LückenFüller 2
- Noch eine
Tentakelporn-Anthologie -
Herausgeberin: Claudia Rapp
© 2020 Amrûn Verlag
Jürgen Eglseer, Traunstein
Herausgeberin und Lektorat: Claudia Rapp
Umschlaggestaltung: Jürgen Eglseer
ISBN E-Book 9783958691285
Alle Rechte vorbehalten
Besuchen Sie unsere Webseite:
amrun-verlag.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar
v1/20
WIR SIND WIEDER DA
UND DIESMAL
NOCH ABGRUNDTIEFER.
Meine lieben Tentakelfreundinnen und Freunde,
wie schön, dass ihr erneut zu uns gefunden habt, in die Höhlen der Lust und des Wahnsinns, ins Albtraumwunderland und nach London, Frankfurt, in die Wüste, den Wald, den Hexengarten, den Zirkus, das Wohnzimmer, den Braukeller und sogar nach Mittelerde. Tentakel, die sich danebenbenehmen, gibt es offenbar überall. Wir laden euch ein, neue Facetten und Saugnäpfe dieses altehrwürdigen Themas zu entdecken …
Moment mal, seid ihr überhaupt alle im Bilde? Ihr habt dieses Buch – Teil 2 – doch gekauft, weil ihr den ersten LÜCKENFÜLLER-Band so irre, so lustig, so bescheuert, so anregend fandet, oder?
Sollte das nicht der Fall sein, hier die Kurzfassung für Anfänger:
Tentakelsex hat Tradition. Da wäre zum einen japanische Monster-Erotik (einfach mal Hentai oder den Künstler Katsushika Hokusai googeln) und zum anderen der amerikanische Autor H.P. Lovecraft, dessen Große Alte oft tentakelbewehrte, bösartige Götter aus der Tiefsee sind. Der bekannteste Vertreter des düsteren Pantheons dürfte wohl Cthulhu sein, dessen Weltherrschaftspläne sich gut zu entwickeln scheinen, da man sein Abbild inzwischen auf T-Shirts, als Plüsch- oder Comicfigur oder gar als Plätzchenausstecher kaufen kann. Bei Lovecraft blieb expliziter Sex allerdings außen vor; Anziehung oder Lust finden in seinen Werken nur versteckt und unterschwellig statt.
Ganz anders bei uns: Die Idee, eine Tentakelporn-Anthologie zu machen, entstand an einem müden, rotweinschweren Buchmesseabend vor einigen Jahren in Leipzig. Ein Haufen furchtloser, wahnsinniger AutorInnen schrieb sehr schräge und sehr unterschiedliche Geschichten zum Thema; das Buch erschien Ende 2016. Lovecraft-Liebhaber, Horrorfans, den Kitzel Suchende, einfach nur Neugierige und andere Bekloppte kauften es (häufig »als Geschenk für einen Freund«), sodass mich irgendwann der Verleger ganz beiläufig fragte: »Wie sieht’s aus, machen wir noch einen LÜCKENFÜLLER?«
Aber selbstverständlich. Offenbar sind noch längst nicht alle Lücken gefüllt, also habe ich erneut die besten, verrücktesten, mutwilligsten und hartgesottensten AutorInnen, die ich kenne, um ihre Geschichten gebeten. Herausgekommen ist ein noch vielfältigeres Kaleidoskop dessen, was wir beim Amrûn Verlag gern »Liebe und kranker Scheiß« nennen. Euch erwarten unter anderem Internetbekanntschaften und Sex mit dem Ex, Zoobesuche und Teenagerprobleme, fragwürdige Bordelle und Menschen auf der Suche nach dem ultimativen Kick. Es werden Bier, Wein und Cocktails konsumiert, Dämoninnen beschworen. Androiden flirten mit Menschen, Maler finden ihre Musen – kurz gesagt: Es geht vielarmig rund.
Lasst euch also aufs Neue oder zum ersten Mal umschlingen und seid gewarnt: Thomas Williams hat bereits eine Idee für Band 3!
Claudia Rapp
Tentakel-Besessenheit
Jennifer Schreiner
Ich fand Tentakelporn schon immer gut. Also nicht wie in »gut«, sondern wie in »heiß«, »anturnend« oder »geil«.
Meine Lust auf dieses Genre und auf Tentakel begann früh. Genauer gesagt, als ich im zarten Teenageralter auf die geheime Sammlung meiner Eltern stieß. Neben Filmen wie »Tarzan, die Schande des Dschungels« gab es dort auch Comics erotischer Art. An die genauen Reihen oder gar an Titel erinnere ich mich leider nicht mehr. Schade, denn heute würde ich sie mir ganz legal und ganz ohne Scham selber zulegen.
Auf jeden Fall haben mich diese »Schmuddelheftchen« früh geprägt. Neben der obligatorischen »Wonderwoman«, die nun wirklich nur ob ihres Outfits erotisch ist, gab es dort Helden, die auf ferne Porno-Planeten reisten, intergalaktische Fick-Abenteurer und verruchte Space-Reiter, die es mit allem trieben, was nicht bei drei in einer anderen Galaxie war. Da wurde entjungfert, was das Zeug hielt und so manche hartgesottene Forscher-Emanze fiel sinnlichen Einheimischen zum Opfer. Und während sich die männlichen Protagonisten mit Ureinwohnerinnen vergnügten, die teilweise mehr sekundäre Geschlechtsteile aufwiesen als zur normalen, weiblichen Grundausstattung gehörten, und die anatomisch dehnbarer waren und manchmal gar an Schlangenfrauen aus dem Zirkus erinnerten, so waren es doch die Forscherinnen, auf denen mein Augenmerk ruhte. Schon früh begriff ich, dass in diesen Heften letztendlich jede/r zum Zug kam und niemand ungefickt oder gar unbefriedigt ein Abenteuer überstand.
Super!
Und so machte ich es mir rasch zum Ritual, die geheime Kiste meiner Eltern einmal die Woche nach neuem Lesestoff zu durchsuchen. Doch es blieb nicht nur bei dem neuen Lesestoff. Eine Geschichte wurde zu meinem absoluten Favoriten: Dort wurde eine widerspenstige Forscherin als Strafe für ihr missglücktes letztes Abenteuer (wahrscheinlich war es missglückt, weil irgendein Ureinwohner bei ihr doch nicht zum Schuss gekommen war) zusammen mit einem riesengroßen Krakenwesen in einen Kerker gesperrt.
