Wir beide, du und ich, sind möglicherweise Schicksalsgenossen. Das fände ich äusserst bedauerlich, weil ich niemandem das wünsche, was ich durchmachte. Andererseits ist es gut so, dass du gerade mein Buch in den Händen hältst, denn ich habe es auch für dich geschrieben. Aber natürlich auch für mich selbst, denn mir vorzustellen, dass meine Geschichte einen vielleicht ähnlich Betroffenen wie mich erreicht, motivierte und inspirierte mich entscheidend beim Schreiben. Zum Beispiel wenn ich mir ausmalte, wie du dich wie ich damals niedergeschlagen, verzweifelt, hoffnungslos, als Verlierer, gar als Versager siehst. Wie gut ich dich verstehe!
Die mit solchen Gefühlen verbundenen Ängste und die aus ihnen resultierenden abgründigen und peinigenden Nöte kenne ich. Doch mittels der Erfahrungen, zu denen mich die erlebten Erschütterungen führten, kann und will ich dir wärmsten Herzens versichern:
Es gibt IMMER einen Ausweg!
Um diese goldene Erkenntnis mit dir zu teilen, habe ich niedergeschrieben, wie ich voller Elan in mein Leben stürmte und fürchterlich auf die Nase fiel; und dennoch oder gerade deshalb zu einem geheimnisvoll gelenkten Leben fand, das ich in beglückender Leichtigkeit Tag für Tag dankbar genieße, und was das mit Spiritualität zu tun hat.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Illustration: Wolfgang Wüst
© 2019 Wolfgang Wüst
Cover-Hintergrund vorn: photopiano / clipdealer
Cover hinten: Foto des Autors:Privatfoto
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7494-4434-2
„Also Kinder, macht euch keine Sorgen!
Auch wenn Fehler begangen werden -
Haltet euch nicht bei ihnen auf!
Lasst ihr euch durch sie beunruhigen,
Verliert ihr die Kraft, sie zu korrigieren.
Vergesst nicht: die Nahrung ist da, damit wir sie essen, und nicht dazu, dass sie uns isst.
Die Welt ist dazu da, dass wir uns an ihr erfreuen. Lasst es nicht zu, dass sie euch hin und her zerrt mit ihren Attraktionen und ihren Gräueln! Körper, Gemüt und Intellekt sind Werkzeuge eures Willens. Ihr müsst lernen, sie zu beherrschen! Duldet keinesfalls, dass sie euch beherrschen!“ 1
1 Amritanandamayi, Gespräche mit Amma, S. 119
In Leichtigkeit zu leben scheint für die meisten von uns ein unerreichbarer Wunschtraum zu sein. Wundersames stufen wir schon gar nicht als selbstverständlich ein. Abstürze in Abgründe werden meistens nicht laut hinausposaunt, kommen aber erschreckend häufig vor. Was auch nicht gerade auf Plakatwänden verkündet wird, ist, dass Wundersames auch häufig stattfindet, dann aber bedauerlicherweise fast nie als wundersam wahrgenommen wird. Beides prägte mein Leben, ein Absturz und eine ganz und gar wundersame Entwicklung, die dem Absturz folgte. Nein, ein Lebensverlauf, wie ich ihn erlebte, ist nicht ganz einfach nachvollziehbar, aber er hat sich so zugetragen, wie ich ihn hier wiedergebe. Und die Strecke, die ich als meinen Absturz bezeichne, war grausam und zerstörerisch und quälend genug und die darauffolgende wundersam genug, um davon auszugehen, dass meine Geschichte auch für dich aufschlussreich sein könnte.
An dieser Kreuzung treffen wir uns. Du, der gerade mein Buch liest und ich, der glaubt, dir etwas mitteilen zu können. Solltest du dich also niedergeschlagen, verzweifelt, hoffnungslos, als Verlierer, gar als Versager fühlen, dann lies weiter.
Denn: Wie gut ich dich verstehe! Ich kenne sie nur zu gut, diese mit solchen Gefühlen verbundenen Ängste und die aus ihnen resultierenden abgründigen und peinigenden Nöte.
Doch gleich vorweg habe ich dir etwas ganz und gar Positives mitzuteilen:
Es gibt immer einen Ausweg!
Meine Erfahrungen sind die Basis für diese felsenfeste Überzeugung.
