Eine Autobiographie

oder: Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit

Mohandas Karamchand Gandhi


ISBN: 978-3-96861-010-8
1. eBook-Auflage 2020
© für die deutsche Ausgabe 1977 Aquamarin Verlag GmbH, Voglherd 1, 85567 Grafing, www.aquamarin-verlag.de

Nach der englischen Übersetzung aus dem Gujarati von Mahadev Desai ins Deutsche übertragen und mit einem Nachwort versehen von Fritz Kraus.
Titel der indischen Originalfassung: „An Autobiography or The Story of My Experiments With Truth, Navajivan Publishing House, Ahmedabad 14, Indien. Die vorliegende Ausgabe ist eine vollständig überarbeitete Fassung der 1960 im Verlag Karl Alber GmbH, Freiburg und München, erstmals erschienenen deutschen Ausgabe. Die Überarbeitung besorgte der Herausgeber unter Mitarbeit von Jürgen Genings, der auch den Einband entwarf unter Verwendung eines Fotos von Sunil Janah.
Mit 16 Abbildungen nach Originalvorlagen. Bildnachweis: Navajivan Trust, Ahmedabad (11); Government of India, New Delhi (3); Süddeutscher Verlag, München (2).

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Inhalt

Vorwort des deutschen Herausgebers

Sein Leben war eine Kette von Experimenten mit der Wahrheit. Seine gewaltlose Politik, gekennzeichnet durch die Technik von Satyagraha, war der Beginn einer Revolution. Neben Sri Aurobindo wird er als der bedeutendste Inder des 20. Jahrhunderts von größtem Einfluß auch auf den Westen in die Geschichte eingehen. Zwar traten die politischen Führer Indiens, das er von der Kolonialherrschaft befreit hatte, nicht gerade in seine Fußtapfen. Gleichwohl blieb Gandhi richtungweisend für eine gewaltlos-revolutionäre neue Generation im Weltmaßstab, muß die Geschichtsforschung ihn zu den maßgebenden Menschen unserer Epoche zählen.

Am 30. Januar 1948 wurde Gandhi von einem fragwürdigen Hindu ermordet. Seltsamerweise gelang es erst zwölf Jahre später, seine Autobiographie in deutscher Sprache zu veröffentlichen. Es war das Verdienst von Fritz Kraus, diesen Teil der Aufzeichnungen, den Gandhi selber „Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit“ genannt hatte, ins Deutsche zu übertragen und mit einem ausführlichen Nachwort zu versehen, das auch heute noch den weltgeschichtlichen Zusammenhang zu verdeutlichen vermag, in dem Gandhi und sein Werk gesehen werden müssen. Der Verlag Karl Alber in Freiburg veröffentlichte das Buch 1960. Aber nachdem die erste Auflage bald vergriffen war, blieb es für den deutschsprachigen Leser wieder fast unerreichbar. So entstand in uns das dringende Bedürfnis, das autobiographische Werk Gandhis neu herauszugeben.

Für die vorliegende Geschichte seiner Experimente mit der Wahrheit ergab sich die Unerläßlichkeit einer gründlichen Neubearbeitung der Erstfassung, zu der Frau Dr. Ilse Kraus, die Witwe des inzwischen verstorbenen Übersetzers, die freundliche Genehmigung erteilte. Das Vorwort Nehrus, das weder dem Gujarati-, noch dem Englisch-Original voranstand, mußte entfallen. Hingegen blieb das Nachwort von Fritz Kraus mit zwei geringfügigen Kürzungen, die durch den Fortgang der Zeit notwendig wurden, dem Leser erhalten. Auch die Erklärung der indischen und englischen Ausdrücke findet der Leser wie bei der ersten Ausgabe am Schluß des Buches.