Aber anders als von den Gefängniswärtern geplant, aß das Wesen die Forscherin nicht auf, sondern … genau! Es vernaschte sie nach allen Regeln der Kunst. Und da es hauptsächlich aus Tentakeln und Saugnäpfen zu bestehen schien, wurde jede mehr oder weniger dafür geeignete Öffnung der Forscherin genutzt. Und sie versank fast in diesem anderen Wesen, während sich das Untier doch gleichzeitig in ihr versenkte. Dabei stöhnten beide in Großbuchstaben, genossen ihre Lust und die gemeinsame Leidenschaft – bis sich die Glückseligkeit eines perfekten Höhepunktes nicht nur auf ihrem Gesicht ausbreitete, sondern auch auf der Krakenfratze zu erkennen war.
Ich war im Himmel angekommen!
Und das bereits auf Seite 4 des Comics!
Wen interessierte da die Haupthandlung von wegen Flucht und neuer Planet und Engel, die alles bestäubten, was keine Flügel hatte – wenn es doch Tentakel gab?
Endlich wusste ich, was ich mir für mein Leben wünschte und wie mein idealer Lebenspartner aussah. Doch so sehr ich auch suchte: In der Realität gab es gar keine riesenhaften Kraken, die nur darauf warteten, Frauen zu beglücken. Keinen Cthulhu und keine Götter mit Saugnäpfen, die es verstanden, gleichzeitig zu lecken, kletten, saugen und ficken.
Wenn ich dieses volle Programm wollte, musste ich mir drei Kerle gleichzeitig nehmen. Mindestens.
Und jeder, der es schon einmal probiert hat, weiß sicherlich, was das für ein koordinativer Hochleistungssport ist – und wie wenig Kerle dazu neigen, zu lecken, zu kletten und zu saugen, während sie ficken. Dabei noch einen Orgasmus zu bekommen, war so unwahrscheinlich, da konnte ich auch gleich einen Engel suchen, der mich beglückend in den Himmel entrückte.
Die Jahre verstrichen, ich wurde erwachsen und verlor mein Interesse an Comics genauso wie an unproduktiven Dreiern, Vierern oder Fünfern. Denn wer wollte schon eine ganze Volleyballmannschaft, wenn doch ein einziges Tentakelwesen gereicht hätte, um meinen persönlichen Porno zu fahren?
Tatsächlich gelang es mir über die Eintönigkeit meines langweiligen Seins hinweg, die Sache mit den Tentakeln beinahe zu verdrängen und mich einfach wie alle anderen auf einen einzigen Kerl zu konzentrieren.
Zumindest gelang es mir, bis ich auf der Buchmesse über das Buch »Lückenfüller« stolperte. Es war fast Ehrensache, das erste deutsche Buch zu diesem Thema zu kaufen. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, sofort wieder angefixt zu sein. Wobei angefixt gar kein Ausdruck war, ich war besessen. Ich googelte Tentakelporn und während andere Leute die Augen schlossen und beim Sex dachten »Ab fürs Vaterland«, stellte ich mir immer wieder das Wesen vor, das mich schon in Teenagerjahren zu fantasievollen Höhepunkten getrieben hatte.
Und wenn ich schon kein eigenes Tentakelwesen bekommen konnte, so wollte ich doch wenigstens eine Geschichte zu diesem Thema schreiben. Ich flehte den Verlag an, ich flehte die Herausgeberin an und endlich, als eine Fortsetzung der Kurzgeschichtensammlung anstand, bekam ich meine Chance.
Und jetzt sitze ich hier, vor meinem Computer und mir fällt nicht ein einziges Wort ein.
Warum?
Weil es keine riesenhaften, sexgeilen Kraken gibt. Keine verruchten, verführerischen Götter mit Saugnäpfen. Und es gibt auch sonst kein Wesen, das Tentakel hat und mich flachlegen will – jetzt gleich und hier, an Ort und Stelle.
Verdammt!
Mehr denn je komme ich mir betrogen vor, sogar meiner erotisch-sinnlichen Fantasie von geschickten Saugnapf-Armen beraubt.
Ich seufze leise und gequält. Wider besseres Wissen stehe ich auf und schleiche mich in die Bibliothek, um mir eine klammheimliche Auszeit zu nehmen. Vielleicht können mich der »Lückenfüller« und ein wenig selbstgemachter Sex auf andere Gedanken bringen?
Doch welche der zahlreichen Geschichten wäre dazu geeignet? Auf keinen Fall soll es eine sein, bei der die Frau durch den Sex umkommt. Und apathisch ficken lassen geht auch nicht. Das soll schon geil sein und knallen.
Ich schlage das Buch auf und lehne mich auf meinem Lieblingsliegesessel zurück. Wie gut, dass ich nur ein Sommerkleidchen trage. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich bei meiner Handarbeit gestört werde, könnte ich es mit einer einzigen Handbewegung wieder zurückschieben und ganz züchtig wirken. Ungefickt.
Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf die eben gelesene Geschichte. Doch woher sollen der Tentakel kommen? Aus dem Buch?
Als etwas meine Beine nach oben streicht, mehr eine körperliche Frage als eine echte Berührung, reiße ich die Augen wieder auf. Schlagartig wird mein Mund trocken und mein Puls schießt nach oben.
Irgendwann muss mir das Buch aus den Händen geglitten und auf dem Boden gelandet sein. Aufgeschlagen.
Und die Tentakel kommen tatsächlich aus dem Buch. Dabei ist das eine Unmöglichkeit der Natur und widerspricht allem, was ich glaube und weiß. So viele Tentakelarme in dieser Größe können sich unmöglich aus so einem dünnen Riss zwischen den Realitäten in meine Welt hineinzwängen. Es ist nicht möglich, aber dennoch unleugbar: Sie quetschen sich aus den Seiten, ja selbst aus den Buchstaben.
Anders als in meiner Fantasie finde ich das aber gar nicht geil, sondern reagiere instinktiv, will aufspringen und fliehen. Doch dafür war es zu spät. Die erste Berührung ist nichts weiter als eine Art rhetorischer Frage gewesen, haben sich doch längst andere Tentakel in Position geschoben, um meine Beine im Falle eines Fluchtversuches zu umschlingen.
Das Wesen oder die Wesen – so genau kann ich das nicht sagen – benötigen nur Sekunden, um mich zu überwältigen und zu fixieren. Doch während die stärksten und dicksten Tentakelarme dazu dienen, mich an Ort und Stelle zu halten, sind es die kleineren, die mir wirklich Sorge bereiten. Sie gleiten in meine Richtung, wachsen teilweise aus den dickeren Strängen hervor und weisen mehr Saugnäpfe auf, als ich mir je hab vorstellen können.
Ich muss hier weg!
