Über dieses Buch

Im Jahr 1952 erkrankte der Bruder von Margrith Lin an einer tuberkulösen Meningitis, er war zweieinhalb Jahre alt. Bereits totgesagt, überlebte er seine schwere Krankheit, und nach zwei Jahren Spital- und Kuraufenthalt ­kehrte der Bruder wieder nach Hause zurück: «körperlich ­geheilt dank neuzeitlichen Heil­mitteln», wie es im Aus­tritts­bericht des Arztes hiess. Über seine geistigen und seelischen Schädigungen wurden die Eltern nicht informiert.

Margrith Lin erzählt die Lebensgeschichte ihres Bruders und gleichzeitig ihre eigene Geschichte als Schwester dieses Bruders. Sie erzählt von der Kindheit in den Fünfziger- und Sechzigerjahren, vom Familienalltag, von Prägungen auch für den eigenen Werdegang, von der Verantwortung, die den Angehörigen ein Leben lang bleibt. Margrith Lin erzählt aber auch von den Erfahrungen mit Behörden und Institutionen und damit vom Wandel in der Einstellung gegenüber Menschen mit einer Behinderung während der letzten siebzig Jahre.

«Ein Bruder lebenslänglich» ist ein zärtlicher Erfahrungs­bericht und ein wichtiges sozialgeschichtliches Dokument zugleich.

«Das Buch stellt für professionell Tätige und sozial­­historisch Interessierte eine wichtige Dokumentation dar.» Dr. Hedwig Stauffer-Stiftung

Wir haben ein Brüderchen bekommen

Der Stammhalter

Eines Morgens war Mama wieder weg. Am Mittag brachte Papa die freudige Botschaft nach Hause, dass uns der liebe Gott ein Brüderchen geschenkt habe. Ich verstand nicht, warum Mama deshalb im Spital bleiben musste. Auf meine Fragen erfuhr ich von meinen ­beiden älteren Schwestern, dass der liebe Gott die Kinder ganz nackt auf die Welt schicke. Das konnte doch nicht wahr sein! Nacktheit war verpönt, war sündhaft. So wurde es mir von meinen älteren Schwestern beigebracht, wenn ich mich beim Zubettgehen splitternackt auszog und es auch noch genoss.

Am Sonntag durften wir Mama im Spital besuchen. Sie hielt das Brüderchen in den Armen. Es war nun in ein Wolljäckchen gehüllt und in ein hellblaues Flanelltuch eingewickelt. Es sah sehr zart aus mit seinen rötlichblonden Haaren, den himmelblauen Augen und der hellen Haut, so anders als wir drei Schwestern. Ausser der Grossmutter väterlicherseits hatte niemand von uns solche Augen, und als wir den Bruder später fragten, woher er denn die schönen blauen Augen hatte, antwortete er: «Vom lieben Gott.» Wenn er lachte, hatte er zwei kleine herzige Grübchen in den Wangen, genau wie sein Patenonkel, ein jüngerer Bruder des Vaters. Wir Schwestern ­waren ganz anders, dunkelhaarig und braunäugig. Meine Haut wurde ­zudem sehr schnell dunkel, wenn ich nur ein wenig an der Sonne war. Und da ich noch einen Sprachfehler hatte und nur schwer verständlich sprach, wurde ich oft «Tschinggeli» gerufen.

Nach drei Mädchen wurde endlich der Sohn geboren. «Als glück­liche Eltern melden wir neuen Familienzuwachs», stand in der Geburtsanzeige. Ausser dem Namen liess nichts darauf schliessen, dass es nun endlich ein Junge war. Unsere Eltern wollten von der Geburt ihres Sohnes nicht so viel Aufhebens machen. Sie versicherten uns, dass es ihnen nicht drauf ankomme, ob Bub oder Mädchen: Hauptsache das Kind sei gesund.

Doch der Pöstler brachte dreimal täglich – so oft kam die Post da­­mals – eine bunte Menge von Gratulationskarten mit Sprüchen und Segenswünschen für den Stammhalter, der sich nach drei Mädchen nun endlich eingestellt hatte. «Es haben es natürlich nicht alle so schön, dass der Kronprinz gleich drei fertige Kindermädchen vorfin­det», stand auf der Karte eines Grossonkels. So war die Aufgabe von uns drei älteren Schwestern bereits vorgegeben.

Vom Glückwunsch eines Künstlers aus Wien, den die Eltern in der Nachkriegszeit mit «Liebesgaben-Paketen» unterstützten, ist mir vor allem das Bild der «Huldigung» in Erinnerung geblieben, ein fettes, in der Mitte thronendes Baby wird von den drei Schwestern und den glücklichen Eltern umtanzt. Da unser Vater der Einzige seiner Familie war, der selbst eine Familie gegründet hatte, so war unser Bruder nun der einzige männliche Nachkomme, der den Familienstamm weiterführen konnte. Er erhielt den gleichen Vornamen wie der Vater und war nun bereits in der vierten Generation Träger dieses Namens.

Bei meiner Geburt gratulierten die Leute meinen Eltern zum «Dreimädelhaus», wohl um etwas davon abzulenken, dass es wieder nur ein Mädchen war. Bereits meine Geburtsanzeige wies darauf hin, dass es nach zwei Mädchen eigentlich nun Zeit für einen Buben war. Der Vater entwarf die Anzeigen jeweils selbst nach Vorlagen, die er den beliebten Zeichenbüchlein von Hans Witzig entnahm. Auf meiner Anzeige waren zwei grössere Mädchen zu sehen, welche das jüngste Geschwister hinter sich herzogen. Es war nicht zu über­sehen, dass das jüngste Geschwister eigentlich kurze Hosen trug. Der Vater hatte diese kurzfristig in einen Rock retouchiert. Auch die Mutter war offenbar überzeugt, dass es nun ein Bub werden würde. Sie wollte mit dem Kauf der Taufkerze nicht bis zu meiner Geburt im Mai zuwarten, da sie sie unbedingt zu Maria-Lichtmess in der Kirche segnen lassen wollte. Meine Taufkerze hatte rote Verzie­rungen. So sahen damals die Kerzen für die Buben aus. Wie habe ich mich geschämt, als ich am Weissen Sonntag bei der Taufgelübde-Erneuerung – wie es von den Erstkommunionkindern verlangt wurde – eine rote Kerze hatte, eine Bubenkerze. Meine Gspänli hatten silbrige oder goldene Kerzen oder dann eine blaue Mädchenkerze.

Wir Kinder waren von nun an in zwei Kategorien aufgeteilt, der Bub und die Mädchen. Dass unsere Mutter uns Mädchen immer im Kollektiv ansprach, hatte wohl auch den Grund, dass sie in ihren jungen Jahren Ferienlager geleitet hatte und die Familie wie ihr privates ­Ferienlager führte.