Irgendwann hatte ich so viel Dampf im Kessel, dass ich mich gezwungen sah, Fragen zu stellen. Andere Fragen als vorher und an eine andere Adresse gerichtet als vorher, denn die Fragen und Antworten blieben über die ganze desaströse Zeit hindurch ziemlich erfolglos. Mein Leben war festgefahren. Damit der im Dreck steckende Karren wieder in Bewegung gebracht werden konnte, musste ich meine Fragen an eine andere Instanz richten, an eine Autorität, die außer jedem Zweifel steht. Ich kannte nur eine: Amma. Also fragte ich sie, ob ich ein Buch schreiben solle über `mein Leben und meine Spiritualität`. Ja, antwortete sie, ich solle es versuchen. Ich werde darauf zurückkommen, wer Amma ist.
Allein schon die Absicht zu fragen verschaffte mir ein Gefühl im Magen, als befände ich mich gerade mit einem Tretboot auf stürmischer See. Richtig schwindelig wurde mir aber durch Ammas Antwort. Der Mut verließ mich bald wieder, als ich mich von einem Moment zum anderen vor der Herausforderung stehen sah, tatsächlich ein Buch zu schreiben.
Es vergingen Jahre, bis ich wenigstens eine neblige Ahnung davon bekam, wie ich den Plan konkret
umsetzen könnte. Das lag nicht allein an der Tatsache, dass ich noch nie ein Buch geschrieben hatte. Offensichtlich sandte mein Unterbewusstsein seine Warnungen voraus vor dem, was auf mich warten sollte. Tief vergrabene Erinnerungen, die teilweise grässlicher nicht hätten sein können, mussten wieder ans Licht befördert werden. Die konnten nur bedrückend und peinigend werden, einer Rückschau auf eine Zeit entsprechend, die für mich der Hölle gleichkam. Einem Sturz in den Abgrund eben.
Stirnrunzeln ist oft angebracht, wenn jemand seine Lebensgeschichte aufzuschreiben und zu veröffentlichen gedenkt. Was mich selbst betrifft, ging es mir genauso. Wie bedeutend sollen ausgerechnet meine Erlebnisse sein im Vergleich mit unzähligen Schicksalen anderer, die weit tragischer und dramatischer und in einer Wucht auftreten, dass es einem den Atem verschlagen kann? Ein Vergleich verbietet sich von selbst!
Allerdings erlebte ich die Zeitspanne, die zu meinem Absturz führte samt ihren Folgen in einer Dramatik, die auch mir zeitweise den Atem raubte, übrigens im Negativen wie im Positiven. Quälende Selbstvorwürfe, zerstörerische Verzweiflung, jede Hoffnung erstickende Angst, überhaupt Ängste in den verschiedensten Ausprägungen, nahezu unerträglich die vor lebenslangem Versagertum, prägten die eine Seite. Die andere das Aufflackern endgültig verloren geglaubter Zuversicht, das Entkommen aus den zerstörerischen Teufelskreisen, und vor allem zu einer völlig neuen Lebensqualität gefunden zu haben, die die meines Daseins vor der dramatischen Entwicklung deutlich überstieg.
Dieser kurze Überblick umreißt den innersten Kern dessen, was ich dir mitteilen will und das wird naturgemäß sehr persönlich ausfallen und es ist die Wahrheit, meine Wahrheit. Obwohl es um meine ganz individuelle Geschichte geht, halte ich die entstandenen Konsequenzen für allgemeingültig. Wie könnte ich sie da für mich behalten! Ich überlasse es dir, ob du sie für bemerkenswert genug hältst, um einen Nutzen aus meinen Erkenntnissen zu ziehen.
Immerhin könntest du dich beim Lesen dadurch berührt fühlen, dass du dich in dem einen oder anderen Fall als ein Verwandter im Geiste erkennst, und dich durch meine Schilderungen zu aufkeimender Hoffnung, zu einem Gedankenfunken ermuntert wiederfindest wie:
Mensch dem ging es auch dreckig und der fand da wieder heraus, warum sollte es dann nicht auch mir gelingen.
Meine Lebensgeschichte, so dramatisch sie auch verlief, hat in mir unendlich viel Dankbarkeit ausgelöst. Ein weiteres Motiv, das meinen Mut zum Schreiben letztendlich antrieb. Meiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen, im allerweitesten Sinne etwas zurückzugeben, nachdem ich so reich beschenkt wurde, würde mir das gelingen, würde ich großes Glück empfinden. Zum Beispiel dadurch, dass auch nur ein einziger Mitmensch Stärkung und Hoffnung durch meine Geschichte finden könnte. Das wäre so etwas wie eine Erfüllung für mich, so als ob sich ein Kreis schließen würde und nun endgültig alles gut wäre. Vielleicht bist du dieser Mitmensch. Wie mich das freuen würde!