Verzweifelt versuche ich, mich aus den Griffen der zahlreiche Arme zu winden und dem zu entkommen, was nun unweigerlich folgen muss. Aber es geht nicht. Zu fest sind die Griffe und sie werden noch enger, als ich mich wehre, fast schmerzhaft. Als der erste Tentakel unter meinen Rock gleitet, schluchze ich tonlos auf. So habe ich mir das Ganze nicht vorgestellt. Das ist entwürdigend!
Als lese das Buchwesen meine Ängste, reckt sich ein weiterer Tentakel und nähert sich meinem Gesicht. Das Ding erwartet doch wohl nicht, dass ich meinen Mund öffnen werde, um was zu tun? Ihm einen zu blasen? Bei dem Gedanken muss ich fast kichern.
Dabei bin ich entschlossen, das Ding höchstens zu Calamari zu verarbeiten, Bissen für Bissen.
Wieder scheint es mich zu lesen, denn der Tentakel zögert und bildet schließlich einen Saugnapf aus, der entfernt an einen Mund erinnert. Einen sinnlichen, dickwülstigen Mund, der knutschen kann, bis einem Hören und Sehen vergeht und … noch während ich so etwas vollkommen Seltsames denke, legt sich das Saugnapfding auf meine Lippen, verschließt meinen Mund und trinkt meinen empörten Schrei. Sekunden später habe ich etwas im Mund, das sich wie eine Zunge anfühlt. Es ist ein wenig rauer, ein wenig heißer, schmeckt aber ungleich besser. Ich stöhne auf, als es sich tiefer in mich schiebt und über meine eigene Zunge streicht. Verführerisch und betörend. Die Berührung, oder vielleicht ist es auch der Geschmack, setzen ein Prickeln frei, das sich von meinem Mund ausbreitet, über mein Gesicht kriecht und gleichzeitig meinen Körper empfindlicher macht, empfänglicher – und alles zu lähmen scheint.
So muss sich ficken auf Koks anfühlen, denke ich noch. Dann ist auch das gleichgültig. Ich zerfließe förmlich unter der Zunge und genieße, dass sich verschiedene Tentakel auf meinem Körper bewegen und sich knabbernd, knuspernd und saugend mit jedem Quadratzentimeter meiner Haut beschäftigen, bis ich förmlich glühe. Und vor Geilheit zerfließe. Warum habe ich versucht, mich zu wehren?
Als der erste Tentakel zwischen meine Beine gleitet, bin ich mehr als bereit. Seit Jahren habe ich auf diesen Augenblick gewartet, darauf, von etwas gefüllt zu werden, das so weit außerhalb meines Begreifens, meiner Realität liegt, dass ich es immer noch nicht fassen kann – obwohl es gerade live geschieht!
Als mein Slip zerrissen wird, dauert es nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde, bevor sich der Porno-Tentakel in mich schiebt, zwischen meine Labien gleitet und sich so tief und dick in mich drängt, wie kein Männerschwanz es je gekonnt hat. Fast genauso schnell ist der zweite Tentakel, der meinen Anus für sich entdeckt hat und langsam den Muskel austrickst, indem er erst leicht und dünn in mich gleitet, nur um einen Atemzug später anzuschwellen.
Das Pulsieren kommt danach und ist mehr wie das Hineinströmen in meinen Körper, dehnt mich rhythmisch und fickt mich so intensiv, wie ich es nie erlebt habe. Nur das Zungending in meinem Mund verhindert, dass ich laut werde, keuche, stöhne oder schreie.
Genauso habe ich es gewollt. Hier kann ich mich fallenlassen, genießen und einfach nur das tun, was jede noch so emanzipierte Amazone um den Verstand bringen würde: Mich ficken lassen!
Als ich wach werde, prickelt mein ganzer Körper und scheint in einem geheimnisvollen Takt zu vibrieren. Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt und rote, saugnapfgroße Flecken zieren meine glühend heiße Haut. Meine Lippen sind angeschwollen, genau wie meine Zunge.
Ich spucke die Biene, die mich im Mund gestochen hat, aus. Sie landet neben dem »Lückenfüller«, der vor meiner Liege auf dem Boden liegt und mir aus den Händen geglitten ist, während ich statt Inspiration den Schlaf gefunden habe.
Mit zittrigen Fingern wähle ich den Notruf und beschließe, lieber auf die nächste Fortsetzung des Tentakelpornos zu warten, statt meine eigenen, der Allergie geschuldeten Sexfantasien aufzuschreiben.
Ein guter Mensch
M. M. Vogltanz
Der Künstler
Es war eine stürmische, regennasse Nacht, als sie an mein Tor kam. Ein Klischee natürlich, doch sie war ein lebendes Klischee, wie sie in ihrem durchtränkten Seidenkleid und der aus der Façon geratenen Hochsteckfrisur vor mir stand, als ich ihr öffnete. So schmal war sie, so zart, so verletzlich. Bei ihrem Anblick wurde mir die Brust eng.
»Sir, entschuldigen Sie die späte Störung. Mein Wagen ist liegengeblieben«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte nicht, wie ich erwartet hätte, sondern war fest und hart wie die Streben des Eisenzauns, der mein Anwesen umgab, und klar genug, dass ich sie über das Tosen des Sturms hinweg ohne Mühe verstehen konnte. »Hier ist weit und breit nichts, und die Straßen sind völlig unpassierbar. Dürfte ich wohl in Ihrem Haus die Nacht verbringen?«
»Völlig unmöglich«, brachte ich heiser hervor.
Ich bin ein guter Mensch. Ein guter Mensch. Ich wollte sie beschützen.
Doch sie ließ es nicht zu.
»Ich kann Ihnen die Unterkunft auch bezahlen.«
»Es geht nicht um Geld.«
»Nein«, bestätigte sie. »Es geht nicht um Geld. Es geht um Menschlichkeit.«
Ich bin ein guter Mensch, das bin ich wirklich.
Aber schwach.
»Sie reisen allein?«, fragte ich.
»Völlig allein.«
So schwach.
Ich machte einen Schritt zur Seite. »Treten Sie ein, Miss.«
Die Muse
Als ich seine Villa betrat, empfing mich ein Spalier schweigender Marmorstatuen. Mein Blick wanderte über eine nach der anderen, während ich der gebückten Gestalt meines Gastgebers folgte, streifte Frauengestalten ohne Arme, ohne Kopf, ohne Kleider, ohne Gesicht. Auch Engel waren darunter, deren Flügel gebrochen waren und nicht mehr schlugen, die Tränen auf ihren weißen, kalten Wangen für immer erstarrt. Das unruhige Licht der Gaslaterne in seiner Hand verlieh ihren leeren Antlitzen den Anschein von Leben, wo keines war – nicht mehr, nie mehr.