 

Rolf Hinder

Einleitung

Vor vier oder fünf Jahren willigte ich auf das Drängen einiger meiner nächsten Mitarbeiter darin ein, meine Autobiographie zu schreiben. Ich machte mich ans Werk, doch kaum hatte ich den ersten Bogen beendet, als in Bombay Unruhen ausbrachen und die Arbeit ins Stocken geriet. Dann folgte eine Reihe von Ereignissen, die in meiner Einkerkerung in Yeravda gipfelten. Sjt. Jeramdas, einer meiner Mitgefangenen dort, bat mich, alles andere zurückzustellen und die Autobiographie fertigzuschreiben. Ich entgegnete, ich hätte mir schon einen Studienplan zurechtgelegt und könne nicht daran denken, etwas anderes zu tun, solange dieses Programm nicht erledigt sei. In der Tat hätte ich die Autobiographie vollendet, wenn ich meine Gefängnisstrafe in Yeravda hätte ganz absitzen müssen; denn es fehlte noch ein Jahr zur Erfüllung der Aufgabe, als ich entlassen wurde. Nun hat Swami Anand die Anregung erneuert, und da ich die Geschichte des Satyagraha-Kampfes in Südafrika zu Ende geschrieben habe, fühle ich mich verlockt, die Autobiographie für Navajivan zu verfassen. Der Swami wünschte, ich möge sie extra für eine Buchpublikation niederschreiben. Doch ich habe keine überflüssige Zeit. Ich könnte nur Woche für Woche ein Kapitel schreiben. Nun muß jede Woche etwas für Navajivan geschrieben werden. Warum sollte das nicht die Autobiographie sein? Der Swami nahm diesen Vorschlag an, und so bin ich fest an der Arbeit.

Doch ein gottesfürchtiger Freund hatte seine Zweifel, die er mir an meinem Schweigetag anvertraute. „Was hat Sie“, fragte er, „zu diesem Abenteuer veranlaßt? Eine Autobiographie zu schreiben, ist eine Sache, die dem Westen eigentümlich ist. Ich weiß von niemandem im Osten, der eine Autobiographie geschrieben hätte, außer von solchen, die unter westlichen Einfluß geraten sind. Und was werden Sie schreiben? Angenommen, Sie verwerfen morgen das, was Sie heute zum Prinzip machen, oder angenommen, Sie ändern Ihre heutigen Pläne in der Zukunft, - ist es dann nicht wahrscheinlich, daß die Menschen, die ihr Verhalten nach der Autorität Ihres gesprochenen oder geschriebenen Wortes richten, in die Irre geführt werden? Glauben Sie nicht, es sei besser, etwas wie eine Autobiographie nicht zu schreiben, zumindest nicht gerade jetzt?“

Dieses Argument machte einigen Eindruck auf mich. Aber es ist nicht meine Absicht, eine Autobiographie in eigentlichem Sinne zu versuchen. Ich möchte nur die Geschichte meiner zahlreichen Experimente mit der Wahrheit erzählen, und da mein Leben bloß aus diesen Experimenten besteht, ist es wahr, daß diese Erzählung die Form einer Autobiographie annehmen wird. Doch ich werde mich nicht darum kümmern, ob jede ihrer Seiten nur von meinen Experimenten spricht. Ich glaube oder schmeichle mir wenigstens mit dem Glauben, daß ein zusammenhängender Bericht über all diese Experimente dem Leser nicht ohne Nutzen sein wird. Meine Experimente auf dem Felde der Politik sind heute nicht nur in Indien, sondern in gewissem Ausmaß in der „zivilisierten“ Welt bekannt. Für mich haben sie keinen besonderen Wert. Und der Titel Mahatma, den sie mir eingetragen haben, hat deshalb noch weniger Wert. Oft hat mich dieser Titel tief gepeinigt. Ich kann mich keines Augenblicks erinnern, in dem es hätte heißen können, er habe einen Reiz für mich. Aber gewiß ist es verlockend für mich, meine Experimente im spirituellen Bereich zu erzählen, die nur mir selbst bekannt sind und aus denen ich die Kraft für meine Wirksamkeit auf dem politischen Felde geschöpft habe. Wenn die Experimente wirklich spiritueller Natur sind, lassen sie für Selbstlob keinen Raum. Sie können meine Demut nur verstärken. Je mehr ich in meine Vergangenheit zurückblicke und darüber nachdenke, um so lebhafter empfinde ich meine Grenzen.