Die Säuglingsschwester hatte unserer Mutter eingebläut, man solle den kleinen Kronprinzen ja nicht verwöhnen. Die Eltern hätten es in der Hand, ob aus einem kleinen Jungen später ein Tyrann werde. Die Mutter solle den Jungen nachts schreien lassen. Das sei gut für seine Lungen und mache stark. Und so schrie der kleine Bruder die Nächte durch. Die Mutter stellte das Kinderbettchen in die ­Stube, damit der Vater nicht gestört wurde. Er hatte ja tagsüber seinem anspruchsvollen Beruf als Revisor nachzugehen. Aber jetzt konnte die Mutter gar nicht mehr schlafen, weil sie nichts mehr von ihrem Söhnchen hörte. Ob es wohl noch atmete? Immer wieder musste sie sich vergewissern, ob es noch lebte. Sie beschloss, das Ehegemach zu verlassen und zum kleinen Schreihals in die Stube zu ziehen. Irgendeinmal hörte dann das nächtliche Schreien auf. Unser Bruder hatte sich wohl an sein neues Erdendasein gewöhnt. Davon gingen wir aus.

Die ersten beiden Lebensjahre

Ich freute mich über mein kleines Brüderlein. Ich war nun nicht mehr allein, wenn meine älteren Schwestern in der Schule waren. Es konnte so herzig lächeln mit seinen Grübchen, und mit seinen himmelblauen Augen strahlte es mich an! Neben meiner Grossmutter, welche voller Stolz mit ihrem Enkel unterwegs war, nahm ich – die um drei Jahre ältere Schwester – meinen kleinen Bruder schon bald in Obhut. Ich verstand seine Kindersprache und versuchte, seine Wünsche zu erfüllen. «Biip, biip», sagte er, wenn wir ein Vögelchen sahen. «Biip, biip» galt jedoch auch dem Milchmann und seinem Pferd, da der Milchmann jeweils mit einem Pfiff seine Anwesenheit im Quartier ankündete und die Hausfrauen mit ihren Milchkesseln aus den Häusern lockte. Mit «Lellelle» bezeichnete der Bruder unsere Grossmutter. «Lellelle» benannte er jedoch auch die Kirche. Kann sein, weil Grossmama ihn oft in die Kirche mitnahm. Ich interpretierte sein «Lellelle» als seinen Wunsch, in die Kirche zu gehen. So nahm ich ihn eines Tages bei der Hand, und wir beide machten uns zusammen auf den Weg zur nächstgelegenen Kirche, er war zwei, ich noch nicht ganz fünf Jahre alt. Wir gingen mehrmals hin und warteten, bis jemand zum Beten kam, da ich die schwere Kirchentüre nicht allein zu öffnen vermochte. Manchmal war mein kleiner Bruder krank und hatte hohes Fieber. Dann wollte er seine Ruhe ­haben. Es störte ihn, wenn wir etwas lauter waren beim Spielen. «Mama psst», flüsterte er dann und machte ein Zeichen, dass wir aufhören sollten. «Angina», sagte jeweils der herbeigerufene Kinder­arzt. Er war ein sehr gross gewachsener Mann, der den Kopf an unserer Deckenlampe anschlug, was wir Kinder sehr lustig fanden. Wir mochten ihn gern. Er war für uns ein beliebtes Zeichnungssujet, und er nahm unsere Zeichnungen immer sehr wohlwollend entgegen und quittierte unsere Erklärungen mit Humor. Wir hielten den Atem an, wenn er mit der Penicillin-Spritze am Bettrand stand. «Es chonnt es Müggli übers Brüggli und jetzt …», und bevor wir reagieren konnten, hatte er bereits zugestochen.

Diesem Buch geht es nicht um persönliche Anklagen, sondern um Anre­gungen zur kritischen Reflexion im Umgang mit Menschen mit einer ­Behinderung und deren Angehörigen. Deshalb sind alle Personen, Orte und ­Institutionen ­anonymisiert. Diesbezügliche Dokumente und persönliche ­Zitate sind entsprechend formal verändert.

Die zitierten Gutachten, Berichte, Zeitungsausschnitte, Broschüren, ­Briefe und E-Mails stammen aus dem Dossier, welches die Eltern von ihrem Sohn angelegt hatten und das später von der ältesten Schwester in ihrer ­Funktion als Beiständin weitergeführt worden ist.

Auf steiler Strasse traf ich jüngst ein Mädchen, ­
das seinen ­kleinen Bruder auf dem Rücken trug.

«O weh», sagte ich, «du armes Kind,
da trägst du aber eine schwere Last!»

Darauf sah mich das Mädchen
verwundert an und sprach: «Ich trage
keine Last, ich trage meinen Bruder.»

Unbekannter Autor

«Ich habe das nicht gesucht, nehme bloss
­meine ­Verantwortung als Schwester
wahr, und ich will es ­nochmals ­sagen:
Ich trug ­zuweilen schwer daran.»

Erica Brühlmann-Jecklin,
Brief an meinen Bruder Walter

Margrith Lin

Ein Bruder lebenslänglich

Vom Leben mit einem behinderten Geschwister

Limmat Verlag

Zürich

Foto Luzius Wespe, Voltafilm

Prof. em. Dr. Margrith Lin, geboren 1947, Primarlehrerin, Heil­pä­da­gogin / Logopädin und Psychologin, verschiedene Weiterbildungen in Individual- sowie Systemtherapie. Lehrtätigkeit in Ausbildungsstätten für soziale, pädagogische und therapeutische Berufe, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Heilpädagogischen ­Institut (HPI) der Universität Fribourg und Professorin im Fach­bereich «Heteroge­ni­tät und Heilpädagogik» an der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz (PHZ). Aus ihrer langjährigen Beratungstätigkeit in einem Heilpädagogischen Dienst entstanden verschiedene Publikationen zur Beratung von Familien aus unterschied­lichen Lebenswelten und zur sprachlichen Sozialisation.

Meine frühesten Erinnerungen

Die Pilgerreise nach Rom

Ein Sonnenstrahl fällt durch das vergitterte Fenster. Moosgrüne Wände, ein säuerlich muffiger Geruch, das Ablaufrohr entlang krabbelt eine dünnbeinige Spinne. Ängstlich kauere ich auf dem feuchtklebrigen Linoleumboden. Ich habe aufgehört zu weinen. Es ist plötzlich ganz still, nur die Wasserspülung plätschert leise. Da dreht sich der Schlüssel, und Tante Gret steckt ihren Kopf durch den Türspalt: «Willst du nun brav sein?» Sie öffnet die Toilettentür und schickt mich nach oben, meine inzwischen kalt gewordene Milch auszutrinken.

Ich klammere mich an das Treppengeländer und klettere leise schluchzend die knarrenden Stufen hoch. Oben erwartet mich Maria. Die abgestandene Milch hat eine dünne Haut gebildet, die eklig am Tassenrand klebt. Maria wäscht mir das tränenverschmierte Gesicht, putzt mir die Milchpelle von den Mundwinkeln, kämmt mir die zerzausten Haarsträhnen aus dem Gesicht. «Und kämmt sie mir das Haar, so rupft sie mir ein paar – aber du lieb Mütterlein du, bandest noch bunte Schleifen dazu …»

Ich mag Marias Lied, seinen Inhalt begreife ich erst später. Es ist das Lied eines kleinen Mädchens, welches am Grab seiner Mutter über seine Stiefmutter klagt.

