Das Buch
Vom Drehbuchautor der Filme „Hitcher“, „Near Dark“ und „Blue Steel“
Auf den Highways tötet ein Serienkiller seit Jahrzehnten unbehelligt seine weiblichen Opfer und hinterlässt dabei eine Spur aus Blut und Tränen.
Bekannt unter dem CB-Rufnamen WHITE KNUCKLE, hat der mit perverser Lust mordende Trucker hunderte Frauen auf grausame Weise umgebracht und ihre Leichen im ganzen Land verscharrt.
Doch nun ist die junge FBI-Agentin Sharon Ormsby auf seinen Fersen, um ihn aufzuhalten. Undercover, an der Seite eines erfahrenen Truckers, macht sie Jagd auf den Killer in seinem achtzehnrädrigen Ungetüm.
Das bedeutet vor allem eins: Ein knallharter Showdown auf dem Highway!
„White Knuckle ist eine phänomenale Lektüre. Die Szenen sind so intensiv geschrieben, dass man sie nur als Inbegriff des Terrors bezeichnen kann!“ Horrornews.net
„White Knuckle ist auf jeden Fall einen Blick wert!“ Cemetary Dance
„White Knuckle ist ein nervenzerfetzender Thriller, den man nicht verpassen sollte!“ ARROW IN THE HEAD
„White Knuckle ist ein fieser Bastard von einem Trucker.“ Jack Ketchum
Der Autor
Eric Red lebt in Los Angeles und ist Roman- und Drehbuchautor sowie Regisseur. Zu seinen Filmen gehören Hitcher, der Highway Killer, Near Dark – Die Nacht hat ihren Preis, Hitman – In der Gewalt der Entführer, Body Parts, Bad Moon und 100 Feet. Er hat mehrere Romane geschrieben, darunter Don’t Stand So Close, It Waits Below, The Guns of Santa Sangre, The Wolves of El Diablo, Noose, Hanging Fire und Branded.
Red teilt sich seine Zeit zwischen Kalifornien und Wyoming mit seiner Frau und zwei Hunden auf. Mehr über Eric Red und seine Bücher und Filme gibt es auf seiner offiziellen Website EricRed.com, auf Facebook unter OfficialEricRed und auf Twitter unter @ericred.
Dieser Roman ist ein fiktives Werk. Namen, Charaktere, Orte und Ereignisse entspringen der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit zu tatsächlichen Ereignissen, Schauplätzen oder Personen, lebendig oder tot, ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Deutsche Erstausgabe März 2020
Titel der Originalausgabe: WHITE KNUCKLE
Copyright © 2015 by Eric Red
Published by arrangement with the author
Copyright dieser Ausgabe © 2020 Savage Types Verlag, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover-Artwork: Björn Craig
Deutsche Übersetzung: Michael Krug
Lektorat/Korrektorat: im Verlag
E-Book: im Verlag
ISBN: 978-3-9819621-2-3
www.savage-types.de
Für meinen Vater, Cornelius Gerard Durdaller.
Ich liebe dich, Dad.
Vorwort von Thorsten Hanisch
Meine lieben Eltern werden vermutlich entsetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, sollten sie diese Zeilen je zu lesen bekommen, aber ich riskiere es jetzt einfach mal: Bereits in ganz jungen Jahren, mit 12 oder mit 13, bin ich mit Horrorfilmen in Berührung gekommen. »Maniac«, »Freitag der 13.«, »Halloween – Die Nacht des Grauens«, »Zombie« … das komplette Programm! Natürlich ohne das Wissen der Eltern. Einiges davon war in Deutschland sogar verboten. Aber wenn 12- oder 13-jährige Horrorfilme schauen wollen, sind selbst die Behörden machtlos.
Jedenfalls: Es hat mir nicht geschadet. Im Gegenteil, es hat mich stärker gemacht, mich gelehrt, die Welt nicht nur in rosaroten Farben zu sehen und bei der geringsten Unwägbarkeit zusammenzuklappen (ein großes Problem der Generation nach mir). Es hat mich gelehrt, das man nicht immer gewinnen kann, dass es manchmal einfach keine Antworten auf Fragen gibt, das Unglücksfälle passieren, Menschen verletzt, getötet werden, einfach so. Gerade die Filme der 1970er- und einige der 1980er-Jahre spiegelten das wahre Leben auf eindringliche Art und Weise wieder. Während heutzutage das Böse bis ins letzte Detail wegerklärt oder mittels postmoderner Meta-Witze weggelacht wird, nahmen einen die damaligen, oft vom Hippie-Freigeist beseelten Produktionen nicht fest bei der Hand und flüsterten mit samtener Stimme ins Ohr, dass alles gut wird.
Den wohl tiefsten Eindruck hinterließ eine Szene aus einem Film, den ich – welch Ironie – zusammen mit meinen Eltern gesehen hatte, die wohl dachten, dass es sich bei »Hitcher, der Highwaykiller« um einen normalen Fernsehkrimi handelte und schon bald eines Besseren belehrt wurden - als Nash, die potentielle Freundin des Helden Jim, zwischen einem Lkw und dessen Anhänger gefesselt, um ihr Leben zitterte, wurde ich ins Bett geschickt.
Hat nichts genutzt. Weitaus früher gab es bereits einen deutlich subtileren Moment, der tiefe Spuren in mir hinterließ, einen jahrelangen Nachhall hatte. Als Jim die erste Begegnung mit John Ryder, dem von Rutger Hauer so großartig gespielten Antagonisten des Films, überlebt, wird er kurze Zeit später von einem Auto überholt und sieht auf der Rückbank zwei fröhliche Kinder, die ihn mit Spielzeugmaschinenpistolen abschießen, eines winkt ihm zu. Jim winkt zurück. Plötzlich erscheint rechts von den Kleinen ein großer, knuddeliger Teddybär mit rotem Halstuch, der plötzlich zur Seite genommen wird und den Blick auf das grinsende Gesicht von John Ryder freigibt. Innerhalb einer Sekunde wird klar, dass die Familie, die mit ihrem voll bepackten Auto und einem Boot im Schlepptau vermutlich gerade auf dem Weg in den Urlaub war, ihr Ziel nie erreichen wird (das Jim ein paar Momente später die Leichen findet, ist nur noch Formsache). Das blanke Grauen hat Einzug in eine banale Alltagswirklichkeit gehalten und dort eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. Es kann dich immer und überall erwischen, vor allem dann, wenn du es am wenigsten erwartest. Noch deutlicher kann ein Horrorfilm kaum noch einen Pfeil mitten ins Herz einer sich in Scheinsicherheit wiegenden Wohlstandsgesellschaft schießen. Ein Moment für die Ewigkeit.