Drei Hauptthemen bilden den roten Faden, der mich beim Schreiben leitete:
Erstens, wie ich die Zeit, die ich als meinen Aufstieg bezeichne, erlebte, und wie es zum Absturz kam und wie der mich fast zerstörte, zweitens, wie ich dem Chaos entkam, und wie ich meine als wunderhaft empfundene „Auferstehung“ erlebte und drittens, welche Konsequenzen und Einsichten ich daraus gewann.
Die Betonung liegt in dem Wie des Abstürzens, denn es ging für mich unvorstellbar tief hinab – und natürlich in dem Wie des befreienden Entkommens aus dieser dunklen Hoffnungslosigkeit und des Entstehens der berührenden Wahrheit, mich heute als glücklichen Menschen zu erleben.
Es versteht sich von selbst, dass niemand allgemeingültig definieren kann, was das ist, ein glückliches Leben, ein Leben in Leichtigkeit. Das kann immer nur eine individuelle und daher relative Feststellung sein, die jeder für sich treffen muss. Meine heute gelebte Realität aber drückt sich nun mal in einem solchen Glücksempfinden aus und ist umso bedeutsamer einzustufen, als ich davor eben auf diesen als Hölle empfundenen Weg geriet, auf dem ich lange hilflos herumzappelte.
Ich empfinde keine Scheu, offen auf sehr persönliche und teils intimste Erlebnisse einzugehen. Warum auch? Wichtiger als vielleicht aufkommende Peinlichkeit ist, meine Reflexionen mit dem Leser, also mit dir, zu teilen. Versteckspiele haben dabei keinen Platz.
Das Leben streckt seine Tentakeln nach überall hin aus. So berühre ich nicht nur zwangsläufig, sondern auch gewollt gewagte wie diskutierbare Themen wie Spiritualität, Meditation, Gebet, Gott, Glaube, Beziehung, auch Ökonomie und Politik, und streife auch sachte das Thema Sexualität.
Im letzten Teil ließ ich es mir auch nicht nehmen, meiner Meinung, teilweise meiner Empörung über soziale Ungerechtigkeiten freien Lauf zu lassen. Das erlaubte ich mir besonders dann ganz unverblümt, wenn beim kritischen Blick auf ein paar Details meiner Verwicklungen ökonomische Zusammenhänge als Ursache sich aufdrängten. Und besonders wenn ich mich in meinem Gerechtigkeitsempfinden verletzt fühlte, ließ ich mich beim Schreiben allzu gerne anstacheln, um meinen Emotionen in ganzer Absicht nachzugeben, immer dem Begehren folgend, dass es einfach gesagt werden muss. Gerne gegen jede herrschende Meinung, dumpfe Verstandesorientierung, Vernunft und Logik, jenes von Versuchen fremder Einflussnahme so oft vergifteten Quartetts.
Diesem inneren Drängen geradezu lustvoll nachzugeben drückt ganz nebenbei auch die erwähnte Leichtigkeit aus, die mein Leben heute so befreiend begleitet, wo ich mich doch in meinem Elend damals nur dumpf und leer, mutlos und resigniert erlebte. Heute erlaube ich es mir; einfach so.
Es mag überraschen oder sogar unglaubwürdig klingen, in einer so katastrophalen Bedrängnis, die damals tsunamiartig über mich hinweggeschwappte, Lösungswege gefunden zu haben, denn das habe ich tatsächlich. Zwar in aller Regel nicht sofort, aber nach und nach, wie in einer Art Morgendämmerung. Not gebiert am Ende immer Lösungen, aber leider kommen wir unterwegs regelmäßig in Konflikt mit unserer Ungeduld, unserem Selbstmitleid und unserem mangelnden Vertrauen, das ist höchst bedauerlich, aber sehr menschlich.
Unbesehen unserer menschlichen Unzulänglichkeiten: Es ist ganz und gar bemerkenswert, was Not zum Vorschein bringen kann:
Die Kraft des Sehnens.