Ich schlucke meine Tränen runter, damit ich nicht wieder zu weinen beginne. Mama und Papa sind weg. Mich haben sie hiergelassen. Meine beiden älteren Schwestern sind auch nicht da. Sie sind in die Schule verschwunden.

Ich sehe diese Bilder deutlich vor mir, spüre die Wut im Bauch aufsteigen und ein dumpfes Gefühl von Hilflosigkeit und Traurigkeit beschleicht mich noch immer. Ob ich mich wirklich noch erinnern kann? Ich war damals zwei Jahre alt. Glaube ich nur, mich daran zu erinnern, da man mir das später so erzählt hat? Autobiografische Erinnerungen setzen erst ab dem dritten Lebensjahr oder noch später ein, sagt die Forschung.

Es ist Sonntagnachmittag. Ich schiebe Tante Gret im Rollstuhl durch den Park des Pflegeheims. Sie ist inzwischen hundertzwei Jahre alt.

«Wenn man auch früher strenger war mit den Kindern, so hat das ihnen nicht geschadet», ist sie der festen Überzeugung. «Als deine Eltern damals nach Rom verreisten, bist du ihnen nachgelaufen und hast so gezwängelt, dass ich dich packte und in die Toilette einschloss. Ich sagte dir, dass du erst wieder rauskommen dürftest, wenn du aufgehört hast zu heulen. – Du hast nachher nie mehr nach deiner Mutter gefragt.» Es scheint mir, als ob ich einen kleinen Triumph in ihrer Stimme höre – ein Triumph, dass ich nicht mehr nach meiner Mutter fragte?

Ich musste mit ansehen, wie meine Eltern weggingen. Mein Einwand, dass ich darüber wohl verzweifelt war, macht sie ratlos. «Was hätte ich denn sonst tun können? – In der Ausbildung wurde uns verboten, Kinder zu schlagen, Freiheitsberaubung hingegen war erlaubt.»

Tante Gret ist die einzige Schwester des Vaters. Sie war in der prestigeträchtigen Pouponnière in Genf als Nurse zur Kinderbetreuung in vornehmen Familien ausgebildet worden. Solche Stellen gab es aber vor allem im Ausland. So wurde sie von ihrer Ausbildungsstätte nach Frankreich an adlige Familien vermittelt. Es war ihre Aufgabe, kleine «Prinzen» aufzuziehen und zu erziehen. Ich erinnere mich an Erzählungen von alten Schlössern mit gigantischen Waffensälen und furchteinflössenden Fledermäusen. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, kehrte Tante Gret in die Schweiz zurück.

Plötzlich waren die Eltern wieder da. Sie waren in Rom gewesen und hatten den Papst besucht. So hatte man es mir erzählt. Das musste etwas ganz Besonderes gewesen sein, das war augenscheinlich. Im Elternschlafzimmer hing von nun an ein grosses Foto mit einem streng dreinblickenden Mann an der Wand. Es war Pius XII. Es gibt von damals auch ein Foto einer grossen Reisegruppe vor dem Petersdom. Wenn man ganz genau hinschaut, sind auch Mama und Papa darauf zu sehen, Mama in der Landestracht, daneben ein freundlich dreinblickender älterer Mann mit Bart und Glatze, Mamas Vater. Er war früher Chefbeamter bei der Bahn und organisierte nach seiner Pensionierung Pilgerzüge nach Rom und auch nach Lourdes. Nach Lourdes wollte die Mutter ihn nie begleiten. Diese Art von Frömmigkeit mochte sie nicht, vor allem das Rosenkranzbeten war ihr zu langweilig.

Nach ihrer Heimkehr war Mama oft müde und musste viel liegen. Unter dem Bild des Papstes im Elternschlafzimmer stand auf einmal mein Kinderbettchen. Wir Mädchen schliefen zu dritt in einem Zimmer. Für mich wurde dort nun ein anderes Bett hineingestellt. Es stammte aus Mutters Familie und hatte bereits Kinder mehrerer Generationen in ihre Traumwelten begleitet.

Wenn wir abends schnell im Bett waren, so setzte sich Mama zu uns und las noch etwas vor. Wie liebten wir die Geschichte von Heidi und dem Alpöhi! Bis heute gilt für mich das kleine Mädchen mit dem schwarzen Kraushaar aus dem damals bekannten Silva-Band, den man durch Punktesammeln erwerben konnte, als das richtige Heidi. Spätere Bilder und Filme konnten nicht an diesem Bild des Ur-Heidis rütteln.

Das Leben auf der Alp war uns Kindern vertraut, verbrachten wir doch manchen Sommer in den Bergen. Wir amüsierten uns köstlich, wie dämlich sich die gestrenge Erzieherin Rottenmeier aus Frankfurt auf der Alp anstellte.

Die Bilder von den finster dreinblickenden «Hottentotten» – imaginären Gestalten aus der Zeit der schwarzen Pädagogik, welche den Geissenpeter zum Lesenlernen anspornen sollten – verfolgten mich bis in die Träume.

Auch Madam Rottenmeier liess mich nicht mehr los – sie, die davon überzeugt war, dass man bei Heidi «in jedem Punkt der menschlichen Erziehung mit dem Uranfang beginnen müsse», war selbst jedoch vom Alltag in Heidis Bergen total überfordert. So kam es, dass ich später als Erwachsene den Begriff «Madam-Rottenmeier-Syndrom» kreierte. Er meint die hehren Bemühungen einer Erziehungsperson, Kindern aus ihr fremden Lebenswelten das «richtige Verhalten» beizubringen, ohne dabei zu erkennen, welch reichen Erfahrungsschatz diese Kinder aus ihrem früheren Leben mitbringen.

Vor allem aber erinnere ich mich an die Geschichte von der «Familie Pfäffling», eine tugendhafte, kinderreiche, deutsche Familie. Die Geldsorgen: Es mussten sieben Mäuler gestopft werden, Krankheiten: Eines der Kinder drohte durch eine Ohrenentzündung taub zu werden – aber auch, wie die Festtage wie Weihnachten gefeiert wurden, all das kam mir aus unserem Leben so bekannt vor. Mit dieser Familie konnte ich mich identifizieren. Insbesondere dem kleinen Elschen fühlte ich mich verbunden, welches für viele Aktivi­täten der älteren Geschwister noch zu klein war und stillhalten musste, während diese ihre Hausaufgaben machten.

Später las uns die Mutter keine Geschichten mehr vor. Es blieb keine Zeit mehr dazu.