Dass das Drehbuch zu diesem Film, der mich den größten Teil meines Lebens begleiten sollte, von einem Mann namens Eric Red geschrieben wurde, war mir zu diesem Zeitpunkt natürlich egal. Erst Jahre später realisierte ich, was »Hitcher« eigentlich erst so unvergesslich macht und auch mit weiteren Filmen von Red (wie zum Beispiel dem großartigen »Hitman – In der Gewalt der Entführer«) sowie seinen Romanen verbindet: Es ist die absolut großartige Art zu schreiben. Die besten Inhalte nutzen nichts, wenn der Meister sein Handwerk nicht beherrscht. Seine Geschichten, die meist von Konfrontationen handeln, haben kein Gramm Fett, nichts ist überflüssig, die Charaktere werden mit rasiermesserscharfer Präzision gezeichnet und er kommt auf den Punkt, weiß, wann Schluss ist.
Tugenden, die im Zeitalter von aufgeblasenen Roman-Trilogien und Netflix-Dauerbeschallung selten und umso kostbarer geworden sind und die hier erstmals in deutscher Übersetzung genossen werden können. Man kann nur hoffen, nein, beten, dass »White Knuckle« nicht der einzige Roman bleibt, der hier veröffentlicht wird.
Denn egal ob als Verfasser von Drehbüchern oder als Schriftsteller: Eric Red ist weit mehr als »nur« ein Autor, er ist ein echter Künstler, ein Wort-Magier, der mit wenig Großes schafft – er ist eine echte Bereicherung. Eine, die seinem Publikum was zutraut.
Danke, Eric!
Hochdorf, 12.02.2020
Preface from Thorsten Hanisch
My dear parents would probably fling up their hands in horror, should they ever read these lines - but I just take the risk now: even at a precociously young age, 12 or 13, I got in touch with horror movies. »Maniac«, »Friday the 13th«, »Halloween«, »Dawn of the Dead« … the whole thing! Of course without the parent’s knowledge! Some of them were even prohibited in Germany. But if 12- or 13-year-olds want to watch horror movies, even the authorities are powerless.
Anyway: It did me no harm. On the contrary – it made me stronger, taught me not to see the world through rose-coloured glasses and to collapse at the slightest imponderability (a big problem of the generation after me). It taught me that you can not always win, that for some questions no answers exist, that misfortunes happen, people get hurt, get killed, just so. Especially the movies from the 1970th and 1980th mirror the real life in a striking manner. While nowadays the evil is causally explained away or laughed away by postmodern meta-joke, the former by the hippie-free-spirit inspired productions, didn’t take you by the hand and whispered in your ear that everything will be fine.
The most lasting impression made a scene from a movie I - ironically - watched with my parents, which thought that »The Hitcher« was a normal made-for-TV-thriller. But soon they knew it better – when Nash, the potential girl friend of the hero Jim, tied up between a truck and it’s trailer, trembling for her life, they send me to bed.
It was for nothing. Much earlier was a more subtle moment that left deep traces in me, a long lasting aftertaste. When Jim survived the first encounter with John Ryder, the antagonist, magnificently played by Rutger Hauer, a car overtakes him a short time after and he sees two happy kids on the back seat, shooting him down with their toy machine guns, one waves to him.
Jim waves back. Suddenly a big, cuddly teddy bear with a red scarf appears on the right of the little ones, who is suddenly pulled aside and provides a clear view onto the grinning face of John Ryder.
Within a second it’s clear that the family, which was on vacation with their fully packed car and a boat in tow, will never reach its destination (that Jim finds their bodies a few moments later is just formality). The horror was introduced within a trivial everyday reality and left a path of destruction behind. It can get you always and everywhere, especially then, when you’re least expecting it. A horror movie can’t shoot an arrow even more clearly in the heart of a welfare society which is lulling into a false sense of security. A moment for eternity.
That the screenplay for this movie, which should accompany me the biggest part of my life, was written by a man called Eric Red, I didn’t mind at that time. Only years later I realized what made »The Hitcher« really so unforgettable and also connects it with Reds other movies (like »Cohen and Tate«) and his novels: It’s the absolutely brilliant way of writing. The best contents are no use, if the master isn’t skilled in his trade. His stories, which are mostly about confrontation, don’t have a single gram of fat, nothing is unnecessary, the characters are drawn with razor sharp accuracy and he gets to the point, knows when to stop.
Virtues, which are rare and became more precious in the era of bloated novel trilogies and constant cacophony of Netflix, and can be enjoyed for the first time in German translation. We can only hope, no, pray, that »White Knuckle« will not remain the only novel, which will be published here.
Because no matter if as screenwriter or author: Eric Red is much more than »just« a writer, he is a real artist, a magician of words, who makes something big with little – he is a real enrichment. One, who is confident in his audience.
Thank you, Eric!
(Übersetzung: Andrea Sczuka)
Wusch-wusch-wusch.
Regen schwappte wie aus Eimern auf die Windschutzscheibe. Die hart kämpfenden Scheibenwischer hatten keine Chance gegen den sintflutartigen Niederschlag, als Carrie Brown auf der nächtlichen Autobahn im Mittelwesten der USA nach Hause fuhr. Das Wasser kam ihr in böigen Wellen entgegen. Carrie war müde und hatte Mühe, durch das verschwommene Glas etwas zu erkennen, doch sie war an die Straßenverhältnisse um diese Jahreszeit gewöhnt. Das Wetter war nicht das größte Problem.
Ohne die verdammten großen Sattelschlepper wäre das Pendeln ein Spaziergang.
Um diese Zeit befanden sich nur noch sie und die endlose Abfolge spätnachts fahrender Trucker auf der Straße. Die Sattelzüge passierten sie als Galaxien aus grellroten Heckleuchten und christbaumartigen Ansammlungen bunter Lichter, die sowohl die Anhänger als auch die Kabinen überzogen. Die rollenden Dinosaurier rasten an ihr vorbei, einer nach dem anderen.
Sie fuhren, als gehörte Carrie nicht hierher – als wäre die Straße ihr Eigentum und als wäre ihnen Carrie im Weg, ein lästiges Ärgernis.