Als er bemerkte, dass ich die Statuen betrachtete, sagte er: »Die habe ich gemacht.« Es klang beinahe beschämt; die Worte von jemandem, der es nicht gewohnt ist, Lob für sein Werk zu erhalten, und dem Lob auch nicht willkommen ist.
Ich nickte lediglich.
Es war ein stilles Haus, ein totes Haus. Zimmer über Zimmer, doch nirgends Bedienstete, die sie pflegten. In den Ecken hatten Spinnen ihr Netz gewoben, und die Wassertropfen, die aus dem Saum meines Kleides fielen, zogen Spuren über die staubigen Dielen.
»Sie leben allein hier?«, vermutete ich.
»So ist es. Folgen Sie mir bitte.«
Er führte mich in einen großen Salon, dessen Boden mit einem dicken, ausgebleichten Teppich ausgekleidet war, der das Geräusch unserer Schritte schluckte. Die mit dunklem Holz verkleideten Wände waren mit schweren Gobelins behängt. Das Muster war zu verblasst, um es identifizieren zu können. Dazwischen hingen zahlreiche Ölgemälde, deren Motive dieselbe Hand verrieten wie die Statuen in der Eingangshalle: überall Frauengesichter und -gestalten, und alle hatten sie etwas zutiefst Beunruhigendes an sich. Vielleicht war es die porzellanhafte Blässe ihrer Wangen, vielleicht der starre Blick ihrer ölgemalten Augen, vielleicht auch einfach nur die Kälte, die von meinen vom Regen nassen Kleidern in meine Knochen kroch, doch etwas ließ mich erschauern.
Mein Blick wanderte zurück zu meinem Gastgeber. Er wirkte ebenso vernachlässigt wie das Haus, das er bewohnte: ein dürres, vertrocknetes Männchen, frühzeitig gealtert mit ersten Spuren von Grau in seinem Haar, das von übermäßigem Stress oder nur vom Staub herrühren mochte. Sein Anzug war abgetragen und vor Jahrzehnten aus der Mode gekommen, sein Gesicht unrasiert.
Er entzündete ein Feuer im Kamin.
»Kein elektrischer Strom, nehme ich an?«, fragte ich.
»Das Haus ist alt. Es lohnt nicht mehr, hier Leitungen zu verlegen, Miss.« Die knisternden Flammen wuchsen empor, tasteten nach seinem Gesicht. Er wandte sich zu mir um, machte einen ungelenken Diener, legte die Hände auf die Rückenlehne eines Fauteuils, der mit abgewetztem Leder überzogen war. »Hier. Bitte nehmen Sie doch Platz.«
Ich blieb stehen.
Meine Weigerung, seiner Einladung nachzukommen, schien ihn nachhaltig zu irritieren. Er wischte sich über die schweißnasse Stirn. Er schwitzte viel.
»Warten Sie einen Moment, ich bin gleich zurück«, stotterte er und ließ mich allein.
Während er fort war, betrachtete ich erneut die Gemälde. Dutzende Frauengesichter, deren Augen mir bei meiner Bewegung durch den Raum zu folgen schienen. Als wäre ich ein unwillkommener Eindringling, oder als wollten sie mir etwas mitteilen.
Der Künstler kehrte zurück.
Er hatte ein Bündel Kleider bei sich, das er mir mit einem verkrampften Lächeln entgegen hielt. »Sie holen sich noch den Tod in Ihrem durchnässten Kleid, Miss. Hier ist etwas Trockenes für Sie. Ich hoffe, die Sachen passen.«
»Ist die Herrin des Hauses damit einverstanden, dass Sie ihre Garderobe verleihen, Sir?«, fragte ich.
»Es … gibt … keine … Herrin des Hauses, fürchte ich.« Sein Lächeln wurde noch gequälter.
Ich hätte ihn nun fragen können, woher die Kleider dann stammten, die er mir anbot. Doch ich ahnte bereits, dass ich darauf keine ehrliche Antwort erhalten würde, also nickte ich lediglich und nahm ihm das Bündel ab.
Er machte eine einladende Geste. »Ich zeige Ihnen die Waschräume, Miss.«
Der Künstler
Ich bin ein guter Mensch, das bin ich wirklich.
Als sie sich in den Waschräumen umkleidete, wartete ich vor der verschlossenen Tür. Ich wollte in ihrer Nähe sein, sollte sie etwas brauchen. Handtücher vielleicht, oder eine … helfende Hand. Man weiß ja, wie das mit Frauenkleidern ist, diese komplexen Dinger mit all ihren Schichten und Miedern und Bändern und Knöpfen. Wie köstliche Mandeln sind sie, deren Schalen so viel Geschick, Geduld und Kraftaufwand benötigen, bevor man die süße Frucht erreicht.
Ich wartete. Sie brauchte eine ganze Weile, und nur um sicherzugehen, dass es ihr an nichts fehlte, nur um sicherzugehen, dass es ihr gut ging, ließ ich mich auf ein Knie herab und spähte durchs Schlüsselloch.
Ich bin ein guter Mensch.
Zuerst sah ich nicht viel mehr als ihren nackten Rücken, glatt und feucht glänzend im Licht der Lampe, die sie entzündet hatte. Das Spiel ihrer Schulterblätter, wenn sie sich bewegte, war mesmerisierend. Dann machte sie ein paar Schritte vorwärts und ich konnte mehr von ihr erkennen: den Ansatz ihres Steißes, darunter weiße, feste Pobacken, die sich verheißungsvoll spreizten, als sie sich nach etwas auf dem Boden bückte. Unfreiwillig entfuhr mir ein Stöhnen, das ich hastig erstickte, indem ich mir mein Taschentuch in den Mund schob.
Sie drehte sich um, wie in einem quälend langsamen Tanzschritt, und ich konnte ihre Brüste erkennen, an denen der Büstenhalter klebte. Gegen den dünnen, vom Regen feuchten Stoff pressten sich die Brustwarzen wie dunkle, lockende Knospen in einem Bett aus Seide. Dann drehte sie die Arme auf den Rücken, ihre Brüste reckten sich mir entgegen, und dann fiel der Büstenhalter zu Boden, und ich biss auf den Stoff in meinem Mund, bis meine Zähne schmerzten.
Ein rhythmisch pochender, drängender Schmerz saß in meinem Schoß. Mit einer Hand tastete ich danach, suchte ihn in den Schichten des Stoffes und packte ihn, wollte ihn zum Schweigen bringen, zum Schweigen bringen, zum Schweigen bringen …
Ich bin ein guter Mensch, sagte ich mir zum wiederholten Mal, als ich in Schweiß gebadet vor der verschlossenen Tür zu Boden sank und meine feuchte Hand an meinem Taschentuch abwischte.