Unsere Grossfamilie

Wir lebten in einem alten Haus, das Platz für mehrere Familien bot. Das Haus lag am Stadtrand neben einem kleinen Wald. Unser Grossvater väterlicherseits kaufte dieses Haus in den Zwanzigerjahren. Grossmutter erfuhr erst davon, als der Handel perfekt war. Dann zog Grossvater mit seiner Familie dort ein. Zur Familie gehörten neben der Grossmutter fünf Kinder, vier Buben und ein Mädchen, die Tante Gret.

Unser Vater war der älteste Sohn. Er wurde nach seinem Vater getauft und trug seinen Vornamen bereits in der dritten Generation.

Der zweite Sohn, Josef, verstarb schon im Jugendalter an der Spanischen Grippe. Er klagte über Unwohlsein und war einige Tage bettlägerig. Dann habe er sich plötzlich an den Kopf zu schlagen ­begonnen und vor Schmerzen aufgeschrien, erzählte mir die Tante. Als der Doktor kam, war der Junge bereits tot. Später erfuhr ich von meinem Vater, dass sein Bruder einige Tage zuvor beim Schlittschuhlaufen auf den Hinterkopf gestürzt sei und für kurze Zeit bewusstlos war. Die Geschwister hatten sich jedoch nicht getraut, zu Hause etwas davon zu erzählen. War es vielleicht gar nicht die Spanische Grippe, sondern eine Gehirnblutung, welche den Bruder umbrachte? Ich frage mich, wie die Brüder – vor allem mein Vater als Ältester – dieses Wissen und vielleicht auch die Schuldgefühle so viele Jahre mit sich herumtragen konnten. Der verstorbene Bruder hätte Missionar werden wollen. Die beiden jüngeren Brüder wurden später zu katholischen Priestern geweiht.

Grossmutter trug seit dieser Zeit nur noch Schwarz. Wenn sie von ihrem verstorbenen Sohn sprach, so sagte sie immer Josefli «selig». Da sie auch von ihrer früh verstorbenen Schwester vom Bethli ­«selig» sprach, meinte ich, «Selig» sei ein Familienname und die «Seligs» eine befreundete Familie.

Seit dem Tod von Josefli war Grossmutter ängstlich um die Gesundheit ihrer drei anderen Söhne besorgt, wohl nicht ganz unbegründet, wie sich später herausstellte.

Tante Gret nahm als einziges Mädchen unter vier Brüdern eine besondere Stellung ein – jedoch nicht etwa eine bevorzugte, ganz im Gegenteil –, wie sie mir einmal erzählte. Obwohl das wildeste der Kinder, wurde sie von der Mutter angehalten, im Haushalt zu helfen oder Handarbeiten zu machen, so wie es sich für ein Mädchen gehörte. Währenddessen konnten ihre Brüder draussen herumtollen. Von diesen bekam sie immer wieder zu spüren, dass Mädchen minderwertig seien. Frauen würden nicht in den Himmel kommen, prophezeiten sie ihr. Später relativierten sie, die Frauen müssten sich jedoch sehr anstrengen, um dorthin zu gelangen. Es war der Kaplan, der den Jungen im geschwisterlichen Streit Schützenhilfe bot, wenn er sich von der Kanzel herab über die immer heulenden Mädchen lustig machte und sich theatralisch mit dem Zipfel seines Chorrocks über die Augen fuhr. Diese Erfahrungen mögen mit ein Grund gewesen sein, dass Tante Gret nie heiratete.

Kurz vor meiner Geburt übersiedelten unsere Eltern ins väterliche Elternhaus. Das war nicht so geplant gewesen. Nach ihrer Hochzeit beabsichtigte das junge Paar, eigenständig zu leben. Es mietete seine erste Wohnung in sicherer Distanz zu den beiden Herkunfts­familien. Hier kamen meine beiden älteren Schwestern zur Welt. Es war aber damals in den Kriegsjahren schwierig, eine passende und zahlbare Wohnung für die grösser werdende Familie zu finden. Dazu gab es Probleme mit dem Vermieter. So waren die Eltern schlussendlich doch froh, dass ihnen im väterlichen Haus Unterschlupf ­gewährt wurde. Ich war ein Jahr alt, als der Grossvater starb. Unsere Grossmutter lebte danach allein im Erdgeschoss. Als Tante Gret für einige Zeit krank war, wohnte sie wieder bei der Grossmutter. Wohl, weil Tante Gret keine eigenen Kinder hatte, betrachtete sie uns auch ein wenig als die ihren, für deren Erziehung sie sich mitverantwortlich fühlte. Als ausgebildete Kinderschwester war sie dafür geradezu prädestiniert. So kam es, dass sie gelegentlich erzieherisch übergriffig wurde, was meine Mutter stillschweigend hinnahm, obwohl sie sehr darunter litt.

Im Untergeschoss des Hauses wohnte Onkel Emil, der Stiefbruder des Grossvaters, mit seiner Familie. Er war um einige Jahre jünger als Grossvater. Der Grossvater nahm seinen Stiefbruder in sein Haus auf, als dessen Frau an Krebs erkrankt war. Sie verstarb bald nach der Geburt des jüngsten Sohnes. Der Onkel musste nun allein mit vier kleinen Buben zurechtkommen. In dem Betrieb, wo er als Magaziner und Chauffeur arbeitete, fand er eine um zwanzig Jahre ältere Kollegin, welche ihm eine gute Ehefrau und den vier Waisenknaben eine hingebende Mutter wurde. Auch wir liebten diese Tante wegen ihres herzlichen Lachens, vor allem aber, weil sie für uns immer die geblümte Blechbüchse mit den Keksen bereithielt, wenn wir ihr etwas ausrichten kamen. Wir waren damals die Einzigen im Haus, die ein Telefon besassen. Oft hatte die Tante wässrige Augen in Sorge um ihren Mann, wenn er sich unterwegs verspätete. Doch wenn wir mit der ersehnten guten Nachricht bei ihr aufwarteten, strahlte sie wieder über ihr ganzes liebes Vollmondgesicht.

So lebten wir als Grossfamilie unter einem Dach. Obwohl unsere Eltern eigentlich lieber allein für sich gewohnt hätten, so wurde die Unterstützung durch die Verwandten für unsere Familie doch sehr wichtig.

Meine wichtigste Bezugsperson damals aber war unser Dienstmädchen Maria. Maria kam als junges Mädchen von vierzehn Jahren direkt nach Schulaustritt zu uns. Ihr Vater war kurz davor ganz plötzlich verstorben, und so musste Maria für die Familie mitverdienen. Während der Abwesenheit der Eltern schaute sie jeweils zu uns.