Bei jedem Laster, der sie überholte, wurde ihr Auto von einer geballten Kombination aus Wind und Regen attackiert. Ein stechender Schmerz in ihren müden Augen ließ sie zusammenzucken, als sie von einer weiteren Explosion blendender Scheinwerfer im Innenspiegel bestürmt wurde. Mit einem donnerartigen Grollen überholte ein riesiger Sattelschlepper ihren Kleinwagen, besprühte ihn mit Spritzwasser und erfasste ihn mit einem seitlichen Windstoß, der das im Vergleich winzige Fahrzeug quer über die weißen Fahrbahnmarkierungen schlittern ließ. Carrie spürte das warnende Rattern der Kunststofferhebungen der Trennlinie – die Blindenschrift der Straße. Dann war der Laster an ihr vorbei, und seine roten Heckleuchten verschwanden in einem Vorhang des vom Himmel strömenden Wassers. Diese verdammten Trucker kannten für normale Fahrer weder Respekt noch Rücksicht.
Laut ihrer Armbanduhr war es 3:01 Uhr. Carrie befand sich allein im Fahrzeug. Ihre Schicht im County General Hospital hatte erst unlängst geendet. Die ausgebildete Krankenpflegerin war erschöpft und hatte Mühe, hinter dem Lenkrad ihres klatschnassen Prius wach zu bleiben. Noch sechzig Kilometer, dann wäre sie zu Hause und könnte unter die Bettdecke schlüpfen. Nur musste sie dort erst einmal ankommen. Das Pendeln war schon bei trockenem Wetter mühsam, aber schier unerträglich, wenn es regnete. Sie rieb sich die Augen, kniff sie zusammen und spähte durch die nasse Scheibe auf die düsteren drei Fahrstreifen vor ihr – verregneter, verschwommener Asphalt mit unterbrochenen weißen Linien. Die eintönigen Metronombewegungen der Scheibenwischer ließen sie nur noch schläfriger werden. Durch die Lichtbrechung bildeten Heckleuchten und Scheinwerfer im triefnassen Glas ein verzerrtes Farbenspiel. Die Wirkung war hypnotisch und einlullend. Carrie blinzelte, um die doppelten Bilder zu vertreiben.
Ihre Hände umklammerten krampfhaft das Lenkrad, und Carrie wurde bewusst, wie angespannt sie war. Die Enge des Wagens drohte sie zu ersticken. Die Trucks auf der Fernstraße verursachten ihr immer ein mulmiges Gefühl. Sie zuckte regelmäßig ängstlich zusammen, wenn sie an ihr vorbeidonnerten und die riesigen Räder und Querträger dabei nah genug wirkten, um ihre Tür zu schrammen. Mit einer Willensanstrengung beschwor sie die grausigen Bilder verstümmelter Opfer von Autounfällen herauf, die sie in der Notaufnahme gesehen hatte, um vor Angst wach zu bleiben. Allerdings senkte sich die Schläfrigkeit nur wenige Augenblicke später wieder wie ein betäubender Nebel über sie. Carrie kannte die Statistiken, denen zufolge Übermüdung neben Fahren unter Alkohol- und Drogeneinfluss die zweithäufigste Unfallursache war.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als auf eine Notmaßnahme zurückzugreifen, um nicht einzuschlafen.
Sie öffnete die Handtasche und holte die Jalapeño-Schote hervor, die sie in einer kleinen Plastiktüte verwahrte. Eine Freundin hatte ihr einmal gesagt, ein Biss in eine rohe, scharfe Chilischote wäre eine todsichere Möglichkeit, um wach zu bleiben, wenn man übermüdet fahren musste. Carrie steckte die Schote in den Mund, biss zu und spürte, wie sich die sengende Schärfe mit weißglühenden Schmerzen über ihre Zunge und ihren Gaumen ausbreitete. Ihre gesamte Kieferpartie krampfte sich zusammen, aber es half tatsächlich.
Schlagartig war Carrie hellwach.
Im Innenspiegel flammte ein blendendes Gleißen auf, als darin die vier Scheinwerfer zweier großer Trucks erschienen, die sich schnell näherten, einer links auf der Überholspur, der andere auf dem rechten Fahrstreifen. Die Sattelzüge rasten heran und brausten an Carrie vorbei, brachten ihren Wagen im nassen Fahrtwind ihrer riesigen Fahrzeuge zum Schaukeln. Ein Wimmern entrang sich der Krankenpflegerin. Sie biss die Zähne zusammen, als die dröhnenden Dieselfahrzeuge an ihr vorbeizogen und sie vorrübergehend zwischen unzähligen Tonnen Stahl auf Rädern einpferchten. Carrie verlangsamte ihre Fahrt, damit die Laster sie schneller hinter sich ließen. Dabei zitterte sie wie Espenlaub. Arschlöcher! Wenige Augenblicke später zeichneten sich die Sattelzüge bloß noch in Form der rubinroten Heckleuchten ab, die in der nassen Dunkelheit der Straße vor ihr schimmerten.
Dann hatte sie wieder nur Asphalt und weiße Leitlinien vor sich.
Wusch. Wusch. Wusch.
Ihr Mund brannte heftig.
Aus der trüben Finsternis vor der Windschutzscheibe tauchte ein grünlicher Klecks auf. Reflektierende Worte wurden lesbar. JOHNSTOWN. NÄCHSTE AUSFAHRT. Sie passierte das Schild.
In 15 Minuten würde sie ihre Ausfahrt erreichen.
In 20 Minuten würde sie in ihre Einfahrt biegen.
Und wenige Minuten danach würde sie wohlbehalten im Bett liegen.
Bitte, Gott, lass es mich einfach nach Hause schaffen.
Mein Mund brennt.
Das Radio. Schalt es ein. Statik. Dreh den Regler. Statik. Statik. Noch mehr Statik. Herrgott noch mal. Schalt das verfluchte Ding aus.
Wusch. Wusch. Wusch.
Die Schwärze vor Carrie wirkte in den Bewegungen der Scheibenwischer flüssig wie Öl. Ein Blick in die Spiegel zeigte hinter Carrie nur Dunkelheit.
Ein Funkeln.
Scheinwerfer.
Sie näherten sich schnell.
Wie zwei große Untertassen wuchsen die Scheinwerfer in ihrer Heckscheibe und füllten ihr Auto mit einer grellen Helligkeit, die sich in der beengten Geborgenheit des Innenraums beinahe wie eine Vergewaltigung anfühlte. Carrie konnte vage die Umrisse des Kühlergrills ausmachen, die sie an einen grinsenden Dämon erinnerten. Jetzt mach schon, fahr vorbei, dachte sie. Der Sattelschlepper musste das Fernlicht eingeschaltet haben, denn der Innen- und die Seitenspiegel reflektieren nur ein weißes Gleißen, in dem sie unmöglich etwas erkennen und von dem sie die Augen nicht abwenden konnte. Überhol mich einfach! Grollender Donner und tiefe Vibrationen erfassten ihren Wagen, als der Laster auf der rechten Fahrspur mit ihr gleichzog. Carrie umklammerte krampfhaft das Lenkrad, während sie darauf wartete, dass der Truck sie überholte.