Sie veranlasste mich, taumelnd nach dem letzten Strohhalm zu greifen, hielt meine Fantasie vom zutiefst ersehnten Trost aufrecht und nötigte mich regelrecht, die Hoffnung auch dann nicht aufzugeben, wenn sie mal wieder so unauffindbar war wie die Marmelade im Keller nach einem Stromausfall.
Weil ich es erfahren habe, behaupte ich felsenfest, dass dieses Sehnen, wie ich es nenne, uns angeboren und untrennbar mit dem Menschsein verbunden ist. Ich gehe davon aus, dass es sich um jene Urverbundenheit handelt, die zu beschreiben uns die Worte fehlen. Manche nennen es als Gott oder das Universelle, oder das Höchste, den Spirit oder nennen es die Quelle. Egal welche Namen wir dem geben, jeder trägt es in sich. Es ist zwar möglich es zu übersehen, aber es ist unmöglich es zu verlieren.
Wir waren gute Freunde. Er ein agiler, stets freundlicher, humorvoller, hilfsbereiter Kumpel. Wir studierten zusammen, zuerst an der Fachhochschule, dann an der Uni, tranken zusammen so manches Bier. Seine Kinder kletterten auf mir herum, ich war quasi erweitertes Familienmitglied. Bei gegebenem Anlass quollen hin und wieder Details über seine Verwandtschaft empor, mittelständige Unternehmer, wie sie ihn irgendwie einmal ausbooteten. Ich habe es nie richtig verstanden, aber ich wunderte mich manchmal über seine klettenhafte Anbindung an dieses Thema. Dann konnte er langatmig vorwurfsvoll und auch mal wütend werden und dann trat sein unbändiger und trotziger Ehrgeiz zutage. Ich dachte mir nicht viel dabei. Er war ja nach unserem Studium erfolgreich im Mediengeschäft, wofür ich ihn bewunderte.
1989, also mehr als ein Jahrzehnt nach dem Ende unserer Studienzeit, unsere enge Freundschaft bestand immer noch, fragte er mich, ob ich mit ihm zusammen ein Unternehmen gründen wolle, er habe eine vielversprechende Idee.
Damals war ich schon einige Jahre freiberuflich selbständig, was mich aber nicht wirklich erfüllte und dachte bereits über eine Veränderung nach. So schien mir seine Idee gerade zur rechten Zeit zu kommen. Ich prüfte und überlegte. Sah mich schon auch zum Zögern veranlasst, ließ mich dann aber doch darauf ein und zog deshalb in die Nähe von München, um mit ihm zusammen das Projekt zu starten.
Einige Sachverhalte gaben Anlass zu Diskussionen, was ich für ganz normal hielt bei solchen Planungen. Allerdings wollte mein Geschäftspartner gleich zu Beginn eine GmbH gründen, er machte dies sogar zur Bedingung und das wollte ich nicht einsehen, denn bekanntlich kostet das gleich mal eine Menge Geld. Aber ich brachte viel Optimismus aus meiner vorangegangenen beruflichen Laufbahn mit und willigte schließlich ein.
Bald stellte sich heraus, dass ich meinem Freund, wie ich heute weiß, viel zu blindlings vertraute. Es dauerte nicht allzu lange, bis ich mir eingestehen musste, dass ich mich bei weitem zu blauäugig auf diese Unternehmung einließ und damit auf ein haarsträubendes Unterfangen.
Schon bald entpuppte sich das ganze Vorhaben als abgründiges Fiasko. Wir fielen auf Leute herein, die Lügner waren und Täuscher. Unsere Aktivitäten offenbarten nach und nach kaum zu beherrschende Risiken.
Nach noch nicht einmal drei Jahren war unsere Firma insolvent. Mein privates Vermögen löste sich in rasender Geschwindigkeit in Nichts auf. Mehr noch, es verkehrte sich ins Gegenteil. Ein massiver Schuldenberg türmte sich auf.
Als ich die Ausweglosigkeit erkannte, war es bereits zu spät. Mein Partner ließ sich auf keine erlösende Entscheidung ein, die zwar ein Ende mit Schrecken gewesen wäre, aber wenigstens ein Schrecken ohne Ende verhindert hätte. Um zu retten, was noch zu retten war, und das war schon nicht mehr weit entfernt vom nackten Überleben, blieb mir die einzig sinnvolle Alternative, um dem Schlamassel zu entkommen: So schnell wie möglich aus dem Unternehmen auszusteigen, was ich nach beinharten Diskussionen auch tat.