Frühe Kindheit
1950–1959

Prolog

Diesmal ist es anders

Die Barockkirche ist nicht von feierlicher Orgelmusik erfüllt, sondern vorne im Chor bringen zwei volkstümlich gekleidete Akkordeonisten Leben in die heiligen Hallen. Auffällig die knallrot lackierten Fingernägel der klein gewachsenen Frau, welche sich von den lüpfigen Klängen mitreissen lässt. Sie zwängt sich durch die Bankreihen und schreitet im Rhythmus der Musik das Kirchenschiff ab, pausenlos auf und ab. Nebenan wirft eine Greisin ihre Puppe zum hundertsten Mal zu Boden. Diese wird von hilfreichen Händen immer wieder aufgehoben und ihr in den Schoss gelegt. Ein endloses Spiel.

Ein behelmter Junge richtet sich kreischend in seinem Rollstuhl auf und klatscht lautstark in die Hände. Ein Ausdruck ungezähmter Freude? Gilt das wohl auch für den Mann, der fortwährend seinen Pullover hochzieht, seinen nackten Bauch zur Schau stellt und dazu grunzende Laute von sich gibt? Eine Gestalt mit einem riesigen Kropf, fast so gross wie ihr Kopf, hastet am Altar vorbei.

Diese hier versammelten Geschöpfe beelenden mich, schnüren mir das Herz zusammen. Ich bin als Angehörige eingeladen. Neben mir ist mein Bruder, auch er rastlos, im Sekundentakt wiederholt er die gleichen Fragen. Er ist neu und kennt dieses Fest noch nicht.

Tränen schiessen mir in die Augen. Doch die fröhliche Stimmung rundherum nimmt mich mit und lullt mich ein, ein calderonisches Welttheater, alle hier Versammelten spielen ihre Lebensrolle, und ich bin mittendrin in diesem grossen Spektakel. Dazu passt die barocke Kulisse der Klosterkirche vortrefflich. Wir sind alle in diesem Spiel gefangen, spielen die uns vom Schöpfer und Meister zugeteilten Rollen so, wie es unsere Lebensumstände bedingen.

«Ich selbst verteile die Rollen
Nach eines jeglichen Natur und Richtung. (…)
Und nun ans Werk! Derweilen ich dirigiere,
Sei du die Bühne und der Mensch agiere.»

Pedro Calderon, Das grosse Welttheater

«Ich habe das nicht gesucht, nehme nur ­meine Verantwortung als Schwester wahr …»

Auch ich könnte mit diesen Worten ­meine Geschichte als Schwester eines behinderten Bruders beginnen.

Die schlimme Krankheit

Wie alles begann

Im Herbst hustete unser Bruder so stark, dass er fast keine Luft mehr bekam und ganz blau wurde. «Keuchhusten», sagte diesmal der herbeigerufene Arzt. Meine beiden älteren Schwestern waren bereits als Kleinkinder mit dem Keuchhusten angesteckt worden, ich wurde bis jetzt davon verschont. Zum Ausheilen des Keuchhustens – vielleicht auch, um mich vor einer Ansteckung zu schützen – verreiste Mama mit unserem Bruder in die gesunde Bergluft. Es gab einen Ort in der Innerschweiz, mit dem unsere Familie mehrfach verbunden war. Vorfahren mütterlicherseits stammten aus diesem Tal. In diesem Tal hatte unsere Mutter als Zwanzigjährige Ferienlager für eine Mädchenjugendgruppe geleitet und kam so wieder in Verbindung mit ihren Wurzeln.

Ganz hinten im wilden Tal war die ganzjährig bewohnte Alp Grattigen. Unsere Familie übersommerte hier oft. Wir Kinder fühlten uns wie Heidi, tranken die frische Ziegenmilch, welche der Senn Stini direkt ab Euter in unsere Tassen füllte, und schauten ihm beim Käsemachen zu. Hinter der Alphütte floss ein kleiner Bach vorbei, der sich vorzüglich zum Kühlen der frischen Milch eignete, aber auch zum Spielen. Gelegentlich fielen wir samt den Kleidern ins kalte Wasser oder zogen mindestens einen nassen Schuh heraus. Auf der Vorderen Egg lebte ein Ehepaar, von allen nur Sophie und Gusti ­genannt. Auch sie gehörten zur weitverzweigten Verwandtschaft ­mütterlicherseits. Die beiden hatten keine eigenen Kinder. Unzählige, oft schwächliche oder gesundheitlich angeschlagene Kinder und Erwachsene haben in ihrem Haus Aufnahme gefunden und sind wieder kräftig und gesund in ihre Familien zurückgekehrt. Bei ihnen sollte nun auch unser Bruder gesunden.

Wieder war es Maria, die während der Abwesenheit der Mutter zu uns schaute. Sie wurde dabei von der Grossmutter unterstützt. Es war Herbst geworden, als uns Grossmama sagte, Mama werde mit unserem Bruder noch heute Abend zurückkommen. Der Bruder hatte oben in den Bergen plötzlich hohes Fieber gekriegt. Onkel Emil werde die beiden abholen. Onkel Emil war der Einzige unserer Sippschaft, der – dank seines Berufs als Chauffeur – Auto fahren konnte. Wir warteten ungeduldig, doch Mama und der Bruder waren noch nicht da, als wir ins Bett geschickt wurden.

Die grosse Aufregung

Es war nach Mitternacht, als Mama heimkam – allein, ohne unseren Bruder. Der Kinderarzt veranlasste noch spätabends eine Überweisung ins Kinderspital der nächstgelegenen Universitätsklinik, eine Stunde von unserem Wohnort entfernt. Der Zustand sei sehr ernst. Diesmal hatte der Bruder eine schlimme, eine ansteckende Krankheit. Es war die tuberkulöse Hirnhautentzündung oder Meningitis, wie der medizinische Fachausdruck hiess. Später erfuhr ich, dass diese Krankheit damals fast immer tödlich endete. Die Eltern mussten sich zuerst informieren, was diese Diagnose bedeutete. In den von den Eltern angelegten Krankenakten fand ich einen mit Bleistift geschriebenen Vermerk, vermutlich eine Abschrift der Mutter aus einem Lexikon.

Tuberkulöse Hirnhautentzündung (Meningitis), sog. Basal­meningitis, ist eine infektiöse Entzündung der Hirnhäute, die im Sekundärstadium der Tuberkulose auftreten kann, fast stets auf dem Blutweg über Lungen, Knochen oder Gelenke ­infiziert. Typischerweise sind die basalen Hirnbereiche betroffen, Vorkommen besonders bei Kindern und Jugendlichen.

Woher kamen diese Krankheitskeime? Unsere ganze Familie wurde untersucht, ob auch wir infiziert waren. Gott sei Dank waren wir ­Geschwister gesund. Wir mussten der Reihe nach antreten und wurden alle geimpft. Aber wer war es denn, der diese perfide Krankheit in sich trug? Wie war es mit den Erwachsenen? Das ganze Umfeld war verdächtig. Mutter und Vater waren in jungen Jahren beide an Tuberkulose erkrankt gewesen, galten aber als geheilt. Der Vater war im Lungensanatorium in Davos, wo Thomas Mann sich für seinen «Zauberberg» inspirieren liess. Er erzählte uns, wie er für die Ge­­­­­wichtskontrolle die Hosentaschen mit Fünffrankenstücken ­füllte, damit ihm der wöchentliche Ausgang nicht verwehrt wurde. Auch die Mutter musste als Jugendliche in Kur. Sie erinnerte sich an die langweiligen Liegekuren, die sie sich verbotenerweise durch unter der Decke verstecktes Stricken oder Lesen etwas erträglicher gestaltete.