Was er nicht tat.
Der riesige Sattelzug bildete eine hochaufragende Silhouette auf ihrer Beifahrerseite und verharrte dort – als spürte er ihre Angst wie ein Raubtier, das mit seiner Beute spielen will. Der Lastwagen hatte die Fahrt auf ihr Tempo verlangsamt und rollte auf gleicher Höhe neben ihr her. Arschloch, ging Carrie durch den Kopf, als sie den Fuß vom Gas nahm, um sich zurückfallen zu lassen.
Die Heckleuchten des anderen Fahrzeugs flammten auf und erhellten den Innenraum ihres Autos mit einem dämonischen roten Licht.
Auch der Truck wurde langsamer.
Wieder befanden sie sich Seite an Seite.
Na schön, du Pisser! Die Krankenpflegerin trat aufs Gas. Ihr Prius schoss vorwärts und raste über den Asphalt der mittlerweile verwaisten Straße, abgesehen von ihr und ihrem tonnenschweren, unerwünschten Gefährten. Carrie spürte, wie ihr Fahrzeug in Aquaplaning zu geraten drohte, und hatte Mühe, es unter Kontrolle zu behalten.
Ein Dieselmotor röhrte kehlig hinter ihr. Die zwei verchromten Auspuffendrohre, die sich durch die triefnasse Heckscheibe des Prius abzeichneten, spien Rauch aus, der sich um die Kabine kräuselte und dem Truck eine unheimliche Aura verlieh. Das riesige Fahrzeug beschleunigte und zog mühelos wieder mit Carrie gleich. Mittlerweile hatte sie eine Heidenangst.
Beklommen warf sie einen Blick zur Kabine und zum Fenster der Fahrertür des neben ihr rollenden Sattelzugs hinüber. Durch ihr regennasses Beifahrerfenster konnte sie nur den unteren Rand der Scheibe in der Tür des anderen Fahrzeugs ausmachen. In der Kabine erkannte sie die schemenhaften Umrisse eines Kopfs mit einer Mütze. Dann ging ein Licht im Inneren des Trucks an, und sie erspähte verschwommen das Gesicht eines männlichen Weißen. Die Regentropfen auf der Scheibe verzerrten die Züge dermaßen, dass sie wie geschmolzenes Kerzenwachs wirkten. Ein Anflug von Panik durchzuckte Carrie wie ein Stromschlag eines Starterkabels. Jäh bremste sie auf 50 Stundenkilometer ab. Sofort verlangsamte auch der Truck mit einem hydraulischen Zischen der Bremsen die Fahrt, bis sich das fahrerseitige Fenster und das Gesicht dahinter wieder neben ihr befanden. Der Fahrer schaute zu ihr, starrte sie an. Carrie konnte es zwar durch die Barrieren aus Glas und Regen nicht sehen, doch sie spürte es.
Plötzlich gleißte ein grelles Licht in ihr Auto und blendete sie. Carrie hörte sich unwillkürlich aufschreien. Das Licht stammte von einer Hochleistungstaschenlampe, deren Strahl der Trucker durch sein Fenster direkt auf ihr Gesicht richtete. Blankes Grauen durchströmte Carrie, als ihr klar wurde, dass er sich ein Bild von ihr machen wollte. Dann erlosch die Taschenlampe genauso abrupt wieder.
Und der Sattelzug bewegte sich zentimeterweise näher, bis er die Seite ihres Autos streifte.
KREEEEEIII-IIISCH!
Carrie schrie wie am Spieß und ließ das Lenkrad los. Der Truck schlingerte hin und her wie eine gigantische Klapperschlange und prallte erneut gegen ihre Beifahrerseite. Metall verbog sich, Sprünge erschienen knirschend in Glas, als sie unkontrolliert seitwärts ins Schleudern geriet. Sie würde sterben. Der Mann würde sie umbringen. Aber warum? Sie übernahm die Kontrolle über das rotierende Lenkrad. Die Knöchel ihrer Fäuste traten weiß hervor, als sie es drehte, irgendwie geistesgegenwärtig genug, um richtig gegenzulenken und wieder Halt zu finden, während sie gleichzeitig abbremste, so schnell sie sich traute, bis sie am Rand der Überholspur beinahe zum Stehen kam.
Der Sattelzug konnte nicht so schnell anhalten und versuchte es auch erst gar nicht, sondern raste weiter. Als Carries Kleinwagen auf der Gegenfahrbahn ausrollte, beobachtete sie, wie sich die roten Heckleuchten die Fahrbahn entlang entfernten. Der Irre beschleunigte und suchte das Weite. Offenbar war sein potenziell tödlicher Streich zu Ende. Ja, er raste eindeutig davon. Das konnte nur bedeuten, dass Carrie in Sicherheit war. Der Truck war verschwunden, Gott sei Dank.
Während die Krankenpflegerin schluchzend und zitternd hinter dem Lenkrad saß, stellte sie fest, dass ihre Jeans durchnässt war. Zuerst dachte sie, es müsste am Regen liegen, dann jedoch erkannte sie, dass sie sich eingepinkelt hatte. Tatsächlich entleerte sich ihre Blase immer noch über den Vinylsitz. Ihre Atmung raste, ihre Herz ging wie ein Presslufthammer, während sie wie gelähmt allein im Wagen saß. Im Innenraum breitete sich der Gestank von Urin aus.
Durch die Windschutzscheibe und die Heckscheibe sah Carrie nur Schwärze, die im Regen wie geschmolzener Onyx wirkte. Abgesehen von ihrem Wagen lag die Straße verwaist da. Carrie konnte sich nicht rühren, verharrte vor Unentschlossenheit wie versteinert. Auf keinen Fall würde sie nach dem glimpflichen Ausgang dieser haarigen Situation weiterfahren, obwohl sich die Ausfahrt nur noch anderthalb Kilometer entfernt befand. Der irre Trucker könnte weiter vorn auf sie warten. Andererseits konnte sie auch nicht einfach bleiben, oder? Irgendwas musst du tun. Ihre Gedanken überschlugen sich. Nur was?
Schließlich kramte sie ihr Handy aus der Handtasche und wählte den Notruf.
Es klingelte. »Polizeinotdienst.« Eine Männerstimme.
»H-H-H…«
»Ma’am, hier ist der Polizeinotdienst. Ich kann Sie nicht verstehen.«
Verdammt, ihr Mund funktionierte nicht. Benutz Worte, ging ihr durch den Kopf, was ihre Mutter immer zu ihr gesagt hatte, als Carrie noch ein Kind war.
