der du eine Person zurückweist, die deinen Regeln nicht folgen will: »So nicht, mein Lieber, auch wenn wir mal Freunde waren. Das lasse ich nicht mit mir machen.« In jedem Flughafen reihen sich selbst die Easyjet-Touristen brav an der Grenzkontrolle auf und benehmen sich manierlich. Da kann dein Leben nicht zur Everything-Goes-Zone für alle werden.
Wenn du Grenzen setzt, zeigst du, dass du schon auf andere, aber eben auch auf deine Bedürfnisse achtest und nicht jeden über dich verfügen lässt, wie es ihm gerade in den Kopf schießt. Sie stehen für das, was dir wichtig ist, wofür du einstehen würdest, auch wenn Widerstand zu erwarten ist. Darauf solltest du dich einrichten: Manchmal wirst du dafür kämpfen müssen, dass deine Regeln anerkannt und eingehalten werden. Selbst auf Hawaii hat die Grenzkontrolle ihre Revolver zur Hand, schon für die optische Nachdrücklichkeit.
Auf manche Gespräche freut man sich so sehr wie auf eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt.
»Drei Jahre bin ich einem Mann nachgerannt und wegen ihm sogar in seine Stadt gezogen. Fürs Bett war ich ihm immer gut genug«, klagte eine Freundin verbittert und ehrlich enttäuscht. »Habe mir verständnisvoll all seinen Mist angehört, dass er ›noch nicht bereit für eine neue Beziehung‹ ist und es ›diesmal ganz langsam angehen‹ will. Nur, um eines Tages per SMS abserviert zu werden und hintenrum zu erfahren, dass er eine Woche später seine langjährige Freundin geheiratet hat. Während ich ihn getröstet habe, wenn er wieder Stress in der Firma hatte, und etwas von ›unserer Zukunft‹ fantasiert habe, hat dieser Arsch seine Hochzeit vorbereitet.« Ernüchterung sorgt auf einmal für einen sehr klaren Blick.
Grenzen setzen muss früh passieren, und das macht es so schwierig: Du musst ein Thema ansprechen, auf das sich dein Gegenüber ungefähr so freut wie ein AOK-Mitglied auf eine Wurzelbehandlung. Es tut weh, und die Kosten darfst du auch noch tragen. Selbstbeteiligung: 100 Prozent.
»Ich hätte meiner Chefin schon lange ein paar Takte sagen sollen oder besser gleich ganz kündigen«, meinte eine Klientin aus der PR-Branche, die sich in ihrer Agentur unfair behandelt fühlte. »Sie behandelt mich von oben herab und nörgelt an allem herum, obwohl ich jeden Tag ihren Job nebenbei mitmache. Auf die versprochene Lohnerhöhung warte ich seit fast einem Jahr. Blöderweise waren wir vor ihrer Beförderung mal beste Freundinnen, und unsere Männer kennen sich noch von der Uni. So darf ich mich tagsüber über sie ärgern und abends mit allen zur ›Happy Hour‹ und fröhlich tun, damit ich nicht als egoistische Spaßbremse dastehe, die nicht ›auch mal abschalten‹ kann.«
Es sind nicht die Leute, denen man am liebsten mal eine reinhauen würde, es sich aber verkneift. Es sind die Leute, denen man auch noch ein Küsschen geben muss, weil es sich so gehört. Die Hemmung, anderen klare Grenzen zu setzen, wurzelt fast immer in dem, was uns traditionell als »Anstand« vermittelt wird. Schon die Bibel hat da eindeutige Forderungen: Ehre deine Eltern, liebe deine Nachbarn wie dich selbst, auch wenn sie furchtbar sind, und lade deine Feinde zu Starbucks ein, um bei einem Java Chip Frappuccino Grande mit ihnen Frieden zu schließen.