Was ich erreichen möchte – wofür ich diese dreißig Jahre hindurch gekämpft und gelitten habe –, ist Selbstverwirklichung, Gott von Angesicht zu Angesicht zu sehen, Moksha* zu erlangen. In der Verfolgung dieses Zieles lebe ich, bewege ich mich und bin ich. Alles, was ich redend und schreibend tue, alles, was ich auf dem politischen Felde wage, ist auf dieses Ziel ausgerichtet. Doch da ich stets glaubte, was einem Einzelmenschen möglich ist, sei allen möglich, geschahen meine Experimente nicht im Verborgenen, sondern in der Öffentlichkeit. Und ich glaube nicht, daß dies ihrem spirituellen Wert Abbruch getan hat. Es gibt einiges, was nur dem einzelnen selbst und seinem Schöpfer bekannt ist. Das ist offensichtlich nicht mitteilbar. Die Experimente, über die ich gerade berichten will, sind nicht solcher Art. Sie sind spirituell oder besser moralisch; denn das Wesen der Religion ist Moralität.

Nur solche religiösen Fragen, die ebensogut von Kindern wie von Älteren verstanden werden können, werden in diese Geschichte einbezogen. Wenn ich sie im Geiste der Leidenschaftslosigkeit und Demut erörtern kann, werden viele andere Experimentatoren darin Hilfe für ihren eigenen Weg finden. Fern sei es mir, für diese Experimente irgendeinen Grad von Vollkommenheit in Anspruch zu nehmen. Ich beanspruche für sie nicht mehr als ein Wissenschaftler, der, obzwar er seine Experimente mit höchster Sorgfalt, Umsicht und Genauigkeit ausführt, für seine Schlußfolgerungen nie irgendwelche Endgültigkeit behauptet, sondern im Hinblick auf sie die Offenheit des Geistes bewahrt.

Ich bin durch tiefe Selbstbeobachtung gegangen, habe mich selbst immer wieder zu durchschauen gesucht und jede psychische Situation geprüft und analysiert. Gleichwohl bin ich weit davon entfernt, für meine Schlußfolgerungen irgendwelche Endgültigkeit oder Unfehlbarkeit zu beanspruchen. Einen Anspruch allerdings erhebe ich, und das ist dieser: Für mich scheinen sie völlig zwingend und zur Zeit endgültig zu sein. Wären sie das nicht, so könnte ich kein Handeln auf sie gründen. Doch bei jedem Schritt habe ich ihr Für und Wider sorgsam abgewogen und demgemäß gehandelt. Und solange meine Taten meinen Verstand und mein Herz befriedigen, muß ich meinen ursprünglichen Schlüssen treu bleiben.