Die Muse
»Sie müssen unverzüglich aufbrechen.«
Etwas an ihm hatte sich verändert, als ich den Waschraum verließ. Er war noch verschwitzter als zuvor, seine Kleider derangiert, seine Wangen gerötet. Womöglich war er krank – ja, ausgesprochen krank.
»Sie haben mir bereits eine Unterkunft für die Nacht zugesichert«, rief ich ihm in Erinnerung. »Woher also der plötzliche Sinneswandel?«
»Es wäre eine Zumutung, Sie hierzubehalten«, behauptete er, unfähig, mir in die Augen zu blicken. »Das hier ist kein Ort für eine Dame. Ich bestelle Ihnen mit Freude einen Wagen, der Sie fortbringt, aber Sie dürfen die Nacht nicht hier verbringen.«
»Es ist bereits spät, vor dem Morgen wird niemand kommen.«
Er rang mit den Händen. »Ich leihe Ihnen meinen Wagen.«
»Es ist spät«, wiederholte ich. »Ich bin zu müde, um weiterzufahren, besonders bei diesem Wetter. Ich habe kein Interesse daran, in einem Graben zu landen. Oder Ihren Wagen zu beschädigen, den ich nicht ersetzen kann, sollte etwas passieren. Sir, ich kann Ihnen versichern, dass ich Ihnen keinerlei weitere Umstände bereiten werde. Sie werden gar nicht merken, dass ich hier bin.«
»Ich werde es wissen«, sagte er mit rauer Stimme und knetete das Taschentuch in seiner Faust. »Ich werde es wissen.«
»Nun, das ist wohl nicht zu verhindern. Haben Sie ein Zimmer, das Sie mir überlassen können? Ich werde mich umgehend zurückziehen und Sie nicht weiter behelligen.«
Er räusperte sich umständlich. Nach einer langen Pause sagte er: »Verzeihen Sie meine schäbigen Manieren, Miss. Ich habe so selten Besuch. Ich nehme an, ich habe vergessen, wie … wie man das macht. Behelligen Sie mich – bitte, behelligen Sie mich.« Wieder zuckte jenes verzerrte Lächeln über seine Züge. Sein Blick wanderte an meinem Körper hinab. »Das Kleid steht Ihnen übrigens ganz hervorragend, Miss.« Er bot mir den Arm. »Darf ich bitten? Ich zeige Ihnen Ihre Räumlichkeiten für die Nacht.«
Er führte mich durch das Haus. Die lauernden Schatten in den Ecken und an den Wänden ergriffen die Flucht vor ihm, während er mit der Lampe durch den Flur schritt. Als ich bei ihm eingehängt ging, hatte ich deutlich seinen Geruch in der Nase: säuerlich vom Schweiß, und muffig wie von Kleidern, die zu lange in einem geschlossenen Schrank gelegen hatten. Seine Kunstwerke flankierten uns, schienen uns zu beobachten. Ich fühlte mich genötigt, die Stille zu durchbrechen.
»Sie leben von Ihrer Kunst?«
»Nun, das kommt wohl ganz darauf an, was Sie als leben bezeichnen würden.« Er lachte nervös. Ich stimmte nicht mit ein. »Früher habe ich einige meiner Werke verkauft«, fuhr er fort, als ihm klar wurde, dass ich nicht darauf eingehen würde. »Aber jetzt nicht mehr. Ich bringe es nicht mehr übers Herz, mich davon zu trennen. Doch das ist nicht weiter schlimm, ich brauche nicht viel Geld.«
»Auch nicht viel wächst nicht zwischen Rüben und Salat«, gab ich zu bedenken.
Wieder lachte er. Es klang schrill, hallte unangenehm und deplatziert in der Stille des Hauses wider. »Da haben Sie selbstverständlich recht. Glücklicherweise war mein Vater, Gott hab ihn selig, ein vermögender Mann, der mehr von Geschäften verstand als ich. Ich habe, was ich brauche. Und ich muss nichts für jene übriglassen, die nach mir kommen – denn es gibt niemanden nach mir.«
»Sie Glückspilz.« Ich schenkte ihm ein Lächeln.
Er wandte sich irritiert ab. Etwas an meinem Lächeln schien ihm nicht zu gefallen. Diesen Effekt hat es häufig auf Menschen, weswegen ich es in der Regel bevorzuge, es fortzusperren und nur zu seltenen Anlässen herauszulassen.
»Was ist mit Ihnen? Ich meine, haben Sie … Familie?«, fragte er.
»Niemanden«, gab ich zurück. »Ich bin gänzlich allein auf der Welt.«
»Nun … dann haben wir ja etwas gemeinsam.« Er hielt an. »So, da wären wir.« Er drehte am Knauf einer Tür und öffnete sie. Die abgestandene Luft, die mir entgegenschlug, verriet mir, dass der Raum schon lange nicht mehr benutzt worden war.
Er machte sich an einer Lampe an der Wand zu schaffen, entzündete den Docht, drehte am Regler. Es dauerte eine Weile, doch dann erfüllte orangene Helligkeit das Zimmer. Die Möbel waren mit Tüchern bedeckt, auf denen sich Staub in dicken, grauen Schichten niedergelassen hatte. Eilfertig entfernte er die Abdeckungen und innerhalb kurzer Zeit war die Luft im Raum erfüllt von flirrenden Wolken, in denen sich das Gaslicht brach.
Auch hier hing ein einzelnes Ölgemälde: Das Porträt einer wachsbleichen Frau, deren nackter Körper in einem Bett aus vertrockneten Rosen lag. Ihre Augen waren halb geöffnet und blickten starr auf einen Punkt, den der Betrachter nicht erkennen konnte.
»Das Zimmer gehört ganz Ihnen«, sagte er. »Ich möchte Sie nur um eine Sache bitten.«
»Und welche wäre das?«
»Verlassen Sie es nicht.« Er warf einen beunruhigten Seitenblick zu dem Gemälde. »Das Haus ist … sehr baufällig. Die Treppen sind morsch, so mancher Balken von Termiten angefressen. Ich möchte nicht, dass Ihnen etwas zustößt.«
»Ich werde es beherzigen.«
»Gibt es noch etwas, das ich für Sie tun kann?«
»Sie haben genug getan, Sir. Und keine Sorge: Ich habe nicht vor, Ihre Gastfreundschaft übermäßig zu beanspruchen. Im Morgengrauen breche ich auf.« Ich berührte ihn vertraulich an der Schulter und ein Zittern durchlief seinen Körper. Für einen Moment schloss er die Augen, sein Atem ging ein wenig schneller.