Es war wohl der Patenonkel, der vermutlich unseren Bruder angesteckt hatte. Er amtete damals als Pfarrhelfer in einer Pfarrei auf dem Lande und musste in dieser Zeit öfter in die Stadt zum Arzt. Dann schaute er immer auch nach seinem Göttibuben. Als bei unserem Bruder die Krankheit ausbrach, war der Onkel bereits mit einer Lungentuberkulose im Sanatorium.

Eines Morgens war wieder nur Maria da, die uns weckte und uns die Butterbrote strich. Die Eltern waren in der Nacht ins Spital gerufen worden, weil es unserem Bruder sehr schlecht ging. Als die Eltern dort eintrafen, war er bereits zum Sterben in eine Abstellkammer gestellt worden. Wir wurden angehalten, für unseren Bruder zu beten. Am Abend gab es Entwarnung. Das Fieber war gesunken, und der Bruder hatte überlebt. Er sei aber noch nicht über den Berg. Wir beteten weiter.

Traurige Weihnachten

Unsere Eltern fuhren oft ins Spital, um nach ihrem Söhnchen zu schauen. Nur die älteste Schwester durfte mitgehen, Kindern unter zehn Jahren wurde der Eintritt in die Kinderabteilung verwehrt. Da ich meinen kleinen Bruder nicht besuchen durfte, machte ich viele Zeichnungen für ihn. Mama erzählte mir, wie seine Augen leuch­teten, wenn sie von mir sprach. Er hatte mich nicht vergessen. Das freute mich, machte mich aber zugleich auch traurig. Er fehlte mir als Spielgefährte so sehr!

Es wurde Weihnachten, doch der Bruder durfte nicht nach Hause kommen. Welche Enttäuschung, dass mir das Christkind meinen grössten Wunsch nicht erfüllte.

Wir drei Schwestern waren für den Heiligen Abend feierlich gekleidet mit den weiss durchscheinenden, mit Blümchen bestickten Schürzchen, die wir nur an Weihnachten tragen durften, so wie schon Mama und ihre Schwestern, als sie noch Kinder waren. – Letzthin habe ich im Historischen Museum genau solch ein weisses Schürzchen entdeckt. Unsere Festtagskleidung von damals ist museumsreif geworden!

Wir konnten es kaum erwarten, bis das Glöckchen klingelte und sich wie von Geisterhand die Türe zur guten Stube öffnete. – Und da stand er nun, der glanzvoll geschmückte Christbaum mit den brennen­den Kerzen, farbigen Kugeln, glitzernden Tannzapfen sowie allerlei Krimskrams aus Schokolade. Der ganze Baum war mit Silberla­metta überhangen. Oben auf der Spitze thronte ein buntes Vögelchen, der einzige Weihnachtswunsch der zweiten Schwester. Neben unseren Geschenken lag ein leuchtend rotes Auto, welches man mit einem Schlüssel aufziehen konnte. Das Christkind hatte unseren Bruder doch nicht ganz vergessen.

Die Eltern brachten das Geschenk am Weihnachtstag ins Spital. Wir warteten ungeduldig auf ihre Heimkehr und die Neuigkeiten, die sie zu erzählen wussten. Der Bruder habe das rote Auto fest an sich gepresst und wollte es nicht mehr aus der Hand geben, auch nicht, um sein Zvieri zu essen. In der Infektionsabteilung, wo unser Bruder hospitalisiert war, musste das Spielzeug allabendlich desinfiziert werden. Es war jedoch für das Personal zu mühsam, den Kindern immer wieder ihr eigenes Spielzeug zurückzugeben. Deshalb wollte der Bruder nicht von seinem neuen Auto lassen. Er wusste, dass es ihm weggenommen und er es vielleicht nie mehr wiedersehen würde.

Noch jemand hatte unsern Bruder an Weihnacht nicht vergessen. In den Krankenakten fand ich eine Weihnachtskarte mit dem Bild eines kitschig süssen Christkinds, welches zum Fenster hereinfliegt und dem schlafenden Kind einen kleinen Weihnachtsbaum bringt. Der Sektionspräsident der Krankenkasse schrieb anstelle des Christkinds. Die Vorstellung, dass sich ein Sektionspräsident der Krankenkasse persönlich an die Schreibmaschine setzte und nach Worten suchte, berührt mich. Oder war es seine Sekretärin?

Weihnacht 1952
Dieses Jahr feierst du Weihnachten, dieses traute und schöne Fest des Christkindleins fern Deiner lieben Eltern und Ange­hörigen. Doch in Gedanken bist du sicher auch bei deinen Lieben zu Hause, so wie deine liebe Mutter und dein lieber Vater im Geiste das liebliche Weihnachtsfest bei Dir und mit Dir feiern. Aber auch das liebe Christkind hat Dich nicht vergessen. Ganz im Gegenteil. Es weilt unsichtbar unter Euch und nimmt sich ganz besonders der kleinen kranken Kinder an.
Dass das neue Jahr Dir die völlige Genesung und die ersehnte Heimkehr zu den lieben Angehörigen bringen möge, das wünscht dir von Herzen Namens des Sektionsvorstandes:
Der Präsident

Das lange Warten

Das neue Jahr brachte noch keine Genesung. Ich wartete und wartete, bis der Bruder endlich nach Hause komme, aber die ersehnte Heimkehr zögerte sich hinaus. Ich war im Kindergartenalter, doch die Mutter hatte mich nicht für den Kindergarten angemeldet. Sie dachte, dass sie mich zu Hause als Kindermädchen für den kleinen Bruder brauchen würde, wenn er wieder nach Hause käme. Nun war er nicht da und ich allein zu Hause, denn meine beiden älteren Schwestern verbrachten ihre Zeit in der Schule oder mit Lernen. Maria war auch nicht mehr bei uns. Da unser Bruder nicht zu Hause war, gab es nicht mehr so viel Arbeit und sein Spitalaufenthalt war teuer, sodass meine Eltern Maria den Lohn nicht mehr bezahlen konnten. Sie fand eine neue Anstellung in einer Bäckerei der Hauptstadt. Ich vermisste Maria sehr, ihre anrührenden Geschichten und ihre traurig schönen Lieder. So versuchte ich, mir die Zeit zu vertreiben, indem ich mir selbst Geschichten ausdachte. Auch zeichnete ich auf jedes Blatt Papier, das mir gerade in die Hände kam. Oft waren es kleine Kinder, welche krank im Bettchen lagen, umschwirrt von kleinen Engelchen. Oben in der rechten Ecke war meist ein kleiner Teufel zu entdecken, welcher mit Weihwasser verjagt wurde. Einmal bemalte ich ein ganz wichtiges Dokument, welches mein Vater tage­lang suchte. Ich weiss nicht, wo ich es ergattert hatte, aber seine Worte, dass er deswegen ins Gefängnis hätte kommen können, verfolgten mich lange. – Ich wäre schuld daran gewesen!