Psychisch schwer angeschlagen, in anhaltendem Schockzustand, in Panik und unter großem Druck suchte ich einen neuen Job. Wie aber sollte das funktionieren, tief enttäuscht wie ich war, deprimiert, kraft- und mutlos, wie sollte so ein Neuanfang gelingen?
Und, als wäre es nicht schon Tragödie genug gewesen, ging in dieser Zeit auch noch eine Liebesbeziehung in die Brüche. Nun lag alles in Scherben, meine Träume, meine Hoffnung, so ziemlich alles, worauf ich mein bisheriges Leben gebaut hatte. Die Katastrophe nahm unvermeidlich ihren Lauf.
Bald überwies die Bank meine Miete nicht mehr.
Die Folgen waren niederschmetternd. Ich geriet in einen abgrundtiefen Strudel, der nicht nur meine finanzielle und berufliche Existenz zerstörte, sondern beinahe auch meine physische. Damals war ich von so erhabener Weisheit wie eingangs zitiert („Kinder, macht euch keine Sorgen“) so weit entfernt wie ein Obdachloser von einem Dinner im 5-Sterne-Hotel.
Meine seelische Balance war außer Kontrolle geraten. Verzweiflung fing an mich aufzufressen. Ich geriet in einen gefährlichen Strudel von Hoffnungslosigkeit. Ein Sog, der mich zu vernichten drohte. Zurückerinnert aus heutiger Distanz kommt es mir vor, als hätte ich es mit einer Macht zu tun gehabt, der ich verloren ausgeliefert schien wie ein welkes Blatt dem Wirbel eines Tornados. Über eine unerträglich lange Zeit nahm ich alles um mich herum und in mir drin wie abgedunkelt wahr. Zu der Zeit war ich nicht in der Lage, mir vorzustellen, jemals wieder Licht am Ende des Tunnels zu finden. Mein Leben entwickelte sich unaufhaltsam zum Horrortrip. Meine Lebensenergie hing nur noch am seidenen Faden.
Ich fand ich mich in einer derartig lähmenden Finsternis wieder, dass ich mich heute wundere, wie ich das alles nicht nur psychisch, sondern schon rein körperlich, durchstehen konnte. Wie ich, mein Körper, es bloß anstellte, so viel Flüssigkeit zu produzieren für die jahrelang geweinten Tränen und den Angstschweiß Nacht für Nacht.
Ich befand mich in einem Dauerschock, der einfach nicht enden wollte. Ihn durchzustehen, löste eine ganze Kette verschiedenster Herausforderungen aus, die für mich schmerzvoller und energieraubender nicht hätten sein können.
Wie ich diese brisante Zeit überstand und aufarbeitete, wird den Inhalt der folgenden Kapitel ausmachen.
Eine Entscheidung kann nie isoliert von allem, was vorher war, getroffen werden. Sie ist immer nur der Teil eines umfassenderen Prozesses.
Bevor ich in diese Katastrophe geriet, war ich dieser Wolfgang Wüst. Und während des langanhaltenden Desasters ebenso, so wie auch noch heute. Eigentlich ist es überflüssig das zu betonen, tue es aber trotzdem, weil ich sicher bin, dass meine Aufzeichnungen verzerrt dargestellt wären, würde ich sie nur auf die Zeit ab der Firmengründung begrenzen. Sie könnten nicht vollständig und im Kern nicht wahrheitsgemäß sein.
Außerdem will ich verdeutlichen, aus welch höchst inspiriertem und lebensbejahendem Höhenflug heraus ich erst in diesen Absturz geriet und was dieser Höllenritt mit mir angestellt hat. Nur so kann ich nachvollziehbar darstellen, wie hoch die Fallhöhe war, als ich hart am Boden der Tatsachen aufprallte, aber auch, wie tief beglückend sich die Heilung der davon getragenen Wunden bis heute auswirkt.
Beginne ich also ziemlich am Anfang meines Lebens.
Die Zeit meiner Geburt hätte kaum chaotischer ausfallen können. 1944, kurz vor dem Ende des zweiten Weltkrieges. Meine Mutter erzählte mir, dass sie nicht nur einmal mit meinem dreijährigen Bruder an der Hand und mich in ihrem Bauch in den gegenüberliegenden Luftschutzkeller rennen musste wegen Bombenalarms.