Der Rat, dann eben den Kontakt abzubrechen, das müsse man sich nun wirklich nicht antun, hilft nicht viel weiter. Tatsächlich gibt es zwar Menschen, die sagen: »Seit ich Single bin, mache ich gefühlt viel weniger falsch.« Oder: »Seit ich meine gesamte Familie auf WhatsApp geblockt habe und sie auch nie mehr besuche, kommen wir prima miteinander aus.« Das ist selbstverständlich immer eine Option, die aber auch einen Preis hat, den du zahlen musst. Anderen Grenzen zu setzen muss man sich grundsätzlich erst einmal leisten wollen und können – vor allem, wenn es dabei um Menschen geht, die ein entscheidender Teil deines eigenen Lebens sind. Ehrliche Antworten auf den Vorschlag, das Ganze doch zu beenden, könnten etwa so klingen:
»Das würde ich natürlich sehr gern und sofort, aber so lange bei Großtante Ilsbeth noch etwas zu erben ist, werde ich einen Teufel tun. Da kann sie noch so nerven: Ihr Häuschen im Sauerland kriegt kein anderer, auch wenn ich selbst da im Leben nicht einziehen würde!«
»So lange mein Vater mir monatlich die Miete überweist, kann ich mir das finanziell leider nicht erlauben. Mein Protestblog gegen den klimaschädlichen Kapitalismus, den ich von Berlin aus schreibe, trägt sich wirtschaftlich noch nicht selbst.«
»Ich weiß, ich sollte Sabine und ihr Gejammer aus meinem Leben streichen. Aber wer kümmert sich dann um die Kinder, wenn ich zum Sport will? Ohne eine Freundin mit Helfersyndrom kommt eine moderne Mutter doch heute gar nicht mehr klar.«
»Mit diesem Mann hätte ich schon nach einer Woche Schluss machen müssen. Er ist einfach unerträglich, hat kein Benehmen und sieht noch nicht mal gut aus. Aber ich brauche den Job und muss mich daher vorerst mit meinem Chef arrangieren.«
»Ich hätte meinen Freund schon lange abschießen müssen, das weiß ich selbst. Viel läuft da sowieso nicht mehr. Leider hat unter den anderen 50 Millionen Tinder-Mitgliedern bisher noch keiner gerafft, was für ein verkannter Traumpartner ich eigentlich bin.«
Erlaube kein Verhalten mehr, das auf deine Kosten geht. Der Preis ist zu hoch.
Es gibt also viele gute Gründe, auch schwierige Zeitgenossen nicht gleich nach Sibirien oder zumindest in die seelische Verbannung zu schicken. Oft ist es schon der, dass man sich damit nur eine Reihe anderer Probleme einhandeln würde, die auch nicht viel besser sind.
Das heißt jedoch nicht, dass du alles hinnehmen und dir damit unnötig frühe Zornesfalten einhandeln musst. Die Botox-Behandlung dürftest du nämlich selbst übernehmen, wenn du nicht gerade eine lukrative Trennung oder einen saftig dotierten Aufhebungsvertrag in Aussicht hast.
Die Kunst, um die es in den folgenden Lektionen gehen wird, liegt also darin, diesen speziellen Mitmenschen eine Grenze zu setzen: Du entscheidest, wie nah du sie zukünftig an dich heranlassen willst, damit du die Vorteile noch genießen kannst, gleichzeitig der Preis dafür aber angemessen bleibt. Kein unerwünschtes Verhalten auf deine Kosten mehr, insbesondere nicht von Menschen, mit denen du beruflich oder persönlich auch noch ständig zu tun hast. Das macht dich kaputt auf Dauer!
Schwere Fälle gehören in die Personalabteilung, zu Betriebsrat, Polizei oder Anwalt. Aber in der alltäglichen Kommunikation kannst du klare Grenzen ziehen: eine Armlänge Abstand für alle Unverschämtheiten, Unhöflichkeiten und Unerträglichkeiten. Je klarer dir selbst ist, was du nicht mehr akzeptierst, desto sicherer und entschiedener wirst du auftreten und dich nicht mehr einschüchtern, drängen oder überrumpeln lassen.
Warum das Ganze? »Weil ich es mir wert bin«, hat der große französische Philosoph L’Oréal gesagt, und das ist schon Begründung genug: Es wird so gemacht, weil du es so willst.