Die wurmstichige Stiege im Treppenhaus sowie die Parkettböden in der Wohnung mussten wöchentlich gebohnert werden, damit sie wieder schön glänzten. Die darauf liegenden Teppiche wurden sorgfältig zusammengerollt und auf der speziell dafür vorgesehenen Teppichstange vor dem Haus tüchtig durchgeklopft. An dieser Teppichstange übten wir Kinder unsere ersten Kunststücke: «Flugzeug», «Bär» und «Glocke». Für die «Glocke» hängten wir uns kopfüber an die Stange. Im Hängen fiel uns Mädchen der Rock über den Kopf, sodass wir wie eine Glocke baumelten. Eine besondere Mutprobe war der «Glockenabsprung», bei dem man hin und her schwingend kopfüber von der Stange springen musste. Man sah nackte ­Beine und Unterhosen. Grossmama und Tante Gret war dieses Herum­turnen ein Ärgernis.

Für die schwereren Putzarbeiten konnte die Mutter auf die Unterstützung von Frau Kunz zählen. Frau Kunz war eine kräftige, wenn auch schon grauhaarige Frau. Immer sehr freundlich, konnte man ihr nicht ansehen, wie viel Schweres sie in ihrem Leben durchgemacht hatte. In jungen Jahren aus dem kriegsversehrten Deutschland in die Schweiz geflüchtet, wurde sie schon sehr früh mehr­fache Mutter und hatte in kümmerlichen Verhältnissen acht Kinder grosszuziehen. Da ihr Mann wegen einer Muskelkrankheit nicht mehr arbeiten konnte, musste Frau Kunz bei fremden Leuten putzen und waschen gehen, um die Familie zu ernähren. Der Mann versuchte, als Hausierer etwas dazuzuverdienen. Herr Kunz kam mehrmals jährlich mit seinem Hausiererkasten bei uns vorbei. Er führte ein kärgliches Sortiment an Schuhbändeln, Schuhwichse und Abwaschlappen. Unsere Mutter hatte immer ein grosses Herz für Hausierer, und so kam es, dass wir immer ein ganzes Arsenal an braunen Schuhbändeln, Wichse und Waschlappen horteten.

Herr Kunz – klein gewachsen und beim Gehen mit dem ganzen Körper wackelnd – konnte sich nur mühsam mithilfe von zwei Stöcken vorwärtsschleppen, ein ungewohnter Anblick für uns Kinder. Ich turnte gerade mit Trixli an der Teppichstange, als Herr Kunz von seinem Schuhbändelverkauf bei unserer Mutter aus dem Hause trat.

Trixli wohnte nebenan. Mit ihrem blonden Lockenschopf sah sie wie ein kleiner Engel aus. Wie gerne hätte auch ich so einen goldi­gen Lockenkopf gehabt. Mama wusch uns deshalb unser braunes Haar immer mit «Schwarzkopf Shampoo extra blond», und um mich zu trösten, bestätigte sie mir, dass ich auch Locken hätte, «steckengerade» eben.

Das blond gelockte Trixli humpelte nun – von Herr Kunz unbemerkt – einige Schritte hinter ihm her und ahmte seinen hinkenden Gang nach: «Schau, so geht der.» Ich fand jedoch, dass Trixli mit ihrem Humpelgang völlig falsch lag. Die Bewegungen von Herrn Kunz ­waren viel verschrobener. «Nein, so», korrigierte ich Trixli, verdrehte meine Beine und wackelte dazu mit dem Kopf. Schon unterbrach mich die scharfe Stimme der Grossmutter. Da stand sie unter dem Küchenfenster wie der Engel beim Jüngsten Gericht. «Du solltest dich schämen, diesen armen Mann auszulachen! Besonders, da du ja selbst einen kranken Bruder hast.» Wir hatten uns über Herr Kunz nicht lustig gemacht. Mit kindlicher Neugier hatten wir lediglich versucht, sein ungewöhnliches Bewegungsmuster zu imitieren. Doch ich bekam Hausarrest und musste den ganzen Nachmittag bei Grossmutter in der Wohnung bleiben. Von draussen riefen mich meine Spielkameradinnen. Sie bettelten so lange, dass ich rauskommen sollte, bis ich mich an dem fast ebenerdigen Fenstersims langsam hinuntergleiten liess und mich zu ihnen gesellte.

An das, was nachher war, kann ich mich nicht mehr genau erinnern …

Auf Fotos sieht man mich – eigentlich viel zu alt dazu – in einem Kinderwagen sitzen. Beim Spiel im Sandhaufen hatte mich etwas in den Finger gestochen – und plötzlich konnte ich für eine Weile nicht mehr gehen. Bis heute ist nicht klar, was damals los war. Eine Strafe des Himmels oder eine Selbstbestrafung für das Nachäffen von Herrn Kunz? Engelchen Trixli blieb unbehelligt.

Engel waren überall, scheint es mir heute. Beim Spielen im Garten fanden meine Schwester und ich in einer verwinkelten Ecke – ganz von Gebüsch überwachsen – einen Stein aus weissem Marmor mit einem kleinen Engel darauf. In diesem Stein war der Name unseres Bruders gemeisselt, wie mir die Schwester entzifferte. Ich konnte damals noch nicht lesen. Wir waren verwirrt.

Tante Gret konnte uns dieses Mysterium später deuten: Als die erste Frau von Onkel Emil bereits sehr krank war, hatte sie ein Bübchen geboren, welches jedoch bald darauf starb. Es wurde auf den Namen seines Grossvaters – unseres Urgrossvaters – getauft. Dieser Name wurde auch an unseren Grossvater, Vater und nun an unsern Bruder weitergegeben. So war es in vielen Familien üblich.

Nach der Räumung des Grabfeldes wurde der Grabstein des verstorbenen Bübchens in den Garten gestellt und der Natur überlassen.

Mich jedoch liessen die Gedanken an den Stein mit dem kleinen Engel nicht mehr los. Wenn dieser Engel nun auch meinen Bruder zu sich holen würde?

Bei der Grossen Tante

Das Herrschaftshaus

An einem schönen Frühlingstag sah ich, wie Mama meine Kleider in den kleinen Binsenkoffer packte, der sonst oben auf dem Dachboden stand. Ich dürfe für einige Zeit zu meiner Grosstante in die Ferien gehen. Mama hatte im Moment wenig Zeit für mich, und sie konnte mich nicht allein zu Hause lassen, wenn sie den Bruder besuchte. Dass es noch einen anderen Grund gab, warum Mama entlastet werden sollte, erfuhr ich erst später.