Die Begleitumstände meines Starts ins Leben waren so gesehen aberwitzig. Trotzdem erlebte ich meine Kindheit als unbeschwerter Bub voller lausbübischem Übermut und in kindlicher Naivität weit entfernt von den nicht geringen Überlebenssorgen der Erwachsenen.
Als Heranwachsender war ich unaufhaltsam in Bewegung. War aktiv im Sport wie Fußball, Skifahren, Waldläufe, auch Tischtennis als Ligaspieler und war sogar leidenschaftlicher Turniertänzer. Mein junges Leben verlief also trotz der schwierigen Umstände um mich herum einigermaßen unbeschwert und in der selbstverständlichen Erwartung, dass ein glückliches und erfolgreiches Leben auf mich warten würde. Trotzdem gab es natürlich auch eine andere Seite meines jungen Lebens, die mich prägte.
Wir lebten in einfachsten Verhältnissen und für meine tapfere Mutter war es alles andere als einfach, in dieser chaotischen Nachkriegszeit wenigstens das Notwendigste für uns aufzubringen. Auch wenn wir als unbekümmerte Landkinder wie gesagt die Not nicht konkret als solche wahrnahmen, war eine beklemmende Realität allgegenwärtig: Unser Vater war nicht da. Er kam nicht mehr aus dem Krieg zurück. Glücklicherweise war das für mein kindliches Gemüt nicht ganz begreifbar und habe es daher kaum als etwas Schicksalhaftes erlebt, jedenfalls nicht bewusst.
Anders bei unserer Mutter. Ich erinnere mich gut daran, wie ich als kleiner Knirps und später sowieso immer wieder schmerzlich berührt miterleben musste, wie sehr sie mit ihrem Schicksal zu kämpfen hatte.
Wo ich auch hinsah, gab es diese Schicksale: Der Vater des einen Freundes kam mit nur einem Bein aus dem Krieg zurück. Einem Bekannten meiner Mutter wurde die halbe Hand weggeschossen und einem meiner Lehrer hatte man in den Mund geschossen, er zeigte uns seine Austrittsnarbe hinten am Nacken. Andere kamen erst nach Jahren, manche erst nach zehn Jahren aus der Kriegsgefangenschaft zurück – als Wrack. Ein Drittel der Väter in meiner Schulklasse kehrten gar nicht zurück. Dass mich das ins Grübeln brachte, konnte gar nicht ausbleiben und in meinem kindlichen Gemüt begannen sich unweigerlich Fragen einzunisten.
Ich war ein sehr unruhiges Kind und war ein Quirl in Dauerbewegung. Stillsitzen, zum Beispiel auf der Schulbank, war eine Qual für mich und kaum, dass die Klingel das Ende des Schultages verkündete, flitzte ich ins Freie wie vom Bogen abgeschossen. Erst viel später als Erwachsener realisierte ich warum.
Da war ein Suchen und ein Sehnen, tief vergraben in mir, vollkommen unbewusst und in meiner kindlichen Unschuld. Weit entfernt auch nur von der Andeutung einer Ursache für diese drastische Unruhe, doch wirkungsvoll genug, um mich bei jeder sich ergebenden Gelegenheit lossausen zu lassen wie eine Feuerwerksrakete,
Was mir bis heute in Erinnerung blieb, ist die Unmöglichkeit, auch nur für einen Moment Ruhe zu geben. Meine Umtriebigkeit machte meine Umgebung ratlos. Was sollten sie nur anfangen mit diesem kleinen Kerl, der einfach keine Ruhe geben wollte. Wenn man sucht, aber nicht weiß wonach und Fragen hat, aber nicht weiß wonach man überhaupt fragen soll, muss ja Unruhe aufkommen. Ich spürte, dass es da schlimme „Dinge“ gab, die ich nicht verstand und die steckten wie ein Stachel in meinem Gemüt. Das erzeugte Spannung, die sich auf die Dauer als Sprungfeder entpuppte.
Das Kind wurde älter, der Stachel blieb stecken. Meine im Verborgenen wühlenden, manchmal stürmisch hervorbrechenden Unsicherheiten ließen kaum ein Selbstwertvermögen aufkommen. Ich hielt mich für einfältig und unfähig. Eine traurige Haltung machte sich in mir breit: „Du kannst nichts, du weißt nichts, du bist nichts“.