»Geht es Ihnen nicht gut, Sir?« Ich zog meine Hand zurück.
Augenblicklich beruhigte sich sein Atem wieder. Er fummelte an seinem Kragen, als wäre er ihm zu eng. »Der Anflug einer Grippe vermutlich. Entschuldigen Sie mich bitte, ich lege mich auch besser zu Bett. Eine angenehme Nacht, Miss.«
Der Künstler
Ich zitterte am ganzen Körper, als ich mein Atelier erreichte und die Tür hinter mir absperrte. Angefasst. Sie hatte mich angefasst und ihre Augen waren so tief gewesen, so endlos tief, und ihre Hand so warm und zart. Himmel, was hatte sie mir angetan? Wann immer ich die Augen schloss, sah ich ihr Gesicht vor mir – und ihren perfekten Körper, der sich wie im Tanz wiegte. Sie war hier, in meinem Haus, nur ein paar Schritte entfernt, zog vermutlich gerade ihr Kleid aus und löste ihr Haar, legte sich in die seidene Bettwäsche, nur in einem Unterhemd, ein Hauch von Nichts an ihrer glatten, weichen Haut.
Prompt war es wieder da, das Pochen in meinem Schritt. Ich biss mir auf die Lippen, zwang mich, meine Konzentration auf meine Modelle zu richten. Meine Modelle, die so duldsam waren, mir niemals einen Wunsch abschlugen. Wie könnte ich gewöhnlichen Frauen ihnen gegenüber jemals den Vorzug geben? Andere Frauen waren einfach unberechenbar, sie waren gefährlich. Hier in meinem Atelier war ich sicher, hier fühlte ich mich verstanden.
Seufzend schritt ich ihre Reihen ab, strich durch ihr seidiges Haar, das unter meiner Berührung knisterte. In ihrer Mitte erwarteten mich keine Überraschungen, keine unangenehmen Fragen. Sie waren mein, mit Haut und Haar und Bein.
Ich beugte mich zu meinem Neuzugang hinunter, küsste ihre kalten Lippen. Ich frage selten nach ihren Geschichten, bevor sie zu mir kommen. Es ist in Ordnung, seine Vergangenheit für sich behalten zu wollen, ein Geheimnis zu bewahren. Doch ihre Geschichte kannte ich. Sie war ins Wasser gegangen, über eine unglückliche Liebschaft. Es ist tragisch, was die Liebe den Menschen antut. Ich hätte sie niemals so verletzt und ich glaube, sie wusste das. Sie alle wissen das. Deswegen sind sie für mich da, deswegen darf ich sie malen, meißeln, streicheln. Es ist ein stetes Geben und Nehmen.
Ich bin ein guter Mensch.
Das Nehmen dauerte lange in dieser Nacht, sehr viel länger als üblich. Nachdem ich die kalte Haut ein wenig gewärmt, den heißen Schmerz in mir ein wenig gekühlt hatte, stellte ich mich an meine Staffelei, um das Kunstwerk zu vollenden, das ich begonnen hatte. Pinselstrich um zittrigen Pinselstrich zog ich ihre Konturen nach. Doch das Gesicht, das aus meinen Bewegungen entstand, war nicht das des Modells vor mir. Es war ihres – das der Frau, die hier irgendwo in meinen Räumlichkeiten schlief. Atmete.
Mich berührt hatte mit ihren Händen.
Berührt hatte, wie meine Modelle es niemals tun würden.
Ich hatte ihr das Kleid meiner neuesten Errungenschaft überlassen, ohne darüber nachzudenken. Und es hatte sie so wohlgekleidet.
Der Pinsel in meinen Fingern brach entzwei, als ich die Hand zur Faust ballte.
Ich wurde ihr Bild einfach nicht los, es hatte sich tief in meinen Verstand gebrannt. Ich wollte sie haben, musste sie haben. Sie gehörte in meine Sammlung, ich spürte es tief in meiner Brust. Die Sehnsucht nach ihr zerriss mich. Würde ich sie nicht bekommen, müsste ich sterben. Es war Schicksal gewesen, dass sie in dieser Nacht an mein Tor gekommen war, dass ihr Wagen ausgerechnet vor meinem Anwesen seinen Geist ausgehaucht hatte. Das war ein Zeichen, zweifellos.
Sie hatte gesagt, sie sei gänzlich allein auf dieser Welt – wie ich. Wir waren füreinander bestimmt. Und wer war ich schon, mich dem Walten von Fortuna entgegenzustellen?
Ich warf die Bruchstücke des Pinsels beiseite und verließ mein Atelier. Mein hektischer Atem dröhnte in meinen Ohren. Meine Modelle schienen mir anklagend nachzustarren.
Doch was wussten sie schon? So sehr ich sie vergötterte, sie waren nicht aufgrund ihrer weisen Entscheidungen bei mir gelandet.
Die Muse
Als er meine Tür öffnete, leise und ohne anzuklopfen, erwartete ich ihn bereits. Er fuhr ertappt zusammen, als er mich mitten im Zimmer stehen sah, und für einen Moment schien er beinahe versucht, auf dem Absatz umzudrehen und fortzulaufen. Ein verschreckter Geselle, scheu wie ein Reh, das man im Gebüsch aufgestöbert hat. Er hatte sich umgekleidet, wie ich bemerkte, trug nun einen Schlafrock, der ebenso abgetragen und alt wirkte wie der Anzug zuvor.
»Haben Sie etwas vergessen, Sir?«, fragte ich.
»Miss …« Er wand sich unter meinem Blick wie ein Wurm. Seine Hand steckte in der Tasche seines Schlafrocks, umfasste etwas darin. »Wieso schlafen Sie nicht? Es ist spät, Sie … Sie sollten schlafen.«
»Ich schlafe selten. Warum treten Sie nicht ein?«
»Ich … sollte nicht.«
»Geht es um die Unterkunft? Geld scheint Sie nicht zu interessieren, doch vielleicht gibt es etwas anderes, das ich für Sie tun kann, um mich bei Ihnen für Ihre Gastfreundschaft zu bedanken.«
»Ich …« Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Dann platzte es aus ihm hervor, ruckartig und atemlos, als hätte er dafür all seinen Mut zusammennehmen müssen: »Ich möchte Sie malen.«
»Malen«, wiederholte ich.