»Ma’am, das ist eine Notrufleitung. Sind Sie verletzt?«
Kaum hatte Carrie die erste Silbe hervorgebracht, konnte sie nicht mehr aufhören zu reden. »Bitte helfen Sie mir! Ein großer Truck hat mich grade von der Straße abgedrängt. Er hat mein Auto absichtlich gerammt! Der Typ wollte mich umbringen! Helfen Sie mir! Bitte! Schicken Sie die Polizei!«
»Wo sind Sie jetzt?«
»In meinem Wagen. Auf der 80 ungefähr anderthalb Kilometer nördlich der Ausfahrt Johnstown.« Allmählich fiel ihr wieder ein, was sie während ihrer Ausbildung gelernt hatte. Sie war bei klarem Verstand und konnte sich artikulieren. Es würde alles in Ordnung kommen. Gib dem Notrufdisponenten einfach alle Informationen. Und bleib ruhig. »Mein Name ist Carrie Brown. Ich bin Krankenpflegerin im County General und war nach dem Ende meiner Schicht auf dem Weg nach Hause. Dann ist dieser große Sattelzug aufgetaucht und hat mich von der Straße geschoben.« Sie hörte, wie am anderen Ende der Leitung auf einer Tastatur getippt wurde, als der Disponent ihre Angaben protokollierte.
»Sind Sie verletzt?«
»Nein, nur erschrocken.«
»Bleiben Sie im Wagen, Ms. Brown. Verriegeln Sie die Türen. Verlassen Sie nicht Ihr Fahrzeug. Wir haben eine Einheit der Autobahnpolizei in Johnstown, und sie ist schon unterwegs.«
Aus der entgegenkommenden Richtung der anderen Straßenseite flammten Scheinwerfer in ihrer Windschutzscheibe auf. Ihr flüchtiger Anflug erwartungsvoller Erleichterung, weil sie dachte, es wäre bereits die Polizei, schlug in frostige Beklommenheit um, als sie erkannte, dass es sich um einen weiteren Lastwagen handelte. Dann erfüllte ein roter Schimmer den Innenraum ihres Prius, als der große Sattelzug hinter ihr verschwand. Dunkelheit kehrte wieder ein.
»Können Sie mich hören, Ma’am?«
»Ja. Tut mir leid, ja. Im Auto bleiben. Die Türen verriegeln.« Sie drückte den Knopf der Zentralverriegelung und hörte, wie sie an allen vier Türen mit einem dumpfen Klacken einrastete. »Keine Sorge, ich steige nicht aus.«
»Die Einheit ist unterwegs. Die Beamten sollten in zehn Minuten bei Ihnen sein.«
»Danke.«
»Bleiben Sie, wo Sie sind.«
Damit endete der Anruf. Carrie steckte sich das Handy in die Hosentasche. Nach Luft schnappend saß sie in der eigenen Nässe auf dem Fahrersitz. Ihre durch panische Angst erhöhte Körperwärme beschlug die Fenster. Die trostlose, verwaiste nächtliche Straße draußen konnte sie durch den sintflutartigen Niederschlag kaum ausmachen. Schwärze umfing Carrie. Sie wartete, zählte die Sekunden, dann schaltete sie die Warnblinkanlage ein. Ein gelblicher Schimmer erhellte pulsierend die düstere Leere draußen, die nur von Carries so schwach wirkenden Scheinwerfern unterbrochen wurde. Als sie sich mit dem Blusenärmel Rotz aus dem Gesicht wischte, stieg ihr der beißende Geruch ihres Urins in die Nase, der sich allmählich im Auto ausbreitete. Sie gestattete sich den Luxus des Gedankens, wie peinlich es wäre, von der Autobahnpolizei in diesem Zustand vorgefunden zu werden. Dann jedoch entschied sie, das wäre die geringste ihrer Sorgen.
Während die Sekunden verstrichen, lauschte Carrie den rhythmischen Geräuschen der Scheibenwischer und der Warnblinkanlage. Allmählich wurde sie unrund und spürte ein Kribbeln auf der Haut, weil sie sich in ihrem Auto auf der großen, beängstigend leeren Fernstraße gefangen fühlte. Wieder breitete sich Angst in ihr aus.
Dann erschienen Lichter in der stockfinsteren Nacht.
Zwei stecknadelkopfgroße Punkte in ihrer Heckscheibe.
Aus irgendeinem Grund wusste Carrie auf Anhieb zwei Dinge.
Es handelte sich nicht um einen Streifenwagen.
Und der Trucker war zurück.
Plötzlich wurde ihr klar, warum der große Sattelzug schneller geworden war, nachdem er sie von der Straße gedrängt hatte. Der Fahrer hatte es eilig gehabt.
Die nächste Ausfahrt befand sich anderthalb Kilometer weiter.
Der Trucker wollte sie so schnell wie möglich erreichen, die Überführung nehmen, in der anderen Richtung zurückfahren und die nächste Ausfahrt nutzen, um zu Carrie zurückzukehren. Es handelte sich um denselben Sattelzug, den sie kurz zuvor davonbrausen gesehen hatte.
Die zwei riesigen Scheinwerfer des Trucks wuchsen in ihrer Heckscheibe, bis das gigantische Fahrzeug unmittelbar hinter ihr am Straßenrand hielt. Das Fernlicht strahlte in ihr Auto und umhüllte sie. Ein verzerrter Schatten fiel auf Carrie, als der Schemen des Fahrers aus der Kabine stieg und die Lichtstreifen der Scheinwerfer teilweise blockierte.
In diesen wenigen Sekunden der Verzweiflung reagierte Carrie Brown. Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss und trat aufs Gas. Aber ihr Auto rührte sich nicht von der Stelle. Der Motor heulte protestierend auf, doch die Reifen drehten nutzlos durch, und Carrie begriff, dass sie im glitschigen Schlamm des Seitenstreifens festhingen und sie nirgendwohin fahren würde.
Dann explodierte ihr Fenster.
Die Scheibenwischer hielten an.
FBI Special Agent Sharon Ormsby ließ den Blick über die Gesichter der Polizeibeamten wandern, die auf Stühlen im Konferenzraum des Ramada Inn saßen. Die meisten trugen Uniform, abgesehen von einer Ermittlergruppe in Zivil und einigen legerer gekleideten Anwesenden, vermutlich verdeckte Ermittler. Sharon merkte sich in Gedanken vor, dass es sich um 37 Teilnehmer handelte. Ein Blick auf die Armbanduhr bestätigte, dass es an der Zeit war, das Podium zu betreten und mit der Sitzung zu beginnen.