Wahrscheinlich hast du dir selbst in den vergangenen Jahren bereits viele Gedanken darüber gemacht, warum du es manchmal so schwierig findest, anderen ihre Grenzen aufzuzeigen. Als Coach frage ich jeden Klienten, warum er für andere etwas tut, was er nach eigener Aussage eigentlich »gar nicht will«. Zur Antwort erhalte ich meist eine Variante dieser Erklärungen:
»Ich bin einfach zu nett. Ich kann den Leuten nichts abschlagen.«
»Ich habe das Gefühl, ich muss es tun. Das ist wohl meine Erziehung.«
»Für mich gehört es sich einfach. Auch wenn ich weiß, dass es falsch ist.«
Das ist, unter uns, ein bisschen kokett, denn das sind alles Umschreibungen für: »Ich bin zu gut für diese Welt, und das wird nun ausgenutzt.« Ganz so ein Hascherl bist du sicher nicht, aber gleichzeitig steckt doch Wahrheit darin. Keiner rechnet damit, dass seine guten Seiten – Offenheit, Hilfsbereitschaft, Fürsorglichkeit, Liebe – ausgerechnet von denen ausgenutzt werden, die davon profitiert haben. Zwar heißt es schon in den ältesten Märchenbüchern ziemlich desillusioniert: Undank ist der Welten Lohn. Aber als resignierter Zyniker kann man ja auch nicht durchs Leben gehen und es noch genießen.
»Ich weiß, dass ich für mich einstehen müsste, etwas sagen«, erzählte mir eine Klientin, die unter einem erfolgreichen, aber unangenehmen Ehemann litt, den sie als kontrollierend und oft respektlos empfand, von dem sie sich aber nicht trennen konnte – wegen der fast erwachsenen Kinder und weil sie vieles an ihm trotzdem noch liebte. »Es ist, als hätte ich in diesen Momenten, in denen es mal um mich gehen müsste, einfach keine Kraft, das einzufordern. Ich bin dann eher wütend auf mich als auf ihn.«
Eine Herausforderung liegt also auch darin, dass du innere Stärke brauchst, um für dich selbst einstehen und einem anderen etwas entgegensetzen zu können. Das gilt ironischerweise besonders, wenn du emotional berührt, gar verliebt bist, ehrlich helfen und etwas verbessern willst. »Ist es in solchen Situationen nicht total egoistisch, an seine eigenen Bedürfnisse zu denken?«, fragt man sich selbst da zweifelnd. Weitere zehn Sekunden Idealismus später ist man so wehrlos wie ein ausgesetztes Kätzchen und auf die Hilfe Fremder angewiesen.
Seelische Nacktheit ansehen zu müssen ist immer noch am schlimmsten.
Immer wieder höre ich, dass jemand angeblich »total verstört« war, als er damals als Zehnjähriger die eigenen Eltern beim Sex überrascht oder während der Campingferien nackt gesehen hat. So einem aufgewühlten Kind kann man, kleiner Erziehungstipp, ruhig mal sagen: »Wenn du glaubst, jetzt schon traumatisiert zu sein, dann reden wir weiter, wenn du 30 oder 40 bist. Dann siehst du nämlich das wahre Grauen in der Familie: seelische Nacktheit.«
Tatsächlich ist es bitter, miterleben zu müssen, wenn sich beispielsweise ein alter, einsam gewordener Elternteil damit quält, noch einmal neue Freunde finden zu müssen, und in seiner Unbeholfenheit lieber auf seine Kinder ausweicht. Oder ein Angehöriger durch Krankheit oder Alter eingeschränkt ist und am liebsten sämtliche Verantwortung delegieren möchte. Oder das eigene Kind größte Mühe hat, den Start ins Berufsleben zu finden und deshalb auch mit 35 lieber ein Teenager wäre, der alle Verantwortung zurückgibt – »Lasst mal, das mit dem Erwachsensein ist doch nicht das Richtige für mich!« Grenzen zu setzen ist hier ein Gebot des Selbstschutzes.