»Ja, Miss. Ich … ich würde Sie gerne malen. Ich möchte Sie einfangen, auf … auf der Leinwand, Ihre Schönheit und Anmut, Ihr Antlitz in Öl bannen.« Die Hand, die in seinem Schlafrock gesteckt hatte, streckte sich mir entgegen, fast so, als wollte er mich berühren. Beinahe hastig, als hätte er sich verbrannt, zog er sie zurück, bevor sie ihr Ziel erreichen konnte, schob sie wieder in die Tasche.
»Ist es dafür nicht bereits zu dunkel, Sir?«
»Nein. Es ist perfekt.« Seine begehrlichen Blicke tasteten über mich, berührten mich überall, hafteten auf mir wie der Staub an seinen Möbeln.
»Nun, wenn es sonst nichts ist … Ich wüsste nicht, was dagegenspricht.«
Seine Hand grub sich tiefer in seine Tasche. »Miss, ich weiß gar nicht, was ich …« Er atmete mehrmals bemüht ein und aus, um seine Contenance wiederzugewinnen. »Das bedeutet mir sehr viel. Ich zeige Ihnen mein Atelier. Es wird Ihnen gefallen, Miss, ganz sicher.«
Der Künstler
Das Gewicht meines Revolvers schlug schwer gegen meinen Oberschenkel, als ich sie erneut durch die verwinkelten Gänge meines Hauses führte. Es war lange her, dass ich ihn abgefeuert hatte. Ich bin kein Mörder, Gewalt ist mir zutiefst zuwider. Als ich die Waffe geladen und eingesteckt hatte, da hatte ich nicht wirklich damit gerechnet, sie benutzen zu müssen. Sie hatte mich überrascht: Ich hatte erwartet, sie im tiefen Schlummer vorzufinden. Mein nächtlicher Besuch hätte unerwartet über sie hereinbrechen sollen wie der Sturm, der sie von der Straße gefegt hatte. Sie hätte sich nicht gewehrt, wäre alles so abgelaufen, wie ich es mir vorgestellt hatte – hätte keine Gelegenheit dazu gefunden.
Doch nun war alles gänzlich anders und vielleicht war es sogar besser so. Ich war so aufgeregt, dass das Licht in meiner Linken unstet hüpfte.
»Es wird Ihnen gefallen«, versicherte ich zum wiederholten Male, während meine feuchten Finger sich um den Griff des Revolvers verkrampften.
»Da habe ich keinen Zweifel«, erwiderte sie. So ruhig war sie, so bereitwillig folgte sie mir in mein Atelier. Ich hoffte nur, dass ich bis dahin durchhielt.
Endlich kamen wir an unser Ziel. Ich öffnete die Tür für sie, machte eine einladende Geste. »Bitte nach Ihnen, Miss.«
Ich trat knapp hinter ihr ein.
Schloss die Tür ab.
Die Aufregung in meinem Magen zerrte an meinen Eingeweiden wie ein wildes Tier. Mir schwirrte der Kopf. Meine Selbstbeherrschung hing nurmehr an einem seidenen Faden.
Die Muse
»Ihr Atelier?«, fragte ich tonlos.
Der Raum stank. Es war nicht derselbe modrige Geruch wie jener, der dem gesamten Haus anhaftete, vielmehr ein süßlicher Odem, der sich als quälende Übelkeit in meinem Rachen festsetzen wollte, untermalt von der chemischen Note von Formaldehyd und dem stechenden Dunst von Terpentin.
Mein Blick wanderte. Unbehauener Marmor thronte in der Mitte des Raumes. Auf einer Staffelei stand ein halb fertiges Gemälde, die Farben in der Palette daneben waren noch feucht. An den Wänden standen Gegenstände, die man im ersten Moment für schmale, längliche Kisten halten mochte, doch als er mit seiner Lampe näher an mich herantrat, erkannte ich, dass es Särge waren. Sie waren mit Samt gefüttert, der sehr viel sauberer und edler wirkte als alle Stoffe, die ich bislang in diesem Haus zu Gesicht bekommen hatte, und darauf gebettet lagen Frauen – leblos und in unterschiedlichen Stadien der Verwesung. Ihre Haut war wächsern, die Augen starr geöffnet, ihre Körper nackt oder teilweise entkleidet. Es mussten Dutzende sein.
Ich wandte mich um. Der Hausherr hatte eine Waffe auf mich gerichtet.
»Es tut mir leid, aber ich muss Sie malen«, sagte er mit zitternder Stimme. »Bitte zwingen Sie mich nicht, etwas zu tun, das wir beide bereuen würden.«
»Wer sind diese Menschen?«, fragte ich ihn.
»Ich habe ihnen nichts angetan«, versicherte er mir. »Ich bin kein schlechter Mensch. Sie waren bereits tot, als ich sie hier aufnahm. Ich bin ein Sammler, verstehen Sie? Ein Sammler von schönen Gesichtern. Doch Ihres, Miss … Ihres ist das schönste, das ich je sah. Es tut mir leid.«
»Entschuldigen Sie sich nicht für Ihre Gefühle. Und legen Sie die Waffe weg.«
Er machte einen unsicheren Schritt rückwärts. »Dann gehen Sie. Dann lassen Sie mich allein.«
»Ich verspreche Ihnen, dass ich nirgendwohin gehe.« Ich rückte näher an ihn heran, folgte ihm, während er vor mir zurückwich, als wäre ich diejenige mit der Pistole. »Wie wollen Sie denn malen, mit der Waffe in der Hand?«
»Sie … Sie haben recht. Das geht nicht.« Er musterte mich misstrauisch. »Sie schwören, dass Sie nicht weglaufen?«
»Ich schwöre. Ich habe mich hierzu bereiterklärt. Sie bekommen Ihr Bild. Das schulde ich Ihnen.«
»Gut. Gut …« Er stieß die Luft aus, steckte den Revolver zurück in seinen Schlafrock. Die Anspannung wich ein wenig aus seinem Körper. »Entschuldigen Sie, ich … hatte eine andere Reaktion von Ihnen erwartet. Haben Sie denn keine Angst?«
»Möchten Sie, dass ich Angst habe?«
»Nein«, sagte er. »Warum sollte ich so etwas wollen? Die Frage ist absurd.«
»Möchten Sie, dass ich meine Kleider ablege?«
»Ja. Ja, das möchte ich.« Sein ganzer Körper bebte, so stark, dass ich ernste Zweifel hatte, dass er mit dem Revolver überhaupt getroffen hätte.