Während die anwesenden Polizisten noch miteinander plauderten und Notizblöcke hervorholten, schaute Sharon durchs Fenster hinaus. Anderthalb Kilometer entfernt verlief ein langer Abschnitt der Fernstraße I-76 vorbei an Denver, Colorado. Deshalb war sie hier.
Für diesen Tag war ein Vortrag im Rahmen einer Schulung angesetzt, die sie landesweit für Polizeieinheiten durchführte, die auf oder in der Nähe von Highways Dienst versahen.
Sharon begann mit einem herzlichen Lächeln. »Danke Ihnen allen, dass Sie gekommen sind. Ich bin heute hier, um Sie über die Highway-Serienkiller-Initiative des FBI zu informieren, kurz HSK, damit unsere Behörden besser zusammenarbeiten können. 2004 hat ein Analytiker der Außenstelle Oklahoma ein Verbrechensmuster entdeckt: Die Leichen ermordeter Frauen wurden entlang der Interstate 40 in Oklahoma, Texas, Arkansas und Mississippi abgeladen«, fuhr sie fort. »Der Analytiker und ein Kollege bei der Polizei von Grapevine in Texas haben diese Fälle mit VICAP abgeglichen, unserem Erfassungsprogramm für Gewaltverbrechen. Unsere Analytiker haben sich daraufhin andere Aufzeichnungen in unserer Datenbank angesehen, um festzustellen, ob es woanders ähnliche Muster von Morden entlang von Fernstraßen gibt. Und wie sich herausgestellt hat, gibt es sie. Deshalb haben wir eine umfassende Initiative gestartet, um unsere Partner auf staatlicher und lokaler Ebene bei offenen Ermittlungen von Highway-Morden zu unterstützen.«
Eine Hand hob sich. Sharon nickte und zeigte in die Richtung.
»Haben Sie den Mörder in dem Fall gefasst?«
»Ja, haben wir.«
Sharon war 32 Jahre alt und besaß jugendliche Züge. Sie hatte die FBI-Akademie in Quantico vor acht Monaten abgeschlossen und befand sich noch in ihrer vorgeschriebenen, zweijährigen Probezeit, bevor sie nach der Abschlussbewertung zum vollwertigen Special Agent werden würde. Als sie der HSK zugeteilt worden war, hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie anderen Beamten Vorträge halten würde wie eine Avon-Kosmetikverkäuferin – denn so fühlte sie sich im Augenblick. Sharon hatte gewusst, dass sie vorerst in einer kleinen bis bestenfalls mittelgroßen Außenstelle landen würde, allerdings hatte sie auf eine anspruchsvollere erste Aufgabe als ihre aktuelle Position als Analytikerin bei der HSK gehofft. Andere Agenten, mit denen sie die Akademie abgeschlossen hatte, waren bereits den Bereichen Wirtschaftsverbrechen oder Terrorbekämpfung des FBI zugeteilt. Wenigstens war an ihr nicht die Aufgabe hängengeblieben, Bewerbungen für Stellen beim FBI oder im Weißen Haus zu überprüfen, wofür man endlos Nachbarn befragen und über banalen Finanzunterlagen brüten musste. Sharon sehnte sich nach Außeneinsätzen, bei denen sie mit gezogener Waffe Verdächtige verhaften könnte, und das würde bald folgen. Vorerst jedoch war sie mit dieser Mission betraut und wurde während ihrer Probezeit dabei ständig beobachtet und bewertetet. Es war ihr Job, und sie erledigte ihn.
Sie fuhr mit ihrem Vortrag vor den aufmerksamen Gesichtern der verschiedenen Gesetzeshüter fort. »Zuerst einige Hintergrundinformationen. Die Opfer in solchen Fällen sind überwiegend Frauen mit einem risikobehafteten, unsteten Lebenswandel, häufig gekennzeichnet von Drogenmissbrauch und Prostitution. Sie werden regelmäßig von Fernfahrerlokalen oder Raststätten mitgenommen, sexuell missbraucht, ermordet und entlang einer Fernstraße abgeladen.«
Das Rascheln von Papier war verstummt. Sharon sah das Interesse in den Augen ihres Publikums. Sie räusperte sich, trank einen Schluck Wasser aus dem Plastikbecher auf dem Podium und sprach weiter.
»Die Verdächtigen sind überwiegend Trucker. Aber durch die hohe Mobilität der Täter, den unsicheren Lebenswandel der Opfer, die beträchtlichen Entfernungen, die verschiedenen Gerichtsbarkeiten und die Spärlichkeit von Zeugen oder forensischen Beweisen können diese Fälle schwer zu lösen sein.
An der Stelle kommt VICAP ins Spiel, ein Bestandteil unseres National Center for the Analysis of Violent Crime und ein landesweites Datenarchiv für Gewaltverbrechen. Die meisten von Ihnen sind damit bereits vertraut. Die Datenbank enthält Informationen über Morde, sexuelle Übergriffe, Vermisste und nicht identifizierte menschliche Überreste. Sie steht Gesetzeshütern im ganzen Land über eine sichere Internetverbindung auf unserer Plattform Law Enforcement Online zur Verfügung, kurz LEO. Die VICAP-Analytiker haben eine landesweite Matrix von über 400 Mordopfern entlang oder in der Nähe von Highways sowie eine Liste von rund 200 möglichen Verdächtigen erstellt. Die Namen der Verdächtigen – die von Strafverfolgungsbehörden beigesteuert wurden – werden von Analytikern untersucht, die mithilfe von verschiedenen, zuverlässigen Informationsquellen Zeitleisten entwickeln.«
Der Vortrag dauerte eine Stunde. Danach beantwortete Sharon Fragen, nahm Visitenkarten entgegen und verteilte eigene, verabschiedete sich und verließ das Ramada Inn, als stünde ihre Hose in Flammen.
Eine Stunde später befand sich Sharon am internationalen Flughafen von Denver für einen Pendlerflug zurück nach Washington, D. C. Ihr Plan sah vor, in dem Apartment in Georgetown, das zu nutzen sie nur selten Gelegenheit hatte, zu duschen und sich umzuziehen. Danach wollte sie kurz nach Mittag in den HSK-Büros der FBI-Zentrale im Hoover Building sein. Sharon hatte haufenweise Arbeit zu erledigen.
Im Flugzeug nahm sie eine kurze Mütze voll Schlaf und erwachte rechtzeitig, als die 727 zum Landeanflug auf Dulles ansetzte. Sie stellte die Rückenlehne senkrecht und blickte durchs Fenster neben ihrem Sitz hinaus. Das verschlungene Gebilde der Interstate Highways 66, 95, 395 und 495 um den Flughafen erstreckte sich in jede Richtung, so weit das Auge reichte.