Das erste Bedürfnis, wegen dem sich Grenzen lohnen, ist deine körperliche Gesundheit. Wer sich ständig für andere überlastet, bekommt irgendwann Schlafstörungen, Schwindelanfälle, Panikattacken, Unter- oder Übergewicht und das Gefühl, nie ganz gesund zu sein, etwa wegen ständiger Infekte. Mancher Mittdreißiger ist wegen permanentem Stress bereits so früh gealtert, dass selbst ein Dauerurlaub auf »Love Island« das nicht mehr reparieren könnte. Das lohnt sich also keinesfalls.
Das zweite Bedürfnis ist dein seelisches Wohlbefinden. Du brauchst es, um eine gute Ehe beziehungsweise Beziehung führen zu können, deine Karriere nicht durch Flüchtigkeits- und Hastigkeitsfehler, Fehleinschätzungen und Wutausbrüche zu ruinieren und trotz allem noch Nerven für Kinder und Freunde zu haben. Wenn du da nicht überall Grenzen setzt, wirst du ausgeplündert wie ein Sonderverkaufstisch am »Black Friday« – nichts von Wert mehr übrig, wenn die Massen wieder weg sind.
Einfache Ratschläge klingen gut, funktionieren in der Praxis aber leider meist nicht.
»Im Moment ist es nicht so leicht« ist dabei, so meine Erfahrung als Coach, der größte, wenn auch verständlichste Selbstbetrug. Wenn du ehrlich bist, dauert dieser »Moment« in manchen Fällen schon viele Monate oder gar Jahre an. Da hast du immer zu viel gegeben und vergeblich gehofft, dass es doch einmal besser werden müsse, wenn DU dich nur genug anstrengen würdest. Ergebnis: Die Ausnahmesituation ist normal geworden. Aber die gute Nachricht lautet: Du kannst das ändern, egal, ob das Problem seit einem Tag oder deinem halben Leben besteht.
Populäre Ratschläge klingen so: »Du musst einfach mehr für dich selbst einstehen. Setz mal Grenzen. Mach es doch einfach nicht mehr.« Worauf zu sagen ist: Empfehlungen mit »einfach« sind fast immer einfach blöd. Ungefähr so hilfreich wie: »Du wiegst 200 Kilo? Dann iss doch einfach weniger!« Oder: »Du rauchst durchschnittlich zwei Schachteln Zigaretten am Tag? Dann rauche doch jetzt einfach nicht mehr. So schwer kann das doch nun wirklich nicht sein.« Praxisergebnis: einfach sinnlos!
Es funktioniert nicht, weil du zuerst eine Realität anerkennen und verstehen musst: Auch eine problematische Beziehung funktioniert zu einem gewissen Grad und hat Vorteile, die dich darin festhalten. Ebenso, wie sich ständig mit zu viel Essen vollzustopfen oder Kette zu rauchen ungesund sein mag, sich aber zumindest im Moment gut anfühlt und glücklich macht. In den nächsten Kapiteln findest du die häufigsten Gründe dafür, darunter den Schutz vorm Alleinsein oder Bestätigung durch ständiges Helfen.
Alles hat seine Vorteile
Weder mangelnde Willenskraft noch Charakterschwäche sind die Gründe, dass du anderen zu wenig Grenzen setzt. Du machst mit, weil für dich, trotz allem, etwas dabei vorteilhaft ist. Je schneller du herausfindest, was das ist, desto eher kannst du es dir auch woanders holen und die bisherige Beziehung neu gestalten oder beenden.
Zusammengefasst kannst du hier für dich mitnehmen, über deine bisherigen Erklärungen etwas tiefer nachzudenken. »Ich bin zu nett«, »Ich kann keinem etwas abschlagen«, »Das ist meine Erziehung«, »Für mich gehört es sich einfach« sind verständliche, aber ausweichende Deutungen, die nur die Oberfläche berühren. Je mehr du dich selbst verstehst, und das Buch wird dir dabei helfen, desto mehr kannst du diese Illusionen über deine Motive loslassen und deine wahren Bedürfnisse anerkennen.