Grosstante war die grosse Schwester meiner Grossmutter. Sie war gertenschlank. Grosstante hatte die Haare hinten zu einer Rolle zusammengesteckt und trug eine schwarze runde Drahtbrille, was ihr ein strenges Aussehen gab. Wir meinten, sie heisse Grosstante, weil sie so gross gewachsen war, dies im Gegensatz zu unserer eher etwas behäbigeren Grossmutter. Deshalb nannten wir Kinder sie die Grosse Tante.

Vor der Heirat unserer Grossmutter führten die beiden Schwestern gemeinsam eine Schneiderei. Ihre Mutter früh verloren und in armen Verhältnissen aufgewachsen, hatten sie die Gelegenheit, im Waisenhaus einen Kurs als Weissnäherinnen zu besuchen. Die Grosse Tante bildete sich anschliessend zur Schneiderin weiter. In kurzer Zeit führten die beiden Schwestern ein florierendes Geschäft mit einigen Lehrtöchtern und einer internationalen Kundschaft aus den Nobelhotels der Umgebung. Grossmutter lernte deswe­gen in Abendkursen Englisch. Sie war stolz, wenn sie die Kundschaft auf Englisch empfangen konnte. Sie, die nach der sechsten Klasse die Schule verlassen musste, weil das Geld für das Lesebuch der siebten Klasse nicht reichte! Die beiden Schwestern gaben auch Nähkurse für junge Mädchen zur Vorbereitung auf ihre spätere Rolle als Ehe- und Hausfrau. Kurz nach meiner Grossmutter heiratete auch die Grosse Tante. Sie lernte ihren Mann durch seine vier Schwestern kennen. Sie alle besuchten einen Nähkurs bei ihr.

Die Grosse Tante heiratete in eine Familiendynastie ein. Der ­Familie ihres Mannes gehörte ein direkt am See gelegenes grosses Herrschaftshaus. Man erzählte sich, dass die Schwiegermutter jeweils ins Jagdhorn blies, um ihre sieben Kinder zum Essen zusammenzurufen. Nun waren die Töchter ausgezogen. Grosstantes Mann Gottlieb führte mit seinen zwei Brüdern Xaver und Chasper den Gutsbetrieb mit Bauernhof, Trotte und Käserei. Die Ehe der Grossen Tante und Onkel Gottlieb blieb kinderlos. Deshalb nahm die Grosse Tante immer wieder Kinder aus der Verwandtschaft zu sich, deren Eltern sich aus einem bestimmten Grund nicht um sie kümmern konnten. Auch mein Vater und seine Geschwister waren als Kinder bei der Grossen Tante in den Ferien gewesen. So war es schon fast selbstverständlich, dass nun auch ich für einige Zeit dorthin geschickt wurde.

Die Grosse Tante brachte ihre jüngere Stiefschwester Fanny mit in die Ehe. Fanny war seit ihrer Kindheit etwas schwächlich und galt als wenig lebenstüchtig. Zusammen mit Tante Fanny führte die Grosse Tante dort in der grossen Stube – die so gross wie ein Tanzsaal war, wie meine Mutter sagte – ihr Schneideratelier weiter. Später spezialisierten sich die beiden Schneiderinnen auf das Nähen von Trachten. Sie hatten viele Aufträge vom Schweizerischen Heimatwerk. Die Grosse Tante kam oft in die Stadt, um den Kundinnen die Trachten anzuprobieren. Das Mieder mit dem kunstvoll gestickten Latz musste genau sitzen.

Auf dem Rückweg von einer solchen Anprobe sollte mich die Grosse Tante nun mit sich nehmen. Grossmutter brachte mich zum Schiffsteg, wo die Grosse Tante mich bereits erwartete. Wir fuhren mit dem mächtigen Raddampfer bis zum Anlegesteg in Untermatt. Tante Fanny holte uns dort mit dem alten Leiterwagen ab. Unser ­Gepäck, die anprobierten Trachten und mein kleiner Koffer, wurden aufgeladen, und zu dritt machten wir uns auf den Weg.

Nun stand ich wieder vor dem altehrwürdigen Haus mit dem langen dunklen Gang und den verwirrend vielen grossen und kleinen Zimmern über mehrere Stockwerke verteilt. Ich kannte das Haus bereits ein wenig, da ich schon früher einmal dort zu Besuch war. Doch dieser Besuch von damals war von einem Ereignis überschattet, welches mich mein ganzes Leben lang verfolgen sollte: Ich galt als ein besonderer Liebling von Tante Fanny. Wenn sie bei uns war, erzählte sie mir immer von ihrer prächtigen Puppe, die sie mir zeigen würde, wenn ich einmal zu ihr auf Besuch käme. Es war eine grosse Puppe mit einem wunderschönen Kopf aus Porzellan. Heute würde sie wohl ein Vermögen kosten.

An den Anlass des Besuches kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich sehe nur noch, wie Tante Fanny mir diese kostbare Puppe sorgfältig in den Puppenwagen legt. Der Puppenwagen hat hohe Räder. Dann lässt sie mich mit dem Wagen die Strasse entlangfahren, verschwindet im Haus und tritt plötzlich auf der anderen Seite des Hauses wieder zur Türe heraus, wohl um mich zu überraschen. Ihre Überraschung gelingt. Voll Freude, die Tante wieder zu sehen, will ich zu ihr eilen und lasse dabei den Wagen fahren. Dieser streift den Randstein, kippt um und der wunderschöne Porzellankopf zerschellt auf der Strasse …

Hier habe ich einen Filmriss. Ob ich damals gescholten oder gar bestraft wurde, daran kann ich mich nicht erinnern, aber dieses Missgeschick blieb ein Leben lang an mir haften. Wieder zu Hause bekam ich eine persönlich an mich adressierte Postkarte von Onkel Gottlieb. Auf der Karte befand sich das Porträt eines kleinen Mädchens. Am unteren Rand war mit schwarzer Tinte eine Zeichnung angefügt: Ein Mädchen fährt mit dem Puppenwagen die Treppenstufen runter, ein umgekippter Wagen, Tränen, ein Scherbenhaufen! Ich schämte mich, ärgerte mich jedoch auch, da diese Zeichnung nicht stimmte.

Auch Tante Fanny sprach bis zu ihrem Tod mit neunzig Jahren von meinem Missgeschick und trauerte um die schöne Puppe.

Der Grosshaushalt

Nun war ich also wieder hier in diesem Haus, doch Onkel Gottlieb war nicht mehr da. Er war bereits verstorben, wann und woran, habe ich nicht erfahren. Es wohnten jedoch viele andere Menschen hier. Sie waren alle etwas speziell in ihrer Art. Teils gehörten sie zur Familie, teilweise waren sie Angestellte. Es gab jedoch auch fremde Personen, die nur zur Miete hier wohnten, und im Sommer ­kamen noch Feriengäste dazu. Es gab auch Haustiere, vor allem Katzen.