Ihr Jagdrevier.
Als man gefahrlos die Handys wieder einschalten durfte, während der Jet zum Gate rollte, sah Sharon, dass sie zwei E-Mails von Frank Campanella erhalten hatte, dem leitenden Special Agent der sogenannten Critical Incident Response Group – der Kriseninterventionsabteilung – des FBI. Ihr Vorgesetzter bei der HSK-Initiative. Er wollte sie sehen, sobald sie ins Büro käme. Sharon schrieb kurz zurück, dass sie soeben gelandet war, dann stieg sie zusammen mit den anderen Pendlern aus.
Zu Hause in ihrer kleinen, zweckmäßig eingerichteten Wohnung betrachtete sich Sharon nach einer schnellen Dusche im Badezimmerspiegel. Blondes Haar, Sommersprossen, scharf geschnittene Züge. Klare Haut. Fitter Körper. Abgesehen von einem kleinen weißen Fleck an der Stirn von einem Fahrradunfall als Kind hatte sie keine Narben. Noch nicht.
Sharon zog ihren frischen, dunklen Blazer über die saubere, weiße Bluse und die dunkle Hose an, der Inbegriff des traditionell adretten, professionellen Auftretens des FBI.
Sie ergriff ihre Dienstwaffe, eine schwarze, halbautomatische Glock 23, Kaliber .40, überprüfte das Magazin, steckte die Pistole ins Holster und befestigte es am Gürtel unter ihrem Blazer. Dann nahm sie sich einen Moment Zeit, um ihr hart erarbeitetes FBI-Abzeichen zu bewundern und Stolz darüber zu empfinden. Es bestand aus einem goldenen Schild mit einem Adler darüber. In der Mitte unter den eingeprägten Worten FEDERAL BUREAU OF INVESTIGATION prangte eine Gestalt mit verbundenen Augen, einer Waage in der rechten Hand und einem Schwert in der linken zwischen den Buchstaben »U« und »S« über dem Schriftzug DEPARTMENT OF JUSTICE. Es in der Hand zu halten, erfüllte sie mit Energie. Sie schloss die Ausweistasche mit dem Abzeichen und steckte es in ihre Hose.
Zeit, zur Arbeit zu fahren.
Auf dem Handy hatte sie zwei SMS aus dem Büro. Die Zulassungsstelle in Alabama hatte den registrierten Besitzer des Kennzeichens erhoben, das Sharon überprüft haben wollte. Die Autobahnpolizei von North Dakota wollte einen Rückruf von ihr wegen einer am Straßenrand gefundenen Leiche, die identifiziert werden musste. Darum wollte sich Sharon kümmern, sobald sie an ihrem Schreibtisch wäre.
25 Minuten später stieg Sharon in der Parkgarage des J. Edgar Hoover Building – dem FBI-Hauptquartier in Washington, D. C. – aus ihrem Honda Accord. Es handelte sich um die größte der 51 Dienststellen des FBI in den Vereinigten Staaten. Hier war Sharon derzeit stationiert und erhielt ihre Anweisungen.
Auf dem Weg durch den Hof schaute sie zu dem beeindruckenden Betongebäude auf, das einen gesamten Häuserblock umspannte, gesäumt vom Rot, Weiß und Blau amerikanischer Flaggen, die an Stangen im Wind wehten. Der graue, siebengeschossige Komplex mit seinen gleichförmigen Reihen quadratischer Fenster war so konstruiert, dass er im Fall eines Anschlags nach außen explodierte, statt in Richtung des Personals zu implodieren. Entlang der abgerundeten, braunen, von Efeu gekrönten Mauer des Eingangs stand ein Ausspruch von J. Edgar Hoover: »Die wirkungsvollste Waffe gegen Verbrechen ist Kooperation. Die Bemühungen aller Gesetzesvollzugsbehörden mit der Unterstützung und dem Verständnis des amerikanischen Volkes.« Gegenüber befand sich ein Kreis von Holzbänken. Sharon passierte die hohe Bronzestatue eines Mannes, der die Arme vor einer wallenden Flagge aus Metall schützend über zwei kauernde Gestalten ausbreitete. Auf dem Betonsockel der Skulptur standen die Worte »Fidelity Bravery Integrity« – Treue, Tapferkeit, Integrität.
Sie trat durch die Glastür ein und marschierte vorbei an der Übersichtstafel an der Wand.
HSK, die Highway-Serienkiller-Initiative, befand sich in der zweiten Etage.
Mit ihrer Schlüsselkarte betrat Sharon den unscheinbaren, über ein Stockwerk verteilten Bereich, der sich aus Büros, Arbeitsnischen und Computern zusammensetzte. Die acht Special Agents und fünf Ergänzungsmitarbeiter des Personals der Truppe saßen an ihren Schreibtischen. Sharons vorläufige Wirkungsstätte.
Supervisory Special Agent Frank Campanella kam auf sie zu und wünschte ihr mit einem kräftigen Händedruck einen guten Morgen. Ihr direkter Vorgesetzter war Mitte vierzig, adrett und fit. Dem scharfen Blick seiner braunen Augen entging nichts. Wie üblich trug er einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine gebügelte weinrote Krawatte.
»Guten Morgen, Sir.«
»Hi, Sharon.«
»Sie haben mir eine E-Mail geschickt, dass Sie mich sehen wollen.«
»Ich hatte heute schon mehrfach Kontakt mit der Dienststelle in Omaha. Sieht so aus, als hätte man dort einen verdächtigen Fernfahrer ins Auge gefasst, der in die Nebraska-Morde verwickelt sein könnte. Gut möglich, dass noch heute seine Daten übermittelt werden. Wir sollen sie durch NICS und VICAP laufen lassen. Falls wir einen Treffer landen, soll heute Abend ein landesweiter Fahndungsaufruf rausgehen. Die bisher vorliegenden Informationen liegen alle auf Ihrem Schreibtisch.«
Sie nickte. Gut.
»Wie war Denver?«
Sharon lächelte unverbindlich. »Ungefähr 30 Beamte sind gekommen. Sie haben sich erfreut darüber gezeigt, auf unsere Ressourcen zurückgreifen zu können, und natürlich wissen sie jetzt, wie sie uns erreichen.«
»Gute Arbeit. Ich denke, die Leute sind empfänglicher, wenn sie die Informationen von einer attraktiven Agentin erhalten. Danke, dass Sie all die Reisen auf sich nehmen, und willkommen zurück. Sehen Sie die Faxe durch, die wir heute Morgen aus dem kriminaltechnischen Labor bekommen haben. Und machen Sie lieber keine Pläne für den Abend. Wenn wir den Fahndungsaufruf rausgeben, könnte es spät werden.«
»Geht klar.«
Sharon marschierte weiter zu ihrem Arbeitsplatz.