Ich erinnere mich, wie mir einmal erschreckend bewusstwurde, dass das, was in der Zeitung stand, mir ein Rätsel war. Ich war vielleicht 12, 13 Jahre alt, natürlich konnte ich lesen. Aber ich verstand einfach nicht, was gemeint war und wie man eine Zeitung „richtig“ liest. Mich mit diesem bitteren Eingeständnis konfrontiert zu sehen, wirkte gründlich deprimierend auf mich. Alle möglichen Leute lasen die Zeitung. Auch die, die ich für doof hielt. Und ich sollte zu beschränkt sein zum Zeitung lesen? Versteckt in meinem hintersten Bewusstseinskämmerchen und lange nicht wirklich wahrnehmbar kristallisierte sich nach und nach ein Begehren heraus: Ich will diesem grauen nervtötenden Alltag entfliehen.
Es erwies sich auch nicht als glückliche Entscheidung, einen Zappelphilipp wie mich nach Schulabschluss, ich war übrigens noch 13, in eine Lehre zu schicken, in der ich den lieben langen Tag angestrengt bewegungslos auf dem Hintern verharren musste, um oft atemanhaltend, mit absolut ruhiger Hand auf zehntel Millimeter präzises Handwerk zu verrichten.
Ich erlernte den Beruf des Stahlgraveurs, damals ein sehr angesehener Beruf. Aber meine Überzeugung, ob diese Berufswahl die richtige für mich war, hielt sich in Grenzen. Warum, wusste ich selbst nicht genau. Andererseits war ich auch stolz, dieser angesehenen traditionsreichen Handwerkergilde anzugehören; auch mein Vater war Graveur. Das unbehagliche Gefühl wegen des eingeschlagenen Lehrberufes aber blieb. Alles verunsicherte mich: Von morgens bis abends zum Stillsitzen verurteilt zu sein, der teils raue Umgangston in der Werkstatt, das Gefühl, nicht wirklich zu wissen, was ich da tat und ob ich das überhaupt wollte, alles trug seinen Teil zu einer schleichenden Frustration bei. Das flaue Gefühl, nicht den Durchblick zu besitzen, was besser wäre mich und um gezielt genug hinterfragen zu können, um womöglich noch die Kurve in eine andere Richtung einschlagen zu können, machte mich anhaltend nervös. Die Aussicht, so die nächsten fünfzig Jahre verbringen zu müssen, ich spürte irgendwie, dass das nicht mein Weg sein konnte. Der eingeschlagenen Richtung wusste ich mich nicht zu erwehren, jedenfalls zunächst nicht.
Ein frustrierender Schwebezustand, der lange in mir herumgeisterte, allzu lange. Zeit heilt zwar Wunden, kann aber auch Druck erzeugen. Der nahm zu. So wurden Energien in Bewegung gesetzt. Die Fragen konkretisierten sich.
Es war wohl der zeitlichen Nähe zu den vorangegangenen Kriegsgräueln geschuldet, dass die Älteren meine für sie sicher heiklen Fragen unbeantwortet ließen und waren deshalb eher Bremsfaktor als vertrauensvolle Aufklärer gewesen. Mich machte das misstrauisch, ich sehe aber aus heutiger Sicht ein, dass ihre Reaktion nicht verwunderlich war. Schließlich lag das Ende des Zweite Weltkrieges gerade mal 13 Jahre zurück, als ich zum Beispiel 14 Jahre alt war.
Mein Argwohn aufgrund meiner unbeantwortet gebliebenen Fragen steigerte sich, je älter ich wurde. Ich hatte damals wirklich noch nicht viel kapiert, aber diese ganzen kriegsbedingten Nachwirkungen waren unlöschbar gespeichert auf meiner inneren Festplatte und das wirkte nach. Allzulange vor dem „Ernst des Lebens“ wegzulaufen konnte nicht funktionierten und kam für mich auch nicht in Frage. Ein latentes Unbehagen nistete sich ein.
Ich musste selbst auf Entdeckungsreise gehen. In eine andere Sphäre, außerhalb meiner Familie, außerhalb meiner sozialen Gebundenheit, weit außerhalb der Gravierwerkstatt.
Wie zum Beispiel funktionierte die nicht gerade kleine Schmuckfabrik, in der ich arbeitete? Was waren das für Leute im weißen Kittel, die gelegentlich aus den oberen Etagen in unsere Werkstatt herunterkamen? `Was tun die da oben?`
Der Meister, die Kollegen, alle machten sich sichtlich beflissener an die Arbeit, sobald die Weißkittel auftauchten. Mir gaben sie zu erkennen, dass mich die oberen Etagen gar nichts angingen außer, dass wir zu tun hätten, was die uns anwiesen und ich solle ja nicht auffallen, wenn die auftauchten. Das weckte erst recht mein Interesse. Wer waren sie? Was taten die nur da oben?