Während ich die Kleidung abstreifte, die er mir gegeben hatte, klebten seine Blicke auf mir. Ich deutete auf die Staffelei, um ihn daran zu erinnern, weswegen wir hier waren. Eilig fuhr er herum, nahm das begonnene Bild ab und stellte eine blanke Leinwand in die hölzerne Vorrichtung. Es dauerte eine ganze Weile, ehe er einen Pinsel gefunden hatte, und als er damit in den Farben zu rühren begann, war seine Hand so unstet, dass er den gesamten Boden bekleckerte. Sein Gesicht verzerrte sich wie unter Schmerzen.
»Ich … ich kann das nicht«, stieß er hervor, kaum dass er die ersten wirren Striche gezogen hatte.
»Was können Sie nicht?«, fragte ich ihn.
Er sah mich gequält an. »Ich bin ein guter Mensch, bitte glauben Sie mir.«
Dann warf er sich auf mich.
Der Künstler
Meine Hände vergruben sich in ihrem Haar, um sie festzuhalten, ich presste mich an sie. Doch sie wehrte sich nicht, schrie auch nicht. Als ich mit einer Hand ihre Brust umschloss, gab sie ein Stöhnen von sich, das mir durch Haut und Haar fuhr. Ein erstickter Laut der Überraschung entfuhr mir, als ich ihre Hand fordernd unter meinem Schlafrock spürte, unter dem ich nichts trug.
»Miss«, brachte ich hervor.
»Ich kenne dich«, hauchte sie mir ins Ohr. »Dein Geheimnis. Deine Qual. Wir sind uns sehr ähnlich, du und ich.« Die Bewegung ihrer Hand wurde fordernder.
Ich packte sie an den Schultern, warf sie herum, presste sie gegen die Wand. Ich konnte keine Sekunde länger warten. Ihr Rücken bog sich mir entgegen, als ich von hinten in sie eindrang, und sie war warm und feucht, so gänzlich anders als meine bisherigen Modelle. Ihre Bewegungen passten sich meinem harten, hastigen Rhythmus an.
Gerade, als ich spürte, wie sich der Höhepunkt ankündigte, stieß sie mich zurück. Ich war so perplex, dass ich im ersten Moment nicht reagieren konnte, hatte sie sich doch gerade eben noch so willig gezeigt. Doch bevor die Verletztheit über ihre Handlung mein Bewusstsein gänzlich erreichen konnte, drehte sie sich mit einem verheißungsvollen Lächeln zu mir um. Es war ein seltsames Lächeln, das mich schon das erste Mal beunruhigt hatte, ohne dass ich genau sagen konnte, warum. Doch ich fand keine Gelegenheit, mich mit dieser Frage intensiver auseinanderzusetzen, denn da sank sie bereits vor mir auf die Knie. Ihre Lippen umschlossen meine prall geschwollene Männlichkeit und wischten jeden klaren Gedanken beiseite.
Meine Knie wurden so weich, dass ich mich an der Wand abstützen musste, um nicht zu ihr auf den Boden zu sinken. Ich schloss die Augen.
Während die sanfte und doch entschlossene Liebkosung ihrer Zunge mich dem Himmel nahebrachte, meinen Geist leerfegte wie eine nicht mehr gebrauchte Schiefertafel, spürte ich nur am Rande meines Bewusstseins, wie sich ihre Hände an mir emportasteten, an meinen Beinen und meiner Hüfte entlang, mich fest umschlossen und mir wilde Schauer der Ekstase durch jede Faser meines Seins jagten. Etwas Vergleichbares hatte ich nie gefühlt, würde ich niemals wieder fühlen. Es war vollkommen, es war – es war –
Es waren nicht ihre Hände.
Ich öffnete die Augen und blickte nach unten.
Sie sah zu mir auf. In ihren Augen loderte eine bodenlose Schwärze, die mich hätte zurückschrecken lassen, wäre ich in der Lage gewesen, mich aus ihrem Griff zu befreien. Ihre Hände lagen an meinen Hüften, umklammerten sie. Das, was sich an meiner Brust emporschob, sich nun langsam und unnachgiebig um meine Kehle zog, waren keine Hände.
Es waren lange Tentakel, die sich enger und immer enger um mich schlangen, mich in eine unbarmherzige Umarmung zogen. Immer mehr der knochenlosen, starken Glieder tasteten sich hinter ihrem Rücken hervor, wickelten sich um meine Beine, meine Arme, meine Taille.
»Um Himmels willen«, flüsterte ich.
Ein fratzenhaftes Grinsen zuckte über ihr Gesicht, ein Grinsen, das ihre nadelspitzen Reptilienzähne zum ersten Mal gänzlich enthüllte. In derselben Sekunde zuckte ein weißglühender Schmerz durch meinen Unterleib. Blut sprudelte aus der Wunde hervor, die ihre Zähne in mich gerissen hatten. Ich kippte mit einem Schrei zur Seite, halb aufgefangen von ihren unzähligen Armen. Als ich zur Seite blickte, sah ich neben mir etwas liegen, das ich zuerst für einen beinlosen Lurch hielt, bevor ich erkannte, dass es ein Stück von mir gewesen war.
Panisch versuchte ich, nach meinem Revolver zu tasten. Doch ihre Arme schlangen sich um meine Handgelenke, bogen meine Hände hinter meinen Kopf, zogen meinen Körper straff, bis ich bewegungsunfähig vor ihr lag. Mit geweiteten Augen sah ich dabei zu, wie ein weiterer Tentakel in der Tasche meines Morgenrocks verschwand, die Waffe herauszog, sie enger und enger umwickelte, bis sich das Metall unter ihrem Griff verbog wie warmes Wachs.
Ich wimmerte, zitterte in ihren Armen. »Bitte!«, bettelte ich. »Tun Sie das nicht! Ich bin ein guter Mensch, Miss! Bitte!«
»Und ich bin hungrig«, stieß sie mit einer Stimme hervor, die klang wie Wasser, das in einem überfüllten Ausguss gurgelt.
Dann zogen sich ihre Tentakel fester um mich, schnürten mir die Luft ab. Ich wollte schreien, doch einer ihrer Arme schlüpfte, überraschend warm und trocken, in meinen Mund und erstickte den Laut. Während er sich quälend langsam tiefer schob, spürte ich, wie sich ein zweiter von der anderen Seite meines Körpers seinen Weg in mich zu bahnen begann.
Tränen strömten über meine Wagen.
Bitte, wollte ich erneut sagen.
Doch ich konnte nicht mehr, nie mehr.
Die Muse
Ich hielt mein Versprechen. Mit dem ersten Sonnenstrahl verließ ich das Anwesen des Künstlers, angenehm gesättigt von dem fürstlichen Mahl, das ich genossen hatte. Ob er ein guter Mensch gewesen war, das vermochte ich nicht zu beurteilen.
Geschmeckt hatte er wie alle anderen.