Hätte ich nur akademische Grundsätze zu erörtern, so würde ich sicherlich nicht den Versuch einer Autobiographie unternehmen. Da es aber meine Absicht ist, einen Bericht über die verschiedenen praktischen Anwendungen dieser Grundsätze zu geben, habe ich den Kapiteln, die ich schreiben will, den Titel gegeben „Die Geschichte meiner Experimente mit der Wahrheit“. Sie wird natürlich Experimente mit Nichtgewalt, Keuschheit und anderen Grundsätzen des Verhaltens umfassen, die als von der Wahrheit verschieden gelten. Doch für mich ist Wahrheit das Grundprinzip, das viele andere Prinzipien in sich schließt. Diese Wahrheit ist nicht nur Wahrhaftigkeit im Reden, sondern auch Wahrhaftigkeit im Denken, und nicht nur die relative Wahrheit unseres Begriffs, sondern die absolute Wahrheit, das ewige Prinzip, das heißt Gott. Es gibt unzählige Definitionen von Gott, weil seine Manifestationen unzähligesind. Sie überwältigen mich in Bewunderung und Ehrfurcht und betäuben mich für einen Augenblick. Doch ich bete Gott nur als Wahrheit an. Ich habe ihn noch nicht gefunden, aber ich suche ihn. Ich bin bereit, das mir Teuerste diesem Suchen aufzuopfern. Selbst wenn das Opfer mein Leben fordern sollte, hoffe ich, zu seiner Hingabe bereit zu sein. Doch solange ich diese absolute Wahrheit nicht verwirklicht habe, muß ich mich an die relative Wahrheit halten, wie ich sie verstanden habe. Diese relative Wahrheit muß einstweilen mein Licht, mein Schild und Schirm sein. Obwohl dieser Weg schmal und eng ist und scharf wie des Messers Schneide, ist er für mich der kürzeste und leichteste gewesen. Selbst meine Fehler, groß wie der Himalaya, sind mir unbedeutend vorgekommen, weil ich mich strikt auf diesem Weg gehalten habe. Denn der Weg hat mich davor bewahrt, zu Schaden zu kommen, und ich bin nach meiner Einsicht fortgeschritten. Bei meinem Fortschritt habe ich oft schwache Schimmer der absoluten Wahrheit, Gottes, erhascht, und täglich wächst in mir die Überzeugung, daß er allein wirklich ist und alles andere unwirklich. Möge begreifen, wer will, wie diese Überzeugung in mir Wurzel gefaßt hat; möge er an meinen Experimenten teilnehmen und, wenn er kann, auch meine Überzeugung teilen. Ferner ist mir die Überzeugung zugewachsen, was für mich möglich ist, sei auch für ein Kind möglich, und ich habe gute Gründe, so zu sprechen. Die Mittel der Wahrheitssuche sind ebenso einfach, wie sie schwierig sind. Sie mögen einem hochmütigen Menschen gänzlich unmöglich und einem unschuldigen Kind sehr wohl möglich erscheinen. Der Wahrheitssucher muß demütiger sein als der Staub. Die Welt tritt den Staub unter ihre Füße, doch der Wahrheitssucher sollte sich selbst so demütigen, daß selbst der Staub ihn zermalmen könnte. Nur dann, und nicht vorher, wird er einen Schimmer der Wahrheit erhaschen. Das Gespräch zwischen Vasishtha und Vishwamitra macht dies vollkommen klar. Auch Christentum und Islam bestätigen es zur Genüge.

Wenn irgend etwas, das ich auf diesen Seiten schreibe, beim Leser den Eindruck erweckt, von Eitelkeit gefärbt zu sein, so muß er annehmen, daß etwas bei meiner Wahrheitssuche nicht stimmt und daß meine Einblicke nur Täuschungen sind. Mögen Hunderte wie ich umkommen, doch die Wahrheit laßt siegen! Laßt uns das Niveau der Wahrheit auch nicht um Haaresbreite senken, weil Sterbliche wie ich falsch darüber urteilen mögen.

Ich hoffe und bete, es möge niemand die in den folgenden Kapiteln verstreuten Empfehlungen als autoritativ auffassen. Die berichteten Experimente sollen als Illustrationen angesehen werden, in deren Licht jedermann seine eigenen Experimente ausführen mag nach seinen eigenen Neigungen und Fähigkeiten. Ich habe das Vertrauen, daß in diesem beschränkten Ausmaß die Illustrationen wirklich hilfreich sein werden; denn ich werde häßliche Dinge, die gesagt werden müssen, weder verschweigen noch abschwächen. Ich möchte den Leser vollständig mit all meinen Fehlern und Irrtümern bekanntmachen. Meine Absicht ist, Experimente in der Wissenschaft von Satyagraha zu beschreiben, nicht zu sagen, wie gut ich bin. In der Beurteilung meiner selbst will ich versuchen, so hart wie die Wahrheit zu sein, und ich habe den Wunsch, daß andere ebenso verfahren. Wenn ich mich an solcher Norm messe, muß ich mit Surdas ausrufen:

Wo gibt's ein armes Wesen / So schlecht und abscheulich wie ich?

Ich hab' meinen Meister verlassen, / So treulos war ich.

Denn es ist eine ständige Marter für mich, noch so fern von dem zu sein, der, wie ich genau weiß, jeden Atemzug meines Lebens lenkt und dessen Geschöpf ich bin. Ich weiß, es sind die üblen Leidenschaften im Innern, die mich von ihm fernhalten und von denen ich dennoch nicht loskommen kann.

Doch ich muß schließen. Ich kann nur im nächsten Kapitel die eigentliche Geschichte beginnen.

Im Ashram, Sabarmati, 26. November 1925

M. K. Gandhi


 

* Freisein von Geburt und Tod. Im Deutschen meist mit „Befreiung“ wiedergegeben (d. H.).