Eines Tages bekam ich die Gelegenheit, ihnen bei der Arbeit zuzusehen. Ich als Graukittel bekam den Mund nicht mehr zu. Die saßen an sauberen Schreibtischen, hantierten mit weißem Papier und telefonierten mit sonst wem auf der Welt (zur Erinnerung: Wählscheibentelefone, zuhause hatten wir noch lange keines)!
Es kam wie es kommen musste. Diesem grauen Alltag, in den ich geraten war, wollte ich entfliehen. Das Wie blieb mir noch eine ganze Weile im Halse stecken. Noch war mir nicht wirklich klar, mit welchem Schritt ich beginnen sollte. Die Zeit war noch nicht reif.
Wie? Was? Wo? Entweder man verfällt der Hilflosigkeit oder man lässt sich von ihr antreiben. Eines Tages wandte ich mich an einen Freund, von dem ich wusste, dass er Sport studiert. Ich wolle lesen, wüsste aber nicht was und was er mir empfehlen würde. Etwas minderbemittelt kam ich mir dabei schon vor und ich kann mich noch deutlich erinnern, wie mir meine Frage peinlich war. Er war aber feinfühlig genug, um meine verklemmte Lage zu überspielen und sagte mir ohne lange Umschweife, ich solle Bücher über Psychologie lesen. Er empfahl mir, mit Erich Fromm zu beginnen.
Ich las und las und konnte bald nicht mehr aufhören. Welch ein epochaler Schritt! Die Welt der Bücher war noch vollkommen neu für mich! Ein Sog der Faszination erfasste mich, was nicht nur all die Inhalte der Bücher schafften, die ich zu entdecken begann. Allein die Tatsache, dass ich in ernsthafter Weise zu lesen überhaupt begonnen hatte, ergötzte mich regelrecht und ich schaute mir dabei beglückt selber zu. Ich las Erich Fromms „Die Psychoanalyse der Ethik“, „Die Kunst des Liebens“. Entdeckte überrascht, dass in solchen Büchern ein riesiger Fundus an Literaturhinweisen steckt, denn das wusste ich vorher einfach nicht. Sogar bei Freud und C.G. Jungk landete ich, bei Ernest Dichter, Rudolf Steiner, Hermann Hesse ... . Ich las und las, vergrub mich in den Büchern und hoffte, Klarheit über das Leben im Allgemeinen und meines im Besonderen zu finden. Bei Erich Fromm erfuhr ich etwas über Meditation. Davon hatte ich vorher nie etwas gehört. Das Thema blieb haften.
Ich las und grübelte und die Jahre vergingen, aber meine bohrendsten Fragen blieben unbeantwortet. Die Welt um mich herum bebte und oft genug auch ich selbst und ich hatte keine Antworten und andere schienen sie auch nicht zu haben. Und ein Ausweg aus meiner beruflichen Sackgasse zeichnete sich auch noch nicht ab. Das war zum Verrücktwerden. So viel ich auch suchte und las und grübelte, die eine Generalfrage haftete an mir wie eine Klette: Soll das alles sein? Das musste ein Mangelgefühl erzeugen, und das erzeugt bekanntlich Spannung
Auf meiner Stirn schien ein Etikett zu kleben, auf dem geschrieben stand: “Du gehörst zu den einfachen Leuten, überlass das Anspruchsvolle den anderen“. „Schuster bleib bei deinen Leisten“. Sprüche dieser Art gingen mir zunehmend auf die Nerven. Diese Aussicht auf den Rest meines Lebens empfand ich als beengende Zwangsjacke. Mich damit abzufinden, kam jetzt nicht mehr in Frage.
Ich wollte viel mehr wissen, viel mehr können! Alles in mir rebellierte jetzt gegen die eingeschlagene Richtung meines bisherigen Lebens! Die Tragweite dieses Prozesses war mir bei weitem nicht bewusst, aber es brodelte. „Du weißt nichts, du kannst nichts, du bist nichts!“ Dieses unselige Urteil, das über mich gefällt schien, braute die Sud zusammen, die nur noch den einen Zündfunken brauchte, um den längst fälligen Ruck auszulösen.
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