Ein Mörder hatte es auf Raststättenprostituierte abgesehen, und die Leichen tauchten über drei Staaten verteilt auf.
Alle Anzeichen wiesen auf einen geistesgestörten Trucker hin.
Sharon wusste, dass die Gesamtheit des Fernstraßennetzes der USA etwa 75.000 Kilometer miteinander verbundener Highways umspannte und sich darauf um die zwei Millionen Fernfahrer herumtrieben. Einen einzelnen mordlüsternen Trucker aufzuspüren, kam der Suche nach der berüchtigten Nadel im Heuhaufen gleich. Allerdings begünstigten bestimmte Faktoren die Chancen auf eine Verhaftung. Rund die Hälfte der Fahrer beschränkte sich auf regionale Strecken. Somit verblieben etwa eine Million Langstreckenfahrer als wahrscheinlichere Verdächtige. Die meisten arbeiteten für Speditionsunternehmen, die gesetzlich verpflichtet waren, präzise Transportprotokolle bei den Behörden einzureichen, wodurch man ihre Bewegungen relativ einfach nachverfolgen konnte.
Sharon stand auf und ging in die Operationszentrale, um die einen Meter große Karte des Festlands der Vereinigten Staaten an der Wand dort zu betrachten. Stecknadeln und verschiedenfarbige Schnüre kennzeichneten, wo Opfer verschwunden waren und wo man später ihre Leichen geborgen hatte.
Es hatte sich eine Serie von Morden an Prostituierten entlang des Korridors der I-10 über die letzten zwei Jahre herauskristallisiert. Sechs der Opfer, die sich den Lebensunterhalt als sogenannte Trucker-Hure verdient hatten – im Fernfahrerjargon auch Lot Lizards oder Pavement Princesses genannt –, waren verschwunden. Drei der Leichname hatte man am Rand der Autobahn oder an angrenzenden Straßen gefunden. Alle waren erstochen worden. Der Killer hatte sich keine große Mühe gegeben, die Morde zu verbergen, und die Entsorgung der sterblichen Überreste wirkte überhastet. Es schien sich um Gelegenheitsverbrechen zu handeln. Das erarbeitete Profil ließ auf einen impulsiven, brutalen Fernfahrer schließen.
Die tatsächliche Anzahl der Opfer konnte weit höher liegen, das wusste Sharon – der gefährliche, unstete Lebenswandel der Trucker-Huren, die viele der Tausenden Raststätten des Landes frequentierten, gestaltete es schwierig, ihren Spuren zu folgen. Nicht selten fuhren sie mit ihren Freiern zur nächsten Raststätte mit. So überwanden sie oft etliche Staaten innerhalb von wenigen Tagen und schlüpften den lokalen Gesetzeshütern durch die Maschen. Die staatenübergreifende Kommunikation zwischen den Behörden war alles andere als perfekt und einer der Gründe, warum die Highway-Serienkiller-Initiative des FBI ins Leben gerufen worden war. Einige der Prostituierten besaßen Mobiltelefone. Dadurch ließen sich ihre Bewegungen fallweise nachvollziehen, indem man die Koordinaten der Funktürme anforderte, die sie für ihre Anrufe benutzt hatten. Sehr oft jedoch verwendeten sie Wegwerfhandys oder Telefonkarten. Und nur wenige traten mit ihren echten Namen auf.
Die letzten drei Wochen hatte Sharon mit einer umfassenden Durchsicht der Protokolle der FTA – der Bundestransportbehörde – verbracht. Jeder zugelassene Fernfahrer in den Vereinigten Staaten musste Formulare ausfüllen und für die Aufzeichnungen der FTA einreichen. Sie enthielten für jede Fuhre, wo diese abgeholt wurde, wohin sie geliefert wurde, an welchen Daten und über welche Routen. Diese Informationen wurden in die bundesweite Datenbank eingegeben. Sharon suchte nach allen Truckern, die während der Daten des Verschwindens der Opfer die I-10 befahren hatten.
Die Zahl belief sich auf über 17.000. Die Hälfte davon hatte regelmäßige Fahrten, der Rest hatte die Route für eine bestimmte Fracht befahren. All die Daten zusammenzutragen, war eine entmutigende Aufgabe. Sharon hatte die Suche auf Fahrer mit Vorstrafen eingeschränkt und diejenigen markiert, die Haftstrafen für Gewaltverbrechen wie tätlichen Angriff und Körperverletzung verbüßt hatten. Laster zu lenken, gehörte zu den wenigen Jobs, die einem Ex-Sträfling ohne übermäßige Diskriminierung offenstanden. Sogar mehrere Vergehen wegen Trunkenheit am Steuer und ein Unfall verhinderten nicht, dass Trucker arbeiten konnten. Denn wenngleich die größeren Speditionen sie vermutlich nicht einstellen würden, konnten sie immer noch unabhängig arbeiten, solange sie eine Truck-Fahrerlaubnis besaßen.
Ein Fax kam gerade herein. Sharon warf einen Blick darauf. Es handelte sich um ein Vorstrafenregister, das von der Dienststelle Omaha übermittelt wurde. Das Führerscheinfoto eines stämmigen, bärtigen, gutaussehenden Truckers starrte ihr entgegen. Sein Name war Rudy Dykstra. 32 Jahre alt. Wohnadresse in Arizona. Vor zehn Jahren hatte man ihn wegen fahrlässiger Tötung verurteilt, weil er außerhalb von New Orleans eine Trucker-Hure niedergestochen hatte. Er hatte acht Jahre einer 15-jährigen Gesamtstrafe im Angola-Gefängnis in Louisiana abgesessen. Mittlerweile besaß und befuhr er selbständig einen großen Sattelzug. Kennzeichen 894RFT. Nummernschild aus Arizona.
Aus Rudy Dykstras Fahrtenprotokollen der FTA ging hervor, dass er sich in der Gegend aufgehalten hatte, in der drei der vermisst gemeldeten Prostituierten später erstochen aufgefunden worden waren.
Zudem wies er eindeutig die entsprechenden Neigungen auf.
Sharon ging in Campanellas Büro, und er zeichnete die Autorisierung ab.
Sie gaben einen Fahndungsaufruf für Rudy Dykstra heraus, der landesweit an Gesetzesvollzugsbehörden übermittelt wurde.